Fuchsgift - Kerstin Mumm - E-Book

Fuchsgift E-Book

Kerstin Mumm

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Beschreibung

Mit knapp vierzig Jahren bezieht Ylva das alte Waldhaus ihrer Kindheit. Ein Jahr Auszeit von allem. Während sie den Garten zum Blühen bringt, werden alte Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit wieder lebendig. Sie findet heraus, dass es einen Pakt zwischen ihren Eltern gab, der bis heute nachwirkt. Am Ende des Jahres weiß sie, warum ihr Vater jedes Jahr einen Fuchs tötete. Bis er selber starb.

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Für Luise.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15. (Rahel)

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 25

1.

Ich sah dem Fuchs in die Augen, als er starb. Ich werde es nie vergessen.

Ich war neun oder zehn, als mein Vater mich mit in den Wald nahm, um seine Falle zu kontrollieren. Er hatte nur eine Falle, denn er war kein Jäger im herkömmlichen Sinn. Es war sein Hobby oder seine Leidenschaft, diese einzige Falle ein Mal im Jahr aufzustellen, zu kontrollieren und wenn ein Tier sein Leben in ihr ließ, tobte nur eines in ihm, wie er sagte: Stille.

"Wie kann denn Stille toben, Papa?" fragte ich ihn.

"Nun, das ist so: es ist eher die Ruhe nach dem Sturm. Sie kann auch toben. Es ist, als wenn der ganze Himmel abgeregnet ist, als wenn die Wolken weitergezogen sind und der Sturm eine Verwüstung nach sich gezogen hat. Äste liegen am Boden, die Dächer sind ruiniert und der Himmel ist so blau, wie nie zuvor. Als wäre nie etwas gewesen. Aber irgendwas ist da noch." er hielt inne, suchte nach den richtigen Worten. "Stell dir vor, du gehst nach einem Unwetter nach draußen. Die Luft ist anders, weißt du." Ja, dieses Gefühl kannte ich. Alles schien friedlich, aber man sah und spürte, dass etwas großes und heftiges gerade noch gewütet hatte. Es war weg aber die Seele dieses Sturms war noch da und blieb eine zeitlang an diesem Ort, bis sie irgendwann mit den Ästen und Blättern, die auf den Straßen klebten verschwand. Herbststürme. Man musste aufpassen, dass die Deiche hielten.

Ich wusste, was er nun meinte. Die Stille tobte auch manchmal in mir.

Der Fuchs war noch jung.

Ausgewachsen. Aber selbst ich sah, dass er noch nicht den Körper eines alten Fuchses hatte. Auf seinem Rücken, zwischen seinen Schultern, war ein heller, fast weißer Fleck. Eine Laune der Natur, wie eine riesige Sommersprosse. Er verblutete. Vielleicht war er in der Nacht bei der Mäusejagd in das gespannte Eisen hineingeraten. Er sah mich an. Ich sah ihn an. Mein kleines Herz pochte wild und ich wollte ihn streicheln.

Er brauchte Trost. Als ich einen Schritt auf ihn zumachte, änderte sich sein Blick. Er hatte Schmerzen und Angst und nun kam Wut dazu. Er knurrte. Ein leises Geräusch aus seiner Kehle. Es machte mir Angst, da es so bedrohlich wirkte. Als würde er mir die Schuld für alles geben. "Sieh was du gemacht hast, Mädchen. Du wirst es bereuen."

