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"Außer Herkunft und Sprache hatte ich mit Vicki noch eine weitere Gemeinsamkeit. Um keinen Preis der Welt wollten wir erwachsen werden. Wir wollten immer so jung bleiben, wie wir waren, und die Welt schien uns ein Spielplatz zur Verwirklichung unserer Wünsche zu sein. Wir wollten unsere Jugend auskosten, solange es ging, und keine Verpflichtungen eingehen. 'Lebe lustig und stirb jung', antwortete Vicki einmal auf meine Frage, wie sie sich ihr Leben vorstellt. Solche Sprüche hatte sie ständig auf den Lippen." Das Leben ist ein seltsam-interessantes Ding. Es kann alles passieren. Das bemerkt die junge Russin Eli, als sie nach Berlin zieht, um zu studieren. Weit weg von zu Hause will Eli ihre lang ersehnte Freiheit so richtig auskosten. Beim Shoppen lernt sie die faszinierende, lebenslustige Vicki kennen, mit der sie schon bald zusammenzieht. Gemeinsam stürzen sie sich in ein wildes Abenteuer aus Partys, Spaß und Affären. Doch die Freundschaft der beiden Mädchen wird immer wieder auf die Probe gestellt. Eli entdeckt überraschende Seiten an Vicki und spürt bald, wie sehr ihre Freundin mit ihr konkurriert. Sie lässt sich von Vicki herausfordern und beginnt ein waghalsiges erotisches Spiel. Zwei Freundinnen treten in einen ungewöhnlichen Wettstreit - ein spannender Roman über Freundschaft und Rivalität
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2013
Alexandra Newski
»Das Leben schwindet oder weitet sich aus im Verhältnis zum eigenen Mut.«Anais Nin
1. Kapitel
Ich wachte auf, machte die Augen aber noch nicht auf, sondern lauschte nur den leisen Geräuschen, die zu mir durchdrangen. Sie waren chaotisch und ergaben zuerst keinen Sinn, doch dann fügten sie sich wie die Teile eines Puzzles zusammen, erhielten eine Bedeutung und erschufen meine Realität. Meine Mama sagte leise etwas zu meinem Vater, gab ihm einen Kuss und schloss hinter ihm die Tür. Sie lief barfuß über den quietschenden, holprigen Boden und legte sich wieder ins Bett. Meine Schwester Alexia atmete laut im Schlaf. Als sie sich unruhig im Bett drehte, rutschte die Bettdecke auf den Fußboden. Sie schlief unter mir in dem Doppelstockbett des kleinen Wohnheimzimmers, in dem wir seit einem Jahr wohnten – seit wir in Deutschland lebten.
Das Wohnheim war wie ein Massenlager und erlaubte keinerlei Privatsphäre. Die verschiedenen Nationen waren auf unterschiedliche Etagen aufgeteilt. So kämpfte der unerschütterliche Geruch der vietnamesischen Küche auf der dritten Etage mit dem der kasachischen Gewürze auf der vierten, wurde aber vom Knoblauchgeruch der russischen Etage locker besiegt.
Es war noch früh. Ich blickte kurz in die Dunkelheit und freute mich, dass ich noch zwei Stunden Schlaf vor mir hatte. Das wusste ich, weil mein Vater gerade zur Arbeit gegangen war, also musste es fünf Uhr am Morgen sein. Ungefähr in zwei Stunden würde Mama mich und Alexia wecken, wie immer ein wenig zu spät, um uns noch ein paar Minuten süßen Schlaf zu gönnen, und ich würde mich für die Schule fertig machen müssen. Dann würden wir alle ein Stück Weg gemeinsam gehen, bevor meine Mutter meine Schwester in den Kindergarten brachte und ich allein zur Schule lief.
*
Als ich zehn war, zogen meine Eltern aus der Sowjetunion nach Deutschland, um ein neues Leben zu beginnen. Hier war alles so anders! Vor allem für meine Eltern. Es war, als ob sie in die Kindheit zurückgeschleudert worden wären. Weil sie die Sprache nicht beherrschten, konnten sie die einfachsten Dinge nicht erklären, und auch das Leben selbst war neu und unbegreiflich mit all diesen Behörden, Ämtern und dem neuen Alltag.
Als wir am Flughafen abgeholt wurden, begann das Abenteuer. Es gab viele Aufenthaltsorte für Aussiedler und es wurde ein Zettel herumgereicht, auf dem man ankreuzen sollte, in welche Stadt man wollte. Meine Eltern waren ratlos. Sie kannten nur Berlin und Dresden, da die ehemalige DDR enge Beziehungen mit der Sowjetunion gepflegt hatte. Doch auf der Liste standen unbekannte, unaussprechbare Orte: Zwickau, Alpirsbach, Pöhlde, Endingen am Kaiserstuhl etc. So wählten meine Eltern aus der Liste einen Ort, den sie halbwegs aussprechen konnten, und der Bus brachte uns daraufhin in eine Kleinstadt mitten im Harz.
In den ersten Wochen unseres Aufenthalts in Deutschland bekamen wir Unmengen von Briefen. Meine Mutter wunderte sich: »Was ist denn los? Sind wir berühmt?« In ihrem ganzen Leben in Russland hatten meine Eltern nicht so viele Briefe bekommen. Und da sie keiner lesen oder gar verstehen konnte, schmiss meine Mutter sie eines Tages weg, da in dem zehn Quadratmeter großen Zimmer, das wir zu viert bewohnten, kein Platz für sinnloses Zeug war.
Ich ging in die Schule und freundete mich zuerst mit all den anderen Ausländerkindern an. Türken, Griechen, Jugoslawen und viele der Russen wurden schnell zu meinen Freunden. Sie befanden sich in der gleichen Lage wie ich. Sprachlos, maßlos überfordert mit der Situation, ein wenig fremd in der lauten Masse von Kindern, doch trotzdem glücklich, neugierig und leichtlebig, wie Kinder eben sind.
