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DIE HAFENIDYLLE VON NEUHARLINGERSIEL WÄRE PERFEKT, ABER ... Ach, du Schreck! Oma Pusch schaut aus ihrem Fenster direkt auf den toten Emil. Der Fischer hängt im eigenen Mast an einem mysteriösen Knoten. Doch damit nicht genug. Gerade als sie mit ihrer Freundin Rita die Ermittlungen aufnimmt, erfährt sie, dass Theo leblos in einem seiner Strandkörbe sitzt. Noch ein Selbstmord? Oma Pusch hat ihre Zweifel. Vor allem, weil sich der Tote samt Strandkorb in Luft aufgelöst hat, noch bevor die Polizei vor Ort ist. Teufelszauber oder Hexenwerk? Die greise Marga ist fest davon überzeugt. Das muss etwas zu bedeuten haben, denkt auch Oma Pusch. Sie folgt ihrer guten Nase und bringt dabei nicht nur sich selbst in Gefahr, denn ... ... EIN BÖSER GEIST TREIBT AN DER KÜSTE SEIN UNWESEN.
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Seitenzahl: 379
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Titelseite
Impressum
Widmung
Prolog
Rita muss her
Durch das Opernglas
Emil wird entdeckt
Bestechungsversuche
Auf dem Boot
Die Nachricht
Im Kiosk
Emil auf dem Tisch
Pfandflaschen
Selbstmord oder Mord?
Strandkorb 337
Vermisst
Auf dem Kutter
Mäuschen Mia
Bei Regen am Strand
Bilderschau
Eine Hexe zielt und schießt
Strandkorb 337
Die Nacht naht
Nächtliche Unternehmungen
Auf Nimmerwiedersehen
Neue Schlachtpläne
Der nächste Morgen
Mias Mann
Schlechter Schlaf
Auf dem Tisch
Ein schlechtes Gewissen
Schnüffeltour
Wieso Theo?
Auf Spiekeroog
Zurück im Kiosk
Emil
Ein Wiedersehen
Handarbeit
Nierenwärmer aus Wolle
Bootstour
Verstrickungen
Die Standpauke
Kopflos
Lange Stunden
Der Fluch des Nichtwissens
Frühstück bei Anita Esen
Im Kiosk
Hexenwerk
Schlimme Nachrichten
Auf der Spur
Am Strand
Zur letzten Ruhe
Akteneinsicht
Marga sieht klar
Kein Fortschritt
Seezunge
Mias Einsamkeit
Ennos schlechtes Gewissen
Der Lauf des Bösen
Albtraum
In Gefahr
Danksagung
Personenregister
Nané Lénard
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher der Autorin erschienen:
SchattenHaut
SchattenWolf
SchattenGift
SchattenTod
SchattenGrab
SchattenSchwur
SchattenSucht
SchattenGier
FriesenNerz
KurzKrimis und andere SchattenSeiten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2017 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
eISBN 978-3-8271-8326-2
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing
www.ansensopublishing.de
www.nanelenard.de
Der Roman spielt hauptsächlich an allseits bekannten Orten der Nordseeküste, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Für Sabine
Jeder, der schon mal am Hafen von Neuharlingersiel spazieren gegangen ist, kennt den Kiosk von Oma Pusch1. Und möglicherweise hat er sogar eines ihrer legendären Rollmopsbrötchen gegessen.
Wahrscheinlich wird er ein paar Worte mit ihr geschnackt haben, ohne zu wissen, wen er da vor sich hatte: Ein Urgestein dieses herrlichen Küstenlandstriches und neuerdings auch eine eher im Geheimen gefeierte Mordermittlerin. Kurze Zeit später schon mag er die alte Dame wieder vergessen haben ...
Wie dem auch sei. Oma Puschs Qualitäten erschließen sich einem nicht im Vorüberziehen. Wer jedoch ein wenig länger am Tresen der kleinen Bude stehen bleibt und ihr gut zuhört, der erfährt so einiges, was sich an der Küste abspielt. Wie zum Beispiel der olle norwegische Fischer Kjetil (gesprochen Schetil) Gudmundson, der heute einige Zeit später vom Meer zurückgekommen war als die anderen, und darum das Wichtigste verpasst hatte. Ein Rollmopsbrötchen kauend, ließ er sich von Oma Pusch die grauenhafte Entdeckung des Tages schildern. Eine Leiche! Geradewegs vor ihren Augen. Quasi von Angesicht zu Angesicht.
Was war passiert? Oma Pusch, die eigentlich Lotti Esen hieß, war guter Dinge, als sie am Morgen aufstand. Die Sonne schien. Endlich ein warmer Tag, der die Touristen ans Meer locken würde. Sie konnte aus ihrem Alkoven sehen, wie sich das orangefarbene Licht schon im Flurspiegel brach, obwohl es noch dämmerte. Mit Schwung schlug sie die Bettdecke auf und sprang aus dem Bett. Erstaunlich für ihre fast ... Jahre. Nein, wir wollen ihr den Gefallen tun und das genaue Alter nicht verraten. Das hat sie nämlich nicht so gerne. Auf jeden Fall ist sie eine sehr agile ältere Dame.
Es war längst Mai, aber die Temperaturen hatten sich bisher zurückgehalten. Oma Pusch sehnte sich nach warmen Tagen und streckte sich. Es knackte an diversen Stellen in ihren Gelenken. Sie grinste, weil sie darüber nachdenken musste, ob daher vielleicht der Begriff „alter Knacker“ kam. Als sich alle Knochen und Sehnen wieder an der richtigen Stelle befanden, ging sie zu einem ihrer Wohnzimmerfenster, das direkt nach Osten und damit zum Hafen hinausging. Im Vorübergehen fiel ihr Blick auf die Uhr. Fast sechs. Die meisten Fischer würden schon längst wieder vertäut haben und sich auf den Feierabend freuen. Ihr eigener Tag begann erst und es schien ein wundervoll heiterer zu werden.
Genüsslich zog Oma Pusch die Gardine des linken Fensters zur Seite und öffnete es, um das Sonnenlicht noch direkter hineinzulassen. Sie schloss die Augen, fühlte lau die Wärme über ihr Gesicht streichen und roch dabei die Seeluft in allen Facetten. Glück konnte viele Gesichter haben. An der Nordsee leben zu können, war eines davon.
Als sie das rechte Fenster öffnete, blickte sie direkt nach unten auf die Decks der Fischerboote, um zu sehen, wer schon vom Meer zurückgekehrt war. Morten Hansen zum Beispiel, ein Vetter um drei Ecken und der junge Stiesel Ole Piepenbrink. Der hockte da auf der Reling mit ihrem Enkel Sönke und drehte sich eine Zigarette. Wenn der den Jungen nur nicht zum Rauchen verführte, dachte sie. Sönke fuhr seit Kurzem mit seinem Vater Mats raus. Ein Umstand, den Oma Pusch nur schwer verdauen konnte, weil ihr letzter Gatte in die Jagdgründe der Fische eingegangen war, die er eigentlich fangen wollte. Das war Fridtjof, der dritte in der Reihe ihrer Ehemänner gewesen, aber davon später mehr. Sie hoffte auf Poseidons Milde für ihre Lieben, wobei sie Mats nicht unbedingt dazuzählte. Er war angeheiratet und nicht gerade der Schwiegersohn gewesen, den sie sich für ihre Tochter Gertin gewünscht hatte. Nun ja, Schwamm drüber. Die Natur hatte es so gewollt. Gegen die Liebe konnte man nichts machen.
