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Das große Skandalstück über erwachende Sexualität, ungewollte Schwangerschaft, Onanie und eine in Tabus erstarrte Erwachsenenwelt. Mit seiner Kindertragödie »Frühlings Erwachen« wird Frank Wedekind zum Weltautor. Sein 1891 zuerst publiziertes Drama, von Max Reinhardt 1906 in den Berliner Kammerspielen uraufgeführt, forderte den Geschmack und die gesellschaftliche Ordnung seiner Zeit heraus. Witzig und lebhaft im Stil, grotesk und surreal in der Szenengestaltung, präsentiert Wedekind eine moderne Idee von Libido, die drei junge Menschen in ihrer zerbrechlichen und zugleich gewaltbereiten Sexualität zeigt, einer Sexualität freilich, die durch Schule, Familie und bürgerliche Moral eingezwängt und verbogen wird. Grundlage des Bandes ist die Erstausgabe, in der die erotischen Szenen enthalten sind, die zensurbedingt in der zweiten Fassung von 1906 weggefallen sind. Das Werk lädt dazu ein, mit Humor gelesen zu werden. Wedekind selbst wünschte sich diese Gelassenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber dem Komischen, die einer moralisierenden und psychologisierenden Rezeptionsweise entgegenstehen.
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Seitenzahl: 147
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FRANK WEDEKIND
Werke in Einzelbänden
Herausgegeben von Ariane Martin
Editions- und Forschungsstelle
Frank Wedekind (Mainz)
Frank Wedekind
Frühlings Erwachen
Eine Kindertragödie
Herausgegeben vonDAGMAR VON HOFF
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2020
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,
unter Verwendung einer Illustration von Ed. Touraine
(1883-1916) – Le chauffeur trop ardent –
Photo © Caricadoc / Bridgeman Images
ISBN (Print) 978-3-8353-3615-5
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4441-9
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4442-6
Frühlings Erwachen.Eine Kindertragödie
Erster Act
Zweiter Act
Dritter Act
Anhang
Editorische Notiz
Erläuterungen
Selbstzeugnisse
Dokumente
Nachwort
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Zeittafel
Register
Buchumschlag der Erstausgabe von 1891. Illustration von Franz von Stuck.
Frühlings Erwachen
Eine Kindertragödie
Dem vermummten Herrn
der Verfasser.
Erste Scene
Wohnzimmer.
WENDLA Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
FRAU BERGMANN Du wirst vierzehn Jahr heute!
WENDLA Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn geworden.
FRAU BERGMANN Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist. Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.
WENDLA Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese Nachtschlumpe. – Laß’ mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch recht sein. – Heben wir’s auf bis zu meinem nächsten Geburtstag; jetzt würd’ ich doch nur die Litze heruntertreten.
FRAU BERGMANN Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so behalten, Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und plump in deinem Alter. Du bist das Gegentheil. – Wer weiß wie du sein wirst, wenn sich die Andern entwickelt haben.
WENDLA Wer weiß – vielleicht werde ich nicht mehr sein.
FRAU BERGMANN Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!
WENDLA Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!
FRAU BERGMANN(sie küssend) Mein einziges Herzblatt!
WENDLA Sie kommen mir so des Abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar nicht traurig, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. – Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?
FRAU BERGMANN – Geh’ denn und häng’ das Bußgewand in den Schrank! Zieh’ in Gottes Namen dein Prinzeßkleidchen wieder an! – Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.
WENDLA(das Kleid in den Schrank hängend) Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein …!
FRAU BERGMANN Wenn du nur nicht zu kalt hast! – Das Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber …
WENDLA Jetzt, wo der Sommer kommt? – O Mutter, in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind keine Diphteritis! Wer wird so kleinmüthig sein. In meinen Jahren friert man noch nicht – am wenigsten an die Beine. Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? – Dank’ es dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines Morgens die Ärmel wegstutzt und dir so zwischen Licht Abends ohne Schuhe und Strümpfe entgegentritt! – Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin … Nicht schelten, Mütterchen! Es sieht’s dann ja niemand mehr.
Zweite Scene
Sonntag Abend.
MELCHIOR Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit.
OTTO Dann können wir Andern nur auch aufhören! – Hast du die Arbeiten, Melchior?
MELCHIOR Spielt ihr nur weiter!
MORITZ Wohin gehst du?
MELCHIOR Spazieren.
GEORG Es wird ja dunkel!
ROBERT Hast du die Arbeiten schon?
MELCHIOR Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn!
ERNST Centralamerika! – Ludwig der Fünfzehnte! – Sechzig Verse Homer! – Sieben Gleichungen!
MELCHIOR Verdammte Arbeiten!
GEORG Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!
MORITZ An nichts kann man denken, ohne daß Einem Arbeiten dazwischen kommen!
OTTO lch gehe nach Hause.
GEORG Ich auch, Arbeiten machen.
ERNST Ich auch, ich auch.
ROBERT Gute Nacht, Melchior.
MELCHIOR Schlaft wohl!
(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)
MELCHIOR Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!