*
Im Alter von 14 Jahren erlebte ich dann alle Vor- und Nachteile eines zweisprachigen Lebens. Ich übersetzte Behördenbriefe für unsere Familie und die russisch sprechende Nachbarschaft, ging zu Klassenversammlungen meiner Schwester, schrieb die Entschuldigungszettel an die Lehrer meiner Freundinnen, die immer mal wieder längere Zeit nicht in die Schule gingen. Die Russen, die in unserer Nähe lebten, kannten mich gut und baten mich immer mal wieder um solch einen kleinen Gefallen. Dafür zahlten sie mir auch schon mal fünf Euro für meine Übersetzungsdienste. So verfasste ich Zettel für den Arzt und beschrieb den Verlauf von Krankheiten, die die Leute nicht auf Deutsch erklären konnten. Einmal übersetzte ich für eine Bekannte sogar beim Frauenarzt. Ich rang nach Worten, weil ich die Hälfte nicht verstand und zudem vom Anblick ihres hochschwangeren Bauchs schockiert war. So sicherte ich mir ein wenig Taschengeld und erfuhr zugleich von vielen interessanten Geschichten und Schicksalen.
Meine Eltern hatten mich nicht aufgeklärt und erzählten mir nur wenig vom Leben. Sie hatten wohl immer Angst um ihr Kind und konnten sich nicht vorstellen, dass ich irgendwann 20 werden würde. Sie wollten mich am liebsten vor dieser verrückten Welt bewahren, doch die Zeit blieb nicht stehen. Was sie mir auf meinen Lebensweg mitgaben, war der Gedanke, dass ich alles schaffen konnte, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte. »Wenn du ein Ziel hast«, sagte mir mein Vater, »dann überlege dir, ob du es wirklich willst. Mach dir einen Plan, versuche nicht, alles an einem Tag zu erreichen, aber arbeite daran. Wenn du all deine Kraft verwendest, um es zu erreichen, dann klappt es auch.« Mein Vater redete selten so offen mit mir. Ich hörte aufmerksam zu, da ich seine Wortkargheit kannte und wusste, dass er sich nicht wiederholen würde. Und mein Vater war nicht nur ein Theoretiker – auch er verfolgte alles, was er sich in den Sinn gesetzt hatte, mit einer solchen Ausdauer und Sturheit, dass es letztlich irgendwie klappte.
*
Ich hatte nie richtig kochen gelernt und es auch nicht gemocht. All dieses schmutzige Geschirr danach, Essensgerüche an der Kleidung und in den Haaren. Das war einfach nichts für mich. Zu Hause kochte ich nur, wenn ich ausdrücklich darum gebeten wurde oder eine Gegenleistung bekam.
»Eli, ich arbeite heute bis spätabends«, sagte meine Mutter manchmal zu mir. Sie war Krankenschwester im örtlichen Krankenhaus und arbeitete in Schichten, sodass wir uns oft tagelang nicht sahen. »Kannst du heute Abend etwas kochen, sonst wird Alexia wieder nur Süßigkeiten essen.«
»Aber Mama, ich hab so viel zu tun! Ich weiß nicht, was ich kochen soll!«
»Denk dir was aus, du bist doch so kreativ! Mach es nicht zu kompliziert!«
»Kannst du mir dann ein bisschen Geld geben? Na ja, fürs Kino und so …«
So bekam ich dann als eine Art Gegenleistung etwas Geld fürs Kochen. Das war super, denn wir bekamen kein Taschengeld, weil unsere Eltern überzeugt davon waren, dass wir ohnehin zu Hause alles hätten und es uns an nichts fehlte. »Wenn du dein eigenes Geld verdienst, kannst du damit machen, was du willst, mit unserem Geld machen wir, was wir für richtig halten«, war die Standardantwort zur Taschengeldfrage. Damit musste ich mich abfinden.
Meine nicht vorhandenen Kochkünste waren schon fast legendär. Einmal fand ich im Tiefkühlfach irgendeinen gefrorenen Vogel und dachte mir: Super, heute gibt es gebratenes Huhn! Dann steckte ich das arme Ding mit der Plastikhülle in die Mikrowelle und wartete.
Als Alexia zufällig vorbeikam, schrie sie auf: »Du musst das Ding doch auspacken! Sonst explodiert der Vogel da drin!«
»Woher weißt du das? Lernt ihr das in der Schule?« Meiner mittlerweile elfjährigen Schwester hatte ich so eine Informiertheit gar nicht zugetraut.
»Das weiß doch jeder, Eli, wieso weißt du denn das nicht!«, sagte sie und klang genauso wie meine Mutter.
Ich entfernte also die Plastikfolie und steckte das Huhn wieder in die Mikrowelle. Nach einer halben Stunde sah alles unverändert aus. Es gab keine appetitliche Kruste und es roch auch nicht so, wie es normalerweise roch.
Alexia beobachtete mich und das Tier. »Mach dir nichts draus«, sagte sie, »du hast andere Qualitäten!«
»Welche denn?«, fragte ich gereizt.
»Du bist eine gute Schwester und schenkst mir immer was.«
Wir lachten und dann beschloss ich, den Vogel wegzuschmeißen und etwas anderes zu kochen. Als ich das Tier aus der Mikrowelle nahm, sah ich, dass irgendwas aus seinem Hintern heraushing. Was ist das denn, dachte ich überrascht und zog vorsichtig mit zwei Fingern an dem Ding. Der Vogel hatte tatsächlich noch einen Beutel mit Innereien im Bauch, wer hätte das wissen können! Ich schmiss alles weg, gleich in die Mülltonne, eingepackt in Zeitungspapier, damit es Mutter nicht doch noch zufällig entdeckte.
So was Kompliziertes werde ich nie wieder versuchen, ich hole uns lieber einen Döner, dachte ich, während ich mit meinem inneren Schweinehund rang, der mein Vorhaben zu kochen immer zu manipulieren versuchte. Schließlich kochte ich dann doch wieder Nudeln – das ging sogar schneller, als einen Döner zu besorgen.
