Frühling in Saudi-Arabien - Nadine Pungs - E-Book

Frühling in Saudi-Arabien E-Book

Nadine Pungs

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Beschreibung

Von Dammam bis Dschidda, von Riad bis ans Rote Meer: Ein unbekanntes Land öffnet sich. Jahrzehnte verschlossen, erlebt Saudi-Arabien gerade einen epochalen Wandel. Monatelang hat Nadine Pungs den Golfstaat allein bereist: Von der Hafenstadt Dschidda bis zur Hightech-Metropole Riad, von der antiken Schatzkammer al-Ula bis zur heiligen Stadt Medina lernt sie besonders die weibliche Seite des Landes kennen. Sie gewinnt exklusive Einblicke, die männlichen Reisenden in der Regel verwehrt bleiben. Nadine Pungs, die bereits alle Länder am Persisch-Arabischen Golf bereist hat, ist eine profunde Arabien-Kennerin. In Saudi-Arabien trifft sie eine feministische Koranlehrerin und eine lesbisch lebende Ingenieurin. Aber begegnet auch einem Prinzen oder einem kleinen Jungen, der aus dem benachbarten Jemen floh. Klarsichtig und anrührend erzählt Pungs Geschichten, wie sie in den Nachrichten nie vorkommen würden. »Hier ist eine Frau unterwegs, die nichts versteckt, auch nicht die Mühsal der Fremde, die Sprachlosigkeit, die Unruhe. Und die sie in einem Ton schildert, der swingt und uns daran erinnert, was dreißig stille Buchstaben vermögen.« Andreas Altmann

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Mit 55 farbigen Abbildungen und einer Karte

Für die Girls von Riad, Dammam, Khobar, Hofuf, Buraida, Nadschran, Dschidda

Lasst mich an einen fallenden Wassertropfen mich halten.

Aisha Arna’ut

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Unterwegs in Dschiddas Altstadt (Lutz Jäkel)

Fotos: Nadine Pungs, außer anders angegeben

Ornament: Freepik

Karte: Marlise Kunkel, München

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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((Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte))

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte

Vorwort

Zwischen Vergehen und Werden

Dammam

Khobar

Hofuf

Ha’il

Buraida

Riad

Diriyah

Riad

Nadschran

Abha

Dschazan

Farasan-Inseln

Hidschaz

Dschidda

Medina

al-ʼUla

Riad

Zwischen Werden und Vergehen

Dank

Geschenke von Saudis an mich

Anmerkungen

Quellennachweis der Zitate

Literatur

Bildteil

Weitere Bildimpressionen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Karte

Vorwort

Dieses Buch ist kein Reiseführer. Eher ein Notizheft, eine Geschichtensammlung, in der es um Saudi-Arabien und die Menschen in Saudi-Arabien geht. Ich erzähle von normalen Frauen und Männern. Von ihren Hoffnungen. Von ihren Zerrüttungen. Von all den Vieldeutigkeiten, die ein Leben vielschichtig machen. Manche suchen das Glück, einige sehnen sich nach Liebe, andere zerbrechen am Dasein. Ein Streifblick auf allzu Menschliches. Und ja, das Buch handelt von Brüchen: von Umbrüchen, Abbrüchen, Ausbrüchen, Aufbrüchen. Davon, wie eine neue Welt entsteht. Und alte Überzeugungen nicht mehr überzeugen. Von einem Land, das den tiefgreifendsten Wandel seiner Historie durchlebt. Dazu Gedanken und Nebengeräusche, Seitenhiebe, Skurriles, Beobachtungen, Politisches, Miniaturen, Flunkereien, Heimlichkeiten und Alltägliches aus dem Fluss des Alltags; weniger wahr als wahrscheinlich. Das Schreckliche und das Schöne, Wunden und Wunderliches und alles andere. Aufgesammelt in den Monaten des Reisens. In einer Zeit zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht. Letztlich ein Mosaik aus meinen Betrachtungen und Erinnerungen, die stets subjektiv bleiben müssen. Es ist ähnlich dem, wie der Maler Günther Uecker ehemals ein künstlerisches Experiment – einen »Blickversuch« – in der libyschen Wüste beschrieb: mit geöffneten Augen in die Sonne schauen, dabei das grelle Licht direkt einfallen lassen, bis es nicht mehr zu ertragen ist. Die Augen sodann schließen und die Bilder, welche bei geschlossenen Augen erscheinen, malen. So ist das Buch – ein Blickversuch.

Zwischen Vergehen und Werden

Risse im Asphalt. Wie Nervenbahnen, die aufeinander zulaufen, sich verbinden, auseinanderstieben. Ich hocke mich hin, zeichne die feinen Linien und Furchen mit meinem Zeigefinger nach, von rechts nach links, als würde ich eine fremde Schrift einüben. Die Fingerbeere erfühlt die Unebenheiten, kleine, spitze Sandkörner, die faltige Haut der Straße.

Die Bruchlinien erinnern an das Craquelé in einem Ölgemälde. In der Malerei entstehen die Risse durch das Nachlassen der Elastizität bei den verwendeten Bindematerialien. Diese können den Bewegungen des hölzernen oder textilen Untergrunds nicht mehr folgen. Die Farbschicht wird gezogen und gepresst, sie zersplittert, blättert ab. Es ist ein Angriff der Jetztzeit auf das Gestern. Werden und Vergehen.

Ähnliches geschieht mit Gewissheiten, zuweilen werden auch sie rissig. Widersprüche kommen auf. Ambiguitäten. Man kann die Vergänglichkeit beweinen. Allenfalls aushalten, was kommt. Oder man lässt sich erreichen. Gar berühren. Denn vielleicht gelangt durch die Risse das Licht hinein, bricht die Dunkelheit, und das Helle streift das Bodenlose. Werden und Vergehen und erneutes Werden.

Angenommen, der Bruch ist nicht das »Loch im Sein«, wie Sartre das Nichts beschrieb, sondern der Bruch ist ein Raum, der zwischen den Fragmenten liegt. Ein leerer Spielraum. Das Noch-nicht-Angefüllte, aus dem indes neue Bilder und neue Ausblicke erwachsen.

Welche Möglichkeiten wir doch hätten.

Dammam

الدمّام

 

*

Die nächste globale Renaissance in den kommenden dreißig Jahren wird im Nahen Osten sein, so Gott will.

Kronprinz Muhammad bin Salman

*

Februar 2020. Es regnete, als ich die Gangway hinabstieg, am Himmel zuckten Blitze. Ich wickelte mir den Schal um den Kopf, und doch war ich in diesem Moment sehr glücklich. Saudi-Arabien, endlich Saudi-Arabien! Eine Blackbox, unbekannt und unergründlich. Jahrzehntelang war der Golfstaat nahezu abgeriegelt. Eines der verschlossensten Länder der Welt, sechsmal so groß wie Deutschland. Einflüsse von auswärts nicht erwünscht und Tourismus nicht geboten. Nur Pilger, Gastarbeiter und Geschäftsleute erhielten auf Einladung und unter strengen Auflagen zeitweise Zutritt ins Königreich. Ein halbes Dutzend Bücher hatte ich bereits über dieses rätselhafte Land gelesen, war an dessen Rändern entlanggereist, blickte hinein und musste dennoch draußen bleiben. Jetzt öffnete Saudi-Arabien plötzlich seine Grenzen, vergibt seit 2019 Touristenvisa für jedermann und jederfrau.

Es war Nacht, als ich das Land zum ersten Mal betrat. Dass die Nachrichten von einem neuartigen Virus berichteten, welches soeben in China ausgebrochen war, interessierte noch niemanden.

 

Istanbul, drei Jahre später. Auf dem Bildschirm in der Abflughalle blinkt »Boarding«. Vor dem Gate haben sich die anderen Passagiere bereits aufgestellt. Es sind nicht viele, die nach Dammam wollen, einer Ölstadt an der Ostküste. Ein paar asiatische Businessmen, einige Saudis mit Plastiktüten aus dem Duty-free-Shop, nur wenige der Männer tragen den Thawb – das knöchellange Gewand der männlichen Golfaraber –, eher Hose und Hemd. Die Frauen werden ihre Skinny Jeans und ihre figurbetonten Blusen erst während des Landeanflugs mit der fußlangen Abaya verhüllen.

