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Igitt! Was dat ’n Düvelspuup? In Neuharlingersiel stinkt’s gewaltig … Hilfe! Was für eine Katastrophe am Hafen! Direkt gegenüber von Oma Puschs Kiosk macht Backfisch-Bolle einen Stand mit Frittiertem auf. Ein erbitterter Streit entbrennt zwischen den Konkurrenten, bis Bertil Bolle eines Morgens tot zwischen seinen Fischen liegt. Dass er dort ausgerechnet von Oma Pusch gefunden wird, macht die Sache nicht besser, denn sie hätte durchaus einen Grund gehabt, den ollen Bolle loswerden zu wollen. Als dann auch noch Schlick-Schorse leblos im Klärbecken des Küstenortes treibt, gerät unsere Hobbyermittlerin zunehmend ins Visier der Ermittler, denn auch mit diesem Kerl hatte sie ein Hühnchen zu rupfen. Nur mit schlauer Kombinationsgabe gelingt es den Freundinnen, das Rätsel um die mysteriösen Abdrücke und Buchstaben auf den Körpern der Leichen zu lösen und damit den wahren Täter zu finden.
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Seitenzahl: 400
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Alles darf nicht so ernst genommen werden!
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher der Autorin erschienen:
SchattenHaut
SchattenWolf
SchattenGift
SchattenTod
SchattenGrab
SchattenSchwur
SchattenSucht
SchattenGier
SchattenZorn
SchattenQual
SchattenSchuld
SchattenSchnee
FriesenNerz
FriesenGeist
FriesenSpiel
FriesenLust
FriesenSchmutz
FriesenFlut
FriesenWitz
KurzKrimis und andere SchattenSeiten
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8450-4
Nané LénardFriesenBiss
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Für Emil
Es war ein warmer Tag gegen Mitte September. Noch tummelten sich die Touristen am Strand, auf den Deichen und im Hafen, aber man merkte schon, dass sich die Saison dem Ende zuneigte. Nur wenige lagen noch im Sand oder wagten sich ins Meer. Man flanierte lieber an der Wasserlinie entlang. Schulpflichtige Kinder waren verschwunden, und der Altersdurchschnitt der Erwachsenen hatte deutlich zugenommen.
Oma Pusch (siehe Personenregister am Ende des Buchs) liebte den Spätsommer. Die milde Wärme machte es im Kiosk erträglicher. Auch das Publikum war geduldiger. Rita und sie konnten es beim Schmieren der allseits beliebten Rollmopsbrötchen etwas gemächlicher angehen lassen. Wobei: Eigentlich hatten sie in dieser Saison nie viel zu tun gehabt, überlegte die agile Dame in den besten Jahren hinter ihrem Tresen und starrte auf die Holzbude, die ihr nur wenige Meter entfernt direkt gegenüberlag.
Oma Puschs Gesicht lief rot an, da konnte sie gar nichts machen. Es war die Wut, die in ihr hochstieg und ihren Kreislauf in Wallung brachte. Wenigstens war sie heute als Erste hier am Hafen gewesen. Der verhasste Nachbar schlief wohl noch. Ja, sie war zum Frühaufsteher geworden – zwangsweise! Ein früher Vogel, wie man sagte, so wie ihr nackter Graupapagei Ronny. Genau deswegen fing sie auch die ersten Würmer, äh Touristen mit ihrem Charme ein, die sich im Anschluss an das Frühstück die Beine vertreten wollten und sich in der Nähe ihres Verkaufsstandes aufhielten. Nach zwei total verregneten Tagen lohnte es sich endlich wieder, den Kiosk zu öffnen. Jeder wollte unbedingt raus in die warme Sonne, und da sie die Passanten einfach ansprach, blieb auch nahezu jeder einen Moment lang bei ihr am Tresen hängen.
Die Allerersten, die sich dort eingefunden hatten, waren allerdings alte Bekannte. Freundin Rita, die bereits bei Bäcker Hinrichs frische Brötchen gekauft hatte, setzte gerade Kaffee auf. Ein herrlicher Duft stieg Oma Pusch in die Nase und machte den Morgen perfekt. Rita war ebenfalls früh dran. Sie konnte momentan auch nicht mit dem Rad kommen. Warum? Ganz einfach. Ihre Schwester Luise lag im Krankenhaus, und das hatte Folgen mit vier Beinen. Deren Fiffi Luzi war vorübergehend bei Rita eingezogen und lag jetzt auf seiner Decke unter dem Tresen. Es hatte Wochen gedauert, bis der kleine Kläffer nicht mehr bei jedem Kunden anschlagen wollte. Ganz freiwillig hatte er nicht aufgegeben. Oma Pusch war nämlich mal vor lauter Schreck die Honigflasche aus der Hand gefallen, als Luzi plötzlich losbellte, und da musste sich der Köter so erschrocken haben, dass er fortan lieber die Klappe hielt. Selbst schuld sozusagen!
Eine große Hilfe waren der alte Fischer Hinnerk und seine Angebetete Lina in diesen Wochen gewesen, die Luzi zeitweise abgeholt und ausgeführt hatten. Auch heute Morgen nutzte der verliebte Senior wieder die Möglichkeit, einen Spaziergang mit Lina zu machen. Die liebte kleine Hunde und war völlig vernarrt in das Wesen mit dem struppigen Fell. Jetzt endlich hatte Oma Pusch den Beweis, dass Liebe tatsächlich blind machen musste, denn das Viech war so was von potthässlich; schlimmer ging es schon gar nicht. Aber egal. Hauptsache, alle waren zufrieden. Und so schien es zumindest, als Hinnerk und Lina bei einer dampfenden Tasse Kaffee in ihre Rollmopsbrötchen bissen. Nur der Luzi verhielt sich seit seiner Ankunft merkwürdig unruhig, schnüffelte in die Luft und scharrte auf dem Boden.
„Ich weiß gar nicht, was heute mit dem Lüttchen los ist“, wunderte sich Rita.
„Vielleicht muss er mal“, vermutete Oma Pusch.
„Schon alles erledigt fürs Erste“, antwortete die Freundin. „Wir waren bereits vor Tagesanbruch bis zum Mühlenstrich.“
„Der will ans Wasser“, sagte Hinnerk leicht undeutlich mit einem Stück Fisch zwischen den Zähnen.
„Nee, nee, da stimmt was nicht“, wandte Rita ein. „Er hechelt und fiept auch. Das hat er noch nie gemacht. Nicht dass es was Schlimmes ist und ich mit ihm zum Tierarzt muss.“
„Das könnten wir doch machen“, rief Lina. „Stimmt’s, Hinnerk? Uns vertraut der Lütte doch. Bei uns ist er immer ganz ruhig. Wir helfen gerne. Ihr habt doch zu tun.“
Rita überlegte.
„Nu haltet mal den Ball flach“, schaltete sich Oma Pusch ein, „und schnappt euch den Feger. Wenn er noch mal Gassi gegangen ist, wird er schon einschlafen. Vielleicht hat Luzi den Geruch von einer heißen Hundedame in der Nase. Ihr wisst schon … Oder hat er keine Eier mehr?“
„Woher soll ich das wissen?“, fragte Rita und zuckte mit den Schultern. „Ich habe nicht nachgesehen.“
„Na gut“, seufzte Hinnerk und trank seinen letzten Schluck Kaffee, „dann wollen wir mal. Was ist denn mit deinem Lieblingsnachbarn? Kommt der heute gar nicht?“ Er grinste frech und blickte in Richtung der Konkurrenz.
Oma Pusch sah auf die Uhr. Der olle Fischer hatte recht. Nicht dass ihr irgendetwas fehlte, wenn sie den Kerl von gegenüber nicht sehen musste, aber komisch war es schon, dass der Stand mit dem Backfisch um diese Uhrzeit immer noch so verschlossen dastand.
