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Mit Reisetipps für Fernreisen mit Kindern und 16-seitigem Bildteil.
Den Alltag hinter sich lassen und einfach losziehen an die aufregendsten Orte dieser Welt … Viele träumen davon – auch Bettina Pohlmann. Aber mit zwei Kindern – geht das überhaupt? Und ob! Im Dezember packt sie mit ihrem Mann Frank und den beiden Töchtern Antonia (9) und Helen (4) ihre Koffer, und die Familie macht sich auf, einmal die Welt zu umrunden. Charmant und mit viel Humor erzählt Bettina Pohlmann von einem großen Abenteuer zu viert — von Turbulenzen, Pleiten und unvergesslichen Augenblicken an den schönsten Sehnsuchtsorten der Welt — und gibt spannende Einblicke in das etwas andere Familienleben »on tour«.
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Seitenzahl: 449
Bettina Pohlmann
Frühstück mit Giraffen
7 Reisetaschen, 5 Kontinente, 154 Tage – eine Familie reist um die Welt
Textnachweise:Das Zitat von David Foster Wallace stammt aus: »Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich«, übersetzt von Marcus Ingendaay, marebuchverlag, Hamburg 2011.Das Zitat von Andreas Altmann stammt aus »Gebrauchsanweisung für die Welt« von Andreas Altmann, © 2012 Piper Verlag GmbH, München.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
1. Auflage
Copyright © 2016 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © privat; © semper smile; © Shutterstock/arigato
Karte/Illustrationen: © Tina Strube
NG · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16930-5V002www.blanvalet.de
Für Antonia und Helen. Die ihre Eltern manchmal für verrückt erklären, aber trotzdem immer mitkommen.
Für Frank. Der mitkommt, obwohl er sicher ist, dass es verrückt ist.
Für meine Eltern, ohne die diese Reise nicht möglich gewesen wäre. Und die im Geiste mitgereist sind.
Für alle, die offen für die Welt sind. Und manchmal vielleicht verrückt.
Inhalt
Vor uns die Welt »Ich komme nicht mit!« * Fingerrouten * Gate closed
Kapitel 1: Südafrika Wunderding Kompressionstüte * Safari im Nachthemd * Merry Christmas mit Drahttanne
Kapitel 2: Singapur und Indien 150-Meter-Pool * Winkende Delfine * Auf Baustellen schlafen
Kapitel 3: Nepal Inmitten von Eisriesen * Elefantentrip * Wärmflaschen im Bett
Kapitel 4: Vietnam Reisen und Urlaub * James Bonds Felsen * Kafka in Vietnam
Kapitel 5: Kambodscha Vier im Urwald * Posen wie Tomb Raider * Same same
Kapitel 6: Australien In den Klauen der Familie * Haiattacken * Plastikplanen
Kapitel 7: Neuseeland Das große Staunen
Kapitel 8: Cook Islands Mit Puna zu den Riesenschildkröten * Fisch-TV * Kaputte Füße
Kapitel 9: Westen der USA Wüste und Schnee * Hitchcocks Vögel * Strecke machen
Kapitel 10: Kanada: Vancouver Island und Vancouver Das Haus am See * Angeln ohne Fische * Traurige Nachrichten
Kapitel 11: New York Wohnungsodyssee * George, oh Clooney * Abschiedsschmerz
Nach der Reise Nazilieder * Der Kopf in Neuseeland, der Körper an der Kasse
Kleiner Reiseguide
Danksagung
BILDTEIL
Vor uns die Welt »Ich komme nicht mit!« Fingerrouten Gate closed
Wir stehen vor einer Tresortür mit winzigem Fenster und starren ins Innere des Flugzeugs. Wie in einem Film und in Zeitlupe sehen wir – Frank, Antonia, Helen und ich –, wie die Crew diskutiert und dabei in unsere Richtung zeigt.
Frank macht einen zaghaften Scherz: »Vielleicht sollten wir mal klingeln.«
Ich, da ich immer alles glaube und meine Nerven blank liegen, frage zurück: »Echt? Gibt es hier eine Klingel?«
Nein, der A380 hat keine Klingel und auch keinen automatischen Türöffner, und sie kann auch nicht mal eben anhalten, wenn man zu spät ist und noch reinhüpfen will. Wenn ein Flieger wegfliegt, ist er weg. Wir wollen rein. Wir wollen auf Weltreise. Leider stehen wir auf der falschen Seite der Tür.
Vielleicht ist unsere Reise hier zu Ende, bevor sie überhaupt losgeht. Denn beim Umsteigen in Frankfurt stellten wir plötzlich fest, dass die Zeit verdammt knapp war für den Anschlussflug nach Johannesburg. Fünfzig Minuten sind am Frankfurter Flughafen nur etwas für geübte Sprinter. Frank und ich röchelten, der Atem dampfte, noch zweiundzwanzig Gates, noch einundzwanzig … Antonia und Helen lachten, sie hatten großen Spaß auf den Laufbändern, aber wir, die Eltern, kamen ganz schön ins Schwitzen. Als wir nach einer gefühlten Unendlichkeit an unserem Gate ankamen, sahen wir zunächst – niemanden. Doch dann entdeckten wir ein wedelndes weißes Taschentuch. Eine Frau in Uniform schwang es wie einen Staubwedel hastig hin und her. Meinte sie etwa uns? Ja, meinte sie. Denn als wir auf sie zukamen, atmete sie hörbar erleichtert auf.
»Wie schön, dass Sie da sind! Wir haben gerade das Gate geschlossen, ich hoffe sehr, man lässt Sie noch rein.«
Das hofften wir auch und rannten durch den leeren, nicht enden wollenden Finger Richtung Riesen-Jumbo.
Vor uns haben wir nun also das derzeit größte Flugzeug der Welt beziehungsweise dessen schwere Tresortür. Dahinter die Crew, die sich immer noch berät.
Plötzlich bewegt sich etwas. Die Tür zum Himmel wird geöffnet, und wir bekommen Einlass. Zitternd gehen wir zu unseren Sitzen. Das war knapp. Unsere Weltreise kann unglaublicherweise losgehen. Nicht nur gedanklich, sondern in echt. Denn wir sind mit an Bord. Nur Sekunden später rollt das riesige Flugzeug gen Startbahn und hebt ab Richtung Johannesburg.
Im Flieger schließe ich die Augen und denke an die letzten Wochen zurück. Die wüstesten unseres Lebens, denn die vielen Vorbereitungen unserer Reise haben uns stündlich altern lassen, während gleichzeitig mit jedem Tag die Vorfreude wuchs. Wer einmal etwas Abenteuer in seinem Leben haben will, braucht bloß eine Weltreise mit zwei Kindern und die Untervermietung der Wohnung zu organisieren, da hat man garantiert keine Langeweile mehr. Jetzt sitze ich krank und schlapp im Flieger, und statt ausgelassener Vorfreude auf eine aufregende Reise, die spannendste meines Lebens wahrscheinlich, wünsche ich mir fast, mich zu Hause aufs Sofa zu legen. Endlich ausruhen! Warum nicht doch einfach mal Sesselsitzer sein, warum immer Abenteuer haben wollen und das Hier und Jetzt leben, warum der ganze Stress? Doch nein. Frank und ich lassen die letzten Wochen einfach sacken und stoßen auf uns an. Geschafft! Man darf sich ruhig mal ein bisschen selbst feiern. Dass wir jetzt tatsächlich in diesem Flugzeug sitzen und neben uns unsere Mädchen. Dass wir das große Glück haben, alle zusammen diese Reise antreten zu dürfen und einen Teil der Welt zu erkunden. Es fällt mir noch schwer zu realisieren, was das jetzt eigentlich heißt, fünf Monate fort zu sein, in die Ungewissheit zu fliegen und alle paar Wochen in einem anderen Land zu leben.
Zuerst war da so ein vager Wunsch, eine verrückte Idee, ein Sich-in-die-Ferne-Träumen. Das Wort »Weltreise« war noch gar nicht geboren, als ich dachte, wie großartig es doch wäre, wie aufregend, als Familie für einige Zeit ins Ausland zu gehen. Oder gar die Welt zu umrunden! Kein verlängerter Urlaubstrip, sondern eine richtige Reise.
Fragen nach dem Sinn des Lebens werden heutzutage immer wichtiger. Was bleibt eigentlich am Ende? Der Lounge Chair? Die aufgeräumte Wohnung? Oder ist da noch etwas anderes? Fragen, mit denen unsere Eltern sich nur selten beschäftigt haben.