Bei meiner ersten Reise blieb ich bloß 21 Tage im Königreich, zu kurz, um die Komplexität dieses so vielschichtigen Landes zu erfassen. Jetzt sollen es drei Monate werden, von Februar bis Mai, kreuz und quer, von rechts nach links, von unten nach oben und zurück. Kaum jemand beneidet mich um diese Reise. Schon drei Jahre zuvor verstand niemand meine Faszination für jene Weltgegend, denn Saudi-Arabien hat ein Imageproblem, und das besteht im Wesentlichen aus: Saudi-Arabien.

Fürwahr, da sind Dutzende Gründe, den Golfstaat zu verurteilen. Die Janusköpfigkeit des Regimes, die Menschenrechtslage. Abgrenzung nach außen, Eingrenzung im Innern. Saudi-Arabien ist bei uns ähnlich beliebt wie Nordkorea. Hinzu kommt ein dogmatisches Islamverständnis, das abschreckt und das Land von anderen muslimischen Staaten unterscheidet. Aber verurteilen ist leicht und trägt selten zu Einsichten bei. Der Philosoph John Stuart Mill formulierte es so: Wer nur die eigene Seite der Debatte kennt, kennt auch die kaum.

Ich reise in einer Zeit des Wandels durch Saudi-Arabien. Seit Salman bin Abdul Aziz Al Saud im Jahr 2015 den Thron bestieg und sein Sohn Muhammad bin Salman, kurz MbS, de facto die Regierungsgeschäfte führt, öffnet sich das Königreich in eine Zukunft, die die Einwohner gleichermaßen beflügelt wie beunruhigt. Ein rasanter, aber auch rücksichtsloser politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Transformationsprozess hat eingesetzt. Stammeshierarchien, patriarchale Strukturen und die Macht der religiösen Autoritäten werden zunehmend in Zweifel gezogen. Die Korruption wird bretthart bekämpft, die überbordende Bürokratie abgebaut, ausländische Investoren eingeladen. Es gibt jetzt Wrestling, Popkonzerte, Frauenfußball und Monstertruck-Shows. Vorher alles verboten. Die Geschlechtertrennung wurde aufgehoben, die Religionspolizei entmachtet. Viele Frauen streben nach vorne, manche Männer sind verunsichert. Der Golfstaat sperrt auf, muss aufsperren, wenn er wirtschaftlich in Zeiten der Energiewende und der globalen Krisen erfolgreich sein will. Der Aufbruch schlägt Funken. Zugleich ist da die Sorge, die eigene Kultur und Tradition zu verlieren. Wandel bedeutet eben auch Ungewissheit.

Jene gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen im größten Land auf der Arabischen Halbinsel – irgendwo am Rande unseres Gesichtskreises – spielen in deutschen Medien nur eine untergeordnete Rolle. Trotzdem meinen wir Europäer, Bescheid zu wissen über den saudischen Wüstenstaat und die Menschen, die darin leben, lachen, weinen und lieben. In Wahrheit kommen wir über Plattitüden nicht hinaus. Und die wenigsten Deutschen werden jemals nach Saudi-Arabien reisen, um sich selbst ein Bild abseits der Gemeinplätze zu machen. Dennoch stimmt auch das: Es gibt hier keine Pressefreiheit, keine Versammlungsfreiheit und keine Meinungsfreiheit. Denn wer eine Meinung hat, hat ein Problem. Der König regiert als absoluter Monarch. Der Koran und die Sunna – die Handlungen und die Lebensweise des Propheten – sind die Verfassung des Landes, und Straftaten werden streng geahndet. Noch immer verrotten Kritiker und Unliebsame in Gefängnissen. Noch immer ist politischer Aktivismus gefährlich, lebensgefährlich. Noch immer werden Männer und Frauen hingerichtet.

 

Am Ende der Passagierbrücke begrüßt eine Flugbegleiterin die Geschäftsleute, Gastarbeiter, Saudis und mich mit einem eingeübten Lächeln, das rote Halstuch zur Schleife gebunden. Ich setze mich, schnalle mich an, es ist halb zehn abends, draußen regnet es in dicken Tropfen. Auf dem Display wird ein Video abgespielt, auf Englisch und auf Türkisch, in dem eine animierte Stewardess mit Silberblick zu Sicherheitsmaßnahmen animiert, weil ihr Flieger offenbar in Not geraten ist. Die Fluggäste ziehen die Sauerstoffmaske über Mund und Nase, legen die Schwimmweste an. Dabei sehen alle sehr vergnügt aus.

Als unsere Boeing beschleunigt und ich in den Sitz gedrückt werde, ist mir bange, habe ich Muffensausen, ob ich der langen Reise gewachsen bin. Ob ich überhaupt fähig sein werde, mit halbwegs klugen Gedanken über dieses zwölftgrößte Land der Welt zu schreiben, das mir immer noch so schleierhaft erscheint wie Dunkle Materie. Und ja, Saudi-Arabien ist ein kompliziertes Kaleidoskop aus Konventionen, Stimmungen, Beziehungen, Bräuchen und Doppeldeutigkeiten. Man sitzt zwischen den Stühlen und liest zwischen den Zeilen. Der Schriftsteller Felix Hartlaub hat einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt: »Eigentlich kann man hier nur als staatlich geprüfter Seiltänzer bestehen.« Der Satz passt.

Schon vor der Reise habe ich beschlossen, mich dem Land, seinen Regeln und seinem Rhythmus hinzugeben. Mitzuschwingen. Doch jetzt bindet sich eine seltsame Angst wie ein Tuch um mein Herz und nimmt mir die Zuversicht, dass alles gut werden wird. Durch Saudi-Arabien zu reisen ist das eine. Über Saudi-Arabien zu schreiben etwas völlig anderes.

 

Das Anschnallzeichen über uns erlischt. Der Mann links neben mir schaut Top Gun. Der Mann rechts neben mir schaut Top Gun. Ich schaue in die Röhre, höre nur ein Knistern. Meine Kopfhörerbuchse ist kaputt. Also blättere ich in dem kleinen Reisewörterbuch (Golfarabisch), das ich aus Deutschland mitgebracht habe, präge mir die Sätze ein: Atkallam arabi galil bas. – Ich spreche nur wenig Arabisch. Und: Ma fahimtkum. – Ich habe Sie nicht verstanden.

Wir gleiten durch die Nacht. Unter den Tragflächen das Düsterschwarz des Persischen Golfs, der in dieser Hemisphäre Arabischer Golf heißt. Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren im Nachbarland Katar an einem Binnenmeer stand und hinüberblickte nach Saudi-Arabien. Vor Jahrtausenden hatte sich der Golf durch den Süden Katars gewühlt und die beiden Länder an dieser einen Stelle voneinander getrennt. Auf der anderen Seite des Ufers wellten sich die graubraunen Hügel Saudi-Arabiens in die Landschaft. Das unbetretbare Königreich. Ich erspähte einen kleinen Militärposten, aber keine Menschen, keine Tiere, nichts. Derselbe blaue Himmel, auch wenn beide Staaten in jenen Tagen sämtliche diplomatischen Beziehungen zueinander abgebrochen hatten. Nur ein paar Schwimmzüge lagen zwischen mir und einem unbekannten Planeten. Unerreichbar nah. Vielleicht ja irgendwann, dachte ich.

 

Um 1.15 Uhr landet die Maschine in Dammam. Ich ziehe die schwarze Abaya aus meiner Tasche, streife sie über und lege einen schwarzen Chiffonschal um die Schultern. Vor dem 4. März 1938 war die Stadt am Golf mit ihren heute 900 000 Einwohnern bloß ein verschlafenes Dorf, das von der Fischerei und vom Perlentauchen lebte. Bis das Erdöl aus dem Erdboden sprudelte und sich alles änderte. Innerhalb von drei Jahrzehnten wuchs Dammam zur Hauptstadt der Ostprovinz heran, in der sich die meisten Ölreserven des Ölstaates befinden.