*
Ich hatte es, trotz meiner sprachlichen Defizite und der Anpassungsschwierigkeiten in Deutschland, verhältnismäßig leicht in der Schule. Die Lehrer liebten mich, wahrscheinlich weil ich gehorsam, unproblematisch und eine klassische Musterschülerin war. Ich erledigte meine Hausaufgaben, beteiligte mich an den Klassendiskussionen und war in den Augen der Lehrer ein »kluges Mädchen«, da ich nicht zu viele Fragen stellte und ihnen keine Sorgen bereitete. Dabei entging ihnen völlig, dass ich unheimlich gern spickte und keine Gewissensbisse hatte, dadurch bessere Noten zu bekommen. Auch meine Mitschüler profitierten von meinem Geschick und schrieben oft bei mir ab. So brachten diejenigen, die im Radius von einem Meter um mich herum saßen, oft identisches Wissen auf das Papier. Das machte natürlich die erfahrenen Pädagogen stutzig, doch sie konnten uns nie etwas nachweisen. Meine Spickzettel versteckte ich an allen typischen und untypischen Stellen: Auf der Unterseite des Lineals klebte ein Zettelchen und auch auf dem Etikett der Wasserflasche, die immer auf meinem Tisch stand, vermerkte ich etwas. Auf meine Schenkel, oberhalb des Knies, schrieb ich sogar direkt auf die Haut und versteckte mein Werk unter einem knielangen Rock. Ich hasste es, stumpfsinnige Definitionen auswendig zu lernen, und das war die einfachste Lösung.
*
In meiner Klasse hatte ich zwei ganz enge Freundinnen – die lustige und sehr frühreife Isabel mit der prallen Oberweite, auf die ich neidisch war, weil bei mir noch nichts wuchs, und die Russin Olga. Olga kam mir manchmal vor wie ein kluger Hund, der alle Worte seines Herrchens verstand, aber selbst nicht reden konnte. Sie war erst ein Jahr lang in Deutschland und begriff schon alles, scheute sich aber, deutsch zu sprechen. Wir drei waren lange Zeit unzertrennlich, teilten unsere Geheimnisse, veranstalteten Partys, wenn unsere Eltern nicht zu Hause waren, und lernten zusammen. Die Lehrer dachten ständig, wir seien Schwestern, und wunderten sich über die extreme Bindung, die zwischen uns bestand. Fast jeden Tag nach der Schule zogen wir gemeinsam durch die Stadt oder saßen bei gutem Wetter irgendwo im Park.
Einmal ging ich mit Isa ins Kaufland und nahm mir die neueste Bravo aus dem Regal, während Isa einkaufte. Auf einmal stand sie hinter mir und sah, wie ich einen nackten Typen im Heft anstarrte. Durch den halben Laden rief sie: »Eli, du denkst ja nur ans Ficken!« Sie grinste mich dabei dämlich an, so als ob sie einen Zuckerschock von zu viel Nutella bekommen hätte.
»Bist du bescheuert, meine Mutter könnte hier irgendwo sein!«, zischte ich sie an, dabei packte ich die Bravo verwirrt ganz schnell in meine Schultasche und klaute so die Zeitschrift.
Mit meinen 14 Jahren war ich noch sehr unreif und wusste nicht richtig, was man mit Jungs anfangen sollte. Über Sex redete ich zwar mit meinen Freundinnen, doch auch gemeinsam waren wir nicht viel schlauer und stellten zu dem Thema die wildesten Spekulationen an.
Isa klaute dann noch ein paar Kaugummis, Schokolade und eine Bodylotion und kaufte an der Kasse ein Eis und ein Paar Wiener mit Brötchen. Dann saßen wir auf der Bank im Stadtpark, aßen unsere Beute aus dem Laden und blätterten gemeinsam in der Bravo. Angeregt durch die freizügigen Berichte der Jugendlichen im Heft, erzählte mir Isa von ihren Knutschexzessen mit Sven, einem Typen aus unserer Schule. Sie knutschten bei ihm zu Hause, im Park und sogar auf der Schultoilette. Irgendwie bereiteten mir ihre Erzählungen ein unangenehmes Gefühl und ich wurde mürrisch, weil sie sich mit diesen Dingen schon so gut auskannte und viel mehr Erfahrung zu haben schien als ich.
Überhaupt konkurrierten Isa und ich ständig. Sie kam mit neuen Sommerklamotten in die Schule und schon beschwerte ich mich zu Hause, dass ich nichts anzuziehen hätte und unbedingt neue Kleidung brauchte. Sie bekam einen Hund geschenkt und schon wollte ich auch einen, bekam aber natürlich nur einen Hamster. Meine Bedürfnisse wuchsen mit ihren Bedürfnissen – mit einer Verzögerung von nur wenigen Stunden.
Sollte ich vielleicht auch mit diesem Typen knutschen, überlegte ich kurz, fand ihn dann aber doch so ekelig, dass ich mich fragte, wie Isa ihn überhaupt anfassen konnte.
Als wir mit unseren Wienern und dem Eis fertig waren, kam auf einmal Olga vorbei. Isa erzählte die ganze Zeit, wie schnell sie sich verliebte und dass sie gleichzeitig in mehrere Jungs verknallt sein konnte, und probierte an uns die geklaute Bodylotion aus. Olga lauschte, sagte keinen Mucks, setzte aber eine kluge Miene auf, sodass ich nicht recht wusste, ob sie alles verstand oder nur übertrieben schauspielerte.
So ging das eine Zeit lang, bis Isa begann, eine deftige, garantiert zur Hälfte in ihrer bunten Fantasie entstandene Episode ihres letzten Dates zu beschreiben: »Max steckte mir seine kalten Hände unter das T-Shirt, knetete meine Brüste ein wenig und dann wurde ihm das Ganze langweilig. Das hab ich ganz genau gemerkt!« Sie sah bekümmert aus. »Wir wollten dann noch was anderes ausprobieren, aber irgendwie ist nichts daraus geworden. Und dann ist es immer kälter geworden und fing an zu regnen, sodass ich heimgegangen bin.«
Ich war enttäuscht, dass es nicht praktischer wurde, und wollte detaillierter wissen, wie so was geht. »Also war es nicht mehr als nur so fummeln?«, sagte ich klugscheißerisch.
»Nee, leider nicht«, seufzte Isa, traurig über die vergeudete Chance, richtigen Sex zu haben. »Weißt du, ich hab fast allen Jungs aus der Nachbarschaft einen geblasen, doch zu richtigem Sex kam es irgendwie noch nicht. Ich bin mir auch immer unsicher, was ich machen muss, damit es passiert, und die Typen machen irgendwie auch nicht den ersten Schritt.«
In dem Moment musste ich Olga anschauen. Ich war mir nicht ganz sicher, was dieses »Blasen« sein konnte, verstand aber an Olgas Reaktion, dass es mehr sein musste als nur knutschen. Olga saß wie erstarrt, den Mund geöffnet vor Fassungslosigkeit, und ihre neue Zahnspange blitzte wie Gold in der Sonne.