Mats war im Übrigen gar nicht auf Fische aus, er fing lieber Krabben. Gelegentlich brachte ihr Sönke neuerdings welche im Kiosk vorbei, die sie mit medizinischen Handschuhen für die Kunden zubereitete. Es gab nämlich ein Geheimnis, von dem niemand wusste und das sie auch nicht preiszugeben bereit war. Oma Pusch hatte eine Lebensmittelunverträglichkeit auf Schalentiere. Ausgerechnet sie! Eine unglaubliche Schmach für eine waschechte Ostfriesin. Nach dem Verzehr von Hummern, Garnelen oder eben auch der heimischen Krabben ging es ihr so schlecht, dass sie an den Tropf musste. Es schien dann, als ob sie an einem schweren Magen-Darm-Virus erkrankt war. Ihre Sensibilität auf den Eiweißstoff dieser Lebewesen ging sogar so weit, dass sie eine Zahnfleischentzündung bekam, weil Spuren von Krustentierchen in der Zahncreme enthalten waren, die sie benutzt hatte. Darauf musste man erst mal kommen. Sie hatte sich schon mit dem Gedanken an Parodontose befasst, da las sie plötzlich die Aufschrift auf der Tube. Ihr ging ein Licht auf. Sie wechselte die Creme und siehe da, alles war wieder in Ordnung. Vielleicht sollte man einfach keine Artgenossen verspeisen, überlegte sie, wo sie doch selber vom Sternzeichen her ein Krebs war. Irgendeinen Grund musste es ja haben, dass ihr dieser Makel anhaftete.
Aber wir schweifen ab. Zurück zum Hafen in der frühen Morgenstunde, die angeblich Gold im Mund haben soll. Doch das war Oma Pusch an diesem herrlichen Tagesbeginn leider nicht vergönnt. Sie schaute nämlich aus ihrer Wohnung im „Dattein“ noch ein wenig in die Gegend. Das alte Fachwerkhaus, das im Erdgeschoss eine Kneipe beherbergte, lag ein Stück oberhalb der Hafenpromenade. Darum blieb ihr Blick geradewegs und nahezu auf einer Höhe an Emil kleben, der am Mast seines eigenen Kahns hing wie eine schlaffe Fahne. Seine offenen Augen starrten sie an, fast vis-à-vis. Es waren nur ein paar Meter dazwischen. Sie unterdrückte einen Schrei. Diese wächserne Blässe kannte sie nur zu gut. Emil war tot.
1Personenregister siehe Seite hier
Jetzt bloß kein Aufsehen hier am Fenster erregen, dachte Oma Pusch bei sich, denn das hätte unweigerlich dazu geführt, dass man die Polizei rief, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, die Situation etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie musste dringend ihre Freundin Rita anrufen. Die hatte ihr schon beim letzten Fall hilfreich zur Seite gestanden, und sie nannte ein Opernglas ihr Eigen, das jetzt außerordentlich hilfreich sein würde. Schnell wählte sie Ritas Nummer und zog nebenbei das Tuch von Ronnys Käfig. Der nackte Graupapagei sah sie schläfrig an und streckte einen Fuß unter seinen ausgespreizten Flügel. Dann gähnte er. Oma Pusch konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass er wie ein gerupftes Hähnchen aussah, das gleich von selbst in die Pfanne springen wollte. Eine Stoffwechselerkrankung hatte ihn seines Federkleides beraubt. Ansonsten war er putzmunter, was er mit einem lauten „Raus aus den Federn!“ bekundete. Auf sächsisch versteht sich, denn der arme Kerl war nicht nur nackt, sondern er sprach auch kaum Hochdeutsch. Er gehörte ihrer Cousine Miezi, die erst kürzlich von Leipzig an die Küste gezogen war, um einen Friseursalon zu eröffnen.
Ihr Laden in Bensersiel lief hervorragend, darum hatte sie wenig Zeit für Ronny. Und so stand sein Käfig immer noch bei Oma Pusch, die eigentlich nur kurzfristig auf ihn aufpassen sollte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass inzwischen schon ein Jahr verstrichen war. Und er war ja auch ganz possierlich, wenn man von seinem Dialekt absah.
„Moin Ronny“, sagte sie mit dem Hörer am Ohr und freute sich diebisch, als er ein „Moin, moin“ antwortete. Es war also noch nicht Hopfen und Malz verloren. Der Sprachkursus zeigte Wirkung und damit trug die Einbürgerung langsam Früchte. Es tutete.
Rita ließ sich Zeit. Oma Pusch vermutete, dass sie entweder im Keller oder auf dem Klo war und ließ es läuten, während sie mit dem Fuß ungeduldig die Schalen auf dem Teppich zusammenschob, die Ronny aus dem Napf geschmissen hatte. Nach dem dreiundzwanzigsten Mal ging ihre Freundin endlich ran.
„Mensch Rita“, rief sie in den Apparat, „liest du auf dem Klo Zeitung oder was dauert das so lange, bis du rangehst?“
„Ich war im Keller und hab Wäsche eingesteckt“, sagte Rita vollkommen aus der Puste, „da musste ich es erst mal hören, und dann bin ich die Treppe raufgerannt wie ein Wiesel.“
Vor Oma Puschs geistigem Auge entstand das Bild eines Nagers mit dem Gesicht von Rita, der eine Stiege hochwetzte und brachte sie zum Schmunzeln. Sehr schräg, aber auch irgendwie authentisch.
„Du musst sofort herkommen“, flüsterte sie verschwörerisch, als ob jemand sie hören konnte.
„Was ist passiert?“, fragte Rita neugierig.
„Emil!“, zischte sie bedeutungsvoll. „Er ist tot!“
„Ach“, entfuhr es Rita, „dass er so krank war, wusste ich gar nicht. Wann ist er denn gestorben?“
„Woher soll ich das wissen? Er hängt mir hier direkt gegenüber“, sagte Oma Pusch.
Rita glaubte, dass sie sich verhört hatte. „Er tut was?“
„Mensch, er hängt im Mast seines eigenen Kutters“, zitierte Oma Pusch absichtlich langsam.
„Und du bist sicher, dass er tot ist?“, fragte Rita.
Oma Pusch stöhnte. „Wenn man so am Hals baumelt, kriegt man keine Luft mehr, und wenn man nicht mehr atmet, ist man wohl tot, oder denkst du nicht?“ Rita war manchmal einfach zu begriffsstutzig.
„Ja, dann hat er sich wohl erhängt, aber wieso?“, überlegte Rita.
„Das wissen wir doch alles noch nicht. Jetzt setz dich endlich in Gang, damit wir ihn mit deinem Opernglas genauer unter die Lupe nehmen können. Es ist schlecht möglich, tagsüber unbemerkt am Mast hochzusteigen. Und wenn wir noch länger warten, sackt er wegen des ablaufenden Wassers weiter nach unten ab. Für uns außer Sicht. Dann wird er bestimmt auch von anderen entdeckt. Sieh zu, dass du herkommst, und mach kein Aufhebens im Hafen! Guck da bloß nicht so hoch zum Mast.“ Oma Pusch schnaufte.