Das Reisewörterbuch verspricht eine »zeitraubende« Passkontrolle. Launig steht da: »Ruhe und Gelassenheit sind Tugenden im Königreich, diese können Sie bereits hier einüben.«

 

In der Schlange warten. Vor mir Inder, hinter mir Pakistaner. Es ist schallend laut in der Halle, denn seit einigen Minuten schrillt von irgendwoher eine Alarmglocke wie ein durchgeknallter Wecker auf Speed, doch niemand dreht den Fehlalarm ab, niemand stört sich am Höllenkrach. Weder die Saudis an der Passkontrolle, die mit einer unerschütterlichen Langsamkeit die Ausweispapiere stempeln, noch die Gastarbeiter und Businesspeople in den Warteschlangen.

Endlich darf ich vortreten. Der Beamte am Schalter schaut in meinen Pass, schaut in mein Gesicht, schaut in meinen Pass. Die Glocke plärrt noch immer, ihr Tirilieren bohrt sich als Schraubstock ins Hirn, der Saudi rückt seinen rot-weißen Shemagh auf dem Kopf zurecht, streicht seinen sauber gestutzten Backenbart glatt und fragt: »هل كنت هنا من قبل؟« Ich höre ihn nicht, er wiederholt die Frage, diesmal lauter: »هل كنت هنا من قبل؟« Jetzt verstehe ich ihn nicht, denn ich spreche außer vier, fünf eckigen Sätzen kein Arabisch, antworte auf Englisch und auf gut Glück: »Der Stempel ist drei Jahre alt.« Er kapiert nicht, was ich sage, ich kapiere nicht, was er will, er schickt mich zum nächsten Schalter. Ähnliches Prozedere.

»هل كنت هنا من قبل؟«, möchte der junge Mann hinter der Scheibe wissen, doch er wirkt matt von der Schalterarbeit, stellt nach zwei weiteren Versuchen seine Erkundigungen ein. Dafür weigert sich der Fingerabdrucksensor, meine Fingerabdrücke zu scannen. Der matte Mann drückt meinen Zeigefinger fester auf das Glasplättchen, für diese Anstrengung reicht gerade eben seine Kraft, bis die Aufnahme endlich im Kasten ist und ich im System bin. Als ich meinen Pass zurückbekomme, gibt die Glocke auf, und ich lese das gestempelte Datum; wir schreiben das Jahr 1444 nach islamischer Zeitrechnung, die mit der Auswanderung des Propheten Muhammad – der Hidschra – von Mekka nach Medina beginnt. Nach christlicher Zählung war das im Jahr 622.

Das Erste, was ich hinter der Passkontrolle erblicke, ist kein Bild von der Kaaba, dem Haus Gottes, sondern eine Werbung von Saudi Aramco. »Where Energy is opportunity« steht in blau-grünen Lettern auf einem Banner gedruckt. Das Blau-Grün soll an Himmel und Erde erinnern, an Wasser und Wald, und lässt Assoziationen an eine Umweltorganisation aufkommen, die sich für Nachhaltigkeit und Artenschutz einsetzt. Mein erster Lacher an diesem noch jungen Tag. Aramco ist die größte Erdölfördergesellschaft der Welt. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2019 ergab, dass der Konzern für fünf Prozent aller von Menschen ausgestoßenen Treibhausgase verantwortlich ist. Nach eigenen Angaben fördert Aramco 10,2 Millionen Barrel Rohöl täglich und verfügt über Reserven von 261,1 Milliarden Barrel. Im Jahr 2022 verzeichnete das Unternehmen einen Nettogewinn von 161 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Apple kassierte im selben Zeitraum 95 Milliarden US-Dollar.

 

Am Automaten ziehe ich Geld, kaufe eine SIM-Karte und handle einen der vielen Taxifahrer von 200 auf 130 Riyal runter, umgerechnet dreißig Euro. Ich folge ihm in die Tiefgarage zu seinem Hyundai. Der weiße Lack ist an den Türen abgeplatzt, die Rückbank in Plastik eingeschlagen. Der Mann spricht kein Englisch, spricht ohnehin nicht, startet den Motor, der Schlagbaum zur Nacht öffnet sich wie das Felsentor zur Schatzkammer. Eintritt ins Königreich Saudi-Arabien. Al-mamlakat al-’Arabiya as-Sa’udiya. So die arabische Bezeichnung.

Ich lasse das Fenster ein Stück herunter, um den Nahen Osten einzuatmen. Es ist jener gewisse Duft, den man nirgendwo sonst auf dieser Erde riechen kann. Nur hier. Eine Melange aus Sand, Weihrauch, Abgasen und Jasmin, dazu das Salz des Golfs. Der Geruch beruhigt, macht milde. Die Nachtluft kühlt die erhitzten Wangen. Wir fahren über Autobahnen und Ringstraßen, drehen Runden in Kreiseln, in deren Mitte übergroße Kaffeekannen oder Segel aus Stahl aufgestellt sind. An den Boulevards wiegen sich Palmen im Winterwind, die meisten sind echt, dazwischen jedoch Funkmasten, die Palmen nachempfunden sind. Dann die Moscheen, 94 000 gibt es im Land. Ihre Minarette stoßen wie gespitzte Bleistifte in den Himmel. Goldene Mondsicheln auf ihren Kuppeln.

Grün strahlen die Laternen der Highways ins Auto hinein, tänzeln in Rauten auf meinen Oberschenkeln, während König Salman und sein Sohn über uns schweben wie Damoklesschwerter. Tausende Male hängen, kleben und haften ihre Konterfeis im Königreich. An Häuserwänden, in Hotellobbys, Behörden und Kebabbuden. Längst nicht so penetrant wie die Despoten im Iran, Syrien oder im einstigen Saddam-Hussein-Irak. Da sind keine Szenen mit blumenbringenden Kindern oder sich aufbäumenden Pferden. Keine Orden, keine Uniformen. Nur die royalen Köpfe sowie die Entschlossenheit in ihren Gesichtern, und immer umspielt ein leises Lächeln die Münder. Meistens ist ihr Blick in die Ferne gerichtet, in ein leuchtendes Übermorgen, das nur sie zu kennen scheinen. »Zwar ist der König der Herrscher, aber MbS ist die Zukunft Saudi-Arabiens, das sollen die Bilder zeigen«, schrieb die Journalistin Susanne Koelbl.

Seit meinem letzten Besuch vor drei Jahren ist alles teurer geworden, die Zimmer, die Taxifahrten, der Cappuccino am Morgen. Subventionen in den Bereichen Benzin, Strom und Wasser wurden gestrichen. Frisches Obst und Gemüse, importiert aus Ägypten oder den USA , kostet mehr als in Europa. Die Mehrwertsteuer ist von fünf auf fünfzehn Prozent gestiegen. Zum ersten Mal finanzieren die Bürger die Regierung mit.

Die fetten Jahre sind vorbei, und das soziale Gefälle ist massiv. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt an der Armutsgrenze. Saudi-Arabiens Pro-Kopf-Einkommen liegt weltweit nur an der dreißigsten Stelle (Stand 2022), zehn Plätze hinter Deutschland. Da sind bisweilen Mittellose und Schrottsammler, lokale Hilfsorganisationen verteilen Lebensmittel. Da ist märchenhafter Reichtum bei einer kleinen Gruppe von Menschen, aber da sind ebenso prekäre Lebensumstände, viele junge Leute müssen hart arbeiten, haben wenig Geld. Die Jugendarbeitslosigkeit lag 2022 trotz zwischenzeitlicher Erfolge bei 23 Prozent. Auch ich muss haushalten, mein Budget ist knapp. Das günstige Hotel, in das ich 2020 eingecheckt hatte, gibt es nicht mehr.