Auch Rita war verdutzt. „Sehr merkwürdig. Stimmt, da ist keiner. Normalerweise müssen wir um diese Zeit schon den Gestank von heißem Fett ertragen. Bei diesem Wetter sollte der längst geöffnet haben.“
„Vielleicht hat er noch nicht aus dem Fenster geguckt und denkt, es regnet noch“, überlegte Lina laut.
„So ein Quatsch, es gibt doch Wetter-Apps“, erwiderte Oma Pusch, „und glaube mir, dieser Aasgeier ist schlau genug, um da vorher nachzusehen. Möglicherweise ist er krank geworden. De Kierl ist so raffgierig. Niemals würde der sich seine Einnahmen ohne Grund durch die Lappen gehen lassen.“
„Egal“, sagte Hinnerk. „Wir gehen runter zum Strand und sammeln ein paar Flaschen ein.“
„Hunde am Strand?“, fragte Rita mit hochgezogenen Brauen. „Die sind nicht mal auf dem Deich erlaubt.“
Hinnerk winkte lachend ab. „Das ist doch kein Hund. Sieh ihn dir doch an. Der geht glatt als struppige Kanalratte durch. Außerdem kennt mich hier jeder, und ich habe Kackbeutel dabei. Notfalls stecke ich ihn in meine Tasche.“
„Na gut, wenn du meinst“, sagte Rita, „aber pass auf, dass der nicht wieder bei Backfisch-Bolles Hütte an die Tür pinkelt. Wenn du Pech hast, kommt der nämlich dann genau in dem Moment um die Ecke.“
„Ich bin doch kein Dösbaddel“, erwiderte Hinnerk, „und nu reich mir den Fiffi mal über den Tresen.“
Rita leinte Luzi an, hob ihn hoch und wollte ihn gerade dem alten Fischer übergeben, da rief Lina: „Ich nehm in schon“, und grapschte zu.
Leider war Klein Luzi darauf nicht gefasst und sowieso in einem höchst aufgeregten Zustand gewesen, weswegen er strampelte und Lina aus den Händen glitt. Sie schrie, er rannte los. Jedoch lief er nicht weg, sondern schnurstracks genau auf Bolles Bude zu. Was nun kommen sollte, erwarteten alle mit vor Schreck geweiteten Augen. Er würde das Bein heben und nach Herzenslust das Holz markieren. Aber weit gefehlt. Er lief zwar zu Bolle, doch dort kläffte er, was das Zeug hielt, und kratzte an den Planken. Mehrfach umrundete er den Stand wie von der Tarantel gestochen.
„Da stimmt was nicht!“, wusste Oma Pusch sofort und öffnete die Tür ihres Kiosks. „Nun fangt ihn schon ein“, meckerte sie Hinnerk und Lina an. „Notfalls tretet ihm auf die Leine. Sonst haben wir gleich lauter Gaffer hier. Rita, mach kurz die Tür zu, du kommst auch mit.“
Es dauerte gar nicht lange, da hatte der alte, hinkende Fischer den Fiffi wieder eingefangen und steckte ihn in seine Jacke. Auch dort zappelte er noch eine Weile, bis er sich endlich ein bisschen beruhigte.
Oma Pusch war unterdessen näher an ihre Konkurrenz herangeschlichen, dicht gefolgt von Rita und Lina.
„Boah, ist ja eklig“, stöhnte Hinnerk auf einmal.
„Was denn?“, fragte Lina aufgeregt.
„Der Köter hat einen Furz gelassen“, beschwerte er sich. „Das ist ja kaum auszuhalten.“
„Ja, ich rieche es auch“, sagte Rita. „Wahrscheinlich hat er deswegen so ein Theater gemacht, weil ihm was quer saß. Kennt man ja von sich selber auch.“
Oma Pusch schnupperte ebenfalls in die Septemberluft, aber sie fand, da roch es nach was anderem. Das war mit Sicherheit kein Hundefurz. Sie kannte den widerlichen Geruch genau. Es war der Atem der Verwesung.
„Also ich finde, das stinkt hier eher nach ollem, ekligem Fisch“, gab Lina ihren Senf dazu. „Dass man immer den armen Luzi für alles verantwortlich macht.“
„Kann auch sein“, lenkte Hinnerk ein und ging näher ran an die Bude. „Möglicherweise ist der Kühlschrank von Backfisch-Bolle ausgefallen und der Fisch schwimmt jetzt schon wieder von alleine da raus. Schön ist das nicht!“ Er rümpfte die Nase.
„Und wenn der Bolle selber dort drin liegt?“, orakelte Oma Pusch. „Immerhin ist er nicht da.“
„Dann wäre er aber doch da“, wandte Lina ein.
„Sie meint: zwar da sein und gleichzeitig auch wieder nicht“, erklärte Rita ihr mit verschwörerischem Blick. „Verstehst du?“
„Nö“, gab Lina zu.
„Er könnte tot sein“, flüsterte Hinnerk ihr zu, „dann isser wohl zwar drin, aber nicht mehr da.“
Lina wurde leichenblass, doch der alte Fischer konnte sie diesmal nicht auffangen, weil er ja Luzi in seiner Jacke hatte. Zum Glück berappelte sie sich wieder und ging nicht zu Boden, denn sie hatte ja wenigstens nichts Totes gesehen, nur vielleicht gerochen. Doch leider war sie bei ihrem Schwächeanfall in Richtung von Bolles Standtisch getorkelt und deshalb noch näher an der Quelle des Duftes. Schreiend nahm sie Reißaus und Hinnerk hatte seine liebe Mühe, ihr hinkend zu folgen. Samt Fiffi, versteht sich.
Mit grübelnder Miene stand Oma Pusch vor der Backfischbude. Doch Rita schüttelte vehement den Kopf. Sie hatte längst die Gedanken ihrer Freundin gelesen.
„Nein, wir brechen die Tür nicht auf!“, bestimmte sie energisch.
„Willst du die Kripo rufen, falls es tatsächlich nur toter Fisch ist?“, wollte Oma Pusch wissen. „Was für eine Blamage! Stell dir das mal vor.“
Entschlossen ging sie zum Kiosk und kam mit einem riesengroßen Schraubendreher zurück. Alles Lamentieren nützte nichts. Noch bevor Rita sie daran hindern konnte, splitterte das Holz der Tür und gab die Sicht auf Bolle frei, der keinen schönen Anblick bot, wie er so inmitten seines Backfischs lag. Gut, dass Lina schon weg war.
Doch drehen wir die Zeit ein bisschen zurück …
Ja, reisen wir in die nahe Vergangenheit, zu einem Moment, an dem noch alles gut gewesen war. Wir befinden uns also mitten im Hochsommer. Schon frühmorgens knallte die Sonne auf Oma Puschs Kiosk und brachte sie gehörig ins Schwitzen. Gegen Mittag würde sich die Bude in eine Sauna verwandelt haben.
Unsere Hobbyermittlerin mit dem Herz auf dem rechten Fleck war noch ziemlich allein am Hafen, nachdem die Fischer mit ihren Kuttern heimgekehrt und im Anschluss an die Löschung des Frachtguts ihrer Wege gegangen waren.