Wir sind die Generation der um die Fünfzigjährigen. Wir sind viele. Und suchen jeder für sich die individuelle Freiheit, indem wir irgendwann, meist auf halber Strecke, eine bewusste Zäsur setzen. Oder uns einen Traum erfüllen. In Franks und meinem Fall bedeutet das, dass wir auf Weltreise gehen. Zusammen mit dem Wichtigsten und Besten, das wir hervorgebracht haben in unserem Leben: Antonia und Helen.
Frank und ich haben manchmal darüber diskutiert, ob man eigentlich reisen muss, um glücklich zu sein. Definitiv nein. Man kann seine Herausforderungen auch zu Hause suchen und daran wachsen. Wenn man offen ist für das Neue, das Leben. Doch der Wunsch, einmal gemeinsam als Familie für längere Zeit die Welt zu bereisen, sich eine Auszeit zu nehmen vom Alltag, war zumindest bei mir immer vage vorhanden. Irgendwann erzählte ich Frank von meinem Traum, gemeinsam um den Globus zu fliegen.
»Lustige Idee«, fand er, »aber wie soll das gehen? Wie wollen wir das finanzieren? Und was ist mit unseren Jobs?« Er brachte mich schnell aus meiner Traumwelt auf den harten Boden der Tatsachen zurück.
Wir sind beide Freiberufler. Das heißt, wir verdienen mal mehr, mal weniger gut, oft Letzteres. Dafür lieben wir, was wir tun, es sind unsere Traumberufe. Frank ist mit Leidenschaft Fotograf, und ich drehe Filme, Reportagen und Dokumentationen im In- und Ausland und schreibe. Beide reisen wir in unseren Berufen und arbeiten immer mal wieder in anderen Ländern. Jedes Mal jedoch, wenn ich Frank von einer langen Auszeit als Familie vorschwärmte, wandte er ein: »Klingt toll, aber …« Natürlich hatte er recht. Der erste Gedanke war immer: Woher das Geld nehmen?
Nachdem meine Eltern verstarben, erbte ich zusammen mit meinem Bruder ein Haus und Depots. Es war keine Riesensumme, aber doch so viel, dass man sich schon mal hinsetzt und überlegt, was man Sinnvolles damit anstellen könnte. Ich beschloss, den Großteil in eine Immobilie zu investieren, einen Rest jedoch zu behalten und meine Ersparnisse zu plündern, damit wir tatsächlich eine Weltreise machen könnten.
Als ich Frank meine großartigen Pläne bei einem abendlichen Restaurantbesuch darlegte, hörte er sich meine aufgeregten Ausführungen in Ruhe an, um dann zu sagen: »Darf ich kurz unterbrechen? Das klingt alles ganz toll, aber du hast etwas Entscheidendes vergessen, fürchte ich. Was ist mit der Schule?«
Oh. Pause. Ja, stimmt, da war doch was. Wir haben ja Kinder. (Kleiner Scherz.) Helen war zu dem Zeitpunkt vier und ging in die Kita, das würde kein Problem sein. Aber Antonia? Als wir die Reise planten, war sie neun, ging in die dritte Klasse der Grundschule und war eindeutig schulpflichtig. Ich dachte, wir nehmen Antonia nach Abschluss der Grundschule für ein Jahr raus aus dem Schulsystem. Wäre doch gelacht, wenn das nicht ginge. Sie war schließlich die Jüngste in ihrer Klasse und könnte dann einfach ein Jahr später auf die weiterführende Schule gehen. Doch so easy ist das natürlich nicht. In Deutschland herrscht durchgehende Schulpflicht.
Bei mir ist es oft so: Ich habe eine Idee. Und wenn ich eine Idee habe, setze ich alles daran, diese auch umzusetzen. Das habe ich wahrscheinlich von meinem Vater, ein echter Sturkopf, der immer, wenn er eine Idee, einen Traum hatte, diesen gegen noch so große Widerstände realisieren wollte. Und wenn er ihn doch mal aufgeben musste, dann folgte schnell ein neuer Traum. Bei Frank hingegen ist es so: Er hat eine Idee und wägt erst einmal ab. Vorteile gegen Nachteile. Was ja durchaus Sinn macht. Während ich eine Idee habe und mich dann ohne Wenn und Aber darauf stürze. Und ich habe viele Ideen …
Aber eine mehrmonatige Weltreise, das muss ich zugeben, ist schon eine Nummer größer als eine Spontanparty oder ein paar Überraschungstage in Andalusien, mit denen ich meinem Mann mal aufgewartet hatte. Doch Frank gefiel der Gedanke an eine lange Reise zu viert, und so war der Entschluss bald gefasst, wir wollten es angehen. Franks Bedingung: Ich würde in erster Linie die Reise alleine planen. Immerhin würde er mit auf Weltreise gehen, das allein wäre schon mal die halbe Buchung. Antonia und Helen, auch da waren wir uns einig, wollten wir erst einmal nichts davon erzählen, nur einigen wenigen Freunden, die dann auch gleich konkrete Hilfestellung bei der Planung gaben. Denn wie sollten wir bloß eine zeitweilige Schulbefreiung bekommen? Wir wollten zwischen vier und sechs Monate fort sein, je nachdem, welchen Zeitraum die Schulbehörde uns genehmigen würde. Länger war für Frank allein wegen seines Jobs nicht machbar. Über mehrere Monate führten wir Vorgespräche mit Antonias Lehrern und der Direktorin, stellten Anträge bei der Schulbehörde und warteten. Irgendwann glaubten wir nicht mehr an eine positive Rückmeldung seitens der Schulbehörde und planten einen Rucksackurlaub in Griechenland.
Und dann kam, exakt einen Tag, nachdem ich die Flüge nach Athen gebucht hatte, die Zusage der Schulbehörde. Wir waren sprachlos. Und gleichzeitig fast irre vor Glück. Dieses Glücksgefühl der Vorfreude hielt die nächsten Monate über an. Wir würden eine Weltreise machen, wir vier, unsere kleine, große Familie! Der Traum würde wahr werden. Also einmal schlucken und die Athen-Flüge stornieren, aber okay, shit happens.
Fast wie früher: Man schulterte den Rucksack, stieg in ein Flugzeug, flog ins Ungewisse, und das Abenteuer konnte beginnen. Bloß dass jetzt Gummibärchen, Stofftiere und Schulbücher mit an Bord sollten. Und man mit Ende vierzig den Rucksack vielleicht nicht mehr ganz so lässig tragen würde wie früher. Wir sind keine Hippies. Alternativ angehaucht vielleicht, wobei die Betonung auf »gehaucht« liegt. Wir fahren alle vier fast ausschließlich Fahrrad in der Stadt, ich trinke gerne mal einen Ingwertee, praktiziere Power-Yoga und hupfdohle ein bisschen (Ballett), Frank joggt. Wir leben recht friedlich in unserem netten Hamburger Stadtteil, der wegen der hohen Altbau-, Café- und Kinderdichte gerne mit dem Berliner Prenzlauer Berg verglichen wird. Wir sind auch keine Hardcore-Traveller, die es aufregend finden, im Vorweg absolut nicht zu wissen, wo sie landen werden. Für uns stand fest: Wir würden nicht mit dem selbst gebauten Bus durch Indien oder Ostanatolien oder in die Mongolei reisen. Obwohl das sicher auch sehr spannend wäre. Außerdem wollten wir möglichst auf die Malaria-Gebiete verzichten.