Wir fahren vorbei an McDonald’s, Kentucky Fried Chicken, Hamburgini, Herfy, Burger King, Hardee’s, dazwischen noch Dutzende arabische Schnellrestaurants, die das gleiche Food wie die amerikanischen Originale frittieren und außer Pommes und Cola auch Typ-2-Diabetes im Angebot haben, nur billiger. Von den fast siebenunddreißig Millionen Einwohnern sind bereits über fünf Millionen betroffen, heißt es. Tendenz steigend. Die Amerikanisierung der Lebensmittelindustrie ist leicht an den schweren Bäuchen zu erahnen, nicht wenige Saudis schwappen über.

 

»Ahlan wa sahlan«, herzlich willkommen, sagt der Rezeptionist, überreicht mir die Schlüsselkarte und lächelt. Über ihm schweben von links nach rechts der Kronprinz Muhammad bin Salman bin Abdul Aziz Al Saud, daneben sein Großvater, der Staatsgründer Abdul Aziz bin Abd ar-Rahman bin Faisal Al Saud, und dann dessen Sohn, der aktuelle König Salman bin Abdul Aziz Al Saud. Sie schauen einen halben Meter an mir vorbei.

Zimmer 205. Buttergelbe Wände, blauer Teppichboden mit gelben Quadraten, blickdichte Fenster, die sich nicht öffnen lassen. Ich schreibe noch ein paar Nachrichten in die Heimat, um vier Uhr schlafe ich mit dem Handy in der Hand ein, um eineinhalb Stunden später wieder aufzuwachen. »Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist! Kommt zum Heil!«, scheppert der Muezzin aus den Lautsprechern der Kiezmoschee. »Das Gebet ist besser als der Schlaf!«, ruft er mit seinen endlosen Wendungen, leidvoll und routiniert zugleich.

Welcome to Saudi Arabia.

*

Herzlich willkommen in Saudi-Arabien. In Ihrem Tarif kosten Gespräche in die EU nur 2,99 EUR/Min.; eingehende Anrufe 1,59 EUR/Min. SMS Versand 59 Ct/SMS.

SMS an mein Handy

*

Nach schemenhaften Träumen ohne Zeit und Ort öffne ich um elf Uhr erneut die Augen, kann mich aber nicht überwinden, aus dem Bett zu steigen. Ich weiß, sobald ich den Fuß auf den blauen Teppich mit den gelben Quadraten setze, trete ich die Reise los. Dann beginnt sie. So richtig. Dann wird sie leibhaftig. Angeleuchtet vom Tageslicht zwingt sie mich raus, auf die Straße. Doch ich will nicht raus. Noch nicht. Die seltsame Angst schlingt sich abermals um mich, diese Angst vor dem Unbestimmten. In den letzten Jahren haben sich still und heimlich immer mehr diffuse Ängste in mein Leben geschlichen. Es gibt keine Erklärung dafür. Es passierte einfach. Draußen höre ich den Muezzin (nach mir?) rufen, diesmal klingt er tröstend.

Reisegeschichten sind Erfolgsgeschichten. Wer Grenzen überwindet, ist ein Gewinner. Neue »Abenteuer« warten. Träume werden wahr. Ein Hochglanzleben als Hasardeur. Scheinbar. Dass die Dämonen stets mitreisen in jedes Land und in die hinterste Ecke der Welt, wird nur selten erwähnt. Dass Angst und Schwermut manchmal wie ein Alb auf der Brust hocken, wird verschwiegen. Wer gibt schon gerne zu, drinnen bleiben zu wollen?

Ich denke an Xavier de Maistres Buch Die Reise um mein Zimmer von 1794. Nachdem der französische Aristokrat wegen eines verbotenen Duells zu Hausarrest in seiner kleinen Turiner Dachgeschosswohnung verurteilt worden war, begab er sich auf eine Grand Tour an den eigenen vier Wänden entlang. In den 42 Kapiteln, so viele wie die Tage, die er unter Arrest stand, betrachtet er die Dinge um sich herum, »schreitet von Entdeckung zu Entdeckung«, von Gemälden zu Möbeln zu Gardinen. Das Zimmer als Kontinent.

Ich schaue mich um. Ein Kühlschrank brummt in der Ecke, darauf steht ein Wasserkocher, über mir rauscht die Klimaanlage, eine Gebetsdecke liegt gefaltet neben dem Fernseher, die Matratze ist hart wie ein Holzbrett. Der Qibla-Pfeil, der die Gebetsrichtung gen Mekka weist, zeigt auf das blinde, verriegelte Fenster. Damit die Privatsphäre (vor allem die der Frauen) geschützt und die Hitze draußen bleibt, sind die Vorhänge in Saudi-Arabien aus schwerem Stoff und die Fensterscheiben nicht selten aus Mattglas. Oder von außen verspiegelt. Reinschauen nicht möglich. Rausschauen oft ebenso wenig. Verdunkelt wie bei Fliegeralarm. Sogar tagsüber ist es im Zimmer 205 gruftgleich düster.

Die nächsten Stunden erfinde ich allerlei Aufgaben, die mich davon abhalten, vor die Tür zu treten, weil ich mich nicht zum Aufbruch aufschwingen kann.

Ich richte den Fahrdienst Uber und die arabische Version Careem auf dem Handy ein, denn ohne kommt man nicht durchs Land, und ich fahre kein Auto. Ich lade Snapchat herunter, eine (kalifornische) Social-Media-App, um Bilder und Nachrichten auszutauschen, häufig anonym, kreiere einen Avatar. Der Clou: Nach 24 Stunden verschwinden sowohl private Chats als auch Videos und Fotos von der Plattform; sie löschen sich von selbst. Das ist der Grund, warum Snapchat in Saudi-Arabien so beliebt ist; man hinterlässt kaum Spuren. Mehr als 22 Millionen User sind im Königreich registriert.

Social Media als Tor zur Freiheit.

Von den 37 Millionen Einwohnern nutzten im Jahr 2020 etwa 25 Millionen aktiv die sozialen Medien. Rund 15 Millionen Saudis sind allein auf Twitter (jetzt X) unterwegs. Fast die Hälfte aller Tweets aus der arabischen Welt wird aus Saudi-Arabien abgeschickt. Und deshalb nimmt das Regime unter Muhammad bin Salman die Plattform regelmäßig ins Visier. Dazu gehört auch die Einschleusung von Spionen in das Netzwerk, um vertrauliche Nutzerdaten über anonyme Konten zu erbeuten, die als Bedrohung für das Königshaus angesehen werden, so berichtete der Guardian. Als die britische Tageszeitung bei X in der Sache nachhaken wollte, bekam sie ein Kothaufen-Emoji zugesendet. Dies ist seit der Übernahme durch Elon Musk die automatische Antwort des Unternehmens auf Presseanfragen.

Die saudischen Staatsmedien warnten jedenfalls ausdrücklich, dass es eine Straftat sei, die Regierung im Netz zu »beleidigen«. Immer mehr Fälle werden bekannt, in denen Schreiber und Content Creator festgenommen und mitunter zu jahrzehntelangen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Oppositionelle Inhalte im Internet werden mit modernster Spionagesoftware wie der israelischen Spyware »Pegasus«, mittels gehackter Mailkonten und aktivierter Handymikrofone aufgespürt und geahndet. Saudi-Arabien beauftragt zudem reichweitenstarke Influencerinnen, staatliche Propaganda zu posten, und unterhält ein künstliches Heer an Trollen und Bots, um Desinformation zu streuen und Shitstorms zu initiieren. Tausende politische Inhaftierte sitzen in Saudi-Arabien nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Gefängnis.

So auch geschehen mit Raif Badawi. Der Blogger und Gründer des Online-Forums Saudi Liberal Network sprach sich für einen säkularen Staat aus, für freie Religionswahl, und er plädierte für die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. 2012 wurde er wegen »Beleidigung des Islam« festgenommen und 2014 zu zehn Jahren Haft und eintausend Peitschenhieben verurteilt. Im Januar 2015 wurde er erstmals öffentlich ausgepeitscht, doch nach fünfzig Stockhieben war er so schwer verletzt, dass man die Fortführung der Strafe verschob und später aussetzte. Das Jahrzehnt Knast hat er mittlerweile abgesessen. Saudi-Arabien darf er trotzdem für weitere zehn Jahre nicht verlassen.