Bei Bäcker Hinrichs hatte sie an der Hintertür schon ein paar Brötchen mitnehmen können. Normalerweise machte sie ihre legendären Rollmopsbrötchen gemeinsam mit Freundin Rita bei Bedarf frisch fertig, aber bei der Hitze war es ratsam, anders vorzugehen. Sie mussten geschmiert werden, bevor die Butter unter dem Messer zerrann. Auch die eingelegten, gerollten Möpse sollten nicht zu viel von der Wärme abbekommen. Das galt ebenso für den Honig, der sonst nur in Bruchteilen auf dem Fisch und eher an den Fingern haften blieb. Dabei war der süße Pfiff enorm wichtig auf dem Rollmops. Er sorgte dafür, dass die Brötchen von Oma Pusch so beliebt waren. Selbst wenn die Kunden nicht einmal ahnten, weswegen ihnen diese Delikatesse bei ihr so viel besser schmeckte als anderswo, lockte sie der Genuss immer wieder zu Oma Pusch wie die Bienen auf eine Blüte. Sie konnten gar nicht anders. An der gesamten Küste schworen Wasser- und Landratten nur auf die Rollmopsbrötchen von Oma Pusch. Einer aus Frankfurt hatte sich sogar einmal mit einem ganzen Schwung eingedeckt und mit nach Hause genommen. Er wollte sich wohl dieses Urlaubsgefühl von Zeit zu Zeit in Erinnerung rufen, aber Oma Puschs Besonderheit war vergänglich. Rund 20 Brötchen hatten in seinem Gefrierfach gelegen, bis er eins auftaute, abbiss und den ganzen Rest in der Biotonne entsorgte. Sie hatte ihn gewarnt …
Als die Welt am Hafen noch in Ordnung war, kam zwischendurch auch ein bisschen Langeweile auf. Damit war nicht die Arbeit im Kiosk gemeint, sondern dass es momentan überhaupt nichts zu ermitteln gab. Kein Mord, kein Totschlag, ja nicht einmal ein brisanter Unfall. Aber Oma Pusch und Rita überlegten hinter dem Tresen, ob das nicht auch ein Vorteil sein konnte. Wenn man in dieser Weise mit nichts was zu tun hatte, erholte man sich bestimmt. Das hatten sie nämlich in einer Illustrierten gelesen: Wer sich langweilte, entspannte sich auch.
Doch das gemächliche Leben sollte sich bald ändern. Vielleicht konnte man sagen, dass das ganze Drama mit Luzi begann – und natürlich vor allem mit Bolle.
Gedankenversunken sah Oma Pusch, wie der alte Fischer Hinnerk mit einer gut gefüllten Tasche vom Deich her auf sie zuhinkte. Das Pfandflaschensammeln am Strand war wohl heute ziemlich lohnend gewesen, vermutete sie. Völlig unverständlich, was die Leute da so alles im Sand herumliegen ließen. Schon ihren Kindern und Enkeln hatte sie immer gepredigt, jedes kleinste Schnipselchen Müll wieder mit nach Hause zu nehmen, aber die moderne Gesellschaft hatte wohl keine gute Kinderstube mehr genossen. Wann immer sie selbst in der Natur unterwegs war, sammelte sie den Unrat ein, den andere hinterlassen hatten. So war das eben, und es hatte keinen Sinn, sich darüber zu ärgern.
„Fette Beute!“, rief Hinnerk beim Näherkommen und strahlte, als er sich an Oma Puschs Tresen abstützte. „Das gibt mindestens zwei Rollmopsbrötchen und einen Köm.“
„Nix Köm, um diese Uhrzeit gibt’s bei mir nur Kaffee“, betonte Oma Pusch und nahm ihm die leeren Flaschen und Bierdosen ab.
„Von mir aus“, brummte Hinnerk und rieb sich sein kürzeres Bein.
„Tut es heute wieder weh?“, erkundigte sie sich, während sie ihm die Tasse reichte.
„Der Wetterumschwung“, klagte er. „Ich verfluche den Tag, als der Sturm mich fast von Bord gespült hätte.“
„Wenn dein Bein nicht hängen geblieben wäre, wärst du ganz weg gewesen. Also sei froh. Glück im Unglück“, betonte Oma Pusch.
„So gesehen ja, aber lästig ist es schon“, sagte er.
Aus dem Augenwinkel sahen sie, wie ein paar Männer Holzpfosten und Bohlen heranschleppten.
„Is irgendwas Besonderes los?“, erkundigte sich Hinnerk.
„Nicht dass ich wüsste“, sagte Oma Pusch und beobachtete das Geschehen weiter.
„Moin!“, rief es von der anderen Seite. Rita kam um die Ecke. In ihrer Hand trug sie eine kleine Tasche.
„Moin, bist du heute gar nicht mit Rad?“, wollte Oma Pusch wissen.
„Äh, nee, du, ich muss dir da was sagen“, stammelte Rita, „aber nicht böse sein. Ich konnte ihn nicht zu Hause lassen.“
„Hast du etwa einen Macker? Ich glaub’s ja nicht. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.“ Lachend schlug Hinnerk sich auf die Schenkel.
Mit einem strafenden Blick hob Rita den neuen Mann in ihrem Leben aus der Stofftasche und schwieg. Oma Pusch und Hinnerk blieb der Mund offen stehen. Zum Vorschein war ein kleines Etwas gekommen, das schwerlich als Hund zu identifizieren war. Fell hatte es nur an wenigen Stellen, vor allem an Kopf und Schwanz, aber da war das weiße oder schwarze Haar so lang, dass man Zöpfe flechten konnte. Am übrigen Körper zeigte die Haut rosafarbene und dunkle Flecken einschließlich einiger Muttermale, die wie Warzen wirkten. Die dürren Beinchen endeten in scharfen Krallen.
„Ist das etwa deiner?“, fragte Oma Pusch immer noch geschockt, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.
„Nee, der gehört meiner Schwester Luise. Sie liegt im Krankenhaus. Oberschenkelhalsbruch“, erklärte Rita. „Was sollte ich machen. Ich konnte Luzi doch nicht ins Tierheim bringen.“
„Süß irgendwie, das kleine Mäuschen“, flunkerte Hinnerk.
„Findest du?“, freute sich Rita.
Verlegen wackelte der alte Fischer mit dem Kopf.
„Er braucht eine neue Brille“, vermutete Oma Pusch und stöhnte. „Was machen wir jetzt damit?“
„Ich dachte, er könnte ausnahmsweise eine Zeit lang unter dem Tresen liegen“, bettelte Rita. „Er ist auch ganz lieb.“
„Er?“, wunderte sich Oma Pusch. „Soweit ich weiß, ist Luzi ein Mädchenname.“
„Kann sein. Meine Schwester wusste es wohl nicht besser“, berichtete Rita, „aber ich habe ihn das Bein heben sehen. Da wird es doch eher ein Rüde sein, oder?“
Hinnerk nickte. „Habe ich bei Hündinnen noch nicht gesehen.“
„Ist mir egal, was es ist“, grummelte Oma Pusch, „auf jeden Fall ein Hund und der gehört nicht in einen Kiosk, in dem Lebensmittel verarbeitet werden. Basta!“
„Aber er haart doch nicht“, wandte Rita mit flehendem Blick ein. „Sonst muss ich zu Hause bleiben und du den Kiosk alleine bewirtschaften.“
Das war großer Mist, dachte Oma Pusch bei sich. Nicht nur, dass ihr Ritas Arbeitskraft fehlen würde, auch die Gespräche oder Fachsimpeleien über mögliche Kriminalfälle gingen auf keinen Fall ohne sie.
„Ich könnte ja einspringen“, schlug Hinnerk vor und dachte dabei an das Schmieren der Brötchen, das Sabbeln mit den Leuten und die Biere, die für ihn dabei abfallen würden. Im Geiste sah er sich schon mit Schürze hinter dem Tresen stehen.
„Das würdest du für uns tun?“, fragte Rita begeistert.