Ich konnte es einfach nicht auf mir sitzen lassen, dass Isa besser Bescheid wusste, und tat so, als sei mir das alles wohlbekannt. Mit gleichgültiger Stimme sagte ich: »Ja, kenn ich, ist bei mir auch nicht anders.« Olga kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Aber da ich nun einmal das Wort ergriffen hatte, war ich gezwungen weiterzuerzählen. »Wisst ihr, ich hab letztens auch mal geknutscht! Aber es war ekelig, ich weiß nicht, was daran so toll sein soll!«
»Wer war es denn? Kenn ich ihn?«, fragte Isa neugierig.
»Stell dir vor, es war dein durchgeknallter Bruder, der Micha! Ich war doch letztens bei dir zu Hause, da hab ich ihn im dunklen Flur getroffen. Er stank nach Alkohol, wie mein Vater, wenn er von seiner Sauftour zurückkommt.« Plötzlich hatte ich die volle Aufmerksamkeit der beiden, sie schauten mich voller Neugier an und ich erzählte enthusiastisch weiter: »Micha hat mich plötzlich überfallen, ich fühlte nur seine große Zunge überall in meinem Mund und dachte, ich ersticke an seiner Spucke! Dann hat er an meiner Zunge gesaugt wie ein Staubsauger! Er stank total nach Zwiebeln und irgendwas Undefinierbarem aus dem Mund!«
»Das ist ja widerlich!« Isa war entsetzt und starrte mich an. Olga schaute nur skeptisch. »Ja, das war schrecklich!«, beendete ich meine Erzählung. »Was isst Micha eigentlich den ganzen Tag? Er riecht ja wie eine Hundehütte!«
»Na ja«, meinte Isabel, »der stank schon immer so, aber die meisten Typen riechen irgendwie komisch. Mädels riechen echt anders.«
Da habe ich die Kurve ja noch gut gekriegt, dachte ich mir. Ich musste unbedingt herausfinden, was dieses »Blasen« eigentlich bedeutete.
*
Damals dachten wir nicht, dass uns jemals etwas trennen könnte. Doch irgendwie verzettelten wir uns und gingen einander in der Phase des Erwachsenwerdens verloren. Olga hatte auf einmal andere Freundinnen und Isa ging nach der zehnten Klasse mit dem Realschulabschluss von der Schule und zog weg. Bald telefonierten wir nur noch einmal im Monat und hatten einander kaum noch etwas zu sagen, denn Isa führte nun ein anderes Leben als ich und konnte meinen Abi-Stress so gar nicht nachempfinden.
*
Nach dem Abi trödelte ich ziemlich herum. Irgendwie hatte ich Angst, mich für das Falsche zu entscheiden, und quälte mich mit der Studienwahl. Meine Güte, dachte ich mir ständig, wie kann ich jetzt eine Entscheidung fürs Leben treffen, ich hab doch gar keine Ahnung, was ich will und wie ich in zehn Jahren sein werde.
»Du musst dich aber für irgendetwas entscheiden«, sagte mir eine innere Stimme. »Eine falsche Entscheidung ist besser als gar keine, weil du dich wenigstens von der Stelle bewegst.«
So vergingen der Herbst und der Winter. Jeden Tag plagte mich mein schlechtes Gewissen, die Ratschläge meiner Eltern nahmen Woche für Woche exponentiell zu und ich fragte mich ernsthaft, wie mein Leben weitergehen sollte. Eines Tages wachte ich auf, schaute aus dem Fenster, sah, dass es langsam Frühling wurde, und spürte: Heute ist es so weit. Ich bin reif für die Entscheidung.
Ich wählte den Studiengang Galloromanische Philologie und als Nebenfach Englisch, da mich nichts anderes als Sprachen interessierte. Niemand konnte irgendwas mit dem ersten Studienfach anfangen, der Name war ja auch unverschämt lang. Deswegen erzählte ich, dass ich Französisch und Englisch studierte, mit dem Schwerpunkt Sprache und Kultur.
Meine Eltern fragten mich nur: »Und was bist du danach?«
»Sprachwissenschaftlerin«, sagte ich stolz.
»Na ja, aber wo kannst du dann arbeiten? Lehrst du die Sprachen an der Schule?« Sie gaben sich mit der Antwort nicht zufrieden.
»Um Gottes willen! Nein, ich weiß noch nicht …« Ich überlegte. »Ich könnte zum Beispiel meinen eigenen Kindergarten eröffnen und den Kindern verschiedene Sprachen beibringen. Am Montag würden wir alle englisch reden, am Dienstag französisch …«
»Eli, wir wollen wirklich wissen, was du danach machst! Deine Faselei vom eigenen Kindergarten ist hier fehl am Platz«, rief meine Mutter verärgert.
»Wir werden ja sehen!«, sagte ich entschlossen. »Ich bin mir sicher, dass ich einen guten Job finden werde!«
*
Meine Eltern waren bestürzt darüber, dass ich nun nach Berlin ziehen würde. »Musst du unbedingt nach Berlin gehen? Kannst du denn nicht hier studieren, irgendwo in der Nähe?«, fragte mich meine Mutter und weinte fast.
»Mama!«, rief ich aufgebracht. »Wo soll ich denn hier in der Nähe studieren? Hier ist doch gar nichts in der Nähe! Wir leben hier in der Pampa! Und außerdem fahre ich nicht nach Sibirien, ich fahre nach Berlin! Versteh mich doch, ich möchte einfach die Großstadt sehen. Ich werde euch besuchen, sooft ich kann!«
»Du weißt gar nicht, wie viele Gefahren in einer Großstadt lauern. Du bist noch so jung und weißt gar nichts vom Leben!«, antwortete meine Mutter.
»Ja, aber wenn ich immer zu Hause lebe, dann werde ich es auch niemals erfahren!«, entgegnete ich.
Diese Diskussion führten wir bis zu meinem Umzug nach Berlin noch mehrere Male, aber ich konnte die Bedenken meiner Mutter nicht auflösen.