Einen Monat vor meiner Reise, im Januar 2023, hat ein Sonderstrafgericht die 35-jährige Salma al-Shihab in einem grob unfairen Verfahren zu einer 27-jährigen Haftstrafe sowie zu einem anschließenden Ausreiseverbot von 27 Jahren verurteilt. Das ist die längste Gefängnisstrafe, die je gegen einen Menschenrechtsaktivisten in Saudi-Arabien verhängt wurde. Wenn al-Shihab rauskommt, wird sie über sechzig sein. Die Doktorandin der Zahnmedizin und Mutter zweier Kinder lebt eigentlich in Großbritannien und war während eines Heimatbesuchs festgenommen worden. Sie hatte auf ihrem Twitter-Account einige Beiträge von Aktivistinnen geteilt, die sich für Frauenrechte einsetzen. Nur 2500 Follower zählte ihr Profil. Doch wer Kritik am Regime äußert oder teilt, ist dran. Reformen dürfen nur von oben angestoßen, jedoch nicht von unten abverlangt werden.

Das harte Urteil ist als Botschaft an all diejenigen zu verstehen, die soziale Netzwerke nutzen. Saudi-Arabien wie auch die umliegenden Golfmonarchien rechtfertigen ihr gnadenloses Vorgehen und die Verletzung der Menschenrechte als unerlässlichen Kampf gegen »Unruhestifter«, die dem Staat schaden und den Fortschritt gefährden wollen. Der Westen solle bitte Verständnis zeigen und die Begebenheiten respektieren, denn Veränderungen bräuchten Zeit. So lautet das häufig bemühte und bigotte Argument. Und natürlich stützen sich Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten dabei gern auf das Narrativ der westlichen Doppelmoral und Bevormundung.

 

Um 16 Uhr ziehe ich meine Abaya an und die Tür von Zimmer 205 zu. Der Himmel ist wie Milch, genauso undurchlässig wie mein Fenster. Es ist ein kühler Samstag, ein wilder Wind zerrt an meinem Schal, kaum jemand ist draußen, bloß ein paar wenige Männer, die mit Kopfhörern auf den Ohren und Fitnessuhr am Handgelenk tapfer die zugige Uferpromenade entlangmarschieren. Aus den Häusern und Palmen ist die Farbe herausgewaschen, so wirkt es, sogar der Golf ist grau wie eine Regenwolke.

In dieser Ecke der Stadt entdecke ich weder Cafés noch Shops, da ist nichts, das lockt, am Ende der Uferstraße bloß Brachflächen aus Sand und Kies. Dammam sieht aus, wie ich mich fühle. Die seltsame Angst wickelt mich fester in ihr dunkles Tuch, mein Herz rast, der Magen krampft sich zusammen. Um mich abzulenken, versuche ich, Vogelarten zu bestimmen. Ein Trick, den ich in einem Buch gelesen habe. Ich sichte Nebelkrähen, Silbermöwen, Haussperlinge, Ringeltauben, Türkentauben. Und Dutzende Katzen. Verdreckt und ausgezehrt. Sie streunen umher, kauern zwischen parkenden Autos, hoffen auf Futter oder schauen aufs Meer.

Um 16.45 Uhr bin ich zurück im Hotel, die Royals blicken noch immer in die Ferne, der Rezeptionist lächelt wieder, grüßt mich auf Arabisch wie eine alte Bekannte. Als ich die Tür zu meiner tagundnachtgleichen Gruft schließe, beruhige ich mich endlich. Lasse mich auf die harte Matratze fallen, mehr schaffe ich für heute nicht. Morgen wird alles besser, versichere ich mir, oder übermorgen, ich brauche bloß etwas Zeit, mich auf die Reihe zu kriegen. Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Geh über die Brücke, wenn der Fluss da ist.« In Saudi-Arabien gibt es keine Flüsse.

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Wattierte Büstenhalter, knappe Strings, durchsichtige Negligés; Reizwäsche gehört genauso zu Saudi-Arabien wie der Hidschab – die islamische Verschleierung –, und deshalb gibt es hier kaum eine Shoppingmall, die ohne Dessousläden verschiedenster Couleur auskommt. Der bekannteste Store ist das saudische Lingerie-Label Nayomi, das knallig pink ausgeleuchtet und so plüschig eingerichtet ist wie ein Boudoir und ebenfalls Filialen in Katar, Bahrain, Kuwait, Oman, Libyen und den Emiraten betreibt.

Ich linse hinein, eine Verkäuferin faltet Nachthemden auf einen Stapel, die andere legt Shapewear in eine Schublade. Dazwischen begutachten drei Kundinnen die gerüschten, getüllten, bestickten, bestrassten und beperlten Stoffe oder verschwinden mit BHs auf dem Unterarm hängend in die Umkleidekabinen. Alle Frauen – Verkäuferinnen wie Kundinnen – tragen lange schwarze Abayas. Über der Tarha, dem Kopftuch, dann der schwarze Niqab, jener Gesichtsschleier mit Sehschlitz, befestigt an einem Stirnband, verknotet am Hinterkopf. Brauen, Nase und Mund sind bedeckt, das Gesicht verborgen bis zum Unterlid.

Die zappenduster Verhüllten wandeln zwischen kirschroten Push-ups aus Spitze, befühlen die zartrosa Bordüren der transparenten Slips oder zupfen die ultrakurzen Babydolls in Babyblau vom Kleiderbügel. Dunkelschwarze Roben in bonbonbunter Kulisse. Ich schließe die Augen und speichere den Anblick auf meiner Großhirnrinde. Für mein inneres Reservoir. Ein imaginäres Lichtbild wundersamer Selbstverständlichkeit, von der Gleichzeitigkeit der scheinbaren Widersprüche, ein Lichtbild, das meine Beklommenheit der letzten Tage betäubt wie eine Schmerztablette.

 

Im Beautyshop nebenan schnuppert sich ein Herr im blütenweißen Thawb durchs Sortiment, in der rechten Hand hält er ein Bodyspray, in der linken einen Cremetiegel. Noch vor ein paar Jahren war es Männern aufgrund der Geschlechtertrennung nicht erlaubt, eine Mall allein, ohne weiblichen Familienanhang, zu betreten. Die Religionspolizei, umgangssprachlich Mutaww’a (die »Gehorsamen« oder »Freiwilligen«) genannt, offiziell aber Hai’a al-’amr bil-ma’ruf wan-nahi ’an al-munkar (Komitee zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters), scheuchte unbefraute Mannsbilder davon, manchmal unter Schlägen.

Die Hai’a war der Rohrstock des Königreichs. 1940 gegründet, erhielt sie in den 1980er-Jahren weitreichende Befugnisse und versetzte die Einwohner als halb unabhängige zivile Strafverfolgungsbehörde in Angst und Schrecken. Sie lauerte Händchen haltenden Paaren auf, verteilte Ohrfeigen oder drosch auf Frauen ein, wenn das Kopftuch verrutscht war. Sie kontrollierte, ob Ladenbesitzer ihre Geschäfte zu den Gebetszeiten zuschlossen, schleppte die vermeintlich Sündigen auf die Wache und brüllte durch ein Megafon Passanten an, die, anstatt in der Moschee zu beten, draußen herumliefen. Als 2002 in einer Mädchenschule ein Feuer ausbrach, hinderten die Religionspolizisten die Schülerinnen daran, das Gebäude zu verlassen, weil sie nicht »anständig« verschleiert waren. Vierzehn Mädchen verbrannten. Die Öffentlichkeit tobte, und das Königshaus schränkte die Rechte der Mutaww’a sukzessive ein. Jetzt ist sie entmachtet. Seit 2016 darf sie niemanden mehr ansprechen, sondern nur Verfehlungen an die Polizei weitermelden.