"Komm, Ylva, wir lassen ihn sterben. Er möchte alleine sein. Beim Sterben ist jeder alleine.“, er nahm meine Hand und zog ein bisschen daran. "Ich will bei ihm bleiben, Papa." Ich glaubte ihm nicht, wenn er sagte, dass er alleine sterben wollte. Mein Vater zuckte mit den Schultern und mahnte mich noch, dass ich ihm nicht zu nahe kommen sollte. Tollwut war damals noch in aller Munde. Ich bin nun erwachsen und weiß, das man ein sterbendes Tier nicht leiden lässt. Mein Vater hätte einen Stein nehmen können, um ihn zu erschlagen. Ein Messer, um seine Kehle durchzuschneiden. Aber er überließ es der Zeit. Es war ihm gleichgültig, wie der Fuchs litt. Er ging zurück zum Haus und kümmerte sich um andere Dinge. Dinge, die ihm wichtiger waren, als ein sterbendes Tier. Holz hacken vielleicht. Oder ein bisschen in der Zeitung blättern. Als Kind habe ich nicht darüber nachgedacht, im Rückblick kommt es mir seltsam vor.

So saß ich bei dem Fuchs. Gegenüber von ihm, mit angezogenen Beinen. Ab und zu knurrte er, wenn ich mich bewegte, um eine andere Sitzposition einzunehmen. Es war Spätsommer, der Tag schien endlos. Wir wohnten in einem Haus mitten im Wald. Im Sommer weckten mich die Spechte, die mit ihrer Arbeit begannen, im Winter fiel der Schnee und es war absolut geräuschlos. Das Haus war alt aber gut in Schuss. Mein Zimmer war der ausgebaute Dachboden und ich liebte es, wenn der Regen an den Fenstern herunterrann und die ganze Welt verschwommen war. Ich war neun oder zehn in diesem Jahr und wusste alles und nichts.

Ab und zu leckte der Fuchs an seinem zertrümmerten Bein. Das Blut lief immer weiter und sein Fell war verklebt. Es war schwer auszuhalten, ihn anzusehen, aber es faszinierte mich gleichzeitig. Ich würde herausfinden, wie es wäre, zu sterben. Und ich wollte, dass er mir vergab. Der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Der Fuchs hob seinen Kopf, schwach und langsam. Er schaute mich noch einmal direkt an und in diesem Moment dachte ich wieder, er würde mich anklagen. "Du bist Schuld.

Mach, dass es aufhört. Mach, dass es nicht mehr weh tut." In Gedanken sagte ich zu ihm: "Es ist gleich vorbei. Ich bin bei dir, hörst Du? Dein Körper ist gleich tot und dann streichele ich dich." Er blinzelte. Dann, nach endloser Zeit, als ich schon dachte, ich würde in seinen Augen versinken, schloss der Fuchs sie und schlief ein. Sein Körper atmete noch, ich sah es an den Bewegungen. Irgendwann hörten sie auf. Ich näherte mich ihm. Beobachtete alles genau. Der Wind streichelte mich, die Blätter in den Baumkronen rauschten, die Sonne ging kupfern unter und sein Fell schien zu glühen. Er war tot. Sein Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr.

Meine Hand berührte schüchtern seinen Rücken, den hellen Fleck, der dort spross. Ich hoffte, er würde es noch irgendwie spüren, dass ich da war. Ich hoffte so sehr, er würde innerlich lächeln und mir und meinem Vater vergeben. Meinem Vater für seinen unnötigen Tod. Mir, dass ich ihm beim Sterben zusah. Denn ja, mein Vater hatte Recht: beim Sterben ist man alleine. Jeder stirbt nur für sich. Einem Wesen beizustehen ist etwas anderes, als ihm dabei zuzusehen. Sein Fell war weich und es war schwer, mit dem Streicheln aufzuhören. Am Liebsten hätte ich meinen Kopf in seinem Fell vergraben, seinen Geruch eingeatmet und wäre neben ihm eingeschlafen. Aus der Ferne rief mein Vater meinen Namen. Ich sprang auf, klopfte mir Erde und Moos von der Hose und lief nach Hause.

2.

Ich bin 39 Jahre alt und ein Waisenkind, ging es mir durch den Kopf. Ein nüchterner Gedanke und ein zugleich trauriger. Nun hatte ich niemanden mehr. Nur mich. Und die Erinnerungen an meine Eltern.