Als es schließlich so weit war, sagte sie zu mir: »Mein Kind, ich mache mir einfach Sorgen, wie du in Berlin leben wirst, so ganz allein. Erst wenn du selbst Kinder hast, wirst du das verstehen.«
»Ich bin kein Kind mehr, Mama, ich bin doch fast 20!«, entgegnete ich.
»Für mich bist du immer mein Kind und bleibst es, solange ich lebe«, sagte meine Mutter und weinte los.
Mein Vater umarmte mich nur und schwieg. Ich merkte plötzlich, dass er viele graue Haare hatte und ein von tiefen Falten gezeichnetes Gesicht. Es war von der Sonne verbrannt, da er draußen auf der Baustelle arbeitete. Er gab mir noch einen letzten Rat mit auf den Weg nach Berlin: »Iss nicht die ganze Woche Nudeln, kauf dir auch mal Obst.« Dann schaute er mich mit diesem warmen, vertrauten Lächeln in seinen Augen an und zwinkerte mir zu.
2. Kapitel
Die große, weite Welt wartete auf mich schon seit langer Zeit. Ich spürte den berauschenden Sog der Großstadt. Bisher hatte ich nur das Wissen und die Erfahrungen anderer Menschen verinnerlicht, aber jetzt begann für mich die Zeit eigener Entscheidungen, und all die Fehler und Irrtümer, die damit einhergingen, durfte ich nun selbst begehen.
Ich erlebte Berlin zur schönsten Jahreszeit – es war Frühling, als ich in die Hauptstadt kam. Draußen blühte alles und man wollte einfach nur leben. Ich bekam ein Zimmer im Studentenwohnheim, war überglücklich, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, und wiederholte ständig den magischen Satz: »Ich studiere im ersten Semester an der FU und bin neu in Berlin«, wenn ich neue Leute kennenlernte. Das Leben kam mir sogar ein wenig unwirklich vor – ich konnte fast nicht glauben, dass das tatsächlich alles mit mir geschah.
*
Berlin inspirierte mich. Zu Hause war ich immer die Tochter gewesen. Jetzt war ich plötzlich eine junge Frau, die allein in einer riesigen Stadt lebte und ihre Abende gestalten konnte, wie sie wollte. Im elterlichen Hause drehte sich immer alles ums Lernen und ums Vorwärtskommen im Beruf. »Ausspannen, Ferien machen – wozu? Du bist doch noch jung«, sagten mir meine Eltern. »Du musst die Zeit nutzen, um zu lernen und eine gute Arbeit zu finden.«
Ich hatte keinen einzigen Freund nach Hause mitgebracht, weil meine Eltern das nicht geduldet hätten. Alle meine Freunde wurden mit Misstrauen und Skepsis betrachtet. Ich versteckte meine Lust auf Jungs, Partys und Vergnügen tief in mir und begriff, dass ich mein Leben in die eigenen Hände nehmen musste, damit meine Wünsche in Erfüllung gingen. Ich verstand auch, dass ich meine Eltern niemals ändern konnte. Das Leben hatte sie schon geprägt wie ein Fluss das Tal, durch das er fließt.
Meine Eltern schienen mich die ganze Zeit unbewusst zur Unselbstständigkeit erzogen zu haben, weil sie mich zwar über alles liebten und mir das Beste wünschten, aber nicht damit klarkamen, dass ich eine erwachsene Frau wurde, die ihr eigenes Leben führen wollte. Ich konnte mit ihnen auch nicht wirklich diskutieren oder ihnen etwas erklären. Sie sind einfach aus einer anderen Generation, dachte ich dann immer‚ und verstehen mich nicht. Diese Facette ihrer elterlichen Liebe und die Erkenntnis, dass ich meine Eltern nicht ändern konnte, führten letztlich dazu, dass ich beschloss, meine eigenen Wege zu gehen. Ich zog aus, um meine Neugier zu befriedigen und meinen Hunger, meinen Appetit auf das Leben zu stillen.
*
Plötzlich spürte ich die Freiheit, die ich so noch nie erlebt hatte, umso stärker. Ich entdeckte eine neue Welt bestehend aus Vorlesungen, Seminaren, Mensa, wechselnden Stundenplänen und der Flexibilität, die mir mein Studentenleben brachte. Im ersten Monat versank ich allerdings komplett im Uni-Kram und versteckte mich auch zu Hause im Studentenwohnheim hinter den Büchern. Denn die neu gewonnene Flexibilität und Freiheit bereiteten mir zugleich auch gewisse Probleme: Man musste sich die Zeit zum Lernen, Ausgehen, Aufräumen und Einfach-mal-nichts-Machen richtig einteilen und das fiel mir zuerst sehr schwer. Ich fürchtete, dass ich, sobald ich ausging und ein bisschen feierte, mein Studium vernachlässigen würde.
Als ich mir einmal in der Küche mein Müsli mixte und feststellte, dass ich keine Milch mehr hatte, klopfte ich an die Nachbartür und lernte so Jessika kennen, die Slawistik und Publizistik studierte.
»Ich wusste gar nicht, dass du hier wohnst! Man kriegt dich ja nicht zu Gesicht. Was machst du denn so den ganzen Tag?« Sie war überrascht, dass wir uns noch nicht kannten.
»Ich weiß nicht, ich bin halt in der Uni, in der Bibliothek oder sonst wo …«
»Du lernst zu viel, du bist doch noch im ersten Semester, genieß das Leben erst mal. Schau mich an, ich bin schon im 14. Semester und trotzdem relaxt«, sagte sie und lächelte.
Wir verabredeten uns für den Nachmittag, gingen in Dahlem und auf dem Campusgelände spazieren und genossen den traumhaft schönen sonnigen Tag. Es war Mai, doch die Temperaturen waren schon auf über 20 Grad Celsius geklettert.
»Ich bin hauptsächlich wegen der Stadt hierher gekommen«, meinte Jessika. »Mein Studienfach ist öde. Doch Berlin entschädigt für alles.«
»Mich hat auch die Stadt gereizt«, erwiderte ich. »Ich mag, dass man hier so anonym ist und machen kann, was man will.«
Jessika lachte schallend: »Deswegen hab ich gar nicht mitgekriegt, dass du auf meiner Etage eingezogen bist, weil du so ›anonym‹ bist.«
Wir lachten und beschlossen, öfter zusammen auszugehen.