„Ja, ja, ruhig Blut“, erwiderte Rita, „wir sind doch hier nicht in der Normandie, wo die so einen riesigen Tidenhub haben. Hier geht das mal alles schön gemächlich vonstatten. Er wird also langsam nach unten sinken, aber ich beeile mich trotzdem. Bis gleich.“ Mit diesen Worten schmiss sie ihre Küchenschürze über den Stuhl im Esszimmer, grapschte nach dem Schlüssel und steckte das Opernglas in ihre Handtasche. Dann stieg sie auf das Rad vor ihrer Haustür. Abschließen war nicht nötig. Jeder kannte das bunte Vehikel von Rita und Touristen verirrten sich kaum hierher. In Nullkommanichts war sie am Hafen und parkte ihren Drahtesel direkt vor der Tür der alteingesessenen Kneipe „Dattein“, über der Oma Pusch wohnte. Neben diesem Haus gehörten ihr noch ein paar andere in Neuharlingersiel, aber sie liebte es, Seeluft in der Nase zu haben, wenn sie schlief. Hier war sie direkt am malerischen Hafen und hinter ihr lag der Deich, über den sie direkt auf das Meer sehen konnte. Rita hatte es nicht vermeiden können, beim Vorbeifahren doch einen winzig kleinen Blick auf den Mast von Emils Kutter zu werfen, aber von hier unten fiel die Gestalt kaum auf. Wer rechnete auch schon damit? Man vermutete, dass Emil in seinem Bett lag, denn es hatte sich herumgesprochen, dass er krank war. Worin sein Leiden bestand, wusste niemand so genau. Da hatte es mehrere Varianten gegeben. Das konnten Oma Pusch und Rita täglich aufs Neue im Kiosk erfahren. Erna behauptete zum Beispiel, er sei schwermütig, wobei Mariechen zu wissen glaubte, dass er sich die Grippe eingefangen hatte. Auch ein Magen-Darm-Infekt stand zur Debatte, doch irgendwer hatte ihn kürzlich im Krankenhaus in Wittmund gesehen. Seitdem hatten die vermuteten Erkrankungen an Schwere gewonnen. Eine Lungenentzündung und sogar eine Geschwulst in der Blase standen derzeit hoch im Kurs. Einige wollten sogar von komplizierten Operationen gehört haben. Wenn man ihnen Glauben schenkte, war nur das Herz in ihm noch intakt. Den Vogel schoss natürlich die steinalte Marga ab, die ein bisschen gaga im Kopf war. Sie war der Meinung, dass ein Geist in ihn gefahren sei. Nun ja, das war jetzt auch egal, der musste sich ein anderes Zuhause suchen, dachte Rita, und klingelte bei Oma Pusch.
„Ruhe!“, kreischte Ronny, als sie eintrat. „Du nichtsnutziger Gnom!“
„Das ist ja eine tolle Begrüßung“, sagte Rita mit einem Augenzwinkern.
„Die Klingel ist ihm zu laut. Ich werde wohl mal eine andere besorgen müssen“, antwortete Oma Pusch. „Hast du das Opernglas dabei?“
„Na klar“, sagte Rita und zog das kleine Ding aus der Tasche. „Ich kann immer noch nicht glauben, was du mir erzählt hast.“
„Na dann komm mal mit zum Fenster“, bat Oma Pusch, „du kannst ihn auch ohne das Fernglas sehen. Natürlich keine Details und so, aber für einen ersten Eindruck reicht es.“
Rita verschwieg ihr, dass sie doch nach Emil gelinst hatte. Sie ging ins Wohnzimmer, ignorierte das wippende Brathähnchen auf der Käfigstange und sah aus dem Wohnzimmerfenster. Emil hing mit offenen Augen da und schaute sie an. Das heißt, eigentlich stierte er nirgendwohin, denn sein Blick war leer und ausdruckslos. Sie wich zurück. Als eine Möwe auf seinem Kopf landete und ihn interessiert wie einen Leckerbissen beäugte, taumelte Rita zurück. Das war zu viel für sie.
„Wir müssen die Polizei verständigen“, flüsterte sie leichenblass, „oder hast du schon?“
Oma Pusch schüttelte entrüstet den Kopf. „Wenn die erst da sind ...“
„Das kannst du doch nicht machen. Wir können ihn da nicht einfach so hängen lassen“, wandte Rita ein.
„Mensch, Rita, das habe ich ja auch gar nicht vor“, erklärte Oma Pusch, „ich will ihn doch nur genauer in Augenschein nehmen, bevor ich meinen Neffen anrufe. Das ist doch wohl verständlich.“
Seit einiger Zeit war Eike Hintermoser Kommissar auf der Dienststelle in Esens. Ein Sohn ihrer Tochter Antje, die zu ihrem Leidwesen nach Bayern ausgewandert war. Obwohl sie sich dort ganz gut eingelebt hatte, blieb sie, was sie war. Eine Ostfriesin, jemand mit Migrationshintergrund. Erst Eikes Geburt stimmte die Alpenländler milde. Sie empfanden seine Ankunft als den Beginn einer Integration. Nur der Vorname hätte ruhig bayrisch sein können, fanden sie und belächelten die Nord-Süd-Kombination von Vor- und Nachnamen. Eike Hintermoser! Das klang schräg und stempelte ihn lebenslang als Mischling ab. Glücklicherweise verpassten ihm Gleichaltrige in der Grundschule den Spitznamen Eitzi, der tatsächlich landestypischer schien, wenn man auch im ersten Moment nicht darauf kam warum. Es hörte sich ähnlich an wie Ötzi, die Bergmumie aus dem Ötztal, und dieser Vorfahr war ja geradezu der Inbegriff eines Einheimischen. Hier oben an der Küste nannten ihn jedoch alle Eike. Logisch. So hieß er schließlich, und Oma Puschs Neffe würde einen Teufel tun, seinen bajuwarischen Spitznamen an die Ostfriesen zu verraten, um sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie selbst kannte ihn natürlich und hoffte inständig, dass die Liebe ihn hier festhalten würde.
Der Grund war, dass sie auf eine Deern mit einem echt norddeutschen Nachnamen hoffte, den Eike im besten Fall annehmen sollte, wenn die Verehelichung anstand. Sie hatte auch schon eine im Visier ... aber herrjeh, sie schweifte ab.
„Hallo?“, fragte Rita. „Wo bist du mit deinen Gedanken? Die Möwen picken gleich an Emil rum. Ruf jetzt den Eike an!“
„Später“, sagte Oma Pusch entschlossen und warf mit einem Korken nach dem Vogel, der verärgert kreischend aufflatterte.
Rita schüttelte den Kopf. „Nee, nee. Du hast Nerven. Gib mir einen Schnaps, bitte!“
„Was hättest du denn gerne für einen?“, fragte Oma Pusch.
„Was Hochprozentiges!“
„Ich hätte da was Passendes“, schlug Oma Pusch vor. „Einen Friesengeist. Wie wär’s?“
Rita fielen Margas Worte wieder ein, aber sie schüttelte den Gedanken ab. „Gut, nur ohne Anzünden und den ganzen Schnickschnack. Ich nehm ihn pur“, bat Rita, die immer noch keine Farbe im Gesicht hatte. Oma Pusch schenkte ihr einen doppelten ein und sah zu, wie Rita den Pfefferminzschnaps trank und dann hustete. Sie klopfte ihr auf die Schulter.