Meine Mutter hatte mir das Haus vererbt, wie sie es von ihrem Vater geerbt hatte. Mit ihm einen Garten voller Unkraut, schmutzigen Fenstern und etwas Geld. Reich war ich nicht, aber ich konnte ein Jahr Auszeit in meiner Firma nehmen. Ein Sabbatical. Es würde knapp werden, aber es war wichtig. Wichtig, um nach einem Jahr vielleicht zu wissen, wie es weitergehen sollte. Wichtig, um zu trauern. Wichtig, um einmal ganz anders zu leben. Denn es war so: es kam mir immer öfter so vor, als lebte ich ein fremdes Leben. Das Hamsterrad hatte mich im Griff und erst der Tod meiner Mutter hatte mir gezeigt, dass es auch noch etwas anderes gibt, als aufzustehen, zu arbeiten, sich der Nachtruhe hinzugeben. Es gab so viel mehr. Ich wollte etwas anderes fühlen, als dem Stress der Arbeit ausgesetzt zu sein, mich von Termin zu Termin zu bewegen und doch nicht von der Stelle zu kommen. Unendliche Traurigkeit war in den letzten Wochen mein Begleiter. Meine Mutter erkrankte an Krebs. Ich nahm Urlaub, dann unbezahlten Urlaub. Baute Überstunden ab. Begleitete sie an meinen freien Tagen zu Ärzten, zur Chemotherapie und doch konnte ich nicht genug tun. Ich war im Süden des Landes und sie im Norden. Sie wurde von innen zerfressen. Lag in ihrem Waldhaus und schlief fast den ganzen Tag. Ein Pflegedienst kümmerte sich um sie und wenn ich bei ihr war, sah ich an ihren Augen, dass es bald vorbei sein würde. Ihr Blick wurde trüber. Ihr Körper kraftlos. Schließlich kam sie ins Hospiz. Sie wurde dünner und immer noch dünner. Ihre Haut passte ihr nicht mehr, es war, als hätte sie einen Mantel aus Pergamentpapier an. Ich erwartete immer, dass er anfangen würde zu rascheln, so trocken und dünn hing ihre Haut von den Armen. Kein Muskel mehr. Nur umhüllte Knochen. Wenn sie schlief, weinte ich. Wenn sie wach war, erzählte ich ihr alles, was ich zu erzählen hatte und hielt ihre Hand. Meine Mutter hieß Rahel. Es bedeutet Mutterschaf. Sie erzählte mir oft, dass mein Großvater Schäfer war und sie diesen Namen bekam, da am Tag ihrer Geburt sein Lieblingsschaf starb. Rahel. Ich flüsterte ihren Namen, wenn sie schlief und es klang, als würde man auf einer Wildblumenwiese stehen und die Gräser rauschten im Wind. Sie bekam Morphium und Astronautennahrung. Am Tag, als sie starb, erkannte sie mich nicht mehr. Die Sonne schien und die Straßen waren nass vom geschmolzenen Schnee. Winter.

Dezember. Ihr Blick war leer, als sie mich ansah. Ich musste plötzlich an den Fuchs von früher denken, der einen ganz anderen Blick hatte. Sein Blick war auch schwach, ja. Gleichzeitig lag eine Wildheit in ihm. Sein Blick sagte, er wolle nicht sterben, verdammt! Sein Blick sagte, er hatte Schmerzen! Und wollte doch einfach nur durch den Wald traben, lebendig sein, mit Katzen kämpfen und seine Jungen beschützen, wie es vorgesehen war. Er war doch jung und schön und unbesiegbar.

Meine Mutter flüsterte etwas. "Mama, was hast du gesagt?" ich rückte näher an sie, mein Ohr über ihren vertrockneten Lippen. Sie flüsterte wieder. "Die Hand Christi hat mich beschützt. Die Hand Christi...wer sät, der erntet." Sie sprach so leise, mit brüchiger Stimme. Ich wusste, dass meine Mutter nie gläubig war. Sie ging weder in die Kirche, noch betete sie oder sprach jemals über Gott.