Die Bärtigen wurden von Muhammad bin Salman buchstäblich kastriert, auch wenn der Niedergang der wahhabitischen Geistlichkeit schon vorher eingesetzt hatte. Aber MbS greift deutlich erbarmungsloser durch als seine Vorgänger. Einige Religionspolizisten und Gottesmänner hocken mittlerweile im Gefängnis. Doch die meisten schweigen, fügen sich. Mit der Beschränkung des Klerus und der gefürchteten Religionspolizei versprach Muhammad bin Salman eine Rückkehr zum »gemäßigten Islam«, der Gleichheit und Zusammenleben fördern solle statt Sektierertum, Hass und Spaltung. Die Regierung postuliert zudem, jegliche Finanzierung salafistischer Institutionen außerhalb Saudi-Arabiens eingestellt zu haben. Das ultrakonservative Image seines Königreiches versucht MbS abzuschütteln. Dennoch bleibt Saudi-Arabien ein tiefreligiöses Land. Der Islam ist hier nicht wegzudenken. Trotz aller Ambivalenzen. Er ist immer da. Wie Sauerstoff.

 

Der Mann mit dem Bodyspray und dem Cremetiegel in den Händen lässt sich jetzt von der Beautyshop-Verkäuferin beraten, die unter ihrem Niqab aufmunternd lächelt, das zeigen ihre Augen. Dass Frauen als Verkäuferinnen arbeiten und sogar fremde Männer abkassieren dürfen, ist neu. Auch dies war lange Zeit verboten. Auf dem Schild über ihnen steht in Englisch und Arabisch: »Sprühen und im Moment leben!« Der Herr sprüht, doch zwischen all den Duftölen, Haarparfüms und Körperpudern findet er nicht in den richtigen Moment hinein. Er suche ein Geschenk für seine Frau, glaube ich, ihn sagen zu hören. Die Verkäuferin weiß Rat und präsentiert dem Ratlosen das neueste Odeur: Veilchen und Beere mit einer Prise Patschuli und einem Hauch Rose aus der Rosenstadt Ta’if. Der Mann schnüffelt und hebt interessiert die Augenbrauen. Dazu reicht die Verkäuferin ihm noch flink eine Kerze, die nach Sandelholz und Karamell duftet – um auch wirklich im Moment zu leben –, und dann ab damit zur Kasse. Sie lächelt ihm hinterher.

Es gibt wohl kein anderes Land auf der Welt, in dem die Menschen so gut riechen wie in Saudi-Arabien. Düfte sind fester Bestandteil der arabischen Kultur, und tatsächlich waren es Parfümeure aus dem Nahen Osten, die im siebten oder achten Jahrhundert die kommerzielle Destillation von Rosenwasser perfektionierten. Ein typischer Saudi – egal ob Mann oder Frau – versprüht im Jahr rund zweieinhalb Liter Parfüm auf Haut und Garderobe, weiß die Gulf News zu berichten, während ein durchschnittlicher Europäer im selben Zeitraum nur dreihundert Milliliter verwendet. Das heißt, Saudis benutzen achtmal häufiger Parfüm als wir. Und überall liegt der warmholzige Geruch von Oud in der Luft, ob in Wohnzimmern, Malls oder in Suqs (Märkten). Saudi-Arabien ist Duftland. Oud (arabisch für »Holz«) wird aus dem Harz des Adlerholzbaumes gewonnen und in kleinen Schnitzen verräuchert. Oft stellen sich Frauen über einen Oud-Brenner, lassen den Rauch aufsteigen und beduften auf diese Weise ihren Körper und die Abaya. Eine Tradition, die mehrere Tausend Jahre alt ist.

 

Ich flaniere durch die Mall, streune vorbei an Foot Locker und H&M, bekomme an jeder Ecke von Verkäuferinnen parfümierte Papierstreifen überreicht, atme die Bouquets ein. Die Abaya-Shops heißen Sweet Lady, Black Fashion oder First Lady. In Bint al-Arab, was übersetzt »Tochter der Araber« bedeutet und mich kurz rätseln lässt, was der Name genau aussagen möchte, ist heute Sale. Frauen betasten die Stoffe, fragen nach Preisen, während ihre Männer verloren im Weg herumstehen, bepackt mit Einkaufstüten oder mit einem Kleinkind auf dem Arm.

Es wäre zu simpel, die Shoppingcenter in Saudi-Arabien einzig auf Konsum zu reduzieren. In einem Land, in dem jahrzehntelang Kinos und Konzerte verboten waren, sind Malls Räume im Dazwischenreich, eine marmorblanke Halböffentlichkeit, Fluchtorte im repressiven Alltag. Das Einerlei lässt sich mit Mode, Duftwasser und Apple-Krimskrams auskleiden. Den Autokraten ist der Kommerz ganz recht; lieber Konsumenten als Aktivisten. Wer shoppt, geht nicht protestieren.

In der obersten Etage entdecke ich ein Kinderparadies mit Autoscooter, zwei Hüpfburgen, Videospielen und einem Kettenkarussell. »Alif Ba Ta«, ein arabisches ABC-Lied, läuft vom Band. Lebensgroße Plastikponys sind aufgestellt, Plastikenten schwimmen im Planschbecken. Ein Junge im Kinderwagen schaut mich mit großen Kulleraugen und offenem Mund an. Ein halb gekauter Keks fällt heraus. Der Vater hat dem Kleinen einen Luftballon in die Patschehändchen gedrückt und versucht, ihn zu fotografieren. Er sagt: »Omar, schau her!«, doch der Knirps lässt seine Augen nicht von mir, starrt mir nach.

Es sind immer die Kinder, die meine Fremdartigkeit als Erstes bemerken. »He loves you«, ruft der Vater mir zu und lacht. In einer Ecke versteckt, hinter der Popcornmaschine und inmitten einer Kakofonie aus Tuten, Quaken, Bimmeln und Wiehern, sitzt unbemerkt vom Rest der Welt ein Pärchen auf einer Bank. Teenager, vielleicht sechzehn oder siebzehn. Das Mädchen wähnt sich unbeobachtet und lehnt ihren Kopf an des Burschen Schulter. Mag die Liebe noch so reglementiert sein, aufhalten lässt sie sich nie. Sie ist wie Wasser, sie dringt durch jede Fuge.

 

Wieder im Erdgeschoss setze ich mich in ein Café, trinke meinen ersten Becher Karak, einen schwarzen Tee mit Gewürzen, Zucker und Dosenmilch, der einst von indischen Gastarbeitern auf die Halbinsel mitgebracht wurde, und beobachte die Menschen um mich herum. Draußen vor dem Fenster blinken die Lichter eines Nissans auf. Eine junge Frau steigt ein, parkt rückwärts aus und fährt weg. Die Lücke, die sie hinterlässt, schließt die nächste Frau mit ihrem Toyota.

Eine Alltagsszene, und doch war Autofahren für Frauen viele Jahrzehnte lang gänzlich haram (verboten). Erst seit 2018 dürfen Frauen wieder ans Steuer. Bis zuletzt hatten die Hardliner empört gegen die Aufhebung des Fahrverbots geschimpft und gewettert. »Wer denkt, ist nicht wütend«, sagte Theodor W. Adorno. Doch denken ist mitunter anstrengender als glauben.

Saudi-Arabien war das weltweit einzige Land, in dem Frauen keinen Führerschein machen durften. Aus dem Koran lässt sich das Verbot freilich nicht ableiten. Zaynab, die Tochter des Propheten, ritt sogar auf einem Kamel von Mekka nach Medina. Vierzehn Jahrhunderte später mussten Frauen auf der Rückbank sitzen. Der Grund für das Fahrverbot war so einfach wie hanebüchen: Hätte eine Frau unterwegs eine Autopanne, dann würde ihr ein fremder Mann zu Hilfe eilen, und das wiederum wäre ein Einfallstor zur Promiskuität, so heischten es die Steinzeitreligiösen.