„Jetzt bleib mal schön hier sitzen“, schlug Oma Pusch vor und ging mit dem Opernglas zum Fenster. „Möchtest du, dass ich dir berichte, oder soll ich dich lieber mit Details verschonen?“
„Bist du verrückt? Selbstverständlich will ich alles wissen, aber ich möchte nicht so genau hinschauen, verstehst du?“, fragte Rita.
Oma Pusch nickte, aber sie hörte nicht mehr richtig zu, weil sie Emil von Nahem betrachtete und völlig in sein Gesicht vertieft war. Die Haare standen wirr im Wind. So hatte sie freie Sicht auf sein Profil. Für einen Toten sah er halbwegs passabel aus. Gut, er war blassblau, etwas aufgedunsen und die Augen standen offen, als ob er staunen würde. Sein Mund war nicht ganz geschlossen. Ein bisschen blitzte die Zahnreihe durch die Lippen, wobei man den Eindruck hatte, dass nur die untere ein wenig herabhing. Interessanterweise war nirgendwo Blut zu sehen, nur ein paar punktförmige Flecken um die Lider, die Oma Pusch einen Hinweis gaben.
„Und?“, fragte Rita leise. „Kannst du schon was Genaueres sagen?“
„Ich wundere mich“, antwortete Oma Pusch.
„Wieso?“, wollte Rita wissen.
„Er ist zu schön für einen Erhängten“, gab Oma Pusch Auskunft. „Ich habe mal gehört, dass die ganz schrecklich aussehen sollen.“
„Wie denn?“ Rita war im Zwiespalt mit sich selbst. Sie war auf der einen Seite wahnsinnig neugierig und auf der anderen etwas zart besaitet. Fragen musste sie dennoch.
„Also, ich hörte mal, dass die Zunge schwarz aus dem Mund hängen soll. Tut sie bei Emil aber nicht.“
Rita schluckte und fühlte ihre eigene schwer hinter den Zähnen liegen. „Aha“, entfuhr es ihr. Dann hustete sie.
Oma Pusch war längst wieder bei der Leichenschau. Der Hals war wichtig. Den sollte sie sich genau ansehen, damit sie später im Internet ergründen konnte, welche Spuren sich dort bei einem Erhängten zeigten. Leider drehte sich Emil etwas im Wind, sodass sie nicht frontal auf ihn gucken konnte. Dafür hatte sie jetzt eine gute Sicht auf das Seil.
„Du, der hängt an einem knallroten Seemannsknoten, glaube ich, aber ich kenne die Knüpfart nicht“, rief Oma Pusch ihrer Freundin zu.
„Komisch“, gab Rita zurück, „ich dachte, man muss so einen wie im Wilden Westen nehmen. Dass sich auch welche von der Küste eignen, ist interessant, finde ich.“
„Hab ich auch nicht gewusst“, gab Oma Pusch zu. „Ich kenne nur die aus den Lucky-Luke-Heften.“
Rita grinste und nickte. „Man müsste jetzt eine ordentliche Digitalkamera haben, um alles festzuhalten.“
„Das ist die beste Idee, die du seit Langem hattest“, freute sich Oma Pusch. „Meinst du, wir können ihn so lange hängen lassen, bis ich eine besorgt habe?“
„Leih dir doch die von Enno“, schlug Rita vor. „Ich wette aber, er wird den Braten hinterher riechen und dir die Hölle heiß machen.“
Enno Esen war Oma Puschs Schwager. Der Bruder des im Meer verschollenen Fridtjof. Als Modearzt für vor allem weibliche Touristen hatte er in der Vergangenheit nichts anbrennen lassen. Jetzt war er allerdings in die Jahre gekommen und hatte sich in vielerlei Hinsicht umorientiert. Er vernaschte nicht mehr alles, was nicht bei drei auf dem Baum war. Rein arbeitstechnisch war er neben seinen Sprechstunden in einer Dependance der Rechtsmedizin Leer für die Untersuchung außergewöhnlicher Todesfälle verantwortlich. Sie lag im Keller des Bestattungsinstitutes Fritsche & Esen in Esens. Noch immer haderte Oma Pusch mit dem Umstand, dass ihr Sohn Nils einen Beruf ergriffen hatte, der ihn für die Damenwelt als Totenwäscher und -herrichter deklassierte. Das dachte sie zumindest, weil er noch immer ungebunden war. Sie konnte nicht ahnen, dass es ihr Jüngster ziemlich bunt in der Umgebung trieb, ohne sich festlegen zu wollen. Seinen Beruf verschwieg er meist. Er war ja schließlich nicht blöd. Welche Frau stellte sich schon gerne vor, womit sich seine Hände tagsüber beschäftigten, wenn sie nachts von ihm gestreichelt wurde?
Oma Pusch schüttelte vehement den Kopf. „Da kaufe ich mir lieber eben eine mit Teleobjektiv, als später eine Litanei über mich ergehen lassen zu müssen.“
„Wo willst du die denn so schnell herkriegen? Das dauert zu lange“, wandte Rita ein. „Ich schlage vor, dass du aufzeichnest oder aufschreibst, was du siehst. Du kannst dir danach eine zulegen, damit wir gewappnet sind, falls uns noch mal ein Toter unterkommt.“
„Ich vermute, du hast recht“, gab Oma Pusch zerknirscht zu, „aber ich habe einen Vorschlag. Du notierst, was ich dir durchgebe. Parallel zeichne ich hier auf der Fensterbank den Knoten nach und wie er am Hals sitzt. Einverstanden?“
Rita nickte. „Ist ja ein Wunder, dass der dürre Hering sich überhaupt erhängen konnte. Er wog doch fast nichts.“
„Vielleicht ist er ja noch ein Stückchen höher geklettert und dann gesprungen“, mutmaßte Oma Pusch, die schon wieder durch das Opernglas schaute. „Da hätte er mehr Wums gehabt. Aber ich glaub’s nicht, weil er sich dann bestimmt das Genick gebrochen hätte und sofort tot gewesen wäre. Bei den lila Sprenkeln im blauen Gesicht wette ich eher, dass er erstickt ist. So, aber jetzt schreib mit, was ich dir sage und ja nix auslassen!“
„Kann ich die Verfärbung schon notieren?“, fragte Rita.
„Schreib mal lieber blassblau“, bat Oma Pusch und dachte an den blauen Klabauter von Pumuckel. Manchmal kamen ihr einfach solche komischen, unpassenden Einfälle. Dafür konnte sie nichts. Sie hatte einfach zu viel Fantasie. „Pünktchen um die Augen“, fuhr sie fort, „wie kleine lila Flecke, ein aufgedunsenes Gesicht, das bei ihm aber eher so wirkt, als hätte ihm jemand die Falten aus seinem hageren Antlitz gebügelt. Steht ihm gut. Dann haben wir noch einen fast geschlossenen Mund. Seine Zunge ist nicht zu sehen. Nur die Zähne ein bisschen. Die Unterlippe scheint zu hängen. Vielleicht ist das Weiße in seinen Augen ein bisschen rot, aber das kann ich auf die Entfernung nur vermuten. Warte, jetzt dreht er sich nach backbord. Ach, guck mal einer an, da ist ja doch Blut. Ein bisschen ist aus seinem Ohr gesickert. Fast nicht der Rede wert, aber schreib’s trotzdem auf.“
„Hat das Seil denn nicht in seinen Hals geschnitten?“, wollte Rita wissen.