*
Ich sah mich also plötzlich all den Verlockungen der Großstadt ausgesetzt. Ich war begeistert, fasziniert und überfordert. Es gab niemanden mehr, der prüfte, wann ich nach der Disco nach Hause kam und ob ich überhaupt nach Hause kam, ob ich bereits Abendbrot gegessen und mein Zimmer aufgeräumt hatte. Aber es gab auch keinen, der für mich kochte, die Wohnung putzte, meine Wäsche machte oder den Kühlschrank füllte.
In den ersten Monaten in Berlin wurde mir außerdem schnell klar, dass ich gar nicht mit Geld umgehen konnte. Wie auch, das hatte ich ja nie gelernt. Ich vergaß immer wieder, wie viel Geld ich im Portemonnaie und auf dem Konto hatte, und trank mit meinen Bekannten sündhaft teuren Kaffee in der Stadt, ging sehr oft in Kneipen und Discos.
Eine Zeit lang hatte ich fast Angst vor meiner eigenen Courage. Ich hatte es geschafft, aus meinem Elternhaus auszuziehen, war in einer fremden Stadt und begann ein neues Leben. Ganz allein. Doch es gab auch Momente, in denen ich an meiner Entscheidung zweifelte. Dann grübelte ich und suchte nach einer Motivation für das, was ich tat, um mich wieder aufzubauen. Ich verstand, dass ich zwei Möglichkeiten hatte. Ich konnte in Berlin bleiben und alles dafür tun, dass es klappte, mich mit ganzer Kraft bemühen, mit dem Studium voranzukommen. Oder ich konnte sofort nach Hause fahren und wieder in scheinbarer Sicherheit leben, mir jeden Tag eine Predigt von meinen Eltern anhören, dass ich irgendwas in meinem Leben machen müsste, weil sie mich nicht für immer durchfüttern könnten. Wenn ich nach Hause zurückgekehrt wäre, hätten sie sich gefreut und gleichzeitig gedacht, dass ich wirklich noch ein Kind wäre und dass genau das zu erwarten gewesen wäre. Diese beschämende Situation wollte ich nicht erleben. Also biss ich die Zähne zusammen und sagte mir: »Nur Geduld, du wirst alles schaffen, was du dir vornimmst.« Ich entschied mich für die erste Option, denn eigentlich hatte ich nichts zu verlieren.
*
Und wirklich: Langsam fing das Leben an, richtig Spaß zu machen. Nur mit dem Geld war das so eine Sache. Ab Mitte des Monats aß ich nur noch Brot und Käse, trank Leitungswasser, fühlte mich aber trotzdem überglücklich.
Doch bald verschuldete ich mich, lieh mir Geld, wo ich nur konnte, und überzog mein Konto. Das Geld rann mir durch die Finger wie der Sand durch die Sanduhr. Da alle meine Freunde jobbten, wollte ich das auch versuchen. Mal nahm ich an einer Promotionaktion für Sekt oder Schwarzbrot teil, mal an einer Umfrage für ein Marketingunternehmen. Oder ich verkaufte Bier auf irgendwelchen Festen voller lustiger und peinlich betrunkener Menschen. Doch nach ein paar Mal hatte ich von alldem die Nase voll. All diese Jobs kosteten sehr viel Zeit und die wollte ich für sinnvollere Dinge nutzen, wie Lernstoff für eine Klausur durchgehen, Seminararbeiten schreiben oder einfach nur Berlin kennenlernen. Meine Zeit an der Uni würde länger ausfallen als die geplanten drei Jahre für den Bachelor, wenn ich weiter so viel arbeitete und mich nicht auf das Studium konzentrierte.
Überhaupt warteten überall so viele Ablenkungen und Verlockungen. Das Leben draußen gewährte mir keine Pause, es pulsierte und verlangte nach meiner Aufmerksamkeit. Ich wollte ausgehen, interessante Menschen kennenlernen, die Nächte durchtanzen und mit Jungs abhängen.
Das Problem der fehlenden Zeit beschäftigte mich immer wieder, es nervte und ermüdete mich. Die Zeit war so kostbar, das verstand ich. Der »Ernst des Lebens« wurde mir in diesen Augenblicken bewusst. Man sollte möglichst viel erleben und erfahren im Leben, weil die Zeit so begrenzt ist, dachte ich. Deshalb wollte ich einen Job finden, der mir Zeit fürs Studieren ließe, Geld bringen und meinen Horizont erweitern würde. Ich hatte keine Lust mehr darauf, zehn bis 14 Stunden am Stück Bier auszuschenken oder den Passanten mit einem dummen Grinsen im Gesicht ein Produkt aufzuschwatzen. So suchte ich im Internet nach Arbeitsstellen und probierte im Geiste, wie neue Kleidung im Umkleideraum, ob sie zu mir passen würden.
Ich bewarb mich um Studententätigkeiten und eine Werbeagentur interessierte sich schließlich für mich. Also unterschrieb ich einen Werkstudentenvertrag und ging an zwei Nachmittagen in der Woche ins Büro, trank Unmengen von Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten, telefonierte mit ein paar Leuten und übersetzte englische und russische Zeitungsartikel für die Firmen, die diesen speziellen Pressespiegel wünschten. Ich begann zu rauchen, weil viele aus der Werbeagentur ihre Pausen qualmend auf dem Balkon verbrachten, und genoss die neuen Freundschaften, die sich aus diesem Kreis heraus ergaben. Besonders mit den Praktikanten traf ich mich oft auf dem Balkon, schaute über die Dächer Berlins und quatschte über das Leben, Karriere, Reisen und selbstverständlich über Sex und Beziehungen. So war es wirklich viel einfacher und interessanter, Geld zu verdienen.
In der Agentur wimmelte es nur so von attraktiven, spannenden Leuten und viele von ihnen beeindruckten mich sehr. Ich fühlte mich in dieser kreativen Atmosphäre wohl und versuchte, die Ideen und Gedanken, die man dort lebte und aussprach, in mich aufzunehmen. Eigentlich suchte ich nach mir selbst und nach Liebe, Abenteuer und Spaß. Ich suchte all das, was in meinem konservativen Elternhaus unbekannt war. Alles, was mir vorenthalten worden war, wollte ich jetzt erleben.