„Sicher“, versprach Hinnerk und wuchs ein bisschen über sich hinaus, weil er jetzt einen Job hatte. Vielleicht konnte er seine magere Rente etwas aufbessern.
„Ja, damit wäre ich auch einverstanden“, stimmte Oma Pusch ebenfalls zu.
Rita nahm den halb nackten Köter und streckte ihn Hinnerk entgegen.
„Wie, jetzt? Was soll das? Wieso gibst du mir das Viech?“, wollte er verdattert wissen.
„Na, du willst doch einspringen und dich um Luzi kümmern“, erwiderte Rita.
So hatte das Hinnerk nun wirklich nicht gemeint, doch bevor er Einwände vorbringen konnte, kam Lina mit verzücktem Blick auf den Kiosk zugestürmt.
„Mein Gott, wie niedlich! Mann, ist der süß!“, rief sie verzückt und küsste das Wesen auf Hinnerks Arm. „Ist das deiner? Wo hast du ihn her?“
„Ich kümmere mich um ihn“, sagte der alte Fischer jetzt, als wäre es genau das, was er von Anfang an gewollt hatte. Wenn er mit der Töle bei seiner Angebeteten punkten konnte, würde er sich mächtig ins Zeug legen und zusehen, dass er Luzi so oft es ging am Kiosk abholte. „Wollen wir spazieren gehen, dann erkläre ich dir alles“, schlug er vor.
Glückselig schoben die beiden ab, – jeder aus einem anderen Grund.
Oma Pusch und Rita sahen ihnen nach und grinsten sich an. Das war ja super gelaufen. Erst das Hämmern und Dröhnen des Akkuschraubers rief ihnen wieder in Erinnerung, dass dort schräg gegenüber etwas vorging, von dem sie keine Ahnung hatten. Natürlich konnte das nicht so bleiben.
„Bauen die da etwa was auf?“, überlegte Rita laut. „Es ist doch überhaupt kein Markt oder eine Veranstaltung geplant.“
„Eben“, pflichtete Oma Pusch ihr bei, „und deswegen horche ich mal nach. Besser ist das!“
Sie legte ihre Schürze ab, ging auf die Handwerker zu und grüßte freundlich.
„Moin, darf ich fragen, was Sie hier machen? Man hat uns gar nichts gesagt. Es stand auch nichts in der Zeitung. Ist irgendetwas Besonderes los?“
„Nö. Das wird ein Fischstand“, erklärte ihr der Monteur und wandte sich dann an seinen Kollegen. „Edgar, sach mal, wie heißt der Kerl von dieser Fressbude noch? Guck mal auf das Schild. Das steht da am Rand.“
„Backfisch-Bolle“, rief der von Weitem, „aber ich glaube nicht, dass Backfisch sein Vorname ist.“
Das glaubte Oma Pusch auch nicht. Genauer gesagt, sie wusste es besser. Es konnte sich nur um Bertil Bolle handeln, der schon mit diesem und jenem versucht hatte, den Leuten das Geld aus der Nase zu ziehen: Immobilien, Versicherungen, ja sogar mit einer Heiratsvermittlung. Dass man ihr den jetzt mit einem Fischstand vor dieselbige setzte, war eine unerhörte Frechheit! Eine Unverfrorenheit. Ja, geradezu geschäftsschädigend war das, wenn man genauer darüber nachdachte. Dagegen musste sie dringend vorgehen.
Oma Pusch bedankte sich bei den Männern. Die konnten ja nichts dafür. Dann ging sie schnurstracks mit hochrotem Kopf zu Rita zurück, und das lag nicht nur an der Sommerhitze.
Wie hoch ihr Blutdruck war, wusste Oma Pusch nicht, als sie auf ihren Kiosk zustürmte. Wahrscheinlich war das auch gut so. Noch besser schien es allerdings, auch kein Messgerät im Schrank zu haben. Sonst wäre Rita noch auf die Idee gekommen, ihn kontrollieren zu wollen, als sie nun etwas blass um die Nase auf einem Stuhl hinter dem Tresen Platz nahm. Vor allem weil Oma Pusch erst mal überhaupt kein Wort herausbrachte, was ziemlich ungewöhnlich für die allseits bekannte Quasselstrippe war.
„Stell dir vor“, japste sie kurze Zeit später, „wir kriegen Konkurrenz. Das wird ein Backfischstand.“
„Ick wärr’ verrückt“, stöhnte auch Rita jetzt.
„Wart es ab, wenn du erst erfährst, wer uns die Kunden klauen will“, sagte Oma Pusch und holte einmal tief Luft. „Bertil Bolle!“
„Nee“, erwiderte Rita perplex, „echt jetzt? Was hat der denn mit Fisch zu tun? Mal abgesehen von seinem eigenen Geruch.“ Sie rümpfte die Nase. „Hat der nicht unlängst einen Drachen-Verleih betrieben?“
„Sag mir, was der Kerl noch nicht ausprobiert hat“, seufzte Oma Pusch. „Dem ging es doch immer darum, an anderer Leute Geld zu kommen. Und das am besten mit minimalem Aufwand.“
„Und einem Schuss krimineller Energie“, wusste Rita. „Wenn ich nämlich noch an seine Partnervermittlung denke, wird mir übel. Küsten-Schätze.de! Pah, Juwelen von der Waterkant und so weiter. Lachhaft, alles nur Schmu!“
Oma Pusch wurde hellhörig. „Was weißt du denn da so genau Bescheid?“, erkundigte sie sich. „Hast du da etwa gestöbert?“
Rita bekam eine rote Birne. „Nee, nur mal geguckt, als das in der Zeitung stand damals. Man muss ja wissen, was um einen rum so los ist.“
„Wie dem auch sein“, sagte Oma Pusch und setzte sich aufrecht hin, „das können wir nicht einfach so hinnehmen, dass man uns da so jemanden direkt vor die Nase setzt. Vor allem, weil wir auch Fisch und Krabben verkaufen.“
Rita grübelte kurz. „Na ja, es ist Backfisch. Den haben wir natürlich nicht im Angebot.“
„Pah, das lässt sich schnell ändern. Ich kaufe noch heute eine Fritteuse und keinen kleinen Gefrierschrank, und dann soll der mal sehen, wo der mit seinem Backfisch bleibt, der olle Bolle“, beschloss Oma Pusch voller Kampfgeist.
„Glaubst du, wir können gegen den Bertil anstinken, wenn der ganz anders ausgerüstet ist?“, überlegte Rita laut. „Das ist doch so wie bei David gegen Goliath. Ich vermute, er hat mehrere Fritteusen und Tiefkühltruhen. Da sehen wir alt aus. Und wer will noch Rollmopsbrötchen essen, wenn er Fritten und Backfisch haben kann?“
Oma Pusch sank auf ihrem Stuhl in sich zusammen. So hatte Rita sie noch nie gesehen. Der kurzfristig aufflammende Kampfgeist war der Resignation gewichen. Sie wirkte wie ein Häufchen Elend.
„Du willst dir das doch wohl hoffentlich nicht gefallen lassen“, donnerte Rita weiter. Sie regte sich richtig auf. „Also, ich würde mich beschweren gehen, und das an höchster Stelle. Uns hier so eine Bude hinzusetzen, grenzt schon an böse Absicht. Hast du mit einem aus der Verwaltung Streit?“
Oma Pusch schüttelte müde den Kopf. „Ich kann ja mal im Bürgerbüro nachfragen, ob die was wissen. Oder bei der Tourist-Information.“
„Was?“, schimpfte Rita. „Nix da! Du gehst sofort zu Jürgen und redest Tacheles. Auch wenn er vielleicht nichts damit zu tun hat, soll er die Sache abstellen. Wir wollen, dass diese Stinke-Hütte hier wegkommt. Das ist doch eine Schande für den ganzen Hafen. Ich begreife überhaupt nicht, wie das jemand genehmigen konnte. Vielleicht lässt sich das Ganze noch stoppen.“
„Meinst du?“, fragte Oma Pusch, nun wieder mit einem kleinen Funken Hoffnung.