„Hm, tja, komisch. Da kann ich überhaupt nichts sehen. Ich kann sogar fast den Strick nicht sehen, weil der irgendwie in der Haut zu verschwinden scheint, so als ob du einen zu schlaffen Luftballon in der Mitte einschnürst.“
„Es wölbt sich der Hals darüber?“, fragte Rita.
„Ja, ungefähr so könnte man es beschreiben“, bestätigte Oma Pusch.
Es klingelte an der Tür und eine männliche Stimme rief: „Lotti, wollen wir zusammen frühstücken? Ich habe Brötchen mitgebracht.“
Beide Frauen zuckten zusammen.
„Ruhe, du Lümmel“, gab Ronny seinen Senf dazu.
„Ach, du heilige ...“, entfuhr es Oma Pusch, „das ist Enno. Ausgerechnet er! Du musst ihn abwimmeln, Rita, bitte! Den können wir jetzt hier überhaupt nicht gebrauchen.“
„Was soll ich ihm denn sagen?“, flüsterte Rita.
Oma Pusch schloss eilig das Wohnzimmerfenster und zog die Gardine vor, dann schlüpfte sie im Gehen aus ihrem Oberteil und sprang nur mit dem BH bekleidet ins Bett. „Sag, dass ich irre Kopfschmerzen habe und unpässlich bin“, zischte sie ihrer Freundin im Vorbeigehen zu. „Du hast mir Tabletten gebracht. Lass ihn auf keinen Fall zum Fenster gehen.“
Rita erhob sich schwerfällig aus dem Sessel und ging zur Wohnungstür. Enno staunte nicht schlecht, als statt der erwarteten, inzwischen geschätzten Schwägerin ihre Vertraute öffnete und ein trauriges Gesicht machte.
„Ach, Enno, du bist es. Wie schön, dich zu sehen. Aber das mit dem Frühstück wird wohl heute leider nichts werden. Lotti liegt mit rasenden Kopfschmerzen flach. Ich habe ihr gerade etwas zum Einnehmen gebracht.“
„Es wird doch hoffentlich keine Migräne sein?“, überlegte Enno. „Was hast du ihr denn gegeben? Lass mich mal nach ihr gucken!“ Er rauschte an ihr vorbei ins Wohnzimmer.
Rita stockte der Atem. Da sollte er nun überhaupt nicht hin. Und wie hießen diese Tabletten noch? Sie konnte sich das komische Wort so schlecht merken. „Äh, sie ist im Bett“, erklärte Rita. Enno drehte ab ins Schlafzimmer. Rita atmete auf.
„Ibuprofen“, half Oma Pusch mit schmerzerfüllter Stimme aus den Kissen. „Sie hat mir Ibuprofen gebracht.“ Dabei wurde sie rot. Ob das wegen der Lüge geschah oder wegen Ennos Nähe, wusste sie selbst nicht.
Der Arzt der Lebenden und der Toten, wie er sich im Geheimen nannte, musterte Oma Pusch mit einem abschätzenden Blick. „Du bist ja ganz rot!“ Dann fühlte er ihre Stirn. „Und heiß auch noch. Die Luft ist hier auch ziemlich stickig. Wir sollten mal durchlüften. Hast du Temperatur?“
Oma Pusch schüttelte den Kopf.
„Du hast also gemessen?“, fragte er, während er das Schlafzimmerfenster hinter dem Alkoven aufriss.
„Nein“, sagte Oma Pusch.
„Wie kannst du es dann wissen?“, erkundigte sich Enno und rief Rita zu, sie möge doch mal die Wohnzimmerfenster zum Querlüften öffnen.
Oma Pusch, die in höchster Alarmbereitschaft unter der Decke lag, hielt seinem forschenden Blick stand. „Ich fühle mich einfach nicht so, als ob ich welche hätte. Es geht mir auch schon viel besser.“
„Liegen bleiben“, donnerte Enno. „Ich will dich erst untersuchen.“
Rita war in ihrer Not nichts Besseres eingefallen, als die Vorhänge vor die geöffneten Fenster zu ziehen, damit Enno nicht herausschauen konnte. Das hatte allerdings zur Folge, dass sie wegen des Durchzugs wie wehende Fahnen im Wind flatterten und erst recht Blicke auf sich zogen. Tja, und wer vom Hafen aus nach oben in Richtung „Dattein“ blickte, dem blieb leider nicht verborgen, dass an Emils Mast keine Flagge baumelte, sondern er selbst.
Ein fast animalischer Schrei erschütterte die Menschen, die sich an diesem frühen Morgen im Hafen von Neuharlingersiel aufhielten. Er kam ausgerechnet aus der Kehle von Lina Hansen, die jüngst ihren Gatten zu Grabe getragen hatte, nachdem er im eigenen Gewächshaus unter den Radieschen wieder aufgetaucht war (siehe FriesenNerz).
Noch während ihr Schrei verhallte, fiel sie auch schon um und landete direkt vor den Füßen von Leni Sievertsen, die auf dem Weg zu ihrer Backfischbude war und nun ihrerseits laut brüllend nach Hilfe rief. Sie hatte Emil überhaupt noch nicht gesehen und wusste nicht, wieso die alte Dame umgekippt war. Das Geschehen konzentrierte sich jetzt nur auf die arme Lina. Sie war bewusstlos. Jemand hielt ihre Beine in die Höhe.
Rita wagte wegen des Tumults einen kurzen Blick aus dem Fenster und Enno rief aus dem Schlafzimmer: „Was ist denn da draußen los?“
„Hilfe, zur Hilfe“, imitierte Ronny die Rufe von draußen und Rita versuchte es mit einem „Ach, nichts!“, das nicht sehr glaubwürdig klang.
„Was soll denn schon los sein, so frühmorgens am Hafen?“, versuchte Oma Pusch ein letztes Ablenkungsmanöver. „Bestimmt haben sich ein paar Fischer in der Wolle.“
„So, so“, sagte Enno misstrauisch, „und die sind weiblich und blöken da unten so rum, dass man sie bis in dein Schlafzimmer hört? Das will ich mir selber mal ansehen. Vielleicht wird ärztliche Hilfe gebraucht. Bin gleich wieder da.“
Es war nix zu machen. Oma Pusch konnte nichts mehr tun. Wenn nicht Rita jetzt noch eine Idee hatte, war Emils Entdeckung nur durch ein Wunder aufzuhalten. Die spielte tatsächlich mit dem Gedanken, Enno ein Bein zu stellen, stand dann aber nur unschlüssig im Weg rum, sodass er zwar ins Straucheln kam, sich aber abfangen und mit letzter Kraft an der Fensterbank im Wohnzimmer abstützen konnte. Oma Puschs Zeichnung fiel gnädigerweise zu Boden und geriet damit erst einmal aus seinem Sichtfeld. Dafür stieß sein Kopf durch die Gardine hindurch und gab den Blick auf Emil frei. Doch auch im Hafen hatte man ihn jetzt entdeckt, denn Lina war wieder bei Bewusstsein und zeigte nach oben.