Das Weib als ewig lockende Sirene, der Kerl als willenloses Raubtier. Wie banal. Wie fad. Dass Frauen aufgrund dieser Regelung häufig auf einen nicht verwandten männlichen Fahrer angewiesen waren und mit ihm Stunden auf engstem Raum verbrachten, war und ist hingegen kein Problem. Denn da die Chauffeure zumeist Arbeitsmigranten aus Südostasien sind, gelten sie aus saudischer Sicht nicht als vollwertige Männer, eher als Eunuchen. Die Sklaverei wurde erst 1963 abgeschafft.

Am Ende mussten sich die Fanatiker dem Reformwillen des aktuellen Königshauses beugen, denn auch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verabscheute das Autofahrverbot, und viele Väter und Brüder brachten ihren Töchtern und Schwestern das Fahren heimlich bei. Manch eine Saudi-Araberin besaß bereits einen ausländischen Führerschein, durfte sich aber dennoch daheim nicht ans Lenkrad setzen. Dabei bedeutet Autofahren mehr, als nur von A nach B zu gelangen. Es steht ebenso für das Alleinsein, für Bewegungsfreiheit und für Autonomie. Als das Verbot fiel, scherzte die saudische Comedienne Hatoon Kadi, dass ab jetzt nicht mehr der Chauffeur, sondern der Ehegatte der wichtigste Mann im Leben einer Frau werden könnte. Inschallah, möglicherweise.

Noch erheiternder ist allerdings die Äußerung eines Sheikh, also eines Stammesoberhauptes, im Jahr 2013, der es mit seinem ernst gemeinten Mumpitz sogar in deutsche Zeitungen geschafft hatte; der Besorgte behauptete, dass Autofahren »physiologische Auswirkungen auf Frauen hat und ihre Eierstöcke beeinträchtigen und das Becken nach oben drücken könnte, wodurch ihre Kinder mit unterschiedlich starken klinischen Störungen geboren werden«. Er forderte die Frauen deshalb auf, sich nicht von Emotionen leiten zu lassen, sondern lieber das Hirn einzuschalten. Das ist schreiend komisch. Hätte er seinen Rat doch besser selbst befolgt. »Alles kann geheilt werden, außer der Dummheit«, sagt ein arabisches Sprichwort. In den sozialen Netzwerken brachen reihenweise Saudis in Gelächter aus und rissen Witze über den Sheikh und seine »bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckung«.

 

Halb sechs, der Muezzin ruft zum Maghrib, dem Abendgebet. Wer will, macht den Laden zu. Wer nicht will, lässt offen. Das Café, in dem ich meinen Karak trinke, schließt nicht wie noch vor drei Jahren. Schon einmal habe ich genau hier gesessen, bis ich hinausgeworfen wurde. Damals ließen sämtliche Geschäfte die Rollgitter herunter, sobald der Adhan, der Gebetsruf, erklang. Die Abaya-Shops schlossen, die Dessousfilialen und Fast-Food-Restaurants ebenfalls, sogar die Bankschalter und Parfümstände sperrten zu, und die Kunden waren gezwungen, die Läden zu verlassen. Hinfällig der eigentliche Sinn der Einkehr, nämlich dass sich der Gläubige freiwillig von all seinem irdischen Schaffen löst, um das Gespräch mit Gott zu suchen. Und interessanterweise eilten die meisten Vertriebenen nicht zur nächsten Moschee, um sich gen Mekka zu verneigen, nein, sie warteten, wie ich, vor den Geschäften, bis diese dann fünfzehn Minuten später wieder aufschlossen.

Für die Shops bedeuteten die Pausen ein Minus in der Kasse, denn fünfmaliges Beten täglich kostet zusammengerechnet mindestens eineinhalb Stunden Zeit, oft länger. Eineinhalb Stunden, in denen kein Umsatz erwirtschaftet wird. Das fand auch MbS nicht gelungen, weshalb er den Händlern gestattete, ihre Geschäfte während der Gebetszeiten geöffnet zu halten.

Hier im Café springt niemand vom Stuhl, um dem Gebetsruf zu folgen. Weder die junge Frau am Laptop noch der graubärtige Mann hinter mir mit dem Airpod im Ohr und dem rot-weißen Shemagh auf dem Kopf. Ebenso wenig die Inder am Vierertisch, die sich angeregt unterhalten. Mir fällt eine ältere Dame auf, die allein mit einem Becher Kaffee an einem Tisch sitzt. Sie tippt nicht, sie telefoniert nicht, sie liest nichts. Sie schaut bloß aus dem Fenster, irgendwie entrückt, fast ungeborgen. Ihr Daumen streicht über den Kaffeebecher, als wäre er ihr nah. An was sie wohl denkt? An wen? Neue Gäste kommen ins Café, eine Frau mit Niqab wischt auf ihrem iPhone herum, ihre Augen lachen, eine grellpinke Leggins blitzt unter der Abaya hervor, dazu weiße Sneakers von Nike Sportswear. Eine weitere Niqabi tritt ein, im Schlepptau ihren Mann, der sogleich Eiskaffee bestellen muss. Der Teenagersohn fläzt sich in die Sofaecke, während der Muezzin beharrlich insistiert. Doch niemand erhört seinen Ruf, trotz des tiefsatten, melodiösen Oszillierens seiner Stimme.

Im Jahr 2016 verbot der Großmufti das Schachspiel, weil es seiner Meinung nach Zeit- und Geldverschwendung sei und zu Streit führe (vielleicht fand er Schach auch einfach doof, weil sich bei diesem Spiel die Dame frei bewegen darf). Ein Jahr später lud die Hauptstadt Riad zur Schnellschach-Weltmeisterschaft ein. Daran denke ich jetzt.

Mit konzentriertem Blick jongliert der Vater auf einem Tablett drei Eiskaffee mit extraviel Sahne und Schokoraspeln Richtung Sitzecke. Auf dem Pullover seines Teenagersohnes steht in großen Lettern gedruckt: »Don’t look back!«

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Ich schreibe eine Nachricht an Sadim, sie arbeitet als Managerin in einem hippen Coffeeshop, wir kennen uns flüchtig über Social Media. Auf Instagram lädt die 29-Jährige bisweilen Fotos hoch, wie sie Stühle rückt oder mit einem Klemmbrett in der Hand und einem erwartungsfrohen Blick direkt in die Linse schaut. Die Welt steht mir offen, scheint sie zu sagen.

In den letzten Jahren stieg die Erwerbsquote saudischer Frauen von 19 auf 33 Prozent. Eine Entwicklung so rasend schnell wie in keinem anderen Land. Um den ökonomischen Zwängen zu begegnen, verabschiedete Muhammad bin Salman im Jahr 2016 die »Vision 2030«, ein von der US-Beraterfirma McKinsey ausgearbeitetes Programm der forcierten Modernisierung. Mithin sieht sich Saudi-Arabien infolge der Energiewende, der schwankenden Ölpreise und der globalen Unsicherheiten gezwungen, sich auf die Zeit nach dem Öl einzustellen und seine Wirtschaft zu diversifizieren und zu modernisieren (bis dahin wird allerdings bis zum letzten Tropfen Öl gebohrt). Der umfassende sozioökonomische Reformplan »Vision 2030« (gregorianischer, nicht islamischer Kalender!) dringt daher in alle Schichten der Gesellschaft, insbesondere das Leben der Saudi-Araberinnen hat sich maßgeblich verändert. Damit sich die »Vision 2030« erfüllt und damit Saudi-Arabien auch zukünftig die größte Volkswirtschaft im Nahen Osten bleibt, braucht MbS die Frauen, deren rechtlicher Status zuvor dem von Minderjährigen entsprach. Es ergibt einfach keinen Sinn, Millionen Saudi-Araberinnen, die vielleicht in London oder Los Angeles studiert haben, daheim versauern zu lassen, während der Arbeitsmarkt Fachkräfte benötigt.