„Ja, könnte sein“, machte Rita ihr Mut, „aber du musst sofort handeln, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist beziehungsweise bis sich der Bertil in seinem Verschlag eingerichtet und es sich gemütlich gemacht hat. Also, jetzt sofort!“
„Aber glaubst du, dass sich der Bürgermeister damit beschäftigt, wer hier am Hafen was verkauft?“, hakte Oma Pusch nach.
„Keine Ahnung, aber der Jürgen Peters weiß auf jeden Fall, wer für das Fiasko verantwortlich ist“, vermutete Rita. „Eventuell weiß er selbst gar nichts davon und hätte es nie genehmigt, wenn es über seinen Tisch gegangen wäre.“
„Ganz bestimmt nicht“, war Oma Pusch sich plötzlich sicher. „Ich bin schon seit Jahren hier, und das muss doch als so eine Art Alleinstellungsmerkmal gelten. Findest du nicht?“
„Absolut“, betonte Rita. „Ich denke, es gibt jetzt nur zwei Möglichkeiten. Entweder schließt du deinen Kiosk diese Saison und machst erst im nächsten Jahr wieder auf, wenn Bertil sich kaputtgewirtschaftet hat – wie immer –, oder du kämpfst gegen ihn an.“
Oma Pusch dachte einen Moment nach. Auch wenn sie im ersten Moment von der Situation etwas überfordert gewesen war, weil sie die Unverschämtheit anderer nicht begreifen konnte, wollte sie sich dennoch ganz bestimmt nichts gefallen und erst recht nicht vertreiben lassen. Rita hatte im Inneren ihrer Freundin in ein Wespennest gestochen, denn sie kannte sie genau. Ans Bein pissen, wie man so schön sagte, ließ sich Oma Pusch nämlich gewiss nicht. Niemals! Wie Phönix aus der Asche erwachte der Vulkan in unserer Hobbyermittlerin zu neuem Leben. Sie begann, im Geiste ihre Waffen zu wetzen. Aber erst mal wollte sie es wenigstens noch freundlich beim Bürgermeister versuchen.
„Du hast recht, Rita“, sagte sie und klopfte ihrer Freundin auf die Schulter. „Ich gehe gleich rüber und horche bei Jürgen nach. Dann sehen wir weiter. Aber wir werden ganz sicher nicht schließen. Eher fackele ich dem Bolle die Bude ab!“ Sie grinste. „Kann ja leicht was passieren bei dem heißen Frittierfett. Hältst du hier die Stellung?“
Rita nickte erleichtert. Da war sie wieder, die echte Oma Pusch, mit der nötigen Portion Kampfgeist und Humor!
Oma Pusch hatte es nicht weit. Die Gemeindeverwaltung lag quasi fast gegenüber, wenn man den Hafen im Rücken hinter sich ließ. Sie musste nur über die Straße am Schöpfwerk vorbei in den Von-Euken-Weg. Mittlerweile war sie wieder so in Rage, dass sie direkt an der Sekretärin vorbei in das Büro des Bürgermeisters stürmte.
„Hallo! Moment mal!“, rief die ihr hinterher. „Sie können doch nicht einfach …“
Aber ja doch, sie konnte! Und ganz bestimmt würde sie sich nicht von Steffens Stina aufhalten lassen. Dafür, dass sie blond und schlicht in der Birne war, konnte sie nichts, aber Oma Pusch hatte jetzt überhaupt keine Lust, mit der hohlen Frucht zu diskutieren. Die Stina hatte sie nicht einmal erkannt. Und dabei war Oma Pusch wirklich so etwas wie ein bunter Hund.
Beim Anblick des vermeintlichen Bürgermeisters blieb ihr jedoch die Luft weg und die Sprache ebenfalls. Oma Pusch hatte soeben noch die Klinke in der Hand, als ihre Augen auch schon ein üppiges, weibliches Wesen entdeckten, dessen Füße auf dem Schreibtisch lagen, während es sich die Fingernägel feilte. Man konnte sagen, dass der mit allen Wassern gewaschenen Kioskbesitzerin der Mund offen stehen blieb. Die Dame auf dem Stuhl nutzte die Gelegenheit. Gelassen nahm sie ihre Füße hinunter und steckte sie in die Pumps zurück, gleichzeitig ließ sie die Feile in die Schublade plumpsen.
Oma Pusch war nicht nur aufgrund der äußeren Umstände sprachlos, sondern vor allem wegen der Person, die zwar auf seinem Stuhl saß, aber keinesfalls Bürgermeister Jürgen Peters war. Vor ihr saß Bille Bolle, die Schwester von Bertil, die ihre Verwandtschaft zu dem allseits unbeliebten Bruder seit einiger Zeit hinter dem Ehenamen Jürgensen verbarg. Aber Oma Pusch wusste es natürlich trotzdem, wen sie da vor sich hatte. Jetzt reimte sich die ganze Geschichte zusammen.
„Sag mal, klopft man eigentlich nicht an, bevor man in ein Amtszimmer stürmt?“, fragte sie süffisant und stützte ihren großen Busen auf der Schreibtischplatte ab. Die einzelnen Perlen ihrer Kette wippten über die Haut in die Schlucht zwischen ihren Brüsten und verschwanden dort. „Wie kann ich dir helfen, Lotti?“ Ihr breites Grinsen war unerträglich.
Für einen kurzen Moment überlegte Oma Pusch, was Bille hier zu suchen hatte, aber dann fiel ihr ein, dass es das Prachtweib geschafft hatte, sich über eine ominöse Wählervereinigung zur stellvertretenden Bürgermeisterin küren zu lassen.
„Ich wollte zu Jürgen“, sagte Oma Pusch knapp, deren Blutdruck sich im oberen Bereich eingependelt hatte.
„Der ist zur Kur, ich vertrete ihn“, erwiderte Busen-Bille. „Du musst dich also an mich wenden, wenn du was auf dem Herzen hast.“
Was für eine bekloppte Situation war das denn, dachte Oma Pusch und wünschte sich klammheimlich auf eine einsame Insel, weit weg von Ostfriesland. Wenn sie jedoch jetzt schnell irgendetwas erreichen wollte, konnte sie wahrscheinlich nicht warten, bis der Jürgen wiederkam. Der konnte noch nicht lange weg sein, denn sie hatte ihn vorgestern am Kiosk vorbeigehen sehen. Nur der Teufel konnte hier seine Hand im Spiel haben, hätte die uralte Marga gesagt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Verdammt!
Oma Pusch räusperte sich und legte los. „Ich möchte mich beschweren.“
„Worüber genau?“, erkundigte sich Bille und holte einen grellroten Nagellack aus ihrer Handtasche. „Du gestattest? Ich muss gleich noch zu einem offiziellen Termin.“
Was für eine Unverschämtheit, dachte Oma Pusch, und was für eine Missachtung ihrer Person. Fing die da doch tatsächlich an, sich die Nägel zu lackieren.