Nachtigall, ick hör dir trapsen, dachte Enno. Die beiden hatten ihn doch wieder auf den Leim führen wollen. Er schwankte zwischen Ärger und Belustigung, rief sich dann aber zur Raison im Angesicht des verblichenen Emil, der, so wie es aussah, freiwillig aus dem Leben geschieden war. Traurig, aber nachvollziehbar, wenn man bedachte, was alles über ihn erzählt wurde. Den Ort am Mast des eigenen Kahns fand Enno gut gewählt. Das hatte schon Stil. Trotzdem konnte er sein Frühstück jetzt erst mal vergessen, jedenfalls ein gemütliches. Er schloss das Fenster und zog die Gardine zu. Dabei trat er auf etwas Knisterndes und bückte sich. Stirnrunzelnd betrachtete er die etwas linkische Zeichnung und grinste dann, als er sie heimlich in die Tasche steckte.
Rita stand wie angewurzelt am Wohnzimmertisch und schien etwas verdecken zu wollen.
„Nu koch mal deiner Freundin einen ordentlichen Tee!“, sagte Enno und drückte ihr die Brötchentüte in die Hand, nachdem er sich ein Croissant herausgenommen hatte. „Ich muss leider runter zum Hafen. Da ist jemand umgekippt.“
Emil erwähnte er mit keiner Silbe. Rita war verwirrt. Er schien ihn übersehen zu haben. Sie stand unschlüssig am selben Platz und guckte wie eine Kuh, wenn’s donnert.
„Watt is nu? Willst du hier Wurzeln schlagen oder dich um Lotti kümmern?“ Enno fiel es schwer, nicht laut loszulachen. Sie sah wirklich zu dusselig aus.
„Äh ja, gut, dann will ich mal ...“, begann Rita und ging in die Küche.
Ennos Blick fiel auf den Schreibblock. Kurz überflog er die Notizen, riss dann schmunzelnd das Blatt ab und steckte es zu den Zeichnungen in seiner Hosentasche.
Den beiden würde er was husten, dachte er, aber erst später. Jetzt genoss er ihre Verwirrung. Im Vorbeigehen rief er seiner Schwägerin zu, dass sie ja im Bett bleiben solle. Mit so schrecklichen Kopfschmerzen sei nicht zu spaßen. Das könne auch immer der Vorbote eines Schlaganfalls sein. Und sie wolle doch schließlich nicht gelähmt sein.
Bei diesen Worten fuhr Oma Pusch zusammen. Der Schreck schoss ihr sozusagen in die Glieder. Schlaganfall! Eine Horrorvision. Dabei vergaß sie gänzlich, dass sie überhaupt keine Kopfschmerzen hatte. Sie fühlte sich plötzlich schlapp und freute sich, als Rita das Tablett mit dem Tee brachte.
„Du, der hat gar nix gemerkt“, sagte sie. „Wollen wir weitermachen und den Tee mit zum Fenster nehmen? Da scheint jemand umgekippt zu sein. Deswegen ist Enno so schnell weg.“
„Wer denn?“ Im Nu war Oma Pusch wieder kuriert. Das war ja ein Morgen. Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und schlüpfte in ihre Pantoffeln.
„Keine Ahnung“, antwortete Rita, „wir können ja mal gucken, ob wir das von hier oben sehen.“
Oma Pusch war als Erste am Fenster und riss die Gardine zur Seite. Das Opernglas lag noch auf der anderen Fensterbank. Rita stellte den Tee auf den Wohnzimmertisch und stutzte.
„Du, Lotti, weißt du was? Meine Notizen sind verschwunden“, sagte sie verwirrt. „Die lagen eben noch hier.“
„Kann nicht sein“, gab Oma Pusch zurück und stutzte. „Hast du meine Zeichnungen gesehen?“
„Nö, die lagen doch da bei dir“, erwiderte Rita.
„Die sind auch weg“, bemerkte Oma Pusch. Ihr ging ein Licht auf, aber sie konnte es kaum fassen. „Enno muss die Sachen mitgenommen haben“, stellte sie entrüstet fest und stierte aus dem Fenster, das Opernglas fest an die Scheibe gepresst.
„Dann hat er Emil wohl doch gesehen“, sagte Rita. „Trotzdem hätte ich ihm nicht zugetraut, dass er uns beklaut.“
„Den Diebstahl können wir kaum melden“, antwortete Oma Pusch, die sich auf das Geschehen im Hafen konzentrierte. Enno kniete an der Seite einer Frau und winkte lächelnd zu ihrem Fenster hoch. Dieser Saukerl hatte sie reingelegt! Er hatte ihr Angst gemacht mit seinem Schlaganfallgefasel. Und dann verdeckte er auch noch das Gesicht der Frau, die er behandelte.
„Kannst du schon sehen, wer es ist?“, fragte Rita.
„Nein, unser lieber Enno will uns wohl nicht teilhaben lassen. Er hat sich wahrscheinlich extra so hingehockt, dass wir nix erkennen können. Warte, jetzt kommen sie mit dem Tragestuhl.“ Oma Pusch stutzte. „Ach, du meine Güte!“, entfuhr es ihr.
„Was denn?“, wollte Rita wissen. „Nun sag schon!“
„Halt die Klappe, du dusselige Nuss!“, mischte sich Ronny ein und erntete einen bösen Blick.
„Du kommst in die Pfanne, du Störenfried“, schimpfte Rita.
Ronny schnalzte mit der Zunge.
„Stell dir vor, es ist Lina!“, rief Oma Pusch, die zusah, wie man die bleiche Frau davontrug.
„Ausgerechnet Lina“, sagte Rita. „Die Arme, wo sie kürzlich erst die Leiche ihres Mannes finden musste ...“
„Ja, das ist direkt tragisch“, bestätigte Oma Pusch und ließ das Opernglas sinken. „Ich brauch jetzt erst mal einen Tee. Dabei können wir nachdenken. Die Polizei wird jetzt sowieso von Enno verständigt werden. Darum brauchen wir uns nicht mehr zu kümmern. Aber dass er unsere Aufzeichnungen mitgenommen hat, das nehme ich ihm persönlich übel.“ Sie setzte sich zu Rita an den Wohnzimmertisch.
„Das gehört sich auch wirklich nicht“, stimmte ihre Freundin zu. „Es war doch nicht verboten, dass wir unsere Beobachtungen aufgezeichnet haben. Vielleicht hätten wir sie sogar der Polizei zur Verfügung gestellt.“
„Genau“, sagte Oma Pusch. „Aber warte mal!“ Sie hatte plötzlich eine Idee. „Gib mir mal den Block her und den Bleistift von da hinten.“
Rita reichte ihr das Gewünschte. „Was hast du denn nun vor?“
„Ich mache das Geschriebene wieder sichtbar“, gab Oma Pusch schmunzelnd zurück. „Kennst du das nicht von früher?“
Rita schüttelte den Kopf und sah zu, wie ihre Freundin Lotti ein Blatt aus dem hinteren Teil des Blockes herausriss und dieses auf das obere leere legte. Dann fuhr sie ganz leicht mit dem Bleistift über die Oberfläche. Rita staunte, als ihre Buchstaben wieder zum Vorschein kamen.
„Klasse“, freute sie sich. „Nur schade, dass wir das mit deinen Zeichnungen nicht machen können.“
„Kein Problem, die fertige ich gleich noch mal an“, sagte Oma Pusch und trank einen Schluck Tee. „So schnell werden die nicht hier sein.“
Aber da täuschte sich unsere Lotti Esen. Als sie wieder aus dem Fenster schaute, konnte sie Emil trotz Opernglas nicht sehen, weil sie direkt auf den Hinterschopf eines Mannes blickte, der den Mast wie einen Baum mit Steigeisen emporgeklettert war und einen Shanty trällerte. Dabei fotografierte er die Leiche ungeniert. Weit und breit konnte sie keinen Einsatzwagen oder Beamten erkennen. Auch Enno war nicht zu sehen. Das konnte nur ein Gaffer sein. Einer von der schlimmsten Sorte, der das Opfer auch noch ablichtete.