Wenn man uns zu dem Zeitpunkt gesagt hätte, dass wir in einem wackeligen Einbaumboot über einen Fluss mit Krokodilen paddeln würden, die tatsächlich nicht aus Plastik sind, sondern echt – die Krokodile –, und dass wir auf einem Elefanten reiten würden, der gerade an jenem Tag überhaupt keine Lust auf uns haben und dieses deutlich zum Ausdruck bringen würde, und dass wir mehrere Tage in der Gluthitze auf einer Baustelle nächtigen und Wochen später bei zwei Grad ohne Heizung übernachten würden, wären wir dann trotzdem geflogen? Ja, unbedingt. Solche Ereignisse hätten niemals dazu geführt, die Reise nicht anzutreten, denn, klar, was kann nicht alles passieren. Eindeutig überwiegen jedoch die beeindruckenden Erfahrungen, die intensiven Begegnungen, die Naturerlebnisse. Außerdem: Zu Hause kann auch viel passieren, die meisten Unfälle geschehen bekanntermaßen im Haushalt …
Die Vorfreude auf die Weltreise war nach der Zusage der Schulbehörde fast irreal, und in jener Zeit schwebte ich täglich sieben Zentimeter über dem Boden. Nichts konnte mich mehr erschüttern. Zunächst. Denn die erste Reaktion von Antonia war ernüchternd. Als wir ihr endlich freudig mitteilten, dass wir alle zusammen einmal um die Welt reisen würden, lautete ihr erster Kommentar: »Das könnt ihr ja machen, aber ich komme nicht mit. Ich bleibe hier.«
Ich fragte noch mal nach: »Wie bitte?«
Antonia blieb dabei: »Ich gehe doch zur Schule. Ich kann nicht einfach fünf Monate nicht zur Schule gehen! Dann krieg ich richtig Ärger, was glaubt ihr denn!«
Wir fragten uns, von wem unsere Älteste wohl dieses erstaunliche Pflichtbewusstsein hat. Und konnten sie zum Glück beruhigen, dass sowohl mit ihren Lehrerinnen als auch mit der Schulbehörde alles abgesprochen war. Als Antonia jedoch mitbekam, dass sie keine totale Auszeit von der Schule hätte, sondern während der Reise unterrichtet werden würde, und zwar täglich, außerdem alle Klassenarbeiten und Tests mitschreiben würde, verfinsterte sich ihr Gesicht.
»Wer unterrichtet mich denn dann? Du etwa, Mama?« Ich nickte. Kurze Pause. Grübeln. Dann stammelte Antonia, ehrlich entsetzt: »Oh Gott.« Pause. »Und Papa etwa auch?« Ich nickte. Schallendes Gelächter ihrerseits.
Ich schwieg betreten. Was für ein Bild hatte unser kleines, großes Mädchen von uns, ihren gereiften, überaus schlauen und bildungsnahen Eltern?! Das konnte ja lustig werden. Aber wir würden beinhart dranbleiben. Unterricht musste sein. Vor allem Mathe, denn Antonia sollte die vierte Klasse möglichst nicht wiederholen müssen, sondern nach der Reise die letzten Wochen in ihre alte Klasse zurückkehren und danach nahtlos in die weiterführende Schule gehen. So unser Plan.
Glücklicherweise konnten wir sie dann doch noch zum Mitkommen bewegen. Frank glaubte zu jenem Zeitpunkt allerdings immer noch nicht daran, dass wir diese Reise wirklich antreten würden, dass wir das Abenteuer nicht nur planten, sondern auch tatsächlich durchzögen. Das war für ihn, den Realisten, eine völlig abstrakte, total verrückte und nicht realisierbare Idee, wie er heute sagt – während ich gedanklich schon in Neuseeland saß und eifrig plante. Denn mit der Zusage der Schulbehörde konnten wir uns endlich an den aufregendsten und schönsten Teil der Reiseplanung wagen: Wo wollten wir eigentlich schon immer mal hin? Neuseeland war klar, das war seit Langem mein ganz großes Traumziel gewesen, und niemals dachte ich, dass ich dieses Land einmal bereisen würde. Frank fand Bolivien spannend, ich Patagonien, aber wohin in Asien? Und wohin sollten wir fliegen, nachdem wir Neuseeland bereist hätten? Richtung Osten, so viel stand fest, denn die Flugrichtung gibt das Round-the-world-Ticket einem vor. In 154 Tagen einmal um die Welt. Elf Länder in fünf Monaten. Das war der Plan.
Dann las ich einen Artikel über die Cook Islands und war total fasziniert. Dort sollte es eine der schönsten Lagunen der Welt geben. Mussten wir hin! Also eine Round-the-world-Route wählen, welche die Cook Islands anflog. Und so setzten wir uns eines Abends im Sommer auf den Balkon, Frank und ich, holten den Globus und meinen alten Schulatlas raus, süffelten Weißwein und fuhren mit dem Finger über die Karten. Schrieben Traumziele auf, strichen andere, fügten neue hinzu. Ein großer Kinderspaß, sich einfach so zu überlegen, wo man mindestens ein Mal hinwill im Leben. Irgendwann standen Nepal und der Himalaja fest, das war ebenfalls schon immer ein Sehnsuchtsziel von mir gewesen, und schließlich überlegten wir die beste Südafrika-Route.
Schon bald stapelten sich unzählige Reiseführer auf dem Esszimmertisch. Ich besuchte verschiedene Reisebüros und recherchierte im Internet nach Round-the-world-Tickets, der Taschenrechner wuchs an meiner Hand fest. Da eines der Wunschziele Südafrika war, würde das Ticket leider teurer werden. Denn jeder Abstecher, der einen von der Linie des Äquators entfernt, kostet zusätzliche Meilen und somit: Geld. Doch das war es mir wert. Irgendwann hatte ich vier Tickets gekauft, und dann herrschte nur noch die reine Vorfreude bei uns, denn Reisen, das bedeutet für uns nicht nur, die Welt zu sehen, sondern vor allem, die Magie des Lebens zu spüren.
In den Wochen vor dem Abflug war jeder Tag ein Adrenalinstoß pur. Riesige Listen klebten an meinem Schreibtisch, von denen ich täglich Dinge strich. Geschafft, weitermachen, nächster Punkt. Denn ohne Vorleistung keine Weltreise: Impfungen absolvieren, Auslandsreisekrankenversicherung (das Wort bitte einmal rückwärts buchstabieren) abschließen, Unterkünfte für die erste Nacht buchen, Visa beantragen.
Trotz vieler Erfolge: Die To-do-Liste wurde länger, nicht kürzer. Immer wieder fielen uns weitere Dinge ein, die noch flugs erledigt werden mussten, ein Abo, das stillgelegt werden sollte, eine Unterlage, die wir noch brauchten. Und wehe, es behauptet noch einmal jemand, es sei ganz easy, eine Wohnung unterzuvermieten. Ein positiver Nebeneffekt war: Wir misteten aus. Warfen weg, verschenkten, packten Kisten für den Flohmarkt, brachten vieles zum Secondhandladen.
Unsere Wohnung hatten wir über eine Agentur angeboten, die uns von Freunden empfohlen wurde und die ausschließlich an Firmen vermietet.
Wir schliefen nicht mehr, wir räumten. Und dann war auch noch Advent. Und den Nikolaus, den wollten die Mädchen natürlich auch nicht verpassen. Dummerweise hatte ich den Abflug auf den 7. Dezember gelegt. Immerhin – laut Helen würde Weihnachten ausfallen, denn: »Der Weihnachtsmann kommt nicht nach Afrika, weil die Rentiere dann ja schwitzen.«
Schnell noch ein paar Kleinigkeiten zu Nikolaus besorgt, der Adventskalender für die ersten sieben Tage war schon fertig, fehlte noch der Familienkalender, eine Art Jahresplaner für die Küche, den ich alljährlich mit Familienfotos des letzten Jahres verziere. Zum Glück konnte ich die Monate Januar bis April für das nächste Jahr weglassen.
Frank guckte erstaunt: »Den willst du auch noch basteln? Du hast dir ja einiges vorgenommen …« Stimmte. Ein bisschen viel vielleicht. Aber was man hat, hat man. Ich war im Arbeitsrausch und nicht mehr zu bremsen.
Eine Woche vor dem Abflug fotografierte ich schnell noch einige Reiseführer ab und kämpfte mit der Technik: Wie bekam ich die Bilder aus der Kamera auf mein iPad? Der Laptop sollte zu Hause bleiben. Aber: Wie speicherte ich jetzt unsere Dokumente? Und vor allem: wohin? Ich kaufte also Wolken. Eine Cloud und noch eine. Scannte, fotografierte und kaufte Bytes. Probierte die Festplatte aus, die nur mit Wi-Fi funktioniert, aber dafür ohne Kabel, und stellte fest, dass ich meinen USB-Stick gleich zu Hause lassen konnte, denn der ließ sich nicht ans iPad anschließen. Und wo war eigentlich der Akku …?
Ein paar Tage vor der Abreise veranstalteten wir dann eine Abschiedsfeier von unseren Freunden, die uns kleine Glücksbringer für die Reise schenkten. Und vor allem das Gefühl, dass sie sich mit uns freuten. Antonia und Helen zelebrierten ihre Abschiede ebenfalls. Wir sahen sie kaum noch. Von der Übernachtungsparty zum Keksebacken – natürlich mit Übernachtungsparty.