„Um es kurz zu machen“, donnerte Oma Pusch los. „Du bist ja augenscheinlich schwer beschäftigt. Ich möchte mich über die Konkurrenz deines Bruders am Hafen beschweren. Und nicht nur das. Ich will, dass sein Backfischstand da wegkommt. Von mir aus soll er den woanders weit weg von mir aufbauen, aber doch nicht direkt vis-à-vis, wo mir sein Fett fortwährend in die Nase stinkt. Das ist gesundheits- und geschäftsschädigend.“
„Keineswegs, meine Liebe“, säuselte Bille gelassen. „Er hat ein vollkommen anderes Sortiment im Angebot. Außerdem ist sein Antrag längst bewilligt worden. Finde dich damit ab.“
„Einen Teufel werde ich“, schimpfte Oma Pusch. „Da steckst doch du dahinter. Ich wette, dass der Jürgen von dem ganzen Schmu keine Ahnung hat.“
„Weil du alt bist, verzeihe ich dir jetzt mal deine ungeheuerliche Unterstellung“, sagte Bille betont freundlich und fixierte Oma Puschs rote Birne, die so langsam ins Violette überging. „Du kannst schriftlich Beschwerde einlegen, wie jeder andere auch. Die Bearbeitung geht dann nach der Reihe, wenn meine Vertretung beendet ist. Ach ja, und der Jürgen ist erst in acht Wochen wieder da. Er hat nämlich an die Kur noch seinen Jahresurlaub drangehängt. Ich schätze also, du wirst dich diese Saison mit deiner Konkurrenz anfreunden müssen.“ Genüsslich strich sie mit dem Pinsel über ihren Daumennagel.
„Sicher nicht! Und die Sache hat ein Nachspiel. Darauf kannst du Gift nehmen!“, drohte Oma Pusch, die sich abrupt auf dem Fuß umdrehte und mit wehender Jacke das Büro des Bürgermeisters verließ. Dabei sah sie wie ein Racheengel aus.
Ein bisschen hatte Oma Pusch im Nachhinein ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich an den Moment erinnerte, in dem sie da vor Bolles Leiche stand. Sie hätte ihn vielleicht doch nicht so sehr verwünschen sollen … aber kehren wir zu dem Augenblick zurück, als die Hobbyermittlerin mit dem Schraubendreher in der Hand in die Backfischbude starrte und den Atem anhielt:
Eine Welle voller Gestank und Fliegen drang Oma Pusch und Rita entgegen. Das war das Erste, das sie wahrnahmen, bevor sich die summende Bande kurzfristig, durch den Luftzug aufgeschreckt, von Bolle erhob und dann wieder auf ihm niederließ.
„Hast du das gesehen?“, fragte Oma Pusch und deutete mit dem Werkzeug auf das Gesicht des Toten. Ihr war selbst nicht ganz wohl.
Ritas Äußeres nahm eine grünliche Farbe an. Mit Schmackes donnerte sie die Tür des Holzschuppens zu und rettete sich außer Riechweite auf eine Bank, wo der Wind günstig stand. Erst dort fand sie ihre Sprache wieder.
Wütend surrte es in der Backfischbude. Die Fliegen landeten erneut auf Bolle und schüttelten wegen der zweiten Ruhestörung innerhalb einer Minute empört den Kopf.
„Hast du genug gesehen?“, stöhnte Rita. „Ist ja widerlich!“
„Der war lebendig schon ekelhaft, aber das toppt es noch. Hundertprozentig!“, gab Oma Pusch zu. „Ich wundere mich nur über die komischen Zeichen auf seinem Gesicht.“
„Das ist mir vollkommen egal, was der wo hatte“, schimpfte Rita. „Ruf jetzt gefälligst deinen Neffen Oberkommissar Hintermoser an, damit wir das da“, sie zeigte auf Bolles Bude, „schnell loswerden. Oder willst du, dass sich die Leichenfliegen auf deine Rollmopsbrötchen setzen?“
„Verdammt, ja, du hast vollkommen recht“, rief Oma Pusch bestürzt und eilte zu ihrem Kiosk. „Los, hilf mir, wir müssen alles abdecken oder in den Kühlschrank stellen, was offen rumliegt. Sonst können wir es wegschmeißen.“
„Das mache ich“, beschloss Rita, „und du siehst zu, dass du einen Verantwortlichen an die Strippe kriegst.“
Oma Pusch nickte, suchte sich eine ruhige Ecke und wählte die Nummer ihres Neffen Eike.
Der runzelte die Stirn, während er in seine Stulle biss und aufs Smartphone starrte. Oh Gott, nein! Seine Tante Lotti! Die hatte ihm gerade noch gefehlt. Für einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, es bimmeln zu lassen oder auf „Ablehnen“ zu drücken, dann siegte sein schlechtes Gewissen.
„Nun geh schon ran“, rief ihm sein Kollege Niklas Müller leicht genervt rüber.
„Himpfermofer“, meldete er sich undeutlich noch mit vollem Mund, „was willft du, Tantchen?“
„Ihr müsst sofort kommen“, rief Oma Pusch außer Atem. Sie hatte wegen des Gestanks, der nun nach außen gedrungen war, zu lange die Luft angehalten.
Eike schluckte. Nicht nur, um die Käsestulle aus dem Mund zu bekommen. Sie würde doch nicht schon wieder … Aber dann überlegte er, dass es nicht sein konnte, und wagte einen dummen Witz. „Schon wieder ’ne Leiche gefunden, oder was?“
„Genau“, sagte Oma Pusch und brachte ihren Neffen zum Husten.
„Nicht dein Ernst“, zischte der, als er sich wieder eingekriegt hatte. „Ich bin jetzt nicht zum Scherzen aufgelegt. Wo bist du?“
„Am Hafen, da wo ich um diese Zeit immer bin“, erwiderte sie schnippisch.
Eike begann laut zu lachen. „Ach ja, und da glaubst du, wir wüssten es nicht längst, wenn da wer tot wäre? Hunderte von Menschen laufen da rum, aber nur du siehst einen Toten.“
„So ist es, nur ich und Rita“, behauptete Oma Pusch, „und das auch nur, weil wir …“, sie stockte. Schließlich konnte sie ihm ja nicht erzählen, dass sie den Backfischstand aufgebrochen hatte. Darüber musste Stillschweigen bewahrt werden. „Und das auch nur, weil wir was gerochen haben“, fuhr sie fort.
„Nur gerochen oder auch gesehen?“, erkundigte sich Eike.
„Beides“, gab Oma Pusch zu, „also kommst du nun endlich? Und soll ich Enno anrufen?“
„Du wirst nichts dergleichen tun“, schimpfte der Oberkommissar. „Die Rechtsmedizin verständigen immer noch wir“, er holte tief Luft, „falls es wirklich nötig ist.“
„Wie du meinst“, schnaubte Oma Pusch. „Dann schwing mal die Hufe, damit du dich nicht durch eine Traube von Schaulustigen drängeln musst. Andere sind nämlich auch nicht geruchsblind.“
„Bis gleich“, sagte er nur und legte schnell auf, denn er schäumte innerlich und war versucht, etwas sehr Unfreundliches zu seiner Tante zu sagen.
Sein Kollege, Oberkommissar Niklas Müller, war schon aufgestanden und hatte den Schlüssel vom Bord genommen. „Du solltest mal über deinen Schatten springen und deiner Tante etwas freundlicher am Telefon begegnen“, sagte er augenzwinkernd. „Für die Leichen, die ihr begegnen, kann sie schließlich nichts.“
„Sie ist anstrengend“, gab Eike zu, „und immer will sie sich einmischen. Macht mir sogar Vorschläge, wie ich zu arbeiten habe.“
„Ja, ja, schon“, erwiderte Niklas, „aber wenn du ehrlich bist, hätten wir den letzten Fall ohne sie gar nicht gelöst. Sie ist also manchmal auch hilfreich.“
„Hast ja recht“, murmelte Eike widerwillig und schnappte sich seine Lederjacke. „Dann lass uns mal gucken gehen, was sie da gefunden hat.“
Die Beamten in Uniform, die vorne ihren Schreibtisch hinter dem Tresen hatten, ahnten noch nichts von einem neuen Fall.