Oma Pusch riss das Fenster auf. „Hey, das ist Emils Kutter. Sie haben da nicht herumzulungern oder zu knipsen. Die Polizei wird gleich hier sein. Was machen Sie denn da überhaupt?“
„Spuren sichern“, sagte Bodo Siebenstein trocken und wandte sich der älteren Dame zu, die ihn aus dem Fenster beschimpfte. „Würden Sie mich jetzt bitte meine Arbeit machen lassen und das Fenster schließen?“
„Ich denke nicht daran“, sagte Oma Pusch kämpferisch. „Ich warte erst, bis mein Neffe da ist. Das kann ja jeder behaupten.“
„Ihre sensationslustige Verwandtschaft interessiert mich nicht“, erwiderte Bodo Siebenstein, „die Kinovorstellung ist jetzt beendet. Wenn Sie mich nicht sofort meine Arbeit tun lassen und das Fenster schließen, wird das rechtliche Folgen für Sie haben. Ein Bußgeld ist das Mindeste. Moment, ich will eben ein Beweisfoto von Ihnen machen.“ Ihm war das Singen vergangen. Die Alte nervte ganz einfach. Er richtete das Objektiv der Kamera auf sie und Oma Pusch schlug wütend das Fenster zu. So hatte man sie noch nie behandelt. Und das würde sie sich auch nicht gefallen lassen! Sie riss den Flügel wieder auf. Es knipste. Eine Unverschämtheit.
„Von Ihnen lasse ich mich nicht in meinen Grundrechten beschneiden“, keifte sie ihr Gegenüber an. „Das ist mein Fenster, und aus dem gucke ich, so lange ich will. Ob Ihnen das nun passt oder nicht. Außerdem gibt es das Recht auf das eigene Bild. Ich fordere Sie auf, das Foto sofort zu löschen. Ansonsten ...“ Weiter kam sie nicht.
„Lotti, du vergisst dich“, zischte Rita von hinten.
„Nun mal ruhig Blut, ihr beiden“, versuchte Enno von unten zu vermitteln. Er war inzwischen, nachdem die alte Frau Hansen von den Sanitätern übernommen worden war, auf Emils alten Kutter geklettert und stand unten am Mast. „Darf ich vielleicht mal vorstellen?“, begann er. „Lotti Esen, meine Schwägerin ...“
„Für den da Charlotte Esen“, warf Oma Pusch wütend ein. Gelegentlich nutzte sie ihren ungeliebten Vornamen wie ein Bollwerk, um größtmögliche Antipathie zu vermitteln.
„Von mir aus Charlotte Esen“, grinste Enno, „aber trotzdem Schwägerin. Im vergangenen Jahr konnten durch ihre Mithilfe mehrere Morde aufgeklärt werden.“
Bodos Gesicht hellte sich auf. „Ach, Sie sind das!“, schmunzelte er. „Da stellt sich mir natürlich die Frage, ob dieser Fundort hier nicht absichtlich gewählt worden ist. So direkt vor Ihrer Nase.“
Oma Pusch machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie fühlte sich auf den Arm genommen, überlegte aber, ob er nicht recht haben könnte.
„Das ist übrigens Bodo Siebenstein, der Chef der Spurensicherung, den du da so beschimpft hast“, rief Enno von unten.
„Mir doch egal. Er wollte mich in meinen Grundrechten beschneiden“, wandte Oma Pusch ein, „ich schaue aus meinem Fenster, wann ich will. Basta!“
„Lotti, nun gib doch endlich nach“, seufzte Rita, die jetzt hinter ihr stand.
„Und dann knipst der mich noch, wenn ich hier halb angezogen hinausschaue, wie ein Spa ...“, wetterte Oma Pusch weiter.
„Lotti!“, rief Enno ärgerlich von unten.
Bodo Siebenstein wurde puterrot. Was bildete sich die Alte ein, das man da an ihrem welken Leib sehen wollte?
Aber er schwieg und warf ihr nur einen vernichtenden Blick zu.
„Jetzt mach dein Fenster zu und lass uns unsere Arbeit tun. Hast du nicht selbst schon genug Aufzeichnungen gemacht?“, fragte Enno drohend.
„Ach du hast die, du Verräter“, schrie sie, „lass dich bloß nicht wieder bei mir blicken.“ Dann donnerte sie das Fenster so heftig zu, dass die Scheiben klirrten und zog die Vorhänge vor.
Rita legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie hatte das Geschehen genau verfolgt. „Nun beruhig dich erst mal“, schlug sie vor. „Vielleicht setzt du dich einen Moment und isst etwas.“
Oma Pusch winkte ab.
Fast kam es Rita so vor, als sähe sie einen leichten Anflug von Feuchtigkeit in den Augen ihrer Freundin.
„Ich weiß gar nicht, wieso du dich da jetzt so aufgeregt hast“, begann sie vorsichtig. „Dieser Siebenstein war doch im Recht. Wir konnten letztes Jahr auch nicht so einfach an meinem Zaun stehen bleiben und seelenruhig zuschauen, wie man den ollen Fiete wieder ausgräbt. Hast du das vergessen?“
„Ach, aber da durften wir wenigstens aus deiner Mansarde alles beobachten“, wandte Oma Pusch ein.
„Durften ist wohl zu viel gesagt“, widersprach Rita, „man hat uns nur nicht entdeckt, weil es weiter weg war, aber hier sind das nur ein paar Meter. Die Beamten können anderen auch keinen Einblick in ihre Ermittlungsarbeit geben. Das musst du doch verstehen.“
„Von mir aus“, gab Oma Pusch nur widerwillig zu, „aber das, was Enno gemacht hat, das finde ich fies, geradezu verachtungswürdig. Und das, wo ich dachte ...“ Ihre Stimme erstarb.
„Wo du was dachtest?“, wollte Rita wissen. Sie ahnte, was ihre Freundin meinte. Ihr war nicht entgangen, dass die beiden zunehmend Sympathie füreinander hegten.
„Wo ich dachte, dass wir denen im letzten Jahr so gut geholfen haben“, log Oma Pusch.
„Aha“, sagte Rita, „und sonst nichts weiter?“
Sie schüttelte vehement den Kopf, vielleicht etwas zu heftig. „Wir müssen jetzt dringend überlegen, was wir tun können, um rauszufinden, was mit Emil passiert ist.“
„Du lässt wohl nicht locker“, lachte Rita jetzt, „dabei hast du dir selbst einen großen Brocken in den Weg gelegt, indem du es dir mit Enno verdorben hast. Diese Quelle ist jetzt bestimmt für immer versiegt.“
„Mal sehen“, sagte Oma Pusch, die sich inzwischen ärgerte, dass die Pferde mit ihr durchgegangen waren. Eigentlich hatte sie sich ganz gut im Griff. Es passierte ihr nur noch sehr selten, dass ihr Temperament so zum Ausbruch kam. Das war so ähnlich wie mit dem Genuss von Alkohol. In jungen Jahren verschätzte man sich oft noch mit der Menge, die man vertrug. Normalerweise blieb sie ruhig, wenn man sie reizte. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um die Sache wieder einzurenken.