Mit den Mädchen fuhr ich ein letztes Mal zu meinem Lieblings-Outdoorladen und kaufte schnell noch ein paar Reisebegleiter, mit denen wir entspannt im Himalaja hätten zelten können. Die Verkäufer waren schuld. Sie sahen so aus, als hätten sie gerade zu Fuß Russland durchquert, und da wollte ich nicht als Memme gelten. Also kaufte ich nicht nur einen Kulturbeutel, sondern packte noch lässig Pulsmesser und Marschkompass mit ein.
Die Mädchen und ich testeten die Eiskammer, Antonia drehte die Windmaschine auf, und ich sah uns gedanklich bereits auf dem Hausboot in Vietnam in der Halong Bay bei scharfem Wind.
Während Antonia anschließend mit Helen an der Kletterwand turnte, griff ich flugs nach Funktionsunterwäsche, Trekkingsocken, Moskitoschutz, Deckenhaken, Mini-Reisespielen und – frohlockend – Kompressionsbeuteln. Denn damit ließ sich angeblich das Volumen der Klamotten, also das Packmaß, schrumpfen, indem man die Luft aus der Tüte presste und die Sachen zusammenstauchte. Super. (Das Gewicht der Klamotten verringert sich dadurch leider nicht …) Bloß einen Tagesrucksack, nein, der kam mir nicht auf den Rücken! Die muskulöse Verkäuferin, die schon Afrika per Fahrrad durchquert hatte, wie sie nebenbei erwähnte, zog einen leuchtend roten Rucksack aus dem Regal und hielt ihn mir vor die Nase: »Der hier ist solide. Kommt aus Deutschland. Kannst du nichts mit falsch machen.« Doch als ich beharrlich schwieg, guckte sie mich prüfend an und meinte: »Nee, seh schon. Is nich so dein Ding.«
Die Frau hatte Menschenkenntnis. Ich würde nur ungern durch meine Heimatstadt Hamburg mit einem Tagesrucksack laufen, warum also sollte ich das in New York, Singapur oder Kapstadt tun? In der Stadt, egal welcher, trage ich nur Schultertasche oder Beutel. Doch so schnell gab die Verkäuferin nicht auf, sie blieb beharrlich. »Und in Nepal, da kannst du ja gar nicht ohne … stell dir vor, ein Abgrund, dein Kind rutscht, und du hast keine Hand frei …«
Irgendwann stand ich also mit dem Daypack an der Kasse. Neben einem Rucksack mit Rollen, der eigentlich kein Rucksack, sondern ein Koffer mit Rucksackfunktion ist, aber das ist eine andere Geschichte. Dann packten wir Probe. Ich war gespannt, ob Handtücher mittels Kompressionsbeutel tatsächlich zur Größe von Unterhosen schrumpften und – falls es klappte – ich noch ein schwarzes Kleid mit ins Gepäck schmuggeln konnte. Denn wir waren beim Konsul von Neuseeland eingeladen. Und die schönen Sandalen vom letzten Sommer vielleicht auch? Stopp! Ein Ziel dieser Reise sei hiermit schon genannt: all das nicht mehr zu benötigen. Und später mit nur einem kleinen Koffer/Rucksack für die ganze Familie auszukommen. Träumen aber darf man ja erst einmal … Ich beherrschte mich, doch die Sandalen passten noch rein, irgendwie. Und das schwarze Kleid, logisch.
Kapitel 1: Südafrika Wunderding Kompressionstüte Safari im Nachthemd Merry Christmas mit Drahttanne
Der Tag X. Ich habe mehrere Medikamente gegen die Grippe eingeworfen, und Frank sieht aus wie der Tod auf zwei Beinen, denn uns hat’s beide erwischt. Seit zwei Tagen streiken unsere Körper, wollen ins Bett. Wir jedoch wollen auf Weltreise. Bei 15 Grad und Nieselregen brechen wir in Hamburg auf. Der Taxifahrer auf der Fahrt zum Flughafen erzählt uns erst einmal etwas über Südafrika.
»Was wollt ihr denn da? Alles nur Verbrecher, wahnsinnig gefährlich, an jeder Ecke lauern Gauner.«
Antonia fragt irritiert: »Warum fliegen wir denn da hin, wo Verbrecher sind?«
Wir versuchen sie zu beruhigen: »Nein, nein, er meint nicht die Gegend, in die wir fahren, da gibt es keine Verbrecher. Nirgends.«
Der Taxifahrer fährt munter fort: »Sobald man auf die Straße geht, muss man Angst haben, ausgeraubt zu werden. Da kann man doch keinen Urlaub machen.«
Frank erwidert trocken: »Wir machen ja auch keinen Urlaub.«
Der Taxifahrer fragt zurück: »Wieso, was macht ihr denn?«
»Eine Weltreise.«
Der Taxifahrer schweigt einen Moment, dann sagt er: »Warum fliegt ihr nicht einfach nach Mallorca? Schön warm, man kann sich prima erholen – und muss keine Angst haben, erschossen zu werden.«
Bis zur Ankunft am Flughafen setzt er seinen Monolog über das gefährliche Südafrika fort.
»Na, dann kommt mal lebend zurück!«, ruft er uns hinterher, und Antonia guckt etwas verunsichert.
Dann checken wir tatsächlich ein, wir vier, und knipsen noch schnell ein Foto von uns mit dem ganzen Gepäck: zwei große Rucksäcke von jeweils neunzehn Kilo, drei kleine Tagesrucksäcke, eine Kameratasche und ein Kinderkoffer. Die Weltreise kann beginnen.
Im Flieger lassen wir Hamburg, dann Frankfurt, Deutschland und Europa für lange Zeit hinter uns. Und konzentrieren uns auf das, was kommt. Huhn mit Reis und Karotten. Prima Start in eine Weltreise, findet Antonia, denn sie mag alle drei. Helen isst prinzipiell nichts Farbiges, Gummibärchen ausgenommen, und beschränkt sich auf das Huhn und den Reis. Danach gucken Antonia und Helen Zeichentrickfilme, Frank einen Thriller, und ich versuche irgendwie die Augen zu schließen, um ein bisschen Schlaf zu bekommen, doch da Familien gerne in Hörweite zueinander platziert werden, bekomme ich mit, wie Mama und Papa in der Vorderreihe verzweifelt und leider vergeblich versuchen, ihren Nachwuchs vom Schreien abzuhalten. Hinter uns werden gerade Windeln gewechselt.
Ich erinnere mich, dass Antonia einmal auf dem Rückflug von Mallorca nach Hamburg vom Start bis kurz vor der Landung durchschrie (bei der Landung war sie dann vor Erschöpfung eingeschlafen, und wir mussten sie wecken – ein großer Spaß). Noch deutlicher habe ich vor Augen, wie einige der anwesenden Passagiere uns beim Aussteigen mit ihren Blicken am liebsten massakriert hätten.
Du machst eine Weltreise, sage ich mir jetzt, deine Kinder lieben es mittlerweile zu fliegen, also mach dich locker und guck einen Film. Was Besseres kann man eh nicht machen im Flieger, am besten die Kino-Neuheiten und im Original, anschließend noch etwas einlullende Musik aufs Ohr und zumindest versuchen, ein bisschen wegzudämmern. Ich träume gerade von einem Bären, der vor unserem Zelt steht, weil er Hunger hat, als Frank mich weckt und mit einem lauwarmen Brötchen wedelt. Noch eine Stunde, dann landen wir in Johannesburg, dem ersten Ziel unserer Weltreise.
Draußen blendet uns die Sonne bei 25 Grad. Wir lassen Johannesburg und die flache Hochebene schnell hinter uns und befinden uns kurz darauf inmitten der schroffen Berglandschaft der dreitausend Meter hohen Drakensberge von Mpumalanga. Der Blick geht immer wieder ins Weite. Doch auch die nahe Umgebung ist spannend, denn den Straßenrand säumen die für Südafrika typischen Affenbrotbäume. Unsere Mädchen sind guter Dinge, singen auf der Rücksitzbank und halten Ausschau nach fremden Tieren.
»Gibt es hier auch Löwen?«, fragt Antonia. Wir verneinen. Löwen bekommen wir, vielleicht, erst später zu sehen, in einem der Nationalparks.
Plötzlich müssen wir bremsen, vor uns taucht eine gigantische Nebelwand auf, die sich langsam über die Straße schiebt. Am Horizont leuchtete gerade noch das Grün der mit Farnteppichen bedeckten Wälder. Es sieht aus, als hätte jemand eine Nebelmaschine angestellt, doch die Schwaden sind echt. Als danach kurz die Sonne durch den pechschwarzen Himmel dringt, spielt Südafrika mit seiner Farbpalette: leuchtend rote Erde, sattgrüne Berge, endlos scheinende graubraune Sumpflandschaften. Wir halten an und klettern einen Hügel hoch.