„Geht ihr zu Schlicky-Becker?“, fragte Krischan Hansen und rieb sich seinen Bauch. „Dann bringt uns auch ein Stückchen Kuchen mit.“
„Mir nicht, ich bin auf Zuckerdiät“, blökte Martin Hinrichsen, noch bevor Eike antworten konnte.
„Wir gehen nicht zum Konditor, sondern untersuchen einen neuen Fall“, erklärte Niklas. „Außerdem: Nimm dir ein Beispiel an Martin, und ein bisschen Sport könnte dir auch nicht schaden.“
Hansen war beleidigt und vertiefte sich in seinen Bildschirm.
„Was’n für’n Fall, Chef?“, wollte Hinrichsen wissen. Seine abstehenden Ohren glühten vor Neugierde.
„Angeblich eine Leiche“, berichtete Eike Hintermoser, „aber die müssen wir erst in Augenschein nehmen, falls es sie wirklich gibt.“
„Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass sich deine Tante irrt“, bemerkte Niklas beim Rausgehen. „Bestimmt weiß sie auch, wer der Tote ist. Hat sie nichts gesagt?“
„Nee“, wunderte sich Eike jetzt, „das ist schon komisch, aber es war ja auch ein kurzes Gespräch. Gleich wissen wir mehr.“
Oma Pusch sollte recht behalten. Nachdem der Backfischstand einmal geöffnet und nicht wieder so richtig verschlossen war, weil die Tür kaputt in den Angeln hing, drang der Gestank von Fisch und Schlimmerem durch den Spalt. Wer zufällig in den Dunstbereich des Duftes geriet, flüchtete schnell woanders hin. Einige hartgesottene Neugierige hielten sich jedoch in der Nähe auf. Sie witterten, dass da etwas los sein musste. Als dann auch noch die allseits bekannten Kommissare auftauchten, schien sich das Lauern gelohnt zu haben.
Eike und Niklas wussten sofort, dass Oma Pusch sie nicht umsonst gerufen hatte. Wer einmal so etwas in der Nase gehabt hatte, vergaß es niemals wieder.
„Na, wo ist denn nun deine Leiche?“, fragte Eike versöhnlich.
Oma Pusch zeigte auf Bolles Bude. Sie war immer noch sauer und daher ungewöhnlich wortkarg. „Bertil ist da, wo er hingehört, aber eben nicht mehr am Leben. Ihr könnt euch gern selbst überzeugen.“
„Werden wir, Lotti“, sagte Niklas, „und vielen Dank für die Info.“
Nun brummte Oma Pusch zufrieden. Dieser Müller war ein Goldjunge. Immer so freundlich.
Vorsichtig näherten sich die Kommissare der Holzhütte von Bertil. Ah, die Tür war aufgebrochen. Sie zogen sich Handschuhe an, hielten sich die Nasen zu und betraten das Innere. Alte und neue Fliegen surrten und murrten, weil man sie schon wieder vom Eierlegen abhielt. Denn was die beiden Beamten nicht wissen konnten, war, dass Oma Pusch – sehr zum Entsetzen von Rita – erst vor ganz kurzer Zeit noch ein paar Aufnahmen mit ihrem Smartphone gemacht hatte. Dazu hatte sie die ganze Brut abermals aufscheuchen müssen. Sonst wäre nur das schwarze Gewusel zu erkennen gewesen.
Niklas und Eike hatten beim Blick auf den bedauernswerten Bertil genug gesehen. Es stand außer Frage, dass zwar eine Horde auf ihm lebte, aber er selbst schon längst nicht mehr. Es drängte sie, diesen schaurigen Ort zu verlassen, an dem es so drohend summte. Hier mussten andere ihre Arbeit tun. Ein Glück! So schnell sie konnten, verließen sie den Schauplatz und schlossen die Tür. Eike holte einen der Papierkörbe und stellte ihn davor, damit der verbleibende Spalt möglichst klein war. Dann zückte er sein Smartphone, rief Bodo Siebenstein von der Spurensicherung und Rechtsmediziner Doktor Enno Esen an. In der Zwischenzeit hatte Niklas rot-weiß gestreiftes Flatterband aus dem Wagen geholt. Damit sperrte er zunächst einmal notdürftig einen Bereich zwischen Backfischbude und zwei Hafenpollern ab. Jetzt hieß es warten und vielleicht erste Fragen stellen. Wo ging das besser als an Oma Puschs Tresen?
Doch drehen wir die Uhr noch mal um ein paar Wochen zurück zu dem Zeitpunkt, an dem Oma Pusch wutschnaubend von der Gemeindeverwaltung zurückkehrte, die in der alten Schule untergebracht war. Man konnte sagen, dass sie in ihrer Rage beinahe blind war, denn ein armer Tourist mit Kennzeichen OAL konnte gerade noch ausweichen, als sie – ohne im Geringsten auf den Verkehr zu achten – über die Straße in Richtung Hafen rannte.
Sie hatte nur eins im Sinn: Rita von der bodenlosen Unverschämtheit zu erzählen, die sie soeben erleben musste.
„Stell dir vor“, keuchte sie und stützte sich von außen auf dem Tresen ab, „stell dir vor, wer auf dem Bürgermeistersessel hockt?“
„Der Bürgermeister?“, sagte Rita, etwas perplex von der doofen Frage.
„Natürlich nicht“, gab Oma Pusch zurück, „oder warum denkst du, dass ich davon anfange?“
Rita verdrehte die Augen.
„Da sitzt das Busenwunder Bille Bolle, das sich seit einiger Zeit mit dem Nachnamen Jürgensen tarnt.“
„Was will die denn da?“, wunderte sich Rita. „Hat der Bürgermeister mit der …?“
„Ach, i wo! Wo denkst du hin?“, lachte Oma Pusch nun. „Nein, die vertritt ihn nur, was schon schlimm genug ist. Sie ist da irgendwie als Stellvertreterin über eine Wählervereinigung reingerutscht und treibt da jetzt ihr Unwesen, indem sie Standgenehmigungen erteilt, die sicherlich nicht korrekt und die darüber hinaus auch noch aufgrund von Vetternwirtschaft entstanden sind. Das wird ein Nachspiel haben. Glaube mir!“
„Ja, aber erst mal werden wir wohl nichts dagegen tun können, dass sich dieser Bertil direkt in unserem Dunstkreis breitmacht“, fürchtete Rita und seufzte.
„Und ob“, sagte Oma Pusch kampfbereit, „wir werden ihm das Leben zur Hölle machen. Sei gewiss! So leicht lassen wir uns nicht unterkriegen.“
Die beiden Frauen waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie überhaupt nicht mitbekommen hatten, was um sie herum geschah. Sonst hätten sie die uralte Marga bemerkt, die ihren farbenfrohen Rollator unterhalb des Tresens parkte und sich ins Gespräch einmischte.
„Moin, ihr lütten Deerns, ja, ja, da geiht wat vör! Ik spöör dat. De Düvel is allerwegens! He fahrt jüüst ut de hell …“, murmelte die Hochbetagte hinter vorgehaltener Hand.
Wir übersetzen ins Hochdeutsche, denn niemand fernab der Küste kann die drei Damen verstehen, wenn sie erst ins ostfriesische Platt verfallen sind.
„Das kann man wohl sagen, dass sich die Erde aufgetan hat“, zwinkerte Oma Pusch Rita zu, „und der Leibhaftige wird uns in Form von Bertil Bolle alsbald erscheinen. Da hast du recht.“
Marga bekreuzigte sich.