*
Und dann traf ich Vicki.
Es war irgendwie abzusehen gewesen, dass ich sie oder einen ähnlichen Menschen treffen würde, weil ich danach gesucht hatte. Denn wenn man etwas sucht, dann schaut man gezielt und das Schicksal schenkt einem das, wonach man sucht. Als ich nach Berlin ging, wollte ich unvergessliche Abenteuer und riesigen Spaß haben – das alles sollte ich bekommen.
Man sollte vorsichtig mit seinen Wünschen sein, sie könnten in Erfüllung gehen.
3. Kapitel
Ich hatte meine letzte Klausur in diesem Semester geschrieben und fühlte mich erleichtert. Ein riesiger Stein fiel mir vom Herzen, als ich den Stift endlich weglegte, nachdem ich zwei Stunden lang ununterbrochen geschrieben hatte. Geschafft, dachte ich und in meinem müden Kopf kreiste irgendwo der Gedanke, dass jetzt drei freie Wochen vor mir lagen und ich endlich mal Zeit zum Blödsinn-Machen, Ausgehen, Feiern, Shoppen und Einfach-mal-nichts-Machen hatte. Wann hatte ich denn schon mal Zeit dafür!
Ich wollte mich dafür belohnen, dass ich das erste Semester überstanden hatte, und außerdem hatte ich mir schon lange kein ausgiebiges Shopping mehr gegönnt. Also spazierte ich im Einkaufszentrum auf dem Alexanderplatz herum und wunderte mich, was es alles zu kaufen gab. Fieberhaft versuchte ich auszurechnen, wie viel ich ausgeben durfte, damit mir noch etwas zum Leben blieb. Ans Sparen konnte ich gar nicht denken. Ich konnte nicht einmal einen Monat in die Zukunft denken und mir etwas vornehmen. Wenn ich wenigstens die Woche im Voraus planen konnte, war ich schon froh.
Als ich in den ZARA-Store ging, fiel mir die Marketinguntersuchung über Kundenverhalten ein, die besagte, dass Menschen in Geschäften einen unbewussten Rechtsdrall hatten und als Erstes nach rechts liefen. Ich bin anders, dachte ich, lief im Laden zuerst nach links und lachte über mein idiotisches Verhalten. Dann nahm ich ein paar Kleidungsstücke mit in die Umkleidekabine und probierte alles an. Dabei betrachtete ich immer wieder meinen nackten Po im Stringtanga in den verschiedenen Spiegeln – zu Hause konnte ich ihn nicht so gut anschauen wie hier.
Plötzlich hörte ich, wie jemand in der Umkleidekabine nebenan auf Russisch fluchte. Ich verließ meine Kabine, noch in dem schwarzen Kleid, das ich gerade anprobiert hatte, und fragte neugierig auf Russisch: »Kann ich vielleicht helfen?«
Aus der anderen Kabine kamen Geräusche, dann steckte eine Frau den Kopf durch den Vorhang, schaute mich von oben bis unten an und sagte in hochnäsigem Ton: »Wieso stehen dir die Sachen und mir nicht? An mir hängen sie wie ein Kartoffelsack, das ist doch unfair!«, und sie öffnete den Vorhang der Umkleidekabine. Ich sah ihren zierlichen Körper, der in etwas Schwarzes gehüllt war, das wie ein Umhang an ihr hing. Sie hatte das gleiche Kleid ausgesucht, das ich gerade anhatte. Durch den für sie ungünstigen Schnitt sah man ihre Taille nicht, das Kleid war zu lang und versteckte alles, was eigentlich gezeigt werden sollte. Es sah einfach unvorteilhaft aus.
»Du bist eben sehr schlank«, sagte ich, »du brauchst wahrscheinlich Größe 34. Aber die Spanier schneidern doch Kleidungsstücke für schlanke Frauen.«
»Na super, ich glaube, ich gehe lieber mal in die Kinderabteilung!« Sie überlegte und musterte mich mit ihren lustigen dunklen Augen. »Hast du Zeit?«, fragte sie dann.
»Klar«, entgegnete ich und lächelte ihr entgegen. Sie hatte meine Neugier geweckt.
Danach saßen wir draußen im Café, rauchten und quatschten. Sie war auch Russin, lebte wie ich ohne Familie in Berlin, teilte sich mit einem Mädel eine WG und machte eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Was mir zuerst an ihr auffiel, waren ihre magere Schönheit, ihre jugendliche Frechheit und ihr Hang zu übertriebener Selbstdarstellung. Sie war unheimlich schlagfertig, konnte ununterbrochen Witze erzählen und erledigte mehrere Dinge gleichzeitig: lachen, mit mir quatschen, telefonieren, rauchen und sich mit Hilfe des kleinen Spiegelchens aus ihrer Tasche die Lippen nachziehen. Ihre Heiterkeit und Unbekümmertheit übertrugen sich auf mich und machten mir Vicki sofort sympathisch. Humorvolle Menschen, die keine Angst hatten, von sich zu erzählen und auch mal ein wenig mehr als üblich über sich zu verraten, fand ich schon immer unheimlich anziehend. Von Leuten, die auf jede erdenkliche Frage nur mit »Ja« oder »Nein« antworteten und wortkarg wie ein russischer Spion waren, gleichzeitig aber unterhalten werden wollten, hatte ich mich dagegen schon immer distanziert. Doch es war viel mehr, was mich an Vicki faszinierte. Ich konnte es nicht in Worte fassen, meine Intuition sagte mir einfach, dass ich genau ihr begegnen wollte.
»Was machst du heute Abend? Komm doch mit mir in den Club, ich kenne so eine schicke Adresse, da wimmelt es nur von geilen Typen.« Vicki redete wie ein Wasserfall und ließ gar keine Lücke in ihrem Redefluss. Sie sprach so schnell und quirlig, dass ich ihr kaum ins Wort fallen konnte.
Ich hatte zwar eine Menge Leute an der Uni und im Studentenwohnheim kennengelernt, aber ich hatte keine russischen Freunde in Berlin. Ich mochte es, russisch zu sprechen, und wir fanden sofort viele gemeinsame Themen, da wir ja aus demselben Kulturkreis kamen. Vicki war auf jeden Fall etwas Besonderes, das spürte ich und wollte sie näher kennenlernen.