»Die Bäume sehen lustig aus, wie riesige Pilze!«, ruft Helen, als sie in der Ferne wuchtige Affenbrotbäume entdeckt.
Als wir über die Ebene blicken, sind wir wie berauscht. Zwischen Felstürmen wachsen Farne und wechseln sich ab mit bizarren Säulen aus Stein. Die Drakensberge gehören seit dem Jahr 2000 zum UNESCO-Weltkulturerbe und sind ein Paradies zum Wandern. Vor vielen Jahren war ich schon einmal in Südafrika, jedoch nur ein paar Tage in Mpalanga. Das, was ich versäumt habe, möchte ich jetzt mit meinen Liebsten nachholen. Den Krüger-Nationalpark werden wir allerdings auslassen müssen, was sehr schade ist, denn dort hatte ich damals auf Bäumen schlafende Leoparden gesehen, Löwenfamilien und Elefantenherden und wäre gern noch einmal zurückgekehrt, aber die Malariagefahr ist einfach zu groß, vor allem zu dieser Jahreszeit. Es soll jedoch andere Parks geben, die etwas kleiner, aber hoffentlich nicht minder spannend sind, wo keine Malariagefahr besteht.
Nach zwei Stunden Weiterfahrt verdunkelt sich der Himmel erneut, und die Temperatur sinkt auf zwölf Grad. Völlig übermüdet nehmen wir die ersten Eindrücke wie in Trance wahr: Frauen, die Eimer auf dem Kopf tragen, barfüßige Kinder, die mit Plastikflaschen kicken, Männer, die Gras von Hand sensen. Und immer wieder Ansammlungen von Wellblechhütten. Wir gucken, fahren und verfahren uns. Die Straße wird plötzlich immer schmaler, die Anzahl an Hütten nimmt zu, plötzlich laufen Ziegen und Hühner um uns herum und viele Kinder. Die Straße besteht jetzt nur noch aus eimergroßen Schlaglöchern, und wir kommen lediglich im Schritttempo vorwärts. Je weiter wir fahren, umso zerrupfter werden die Hütten und umso größer die Schlaglöcher. Plötzlich geht gar nichts mehr, vor uns sitzt ein Paar vor seiner Hütte. Die Straße ist zu Ende, wir sind in einer Sackgasse gelandet. Antonia und Helen lachen. Wir lachen etwas gequält zurück. Wo sind wir? Das Smartphone aus der Tasche ziehen, nach Wi-Fi suchen, um sich den Weg anzeigen zu lassen? Oder lieber nicht? Wir gucken kurz auf die Karte, dort ist diese Ortschaft nicht verzeichnet. Also freundlich winken und wenden. Die Kinder auf der Straße winken fröhlich zurück.
Frank gehört zu der letzten Gattung seiner Art, zu jener Sorte, die sich lieber verläuft, als nach dem Weg zu fragen. Vor uns, in etwa einhundert Metern Entfernung, befindet sich eine Weggabelung. Ich zeige nach links und strecke den Arm aus.
»Müssen wir nicht da längs? Da vorne geht es anscheinend in die Berge.« Frank runzelt die Stirn. Es ist ihm unangenehm, wenn man mit den Armen fuchtelt, anstatt deutlich auszusprechen, wohin die Reise geht. Also: »Die E 248 in südwestlicher Richtung, dann drei Kilometer auf der B 212 nach Osten und schließlich über die Ü 15 auf die N 18.« Ich stattdessen fuchtele. Und liebe bildhafte Wegbeschreibungen wie: »Beim sonnengelben Haus mit den schmutzigen Gardinen abbiegen bis zur Eisdiele von Luigi mit den lustigen Froschschirmen auf der Terrasse und dann beim Spielplatz mit der großen Rutsche anhalten.«
Ich suche auf der Straßenkarte nach den winzig gedruckten Straßennummern. An der Tankstelle mit den zwei Zapfsäulen und dem roten Eisschild sind wir vorhin offensichtlich falsch abgebogen. Bloß wie wir jetzt weiterfahren sollen, weiß ich grad nicht so genau. Nach gefühlt einer Stunde befinden wir uns wieder auf der großen Straße Richtung Osten und atmen erleichtert auf. Noch mal gut gegangen. Nicht überfallen worden, der Tank ist gefüllt, und das Auto fährt. In die richtige Richtung, hoffentlich.
Wie oft wurden wir zu Hause gefragt, ob wir wirklich mit Antonia und Helen nach Südafrika wollen, ob es nicht viel zu gefährlich sei? Und dann noch in die Gegend von Johannesburg? Nach diesen doch recht häufigen Einwänden bekamen wir selbst leise Zweifel, ließen uns aber nicht entmutigen. Schließlich waren wir beide schon einmal in Südafrika gewesen. Ich hoffe bloß, dass wir auch Schwarze kennenlernen; das letzte Mal wohnte ich in einem gemischten Viertel, und da entstand automatisch ein Kontakt.
Bisher ist mir auf Reisen nie etwas wirklich Lebensgefährliches passiert. Ich bin sehr oft alleine gereist und manchmal vor Ort getrampt, habe spontan privat übernachtet, das Internet gab es noch nicht, und vorgebucht hatte ich auch nichts, außer den Flug. Das letzte Erlebnis allein in der Fremde hatte ich in Peking. Ich war schwanger mit Helen und auf Drehreise und fuhr mit einem öffentlichen Bus zur chinesischen Mauer. Nach dem Besuch der Mauer hielt der Bus in the middle of nowhere, und alle stiegen aus. Ich stand plötzlich am Rande einer mehrspurigen Straße auf einem Parkplatz, umgeben von Betonburgen. Und hatte keinen Schimmer, wo ich mich befand, geschweige denn, wo die Innenstadt von Peking war. War das hier überhaupt Peking? Oder schon eine andere Stadt? Es dämmerte bereits, ich sprach verschiedene Menschen an, die an Bushaltestellen warteten, doch niemand verstand Englisch. Die Schriftzeichen an der Bushaltestelle konnte ich wiederum nicht lesen, geschweige denn wusste ich, welchen Bus ich überhaupt nehmen musste.
In dem Moment überkam mich eine große Ruhe. Ich dachte nur, irgendetwas wird jetzt oder später passieren. Weil es immer so gewesen war, auf all meinen Reisen. Ich würde sehr wahrscheinlich nicht die ganze Nacht in der Eiseskälte (es war Mitte Januar) dort stehen müssen, und wenn doch, dann würde ich auch das überleben. Oder ich träfe einen Engel. Der Engel kam tatsächlich, in Gestalt eines Motorradfahrers mit Anhänger. Ich hielt dem Mann die Visitenkarte meines Hotels vor die Nase, er überlegte kurz, dann sprach er mit seinem Nebenmann, der ebenfalls auf einem Motorrad unterwegs war, und nickte. Offenbar kannte er die Adresse. Für mich war es Glück pur, dieses Nicken. Jemand verstand mich und wusste sogar, wo ich hinwollte!
Es wurde eine der unvergesslichsten Fahrten meines Lebens. Rückwärts im Anhänger sitzend, spielte sich vor meinen Augen das Leben von Peking ab. Während der Fahrt konnte ich den Menschen, die hinter mir auf Motorrollern oder Fahrrädern fuhren, direkt in die Augen blicken. Gleichzeitig durfte ich im Vorbeifahren in das Gesicht einer faszinierenden Stadt schauen, in Ecken und Winkel, die ich als normaler Tourist wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen hätte.
Irgendwas ergibt sich also immer. Dieses Vertrauen haben wir beide, Frank und ich. Als wir endlich unser Tagesziel, den Ort der Fliegenfischer, Dullstroom, in knapp zweitausend Meter Höhe erreichen, wird es bereits dunkel. Die Mädchen, die auf dem Rücksitz geschlafen haben, sind wieder wach, denn ein kleines Inferno erwartet uns. Es blitzt und donnert, und als ich aus dem Auto steige, um den Schlüssel für unsere Unterkunft zu holen, bekomme ich eine unfreiwillige Dusche. Und blicke in eine Wand aus Wasser. Ich hole einen elektronischen Schlüssel in Form einer Chipkarte und steige durchnässt wieder ins Auto.