„Mistkerl, bleeder, verreckter!“, kreischte Ronny auf sächsisch und traf damit genau ins Schwarze, wie Oma Pusch fand.
Rita verdrehte die Augen.
„Wir müssen jetzt gut Wetter machen“, schlug Oma Pusch vor. „Wie wäre es, wenn wir flugs in den Kiosk gingen und quasi zur Stärkung der ermittelnden Beamten ein paar Rollmopsbrötchen schmieren würden?“ Sie grinste.
„Dann würde ich mir aber erst mal wieder was anziehen“, sagte Rita mit abschätzigem Blick auf die Cellulite an ihren Beinen.
Oma Pusch übersah diesen Hinweis auf ihren Makel und eilte ins Schlafzimmer. Ratzfatz war sie bereit zum Angriff.
Rita und Oma Pusch duckten sich im Vorbeigehen, während es rund um Emils Kutter von Beamten nur so wimmelte.
„Zähl mal, wie viele es sind!“, bat Oma Pusch flüsternd, als sie hinter einer Hecke stoppte.
Rita murmelte und nahm ihre Finger zu Hilfe. „Sehen kann ich im Moment neun“, erklärte sie, „deinen Neffen Eike, seinen Kollegen Martin Hinrichsen, den Kerl da im Mast, mit dem du dich in der Wolle hattest, dann die Küstenschönheit Nele Freese, die bei der Spurensicherung arbeiten soll, hörte ich, Enno natürlich und dein Sohn Nils ist auch schon mit dem Leichenwagen da, samt Rico versteht sich. Die zwei in den weißen Schutzanzügen auf Deck kenne oder erkenne ich nicht.“
„Also, runden wir auf zehn auf“, überlegte Oma Pusch laut.
Schnell schlichen sich die beiden Frauen an der Absperrung und den vielen Gaffern vorbei. Kurze Zeit später öffnete der Bäckerladen von Johann Hinrichs, der an der Ostseite des Hafens lag. Sie mussten warten. Die dicke Trine bediente gerade Malte Cassens, der sein Brot in Scheiben geschnitten haben wollte. Während die Maschine ihre Arbeit verrichtete, blieb genug Zeit für einen bedeutungsschweren Satz.
„Och nee, der arme Emil“, begann sie, „habt ihr ihn gesehen?“ Sie nickte Rita und Oma Pusch ebenfalls ein kurzes „Moin“ zu.
„Irgendwann musste es ja so kommen“, sinnierte Malte, „so viel, wie der immer soff. Aber ich hätte eher gedacht, dass den mal das Meer verschlucken würde.“
„Wär ja auch fast mal passiert“, sagte Oma Pusch, die sich an den Vorfall erinnerte.
„Vielleicht hat es ihn wieder ausgespuckt, den hochprozentigen Kerl“, überlegte Rita, „er ging bestimmt nicht unter.“
Oma Pusch zog die Stirn in Falten. So kannte sie ihre Freundin ja gar nicht. „Einen Grund hatte er ja.“
„Mensch, das mit dem Jungen ist doch Jahre her“, gab Malte seinen Senf dazu.
„Da kommste aber nicht drüber wech“, seufzte Trine und ließ das Brot in den Plastikbeutel gleiten. „Macht vierfünfzig!“
„Wie dem auch sei, nicht mein Problem“, sagte Malte und zählte die Münzen auf den Tresen. „Schönen Tach noch.“
Die Türklingel schellte zweimal, dann war Malte Cassens weg. Jetzt waren die Frauen unter sich.
„Dass der sich am Mast aufgebaumelt hat“, sinnierte Trine, „vor all den Leuten, wo er doch sonst lieber für sich war.“
„Je nach Alkoholpegel“, wandte Rita ein, „wenn er was intus hatte, konnte er schon gesellig sein.“
„Mit allzu viel Promille wär er da aber nur noch schwer hochgekommen“, überlegte Oma Pusch. „Aufentern, wenn du einen im Kahn hast“, sie schüttelte den Kopf, „dabei kann man leicht abstürzen.“
„Wär doch auch eine gute Alternative gewesen, wenn er sich sowieso umbringen wollte“, sagte Rita. „Kopfüber auf Deck ...“
Trine machte ein angeekeltes Gesicht. „Ach nee, das viele Blut!“
„Du, das muss nich“, wandte Oma Pusch ein. „Je nachdem, wie man fällt, brechen Arme oder Beine und es gibt eher innere Verletzungen. Man muss ja nicht unbedingt auf den Kopf fallen.“
„Oder auf den Anker oder das Steuerrad, wo man sich aufspießen kann“, ergänzte Rita und Trine zuckte zusammen.
„Also, mir tut er ja irgendwie leid“, sagte sie. „Wenn einer so verzweifelt ist, dass er im Leben keinen Sinn mehr sieht.“
„Fünfzehn Brötchen bitte“, warf Oma Pusch dazwischen. Trine packte mechanisch mit leerem Blick.
„Wieso?“, fragte Rita. „Der merkt doch nix mehr. Den brauchst du nicht mehr zu bedauern. Seine Hedwig sollte dir leid tun und das nicht erst seit heute. Obwohl die vielleicht ganz froh ist, wenn sie ihn los ist.“
„Rita!“, sagte Oma Pusch gespielt entrüstet.
Die seufzte. „Stimmt doch. Ich warte draußen.“
„Ja, die Hedwig“, flüsterte die dicke Trine, obwohl kein anderer mehr im Raum war. „Zuerst das mit dem Jungen, dann die Arbeitslosigkeit und die mageren Fänge und jetzt das. Wenigstens hat sie ihre Freundinnen.“
„Stricken die immer noch zusammen?“, wollte Oma Pusch wissen.
Trine nickte. „Manche häkeln auch. Meta stickt, soweit ich weiß.“
„Aha“, sagte Oma Pusch, die an diesen Details rund um das Handarbeiten nicht interessiert war. „Der Haussegen hing wohl oft schief?“
„Schief ist gar kein Ausdruck“, berichtete Trine, „die hatten längst getrennte Schlafzimmer. Es war wohl mehr so wie in einer Wohngemeinschaft, wobei die ganze Arbeit im Haus an ihr hängen blieb.“
„Was macht das?“ Oma Pusch zückte ihre Geldbörse.
„Gib mir drei Euro glatt“, bat Trine.
„Mich wundert es nur, dass das Haus noch nicht unterm Hammer war“, überlegte Oma Pusch laut.
„Weil sie da noch wohnten?“, fragte Trine.
Oma Pusch nickte.
„Also irgendwas war da mal“, überlegte die Dicke, „aber ich weiß nicht mehr genau was. Ohne das Haus hätten sie sich gar nicht über Wasser halten können.“
„Wie meinst du das?“
Trine machte ein trauriges Gesicht. „In der Saison, wenn die Touristen kamen, zogen die beiden Lürsens in den Keller. Ich hörte mal, dass Hedwig neben dem Heizkessel schlief und Emil im Waschkeller, weil es von da nach draußen ging und er doch morgens als Erster weg musste.“
„Oha“, entfuhr es Oma Pusch und Rita klopfte von außen an die Glastür.
„Ja, das Haus war dann komplett mit Küche und Bad bis in den Herbst hinein vermietet“, erklärte Trine weiter.