MORITZ Lieber wollt’ ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! – Wozu gehen wir in die Schule? – Wir gehen in die Schule, damit man uns examiniren kann! – Und wozu examinirt man uns? – Damit wir durchfallen. – Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. – Mir ist so eigenthümlich seit Weihnachten … hol’ mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut’ noch schnürt’ ich mein Bündel und ginge nach Altona!
MELCHIOR Reden wir von etwas anderem. – (Sie gehen spazieren.)
MORITZ Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?
MELCHIOR Glaubst du an Vorbedeutungen?
MORITZ Ich weiß nicht recht. – – Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu sagen.
MELCHIOR Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die Jeder stürzt, der sich aus der Scylla religiösen Irrwahns emporgerungen. – – Laß uns hier unter der Buche Platz nehmen. Der Thauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt …
MORITZ Knöpf’ dir die Weste auf, Melchior!
MELCHIOR Ha – wie das Einem die Kleider bläht!
MORITZ Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist du eigentlich? – – Glaubst du nicht auch, Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Product seiner Erziehung ist?
MELCHIOR Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du solltest dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst es nicht thun, wenn er es nicht zugleich auch thut. – Es ist eben auch mehr oder weniger Modesache.
MORITZ Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse sie Morgens und Abends beim An- und Auskleiden einander behülflich sein und in der heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunica aus weißem Wollstoff tragen. – Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.
MELCHIOR Das glaube ich entschieden, Moritz! – Die Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen, was dann?
MORITZ Wieso Kinder bekommen?
MELCHIOR Ich glaube in dieser Hinicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend auf zusammensperrt und Beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt fernhält, d.h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt – daß die Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.
MORITZ Bei Thieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben.
MELCHIOR Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen – ich möchte mit jedermann eine Wette eingehen …
MORITZ Darin magst du ja Recht haben. – Aber immerhin …
MELCHIOR Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das nämliche! Nicht daß das Mädchen gerade … man kann das ja freilich so genau nicht beurtheilen … jedenfalls wäre vorauszusetzen …… und die Neugierde würde das Ihrige zu thun auch nicht verabsäumen!
MORITZ Eine Frage beiläufig –
MELCHIOR Nun?
MORITZ Aber du antwortest?
MELCHIOR Natürlich!
MORITZ Wahr!
MELCHIOR Meine Hand darauf. – – Nun Moritz?
MORITZ Hast du den Aufsatz schon??
MELCHIOR So sprich doch frisch von der Leber weg! – Hier hört und sieht uns ja niemand.
MORITZ Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und vor allen Dingen Nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich verweichlicht. – Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn man hart schläft.
MELCHIOR Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum Zusammenklappen. – Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war das grauenhafteste, was ich je geträumt habe. – Was siehst du mich so sonderbar an?
MORITZ Hast du sie schon empfunden?
MELCHIOR Was?
MORITZ Wie sagtest du?
MELCHIOR Männliche Regungen?
MORITZ M-hm.
MELCHIOR – Allerdings!
MORITZ Ich auch. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
MELCHIOR Ich kenne das nämlich schon lange! – schon bald ein Jahr.
MORITZ Ich war wie vom Blitz gerührt.
MELCHIOR Du hattest geträumt?
MORITZ Aber nur ganz kurz …… von Beinen im himmelblauem Tricot, die über das Katheder steigen – um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten hinüber. – Ich habe sie nur flüchtig gesehen.
MELCHIOR Georg Zirschnitz träumte von seiner Mutter.
MORITZ Hat er dir das erzählt?
MELCHIOR Draußen am Galgensteg!
MORITZ Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit jener Nacht!
MELCHIOR Gewissensbisse?
MORITZ Gewissensbisse?? – – – Todesangst!
MELCHIOR Herrgott …
MORITZ Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren Schaden. – Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen waren mein Gethsemane.
MELCHIOR Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. – Das war aber auch alles.
MORITZ Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!
MELCHIOR Darüber, Moritz, würd’ ich mir keine Gedanken machen. All’ meinen Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen der Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und Aprikosengelée.
MORITZ Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urtheilen.
MELCHIOR Er hat ihn gefragt.
MORITZ Er hat ihn gefragt? – Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.
MELCHIOR Du hast mich doch auch gefragt.
MORITZ Weiß Gott ja! – Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein Testament gemacht. – Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregungen verspürt zu haben. Warum hat man mich nicht schlafen lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht wie, und soll mich dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben bin. – Hast du nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und Weise wir eigentlich in den Strudel hineingerathen?
MELCHIOR Du weißt das also noch nicht, Moritz?
MORITZ Wie sollt’ ich es wissen? – Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? – Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die decolletirte Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann ich heute kaum mehr mit irgend einem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuenswürdiges dabei zu denken, und – ich schwöre dir, Melchior – ich weiß nicht was.
MELCHIOR Ich sage dir alles. – Ich habe es theils aus Büchern, theils aus Illustrationen, theils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante erfahren.
MORITZ Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte – nichts als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses Schamgefühl! – Was soll mir ein Conversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.
MELCHIOR – Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen?
MORITZ Nein! – – Sag mir heute lieber noch nichts, Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz – ich würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.