Wegen des sintflutartigen Regens erkennen wir die Straße kaum, geschweige denn die Häuser. Wir halten die Chipkarte in der Hand, mit der wir das automatische Tor zu unserer Unterkunft öffnen sollen. Irgendwann finden wir es, bloß es öffnet sich nicht. Nichts zu machen.
Also wieder zurück. Im Restaurant, wo wir die Chipkarte bekommen haben, brennen mittlerweile überall Kerzen und Gaslampen, und im Kamin flackert ein Feuer. Der Wirt kommt auf uns zu.
»Sorry, wir haben keinen Strom mehr. Der wird hier mehrfach am Tag abgestellt, das Land muss Energie sparen, das hatte ich vergessen, Ihnen zu sagen. Am besten, Sie warten einen Moment. Trinken und essen Sie etwas, wenn Sie mögen, in einer Stunde werden wir wieder Strom haben.«
Die Mädels spielen Abklatschreime vor dem Kamin, bekommen Kuscheldecken gereicht und anschließend Huhn, Kartoffelbrei und Bohnen, Antonias Lieblingsessen. Auch Helen liebt Huhn und Kartoffeln. Also sind beide happy, auch wenn Omas »braune Soße« fehlt. Auf die werden sie die nächsten fünf Monate verzichten müssen, aber das werden sie schon von selbst herausbekommen … Frank und ich trinken Rotwein und lassen uns erschöpft, aber zufrieden in die tiefen Sessel fallen. Genießen die Ruhe. Keine Musikbeschallung. Kein Lärm nirgends. Nur das Knistern vom Kamin. Und Menschen, die leise miteinander sprechen. Die erste Hürde haben wir geschafft, denke ich, jetzt kann das Reisen beginnen. Fünf Monate lang Abenteuer erleben und die Welt sehen dürfen. Es ist tatsächlich wahr geworden! Und dann ist es plötzlich da: ein kleines Zucken und ein großes Gefühl von Glück.
Kurz darauf, ich komme gerade mit einer Gaslampe von der Toilette, wo überall Kerzen brennen, geht das Licht wieder an, Musik ertönt, und Hektik macht sich breit. Der Strom ist wieder da und das Gewitter vorbei. Der Moment der Stille auch.
Sobald wir in unserer Unterkunft sind, ein kleines Haus mit großem Garten, legen sich Antonia und Helen eng aneinander gekuschelt ins Bett, gucken Rugby im Fernsehen und versuchen anhand der Bilder die Regeln zu verstehen.
Wir vier schlafen tief und lange in unserer ersten Weltreisenacht, bis uns am ersten Morgen in Afrika fremdartige Vogelstimmen wecken. Die Mädchen laufen im Nachthemd in den Garten und kommen mit der Botschaft zurück, dass die Sonne scheint. Also schnell Rollos hoch, raus und gucken.
Die erste Unterkunft macht es uns leicht, in Südafrika anzukommen. Im Garten begrüßt uns eine exotische Blumenpracht; hochgewachsene Proteen, die Nationalblume Südafrikas, gelbe Strelitzien und knackblaue Hortensien. Dazwischen Johannisbrotbäume in leuchtendem Rot und das Ganze gebettet in eine Hügellandschaft, die ans schottische Hochland erinnert.
Es duftet aus allen Ecken, und wir blinzeln in die Sonne, denn diese haben wir seit Wochen nicht mehr gesehen. Stimmt, wir sind im afrikanischen Hochsommer gelandet!
Auch die knalligen Farben im Garten sind eine Umstellung, in Hamburg dominierte zuletzt die dort typische Winterfarbe Grau. Immerhin gab es Abwechslung: Grau mit Sturm oder Grau mit Regen. Jetzt ist die Welt also bunt, als hätte jemand, während wir schliefen, mit einer Farbpalette gespielt. Ein perfekter erste Weltreise-Kaffee, aber jedes Getränk hätte wahrscheinlich fantastisch geschmeckt an diesem aufregenden Morgen.
Weil wir zwei Nationalparks und die Unterkunft am Blyde River Canyon aufgrund der Hochsaison von zu Hause aus gebucht haben, steht die Route im nördlichen Südafrika grob fest. Die Entfernungen sind glücklicherweise machbar, sodass wir nicht hetzen müssen, allerdings können wir nicht tagelang an einem Ort verweilen.
Dafür bekommen Hirn und Seele fantastische Bilder geliefert. Das Grün der Farne und Akazien und das Rot der Erde. Irgendwann tauchen im Hintergrund hohe Gebirgszüge mit abgerundeten Felsen auf, die an afrikanische Rundhütten erinnern, die three rondavels an der Panorama Route in der Nähe des Krüger-Nationalparks. Die Gegend ist zwar touristisch erschlossen und gilt neben der Garden Route im Süden als eine der beliebtesten Landschaften Südafrikas, bis auf wenige Ortschaften ist sie jedoch nur dünn besiedelt. Dementsprechend leer sind die Straßen.
Der Horizont scheint endlos. Für uns als Großstadtbewohner ist es eine Wohltat für die Augen, in die Ferne gucken zu können, ohne dass der Blick von Häusern verstellt wird. Diese Fernsicht weitet den Blick, in jeder Hinsicht, Alltagsgedanken treten in den Hintergrund, für einen Moment wird alles relativ, verliert an Gewicht, und man selbst wird Teil der Natur.
Gestärkt vom Frühstück schrauben wir uns über Bergpässe und haben immer wieder Ausblicke über das halbtropische »lowveld«, eine Landschaft aus üppigem Grün. Nur am Aussichtspunkt God’s Window haben wir Pech. Eigentlich könnten wir siebenhundert Meter tief in den drittgrößten Canyon der Erde gucken, doch stattdessen sehen wir: Nebel. Dichten Dunst, der in der Schlucht hängt, und es sieht nicht so aus, als würde er sich bald verziehen. Der Ausblick ohne besonderen Anblick hat trotzdem seine Reize, vor allem die kleine Wanderung durch einen Regenwald oberhalb der Schlucht finden Antonia und Helen spannend, weil sie über Steine klettern können, über Holzstege balancieren und Pflanzen entdecken, die sie bisher nur aus dem Troparium kannten.
Helen guckt sich irritiert um: »Die Vögel sind aber laut!«
Antonia bleibt ebenfalls stehen. »Klingt ganz anders als bei uns. Sind das Papageien? Sind die echt?«
Auch ich bin irritiert und gucke nach einem Lautsprecher im Geäst. Werde natürlich nicht fündig, denn der Dschungel ist echt, genau wie die Vögel.
Die letzten sechs Kilometer zu unserer Lodge fahren wir über eine schmale rotstaubige Schotterpiste. Überall stehen Schilder mit der Aufschrift »Danger, wild animals«. Ein wildes Tier haben wir zwar noch nicht gesehen, aber ich muss auch nicht als Erstes von einem Nashorn empfangen werden. Endlich kommen wir an das erste Gate. Dann das zweite. Und dann sind wir da. In einem prächtigen Garten mit kleinen Rundbungalows werden wir die nächsten drei Tage wohnen. Wenn wir bisher noch kein Afrikafeeling gehabt hätten, hier wird es einem mit jedem Detail präsentiert. Auf den Betten liegen Zebradecken, und in jedem Raum befinden sich duftende Blüten und vermitteln so etwas wie Safarifeeling. Im Fluss beim Pool direkt vor unserem Eingang sollen Krokodile und Nilpferde schwimmen. Helen möchte sie gerne füttern. Davon raten wir ihr ab. Stattdessen müssen wir unseren Pflichten nachkommen und unseren ersten Einsatz als Hilfslehrer vorbereiten. Antonia ist wenig erfreut, verständlicherweise, aber noch recht gespannt.
Wir beginnen mit einer Deutschstunde, denn darauf hat Antonia am meisten Lust. Wir machen also einen sanften Einstieg in den »Weltreise-Schulalltag«, wie er uns von der Behörde auferlegt wurde. Da wir aufgrund der Fahrt schon zwei Tage im Verzug sind, müssen wir etwas mehr Stoff nachholen.
Am Abend möchte Antonia ihre Erlebnisse aufschreiben. Sie macht sich zuerst Notizen von Hand, dann tippt sie alles in mein iPad ein. Doch das Tippen dauert zu lange, also überlegen wir, in welcher Form Antonia ihre Nacherzählungen und Aufsätze für die Schule in Zukunft schreiben kann. Aber glücklicherweise hat das noch etwas Zeit.