„Aber wir werden uns nicht unterkriegen lassen“, versprach Rita.
„Wenn ihr euch da mal nicht überschätzt“, warnte die Seniorin. „So ein Teufelskerl hat immer noch eine kleine Bosheit mehr im Ärmel. Wer hier wem das Leben zur Hölle macht, ist also fraglich. Ich werde euch aber etwas von meinem Spezial-Weihwasser mitbringen. Das wird euch schützen. Habt ihr denn ein Rollmopsbrötchen für eine arme Alte übrig?“
Oma Pusch schnupperte in die Luft. Irgendetwas Ungutes stieg die Holzwand hinauf und waberte über den Tresen. Vielleicht ein Hauch von Ammoniak, überlegte sie. Auch Rita roch es jetzt. Der Gestank musste von Marga ausgehen. Heute schien sich das Schicksal irgendwie gegen die Freundinnen verschworen zu haben. Puh, sie mussten die Olle schnell loswerden. So etwas war ja nicht auszuhalten und würde ihnen das Geschäft verderben. Womit hatte die sich nur eingedieselt? Parfüm konnte man das wohl kaum nennen. Schnell reichte Oma Pusch der Hochbetagten ein Rollmopsbrötchen über den Tresen.
„Denn lass dir das mal schmecken, Marga“, sagte Oma Pusch, hüstelte leicht und hoffte, dass die Alte endlich abzog.
„Hm, danke“, erwiderte sie und nickte, „ich werd euch dann mal ein Fläschchen von meinem Weihwasser abfüllen und vorbeibringen. Wisst ihr, ich nutze das seit einiger Zeit. De Düvel scheint sich von mir fernzuhalten.“
Ja, und alle anderen auch, dachten die beiden Frauen hinter dem Tresen. Jetzt wussten sie, woher dieser widerliche Gestank kam.
„Was hast du denn da drin, in deinem Zaubertrank?“, wollte Rita wissen.
Jetzt druckste Marga und wollte nicht so recht raus mit der Sprache. Sie redete um den heißen Brei herum und machte lediglich vage Andeutungen. Dass sie dabei auf ihrem Rollmopsbrötchen kaute, machte die Sache auch nicht besser. Schließlich winkte sie den beiden und schob davon.
Oma Pusch grinste. Man konnte endlich wieder aufatmen und einen tiefen Zug frische Seeluft tanken.
„Ehrlich gesagt möchte ich die ganzen Ingredienzien dieses ominösen Weihwassers gar nicht so genau kennen“, stöhnte Rita.
„Wohl wahr“, stimmte Oma Pusch zu, die etwas von Katzenklo-Konzentrat und Gebissreiniger verstanden hatte, den man ja sonst am Morgen weggekippt hätte, wenn man die Zähne wieder einsetzte. Ja, von Verschwendung hielt diese Generation nichts. Es war alles immer noch für etwas anderes gut.
Die kurze Verschnaufpause währte nicht lange. Kurz nachdem Marga gegangen war, schlenderte Bertil Bolle an Oma Puschs Bude vorbei, schnurstracks auf seinen halbfertigen Stand zu. Man sah ihm seine Wichtigkeit schon von ferne an. Er inspizierte die Arbeiten, gab den Männern gute Ratschläge und wandte sich dann – frech bis über beide Ohren grinsend – zu Oma Pusch um. Dann kam er näher in seinem Matrosenanzug wie das Monster mit den Riesenzähnen in „Der weiße Hai“.
Obwohl sich den beiden Frauen die Nackenhaare aufstellten, versuchten sie ruhig und betont freundlich zu sein.
„Bertil“, säuselte Oma Pusch, „das ist ja eine Überraschung!“
„Eine schöne und angenehme hoffentlich“, erwiderte er, „denn wir sehen uns jetzt ja öfter.“
An Selbstbewusstsein hatte es dem Kerl noch nie gefehlt, und da die beiden hinter dem Tresen darauf nicht wirklich antworten wollten, lächelten sie nur unverbindlich.
„Ich mach da jetzt auch einen Stand auf, mit Backfisch“, erklärte er.
„Wissen wir längst“, gab Rita knapp zurück.
„Tut mir leid, wenn ich euch da jetzt die Kunden abgrabe, aber ich kann ja nix dafür, dass eure Rollmopsbrötchen gegen Pommes und Fisch im Bierteig nicht anstinken können. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Er schlug sich auf die Schenkel und lachte über seinen eigenen Witz.
„Mach dir da mal keine Sorgen“, entgegnete Oma Pusch spitz, „denn man wird uns treu bleiben. Im Gegensatz zu dir haben wir nämlich eine Vielzahl an Stammkunden aus nah und fern.“
Bolle winkte ab, kam noch näher und flüsterte. „Ein paar Einheimische vielleicht. Euer antiquierter Kiosk von anno dazumal ist in jeder Hinsicht vergilbt und verstaubt. Wer will eure Ladenhüter schon kaufen? Und wer isst pappige Brötchen mit saurem Fisch, wenn er heiße Fritten und Paniertes haben kann? Hä? Das sacht mir mal. So was wie das hier“, er schlug auf den Tresen, dass die Frauen zusammenzuckten, „gehört doch eher ins Museum. Am besten ihr geht woanders hin oder macht gleich dicht, bevor ich euch wegfege wie ein Saharasturm.“
„Kannste vergessen“, sagte Oma Pusch nur, die jetzt ganz ruhig geworden war. Über Kleinigkeiten konnte sie sich aufregen und eine rote Birne kriegen, aber wenn Lotti Esen so richtig wütend war, dann wurde sie still und hoch konzentriert. Bertil Bolle hatte ihr den Fehdehandschuh hingeworfen. Nun, er sollte bald begreifen, auf was er sich da eingelassen hatte.
Tja, und nun war er hin, der Bertil. Nicht dass das jemanden wunderte. Viele überlegten sich vielleicht sogar, warum es so lange gedauert hatte, bis er von jemandem gemeuchelt worden war. Blitzschnell sprach es sich in Neuharlingersiel und Umgebung rum, dass der Bertil seine Essensmarken abgegeben hatte. Nun war Oma Pusch an der Verbreitung sicher nicht ganz unschuldig, denn sie fühlte eine gewisse Schadenfreude, auch wenn sie dabei gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatte. Zumindest ein ganz kleines … Der Bolle war ein Schwein gewesen und hatte ihr übel mitgespielt. Im Grunde geschah es ihm recht. Vielleicht nicht unbedingt auf diese Art und Weise, aber tot war tot. Er hatte es hinter sich. Was kümmerte ihn das noch? Einzig und allein seine Schwester Bille würde wohl um ihn trauern.
Doch nun mussten sich zunächst erst einmal andere Menschen um Bolle kümmern, und das war kein angenehmes Vergnügen. Bertil schaffte es sogar noch nach seinem Ableben, einem tierisch auf den Geist zu gehen, aber immerhin konnte er jetzt nichts mehr dafür.
Etwas widerwillig näherte sich Doktor Enno Esen von der Rechtsmedizin dem ganzen Geschehen. Man wartete schon auf ihn, damit er den Tod, der wirklich nicht im Geringsten anzuzweifeln war, nun auch medizinisch bestätigte. Zu seinem Leidwesen musste er das schwarze, geflügelte Völkchen verscheuchen, das mittlerweile so zahlreich angereist war, dass Bolle gänzlich unter ihm verschwand. Enno fegte also den Schleier weg. Er hasste die Fliegenviecher wie die Pest, aber sie waren nützlich, weil sie Eier legten, aus denen Maden schlüpften. Und die wiederum verrieten ihm so einiges, was er über den Zeitpunkt des Ablebens wissen musste.