Wahrscheinlich ist es so, wenn man stirbt, dachte ich. Vielleicht hofft man dann auf Erlösung. Auf Trost. Auf irgendwas und wenn es nur die Hoffnung ist, keine Schmerzen mehr zu haben, weil das Morphium nachlässt. Sie wiederholte den Satz noch ein paar Mal, dann erschlaffte ihre übrig gebliebene Muskulatur, ihr Mund blieb leicht geöffnet. Sie schlief. Die ganze Nacht blieb ich bei ihr. Am nächsten Tag wachte sie auch nicht auf. Sie glitt vom Schlaf in den Tod über. Es dauerte Stunden. Ich merkte es an der Atmung, die sich irgendwann am Nachmittag anhörte, als würde man mit einem Strohhalm den Rest des Milchshakes erhaschen können, der am Grund des Bechers eine kleine Pfütze bildet. Schlürfende und gurgelnde Laute, die schließlich einem anderen Geräusch Platz machten: dem Geräusch der Stille.

3.

Seit zwei Wochen war ich nun im Haus meiner Kindheit. Meine Wohnung war mitsamt den meisten Möbeln neu vermietet und ich war froh, dass ich nicht viele Sachen hatte, die ich mitnehmen musste. Kleidung, Bücher, private Dinge.

Vieles andere entsorgte ich und hatte Glück, dass der Nachmieter ein junger Student war. Dankbar, dass er Besteck und Yuccapalme übernehmen konnte. Denn ich hatte ja alles hier. Wusste, wo alles war.

Einundzwanzig Jahre habe ich in diesem Haus gelebt, unzählige Tapetenwechsel mitgemacht: von der rosa gepunkteten in meinem Zimmer über die Pferdetapete bis hin zu einem kalten grau. Hier fand die erste Hälfte meines Lebens statt. Hier weinte ich und lachte ich, ärgerte mich über den Schulweg im Winter und freute mich, wenn die Meisen miteinander Fangen spielten.

Meine Traurigkeit hatte ich im Griff. Zu beschäftigt war ich mit Aufräumen und Umräumen. Die Kleidung meiner Mutter brachte ich zur Kleiderkammer, alles andere, was ich nicht mehr brauchte, verschwand im Müll. Ihre Kosmetik, ihre Schuhlöffel und Häkeldeckchen mussten weichen. Es war nun mein Haus. Mein neues, altes Zuhause. Ich hatte mir vorgenommen, dass dieses Jahr dazu dienen würde, ein komplett neues Leben zu beginnen. Es war ungewohnt, wieder vom Vogelgezwitscher wach zu werden und nicht mehr vom Straßenlärm. Oft stand ich früh auf und ging barfuß vor die Tür.

Eiskalte Füße. Januar. Meine Mutter hatte ihr Leben lang den kleinen Garten gepflegt.

Es war schwer, da der meiste Teil im Schatten der Bäume lag und Pflanzen Licht bevorzugen. Aber ein Stück - dort, wo ein Sturm vor vielen Jahren eine Gruppe Bäume gefällt hatte - war zu einer Lichtung geworden. Ein Weidenzaun begrenzte dieses Stück Erde und ich wusste, dass auf diesem Beet einst Gemüse und sogar Erdbeeren wuchsen. Walderde ist nährstoffhaltig. Manchmal zu nährstoffhaltig. So, dass sie die Wurzeln von empfindlichen Gemüse verbrennen kann. Meine Mutter hatte die Erde auf dem Beet gemischt. Die perfekte Erde, so glaubte ich. Denn nie hatte ich süßere Erdbeeren gegessen, nie schmackhaftere Zucchini.

An diesem Morgen stand ich zitternd und barfuß vor dem Beet und dachte mir,