Nebenbei lernt Antonia praktischerweise »englische Konversation«, denn am nächsten Morgen führt sie mit einem der Angestellten ein erstes Gespräch in der Fremdsprache, weil sie ein dringendes Anliegen hat. Auf dem Gelände der Unterkunft gibt es zwei Pferde, und da die Mädchen ganz erstaunlicherweise Pferde lieben und – noch erstaunlicher – am liebsten jede selbst eines besäßen, sind sie überglücklich, als sie ohne Sattel auf einem der Tiere sitzen und sogar ein paar Schritte reiten dürfen. Am Nachmittag machen wir kleine Touren in die Umgebung, spazieren durch die Dörfer, lassen den Blick in die Ferne schweifen und sind zunächst einfach nur da. Eindrücke einsaugen. Gesunden. Genießen. Reisen – wir tauchen ganz langsam ein in dieses wunderbare, seltsam andere Leben.
Meine ersten Tage
(von Antonia)
Zuerst hatte es total geregnet. Und als Mama den Schlüssel für unsere Unterkunft holen wollte, war ich total müde von der Reise. Deshalb habe ich gesagt: Ich wäre jetzt gerne in Hamburg. Und dann ist auch noch der Strom ausgefallen! Doch am nächsten Tag haben wir den wunderschönen Garten von unserem Haus gesehen und fuhren über eine Holperstraße zu unserer nächsten Unterkunft. Hier gibt es Krokodile und Nashörner. Ich habe aber noch keins gesehen. Nur gehört.
Die Heimat ist nach den elf Stunden Flug und den ersten Tagen in Südafrika nicht nur physisch, sondern auch mental weit weg. Wie sehr, wird uns klar, als wir eines Morgens in Thabazimbi unterwegs sind, unserer kurzzeitigen Heimat in Limpopo. Wir wollen ein paar Dinge besorgen und umfahren gerade eine große Baustelle, bestaunen die Frauen, die Reisig und allerlei andere Dinge elegant auf dem Kopf transportieren, ohne dass etwas runterfällt, als Franks Mobiltelefon klingelt.
Moin aus Dithmarschen. Ein Kumpel, der nebenbei ein paar Gänse hält und den Termin für die jährliche Weihnachtsgansübergabe klarmachen will. Wir haben 31 Grad, die Klimaanlage im Auto läuft auf Hochtouren, und Weihnachten ist für uns gefühlt gerade so weit weg wie unsere Familienbäckerei in Eimsbüttel. Doch plötzlich platzt die Heimat mit all ihren Traditionen in unseren neuen südafrikanischen Groove. Normalerweise liebe ich Weihnachten. Aber dieses Jahr wird es keine feierlichen »Oh Tannenbaum«-Klänge geben. Auch wenn wir in einem christlichen Land sind, wollen wir das Fest sehr klein halten, Frank hätte es am liebsten ganz ausfallen lassen. Sogar die Mädchen reden in diesen Tagen kaum von dem für sie normalerweise wichtigsten Fest – neben ihrem Geburtstag natürlich. Na gut, ich gebe zu: Ich habe heimlich drei oder vier Pixi-Weihnachtsbücher eingepackt. Und Weihnachtslieder auf mein Smartphone geladen. Nur so für den Fall, dass uns die Weihnachtsrührseligkeit im fernen Afrika überfällt.
Denn es hilft ja nichts – das himmlische Fest steht logischerweise auch in Südafrika vor der Tür. Oder vielleicht gerade hier? Im Supermarkt tönt ein weihnachtlich gestimmter Bill Crosby aus den Lautsprechern, die Kassiererinnen tragen blinkende Schneeturbane, und mein Blick fällt auf die unzähligen Christmas Crackers, Knallbonbons in unterschiedlichen Variationen, die sich im Eingangsbereich des Supermarkts türmen. Und die wir sicher kaufen werden für Heiligabend, denn so ganz will ich das Fest ja nun auch nicht umgehen.
Deshalb haben wir ein paar Geschenke dabei: einen Mini-Stoffhund, eine Mini-Puppe und für Antonia ein – Tablet. Damit sie ihr eigenes Lesegerät hat, ihren Freundinnen E-Mails schreiben kann und damit die Mädchen ab und zu etwas darauf spielen können, auf langen Autofahrten später sicher ganz hilfreich.
Was uns in den ersten Wochen unserer Reise immer wieder verwundert und gleichzeitig eine ungeheure Entspanntheit mit sich bringt, ist die Tatsache, dass wir nicht wie sonst ein paar Tage oder Wochen reisen, sondern mehrere Monate. Das ist für Frank und mich immer noch nicht ganz greifbar. Dass wir für Monate nicht nach Hause kommen werden. Allerdings auch sehr viel reisen werden, nur selten lange an einem Ort verweilen. Das könnte recht stressig werden, aber wir sehen es als einmaliges Experiment. Vieles, was sonst wichtig ist in den kürzeren Urlauben, verliert auf einer Reise wie dieser an Bedeutung. Das Wetter zum Beispiel. Es sei denn, wir geraten in ein Unwetter. Oder einen Schneesturm. Letzteres wäre vielleicht eine ganz interessante Erfahrung, denn T. C. Boyle, mein persönlicher Schreibgott, sagte mal, es gäbe für ihn nichts Besseres, als bewusst einen Schneesturm zu erleben. Er würde sich dann unter seinen Lieblingsbaum setzen, den Schnee und die Kälte spüren, dazu ausreichend Whiskey trinken und sich in dem Moment so lebendig fühlen, der Natur so nah wie sonst nicht. Irgendwann würde er dann meist einnicken, und wenn er aufwachte, fühle er sich quicklebendig und könne besser schreiben. Ich wünsche ihm noch viele Schneestürme, dem großartigen Mann, damit wir noch viel von ihm lesen dürfen. (Okay, das mit der Lebendigkeit hängt wahrscheinlich davon ab, wie viel Whiskey er bei seinem jeweiligen Waldgang intus hatte, aber der Gedanke ist zunächst nicht schlecht.)
Das Spannende auf unserer Reise wird auch sein, sich selbst zu beobachten in bestimmten Situationen. Wie verhält man sich bei Stress? Genauso wie zu Hause? Oder gelassener? Wobei wir beim Knackpunkt wären, bei meinem persönlichen und ultimativen Ziel dieser Reise: mich in Gelassenheit zu üben. Ich möchte es zumindest versuchen. In jedem Land werde ich daran arbeiten, mich nicht über Kleinigkeiten aufzuregen. Dinge einfach zu nehmen, wie sie eben sind. Entspanntheit. Gelassenheit. Achtsamkeit. Wär doch gelacht, wenn ich das nicht hinkriege …
Wenige Tage nach unserer Ankunft ist klar: Das Afrika-Virus hat uns gepackt. An der Uni habe ich damals erfahren, dass wohl jeder seinen zweiten Kontinent hat, für den sein Herz schlägt. Bei mir waren es immer Neuseeland, obwohl ich noch nie dort war, und das südliche Afrika. Eine fantastische Landschaft voller Kontraste. Die Menschen freundlich und entgegenkommend, obwohl die meisten von ihnen zu jenen gehören, die in Townships leben, in Wellblechhütten, denn eine Mittelschicht gibt es in Südafrika kaum. Entweder ganz oben oder ganz unten. Die meisten Schwarzen zählen zu Letzteren.
Antonia und Helen nehmen das alles mit Staunen und Neugier zur Kenntnis. Ganz ohne Wertung.
»Guck mal, die Frau trägt ihr Baby auf dem Rücken und eine Tasche auf dem Kopf!«
Und wenn wir zum ungezählten Male Menschen fast reglos unter Bäumen sitzen sehen oder an der Straße, meint Antonia: »Die warten bestimmt auf den Bus«, und Helen: »Oder auf den Papa, und der kommt gleich und holt sie ab.«
Obwohl in Reiseführern immer wieder gewarnt wird, Südafrika sei gefährlich, fühlen wir uns sehr wohl. Und sicher. Mein zwanzig Jahre alter Stoffbeutel aus Indonesien kommt hier super zum Tragen. Der Daypack wartet noch auf seinen Einsatz, die Kompressionsbeutel verringern zwar tatsächlich wie von Zauberhand das Packvolumen, erweisen sich aber als etwas umständlich, da das Packen ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt. Geklaut wird auch nichts, im Gegenteil, uns werden sogar Dinge hinterhergetragen. Nach dem Besuch eines Restaurants in der Gegend von Botswana, wo wir fast die einzigen Gäste sind, verschwinden wir in die Dunkelheit. Zum Glück haben wir Taschenlampen dabei. Plötzlich höre ich ein Rufen. Ich drehe mich um und sehe, wie eine junge Schwarze auf mich zugelaufen kommt. Sie hält etwas in der Hand. Meine neue Spiegelreflexkamera. Die hatte ich offensichtlich am Stuhl hängen lassen …
Wir sehen erstaunlich wenig Touristen, obwohl die Sommerferien in Südafrika gerade begonnen haben. Oft sind wir sogar die einzigen vor Ort und fragen uns, wo die anderen alle sind. Im Süden am Meer vielleicht. Kapstadt ist wahrscheinlich doch beliebter als die Gegend um Johannesburg. Dazu kommen verrückte Wetterphänomene, denn das Wetter schlägt hier lustige Kapriolen. Der Tag startet mit Hitze, tiefblauem Himmel, Schäfchenwolken. Plötzlich kommt Wind auf, dunkle, fast schwarze Wolken ziehen über den Himmel, es gibt ein heftiges Gewitter und sintflutartige Regenschauer, gepaart mit einem Temperatursturz um die 15 Grad. Das passiert innerhalb von zwei Stunden. Dann ist wieder alles wie vorher.