Außerdem sind die Reformen publikumswirksam, und sie sollen Saudi-Arabiens Image im Ausland aufpolieren. So hob der Kronprinz, der zugleich auch Vorsitzender des Rats für Wirtschaft und Entwicklung ist (und seit Herbst 2022 Premierminister), das Fahrverbot für Frauen unwiderruflich auf. Berechnungen von Bloomberg Economics zufolge soll mit der Aufhebung des Verbots das Bruttoinlandsprodukt bis 2030 um neunzig Milliarden US-Dollar wachsen.

Ebenso verkündete der Kronprinz das Ende des Verhüllungszwangs (der Niqab war gesetzlich ohnehin nie vorgeschrieben). »Eine Abaya muss auch nicht zwingend schwarz sein«, sagte er überdies und schockte die Konservativen. Muhammad bin Salman, der einen Bachelor in islamischen Rechtswissenschaften innehat und einen pragmatischen Umgang mit seiner Religion pflegt, konstatierte, dass der Islam lediglich eine anständige und respektvolle Kleidung vorsehe, mehr aber nicht. Ein Satz wie ein Gewitter. Und ein Bruch mit jahrzentelangen Konventionen.

Doch damit nicht genug; Firmen werden jetzt aufgefordert, die Hälfte ihrer Belegschaft mit Saudi-Araberinnen zu besetzen. Das Rentenalter wurde für beide Geschlechter auf sechzig Jahre angeglichen. Die Regierung fördert zudem das Unternehmertum von Frauen, indem sie geschlechtsspezifische Benachteiligung beim Zugang zu Finanzdienstleistungen verbot, denn Banken verweigern Unternehmerinnen oft Kredite. Sexuelle Belästigung steht jetzt unter Strafe (fünf Jahre Haft oder bis zu 70 000 Euro Bußgeld). Gesetzesänderungen schützen außerdem vor Diskriminierung am Arbeitsplatz. Einschränkungen bei der Nachtarbeit wurden gelockert, Schwangere dürfen nicht entlassen werden, auch nicht während ihres Mutterschaftsurlaubs. Und mehr Frauen als Männer studieren; 57 Prozent der Hochschulabsolventen im Königreich sind weiblich. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben im Jahr 2021 fast 42 Prozent der Frauen an saudischen Hochschulen und Universitäten einen Abschluss in Fächern wie Naturwissenschaften, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik gemacht – der vierthöchste Wert aller Länder, zu denen Daten erhoben wurden. Ebenso pfeilschnell wächst die Zahl weiblicher Führungskräfte, ob in Politik, Kultur, Medizin, Tourismus oder Industrie, ob im privaten oder im öffentlichen Sektor.

Lange standen Frauen nur Arbeitsfelder offen, die ihrer »Natur« entsprachen, wie Lehrerin, Krankenschwester, Kindergärtnerin oder Ärztin. Heute werden über fünfzig Prozent der Start-ups von Frauen gegründet oder mitgegründet. Insgesamt stehen ihnen jetzt Berufe in zweihundert Sparten offen, darunter Militär, Security, Bergbau, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft oder Politik. Und so bekleidet das Amt des saudischen Botschafters in Washington mit Reema bint Bandar Al Saud eine Frau. Ebenso erfolgreich ist Sarah al-Suhaimi, die Direktorin der saudischen Börse, die zudem auf der Forbes-Liste der einflussreichsten Frauen des Nahen Ostens steht.

Das Richteramt bleibt Frauen aber weiterhin verschlossen, und auch in der Regierung spielen sie machtpolitisch kaum eine Rolle. Eine Königin gibt es nicht. Außerdem werden weibliche Arbeitnehmer oft wesentlich schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen, und manche Arbeitgeber holen, bevor sie eine Frau einstellen, immer noch die Erlaubnis des rechtlichen Vormunds ein.

Und doch bewegt sich etwas im Land. Seit der Auflösung der Geschlechtertrennung im Jahr 2019 sind Unternehmen nicht mehr gezwungen, separate Räumlichkeiten einzurichten, um Frauen zu beschäftigen. Viele Büros, Konferenzen und Teams sind jetzt gemischt. Auch dürfen Frauen endlich ohne Zustimmung ihres Vormunds (arabisch Mahram) verreisen, sie brauchen dafür keine Unterschrift mehr vom Vater, Bruder oder Ehemann. Bis vor Kurzem traf der Mahram für sein Mündel alle Entscheidungen über Wohnsitz, Heirat, Universitätsbesuch, medizinische Behandlung oder Antritt einer Reise. Jetzt dürfen Frauen immerhin studieren, einen Pass beantragen, sich medizinisch versorgen lassen, ein Appartement mieten oder verreisen, ohne den Vormund zu fragen. Und zahllose Saudi-Araberinnen wollen endlich einer Beschäftigung nachgehen. Im Februar 2022 schrieb die spanische Betreiberin der Hochgeschwindigkeitsbahnlinie Medina–Mekka dreißig Lokführerinnenstellen aus; es bewarben sich 28 000 Saudi-Araberinnen.

Der steigende Anteil an erwerbstätigen Frauen darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Frauen längst nicht alle gesellschaftlichen Rechte zustehen. Da sind die bürokratischen Hürden, die noch immer zähen patriarchalischen Geschlechterverhältnisse und häufig eben doch eine mangelnde staatliche Unterstützung und eine gesetzliche sowie soziale Benachteiligung. Und trotz einiger Lockerungen sind saudi-arabische Bürgerinnen weiterhin auf einen Mahram angewiesen. Sie sind verpflichtet, ihrem Vormund zu »gehorchen«. So steht es auch im neuen Personenstandsgesetz. Ebenso dürfen sich Ehefrauen ihren Ehemännern im Schlafzimmer »nicht entziehen«. Frauen unterstehen rechtlich immer noch den Männern, was sie zudem häufig zu Opfern häuslicher Gewalt macht. Und wo männliche Autorität bröckelt, wird bisweilen noch härter zugeschlagen.

»I support Saudi Arabia, and half of Saudi Arabia is women. So I support women«, sagte MbS in einem Interview mit The Atlantic. Da scheint fast vergessen, dass 2018 die Aktivistin Loujain al-Hathloul und weitere Frauen verhaftet wurden, weil sie für ein Ende des Fahrverbots gekämpft hatten, das da intern schon längst beschlossen war. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden die Aktivistinnen bei Verhören geschlagen, mit Elektroschocks und Waterboarding gefoltert, ausgepeitscht sowie sexuell belästigt. Die Staatsmedien beschimpften sie als »Verräterinnen« und »Nestbeschmutzerinnen«.

Die sozialen Freiheiten mögen sich erweitert haben, die Menschenrechtslage hat sich hingegen verschärft. »Mehr Diktatur wagen«, lautet offenbar das Motto. Mittlerweile ist al-Hathloul aus der Haft entlassen, darf allerdings die nächsten Jahre nicht ausreisen. Sie wurde 2019 und 2020 für den Friedensnobelpreis nominiert.

Letztlich entscheidet eben doch ein Mahram, ein Kronprinz, ein König über die Freiheit der Frau.

 

Sadim und ich verabreden uns in der Nachbarstadt al-Khobar, zwanzig Minuten von Dammam entfernt, ebenfalls am Golf gelegen und ebenfalls in früheren Zeiten ein verschlafenes Fischerdorf. Saudi-Arabien ist ein junger Staat, gegründet 1932. Es ist das größte Land auf der Arabischen Halbinsel, die mit 2,73 Millionen Quadratkilometer Fläche die größte Halbinsel der Erde ist. Saudi-Arabien nimmt fast achtzig Prozent ein und ist umringt von sechs weiteren Staaten: Jemen, Oman, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar, Kuwait und dem winzigen Bahrain als vorgelagerter Inselgruppe. Im Norden und Osten haben Jordanien und der Irak ebenfalls einen kleinen Anteil an der Halbinsel. Insgesamt leben rund 87 Millionen Menschen auf der Peninsula, die überwiegend aus Wüste besteht.