MELCHIOR Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei Aufsätze. Ich corrigire dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade und wir plaudern gemüthlich über die Fortpflanzung.
MORITZ Ich kann nicht. – Ich kann nicht gemüthlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen thun willst, dann gieb mir deine Unterweisungen schriftlich. Schreib’ mir auf, was du weißt. Schreib’ es möglichst kurz und klar und steck’ es mir morgen während der Turnstunde zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen, daß ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich werde nicht umhin können, es müden Auges zu durchfliegen … falls es unumgänglich nothwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen anbringen.
MELCHIOR Du bist wie ein Mädchen. – Übrigens wie du willst! Es ist mir das eine ganz interessante Arbeit. – – Eine Frage, Moritz.
MORITZ Hm?
MELCHIOR – Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?
MORITZ Ja!
MELCHIOR Aber ganz?!
MORITZVollständig!
MELCHIOR Ich nämlich auch! – Dann werden keine Illustrationen nöthig sein.
MORITZ Während des Schützenfestes, in Leilich’s anatomischem Museum! Wenn es aufgekommen wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. – Schön wie der lichte Tag, und – o so naturgetreu!
MELCHIOR Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt – – Du willst schon gehen, Moritz?
MORITZ Arbeiten machen. – Gute Nacht.
MELCHIOR Auf Wiedersehen.
Dritte Scene
THEA, WENDLAundMARTHAkommen Arm in Arm die Straße herauf.
MARTHA Wie Einem das Wasser in’s Schuhwerk dringt!
WENDLA Wie Einem der Wind um die Wangen saust!
THEA Wie Einem das Herz hämmert!
WENDLA Geh’n wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte, der Fluß führe Sträucher und Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll gestern Abend beinah’ ertrunken sein.
THEA O der kann schwimmen!
MARTHA Das will ich meinen, Kind!
WENDLA Wenn er nicht hätte schwimmen können, wäre er wohl sicher ertrunken!
THEA Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf!
MARTHA Puh – laß ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht und zu Hause muß ich mir gar die Frisur machen – alles der Tanten wegen!
WENDLA Ich bringe morgen eine Scheere mit in die Religionsstunde. Während du »Wohl dem, der nicht wandelt« recitirst, werd’ ich ihn abschneiden.
MARTHA Um Gottes Willen, Wendla! Papa schlägt mich krumm und Mama sperrt mich drei Nächte in’s Kohlenloch.
WENDLA Womit schlägt er dich, Martha?
MARTHA Manchmal ist mir, es müßte ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen so schlechtgearteten Balg hätten.
THEA Aber Mädchen!
MARTHA Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse ziehen dürfen?
THEA Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen Augen.
MARTHA Mir stand Blau reizend! – Mama riß mich am Zopf zum Bett heraus. So – fiel ich mit den Händen vorauf auf die Diele. – Mama betet Abend für Abend mit uns. …
WENDLA Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen.
MARTHA … Da habe man’s, worauf ich ausgehe! – Da habe man’s ja! – Aber sie wolle sehen – o sie wolle noch sehen! – Meiner Mutter wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können. …
THEA Hu – Hu –
MARTHA Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte?
THEA Ich nicht. – Du Wendla?
WENDLA Ich hätte sie einfach gefragt.
MARTHA Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch – das Hemd herunter. Ich zur Thüre hinaus. Da habe man’s! Ich wolle nun wohl so auf die Straße hinunter. …
WENDLA Das ist nicht wahr, Martha.
MARTHA Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen müssen.
THEA Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack schlafen!
WENDLA Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen.
MARTHA Wenn man nur nicht geschlagen wird!
THEA Aber man erstickt doch darin!
MARTHA Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden.
THEA Und dann schlagen sie dich?
MARTHA Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.
WENDLA Womit schlägt man dich, Martha?
MARTHA Ach was – mit allerhand. – Hält es deine Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück Brod zu essen?
WENDLA Nein, nein.
MARTHA Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude – wenn sie auch nichts davon sagen. – Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich Niemand und es steht so hoch, so dicht – während die Rosen in den Beeten an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blüh’n.
THEA Wenn ich Kinder habe, kleid’ ich sie ganz in Rosa. Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe – die Strümpfe schwarz wie die Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, laß ich sie vor mir hermarschiren. – Und du, Wendla?
WENDLA Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?
THEA Warum sollten wir keine bekommen?
MARTHA Tante Euphemia hat allerdings auch keine.
THEA Gänschen! – weil sie nicht verheirathet ist.
WENDLA Tante Bauer war dreimal verheirathet und hat nicht ein einziges.
MARTHA – Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?
WENDLA Jungens! Jungens!
THEA Ich auch Jungens!
MARTHA Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
THEA Mädchen sind langweilig!
MARTHA Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute gewiß nicht mehr.
WENDLA Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! Ich freue mich jeden Tag, daß ich Mädchen bin. Glaub’ mir, ich wollte mit keinem Königssohn tauschen. – Darum möchte ich aber doch nur Buben!
THEA Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!
WENDLA Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal erhebender sein, von einem Manne geliebt zu werden, als von einem Mädchen!
THEA Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendär Pfälle liebe Melitta mehr als sie ihn!
WENDLA