In den ersten neun Tagen unserer Reise machen wir einen großen Bogen entgegen dem Uhrzeigersinn einmal um Johannesburg herum. Nach einigen Tagen am Blyde River Canyon in den Drakensbergen fahren wir nach Limpopo, Richtung Botswana und erreichen unseren ersten Nationalpark: den Marakele NP nordwestlich von Johannesburg. Wie so oft gestaltet sich die Fahrt länger als geplant. Anhalten, gucken, fotografieren, doch noch eine kleine Wanderung einschieben, eine Essenspause, holprige Fahrten über Straßen, die erst noch gebaut werden müssen, und Schilder, die entweder gänzlich fehlen oder abgeknickt sind. So wird jede Fahrt zum kleinen Abenteuer. Im Reiseführer steht, die Straßen in Südafrika seien generell in einem guten Zustand. Das mag für die Hauptrouten stimmen und für die Garden Route, sobald man aber in eine etwas abgelegenere Gegend fährt, ist vom Asphalt auf den Straßen oft nicht mehr viel übrig.
Endlich erreichen wir den Park. Es ist kurz vor sechs am Abend. Die Sonne geht bald unter, aber wir werden noch bei Licht durch den Park kommen und vielleicht sogar das ein oder andere Tier sehen.
Der Wärter guckt auf die Uhr. »Just in time, we close the gate in ten minutes.«
Ich habe ein Zelt gebucht, zwar mit Kochgelegenheit, aber es gibt im gesamten Park keine Möglichkeit, sich anderweitig zu verpflegen. Kein Café, kein Laden, nichts. Nur Natur pur. Das ist natürlich großartig. Die Mädchen sind begeistert.
Weniger großartig ist es, wenn man außer ein paar Salzstangen und einem Glas Marmelade keine Essensvorräte mehr hat. Wir haben vor lauter Routenplanung und Staunen unterwegs komplett das Einkaufen vergessen. Der vielleicht aufgrund seiner Uniform zunächst streng wirkende, aber nette Ranger zeigt auf einen kleinen Laden gegenüber vom Park, daneben entdecken wir noch einen Imbiss.
Frank prescht also los, angefeuert von den Mädchen, die ihm hinterherschreien: »Du schaffst es, du schaffst es, lauf Papa, lauf!«
Ich erledige derweil die Formalitäten am Gate. Frank bestellt beim Imbiss schnell mehrere kleine Gerichte und springt während deren Zubereitung kurz in den Supermarkt. Punkt sechs Uhr ist er zurück. Das Gate schließt sofort hinter uns. Das war knapp! Denn in der Dunkelheit darf man zum Schutz der Tiere nicht mehr durch den Park fahren. Umso erleichterter sind wir über unsere Nahrung und darüber, nicht mit Marmeladesalzstangen als Abendbrot ins Bett gehen zu müssen. Frank konnte sogar noch zwei kühle Biere auftreiben nebst Limonade für die Mädchen, außerdem Huhn mit Reis sowie ein Nudelgericht mit Gemüse. Von Salzstangen zum Festmahl.
Ich habe die Unterkunft im Park bereits im Sommer gebucht, weil wir gewarnt wurden, die Nationalparks seien in der Hauptsaison alle ausgebucht. Doch als wir durch den Park fahren, entdecken wir kein weiteres Auto. Dafür laufen uns Zebras über den Weg, darunter auch Neugeborene, die wie Plüschtiere aussehen. Die Mädchen sind entzückt. Wir auch. Danach entdecken wir Antilopen und einige Gnus, und nachdem wir durch ein weiteres Gate gefahren sind, lugt plötzlich ein riesiger Elefant durchs Gebüsch. Wir halten an und lassen langsam das Autofenster hoch. Bei Elefanten weiß man ja nie so genau, was als Nächstes kommt, deshalb lieber jetzt nicht laut niesen. Ein Elefant kommt selten allein, weil Elefanten Herdentiere sind, deshalb können die anderen nicht weit weg sein. Leider können wir nicht länger warten, denn wir haben noch ein ganzes Stück Wegstrecke vor uns, die Piste ist staubig und uneben, und es dämmert bereits. Wir schleichen also im Schritttempo weiter.
Nach einer halben Stunde Fahrt erreichen wir einen See und unser Zelt. Dort werden wir die nächsten Nächte verbringen. Das Zelt hat vier schmale Betten, eine Dusche, einen Waschtrog und Holzfußboden. Safarifeeling. Die Küche befindet sich in einem kleinen Nebenzelt mit Blick auf den See, wo gerade die Sonne fantastische Farben in den Himmel zaubert. Wir hören plötzlich Tiergeräusche, die wir nicht zuordnen können – ein Löwe scheint glücklicherweise nicht darunter zu sein. Und auch hier: kein Mensch weit und breit. Die anderen Zelte, die sich in angenehmem Abstand am See verteilen, sind bis auf eins nicht bewohnt. Wir sind unter uns, wir, die Natur und die Tiere.
Unsere erste Nacht in einem Safarizelt, umgeben von Löwen, Elefanten und Giraffen. Bisher haben wir es noch nicht einmal auf einen Zeltplatz nach Klein-Plunkau geschafft. Aber eine Reise wie diese verführt dazu, Neues auszuprobieren, Dinge zu testen, um die man als Familie vorher einen Bogen gemacht hat. Reisen wie diese schaffen Möglichkeiten zur Veränderung. Als Reisender gewinnt man an Klarheit. Betrachtet Dinge von außen. Und sich selbst genauso.
In Südafrika an diesem See im Marakele Nationalpark wird uns ganz deutlich vor Augen geführt, wie sehr wir alle vier die Natur brauchen. Und Momente der Stille. Vielleicht rührt daher auch meine Urangst vor deutschen Campingplätzen. Weil es oft eng ist und laut und man sich auf der Pelle hockt, und wenn mich eine Sache abschreckt, dann sind es große Menschenansammlungen und ein gegenseitiges Aufeinanderhocken. Zelten und Camping stehen wie gesagt eher unten auf meiner Wunschliste der bevorzugten Reisearten. Zelten in freier Natur, ohne dem Nachbarn auf die Fußnägel zu schauen und ohne Kofferradio in Hörweite – gerne. Zelten auf einem engen und penibel angeordneten Campingplatz mit Schlangestehen zum Zähneputzen, womöglich bei Nieselregen neben Gerd und Gisela, die ihr blitzsauberes Auto so parken, dass sie es immer im Blick haben – das habe ich noch nicht ausprobiert. Obwohl das dann vielleicht das echte Abenteuer wäre! Für mich zumindest. Wir können eh nicht mitreden, denn unser Zelt hat einen Holzfußboden nebst Dusche und Klo und ist etwas für Weicheier und Warmduscher und deshalb gar kein echtes Zelt. Und somit ist es natürlich lachhaft, den Vergleich zu Hardcore-Campern zu ziehen.
Diese Art von Naturerlebnis jedoch, diese Stille, die vermisse ich manchmal in Hamburg. Denn wir wohnen mittendrin, in der Großstadt, und wir haben das Glück, alles zu Fuß oder per Fahrrad erledigen zu können. Und wir haben das Pech, weil dieses Leben in einer beliebten Gegend unflexibler macht. Wir hätten Angst, umzuziehen mit der Gewissheit, nicht mehr zurückzukönnen, weil wir keine bezahlbare Unterkunft mehr finden würden.