An diesem Abend gingen wir gemeinsam in die Disco und tanzten, bis uns die Füße in den hochhackigen Schuhen schmerzten. Ich zog die Schuhe aus, ließ mich auf die Couch sinken, trank den warm gewordenen Cola-Wodka-Mix und schaute auf die Uhr. Es war bereits vier und ich überlegte, nach Hause zu fahren. Die ersten U-Bahnen fuhren in einer halben Stunde und ich würde erst gegen halb sechs zu Hause sein.
Vicki hielt mich auf: »Schlaf doch bei mir«, schrie sie mir durch die Musik ins Ohr. »Ich wohne im Zentrum, du kannst bei mir auf dem Sofa pennen, ist kein Problem. Ich hab keine Lust, hier allein zu sein. Mit dir macht es viel mehr Spaß!«
Ich lächelte: »Okay, danke dir!«
Gute Idee, dachte ich, sie ist echt nett. Ich freute mich über ihr Angebot, da ich zu müde war, um noch durch die ganze Stadt zu fahren. Ich wusste nicht, ob ich jemandem so schnell anbieten würde, bei mir zu schlafen. Sie hat gar keine Hemmungen oder Befindlichkeiten, ging es mir durch den Kopf. Ich betrachtete Vicki, wie sie auf der Tanzfläche mit einem Mann tanzte. Das durfte man eigentlich nicht mehr »tanzen« nennen. Es sah unheimlich scharf aus, wie die beiden zu einem sich bewegenden Körper verschmolzen.
*
Als ich am nächsten Tag bei Vicki aufwachte, schmerzte mein Hals, weil ich mich im Schlaf auf dem kleinen Sofa verrenkt hatte, und mein Mund war trocken wie die Wüste Sahara, sodass ich kaum die Zunge bewegen konnte. Ich suchte nach meiner Uhr, versuchte aufzustehen, fühlte leichte Übelkeit aufkommen und sah dann Vicki, die im Bett lag und mit der Fernbedingung die Fernsehkanäle hoch- und runterschaltete.
»Du hast geschnarcht im Schlaf«, sagte sie und lächelte, »das war echt lustig. Ich habe leider keine Kamera, um es aufzunehmen.«
»Echt? So ein Mist!« Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen und ihnen ein wenig Richtung zu geben. »Ich schnarche nur, wenn ich betrunken bin und auf dem Rücken liege.«
»Ist nicht so wild, bin auch gerade erst aufgewacht.«
»Wie spät ist es eigentlich?«
»Keine Ahnung.« Sie war gerade von einer Modenschau im Fernsehen gefesselt und für ein paar Minuten nicht ansprechbar.
Als ich auf die Uhr schaute, traute ich meinen Augen nicht. Es war halb vier am Nachmittag. »Ich muss doch zur Uni! Moment, welcher Tag ist heute? Gestern hatte ich doch die letzte Prüfung! Keine Panik, ich habe Ferien! Ich bin ja total verrückt«, sagte ich zu mir selbst und wurde endlich richtig wach.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte ich Vicki ein wenig später aus der Küche.
»Klar doch«, antwortete sie. »Da waren auch irgendwo noch Kekse, kannst du mal schauen?«
Ich suchte und fand alles Mögliche, jedoch keine Kekse. Im Kühlschrank lagen sogar eine Sonnenbrille und ein Verhütungsring, der in Alufolie eingepackt war.
»Kekse sind schon weg«, verkündete ich und brachte nur zwei Tassen Kaffee und Milch in Vickis Zimmer. Wir tranken den Kaffee, schwiegen und guckten fern. Es war so schön und gar nicht unangenehm, mal nicht zu reden, als ob wir uns schon eine Ewigkeit kennen würden und sich diese Gewohnheit seit Langem etabliert hätte.
*
In den nächsten Tagen unternahmen wir viel zusammen und ich übernachtete ein paar Mal bei ihr. Irgendwie hatten wir einen Draht zueinander und so dauerte es nicht lange und ich zog ganz zu Vicki in ihre WG, die sie mit Mascha, einer anderen Russin, bewohnte. Ich kannte Vicki damals zwar erst seit dreieinhalb Wochen, doch ich überlegte nicht lange. Als sie es mir vorschlug, kündigte ich mein Zimmer im Studentenwohnheim, packte die wenigen Sachen, die ich hatte, und zog zu ihr.
Vicki wohnte in einem Hochhaus in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte, was ich einfach toll fand. Außerdem musste ich nun weniger Miete als im Studentenwohnheim zahlen. Ich gab Vicki einfach jeden Monat etwas zu ihrer Miete dazu, mal 100 Euro, mal 150, je nachdem, wie ich es hatte, und alle waren zufrieden.
*
Vicki war die Impulsgebende, der Motor in unserer Beziehung. Ohne sie hätte ich vieles von dem Blödsinn, den wir gemacht haben, gar nicht anstellen können, weil ich ein wenig scheu war, mich an bestimmte Regeln hielt und schwer davon abweichen konnte. Vicki wusste nicht mal, was Regeln waren. Aber sie schätzte meine Gesellschaft, weil ich letztendlich doch jeden Unsinn mitmachte, voller Neugier und jugendlicher Leichtigkeit, und sie bei ihren Unternehmungen nicht allein ließ. Immer enger und intensiver wurde unsere Freundschaft und immer vertrauensvoller die Gespräche. Ich spürte, dass Vicki und ich eine Art Symbiose bildeten.
Außer derselben Sprache und Herkunft hatten Vicki und ich noch eine Gemeinsamkeit: Um keinen Preis der Welt wollten wir erwachsen werden. Das Leben schien uns ein Spielplatz zur Verwirklichung unserer Wünsche zu sein. Wir wollten unsere Jugend auskosten, solange es ging, und nur keine Verpflichtungen eingehen. »Lebe lustig und stirb jung«, sagte Vicki mir einmal auf die Frage, wie sie sich ihr Leben vorstellte. Sie hatte ständig solche Sprüche auf den Lippen. Wir wollten tagelang nur Spaß haben, nichts anderes tun als ausgehen, saufen und vergessen, dass das Leben Geld kostete und man jeden Tag einer Tätigkeit nachgehen musste, um leben zu können.
4. Kapitel