Fun - Bela B Felsenheimer - E-Book

Fun E-Book

Bela B Felsenheimer

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Beschreibung

Fünf Musiker, drei Konzerte, eine Stadt in der Provinz. Eine Woche im Leben der erfolgreichen Band nbl/nbl. Eine Woche, nach der nichts mehr so ist, wie es war.

Der große neue Roman von SPIEGEL-Bestsellerautor Bela B Felsenheimer.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Eine Band. Eine Kleinstadt in der deutschen Provinz. Ein Konzert, nach dem alles anders ist.

Warum nicht?, denkt Ljilja und hofft auf einen spektakulären Abend, der zum schlimmsten ihres Lebens wird.

Lianes Verständnis von Fun unterscheidet sich erheblich von dem der Musiker. Sie verlässt für ein paar Tage die Stadt, damit sie keinem von ihnen begegnen muss – aber dann holt ihre Vergangenheit sie ein.

Ihr Mann Guido wiederum versteht unter Spaß etwas ganz anderes als seine Frau oder Irissa, seine Auszubildende.

Lianes und Guidos Tochter Maila hat sehr konkrete Pläne für diesen Abend, von denen ihre Eltern aber nichts wissen dürfen.

Kommissar Senheimer und seine Mitarbeitenden sollen einer Anzeige nachgehen – machen aber stattdessen Selfies in den Garderoben der berühmten Musiker.

Und die Band?

Die will nur ihren Erfolg feiern. FUN! Ganz egal, wie hoch der Preis ist, den andere dafür zahlen.

Der Autor

Bela B Felsenheimer, geboren 1962 in West-Berlin, ist Schlagzeuger, Gitarrist, Komponist, Sänger, Schauspieler, Synchron- und Hörbuchsprecher, war Comicbuch-Verleger und hatte eine eigene Radiosendung. Bekannt ist er vor allem als Mitglied der Punkrock-Band Die Ärzte. Sein Debütroman Scharnow stieg sofort auf Platz 2 der SPIEGEL-Bestsellerliste ein und wurde von der Presse gefeiert. Fun ist sein zweiter Roman.

BELA BFELSENHEIMER

FUN

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Hinweis: Alles in diesem Roman ist erfunden – und noch viel mehr darin ist wahr. Denn um es mit Mark Twain zu sagen:It’s no wonder that truth is stranger than fiction. Fiction has to make sense.

Der nachfolgende Text enthält Passagen, die um ihrer Authentizität willen teilweise sehr drastisch gehalten sein müssen. Empfindsame LeserInnen seien hiermit gewarnt.

© 2025 by Bela B Felsenheimer

© 2025 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung/Artwork: Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (koosen) und shutterstock.com (Kwitka)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-32781-1V002

www.heyne.de

Für meine Erstleserin

It’s often said that men use women. Use them for what? Surely not pleasure.

Valerie Solanas

Uhumm-mmhm-hahahahaha…

AHAHAHAHAHAHAHAHA!

AHAHAHAHAHAHAHAHA

Ahahahahahahah…

Vincent Price in Michael Jacksons Song Thriller

PROLOG

Muss der verdammte Träger ihres BHs ausgerechnet jetzt reißen? Sie hat ihn doch zu Hause noch sorgfältig angenäht. Während sie dem Ordner, auf dessen Jacke »Security« steht, durch einen langen Flur folgt, stopft sie den losen Träger in den linken Cup des BHs und hofft, ihre Bluse möge die dadurch entstandene Ausbuchtung ausreichend kaschieren.

Vor einer eisernen Tür bleiben sie stehen.

Der bullige Mann dreht sich um und bedeutet ihr mit einer Geste des Kopfes einzutreten.

Da steht sie nun.

Ganz allein in einem Raum voller Menschen.

Und mit im Raum: die Band.

Die Band, die sie heute Morgen so laut gehört hat, bis ihr Vater völlig ausgerastet ist und wütend mit den Fäusten gegen die Tür getrommelt hat.

Die Band, vor deren Bühne sie eben noch gestanden, denen sie zugejubelt und deren Lieder sie mitgesungen hat.

Hier wird sie nicht jubeln. Das wäre völlig absurd. Sie muss bei der Vorstellung lächeln.

Warum der Ordner ihr den Backstage-Pass gegeben hat, wird sie hier und jetzt herausfinden. Sie hofft, dass er von dem supersweeten Gitarristen kommt. Dass er sie von der Bühne aus entdeckt hat und sie unbedingt kennenlernen will.

Sie macht sich über dieses kennenlernen nichts vor, sie ist schließlich keine sechzehn mehr. Natürlich wird er mehr wollen. Na und? Sie vielleicht ja auch. Who knows?

Sie ist nicht so aufgebitcht wie die meisten hier, aber auch sie hat sich mit ihrem Style Mühe gegeben. Sexy wollte sie sein. Verführerisch. Für sich, für ihr Gefühl und, na klar, auch für die Band.

Die Musiker stehen doch sicher auch ewig vor dem Spiegel, bevor sie auf die Bühne gehen, also.

Lass mich vom Außen in dein Innen blicken – dein Innen kann ich lieben – dein Außen will ich ficken, heißt es in einem ihrer Songs.

Das trifft’s doch ganz gut, findet sie.

Aus Neugier, just for fun, und weil der Gitarrist einfach Zucker ist, ist sie nach dem letzten Lied wie verabredet zu dem Ordner, der ihr mitten im Gewühl einen Pass gegeben hat, gegangen und von ihm hinter die Bühne gebracht worden.

Doch im Backstagebereich ist die erste Ernüchterung eingetreten. Hier sind andere Frauen.

Viele. Und eine hübscher als die andere.

Sie sieht bei allen denselben After-Show-Aufkleber, den auch sie bekommen hat.

Ass ist darauf zu lesen. Der Ass-Pass, oder was soll damit gemeint sein?

Auf sie wirkt dieser nicht gerade subtile Männerhumor eher befremdlich, doch sie muss feststellen, dass sich einige der Frauen den Sticker tatsächlich auf ihre Hintern geklebt haben. Die meisten aber praktischerweise auf die Brust.

Sie sucht mit ihren Blicken den Raum ab und entdeckt den Gitarristen in einer Ecke, mit zwei Frauen in ein Gespräch vertieft. Den Arm lässig um die eine gelegt, eine Frau mit wilder roter Haarmähne, scheint er sich aber deutlich mehr für die andere zu interessieren, eine dürre Schwarzhaarige, die sie an Morticia von der Addams Family erinnert. Obwohl das Schauspiel sie nicht wirklich überrascht, spürt sie einen Stich im Herzen. Was hat sie denn gedacht? So sind Rockmusiker eben.

»Hi, schön, dass du zu unserer Party gekommen bist. Magst du was trinken?«

Sie wendet sich der Stimme zu. Es ist einer der Schlagzeuger. Der jüngere der beiden.

Er ist zwar nicht halb so gut aussehend wie der Gitarrist, etwas pummelig, strähnige Haare, aber er scheint nett zu sein, und wenn sie schon mal da ist, kann sie sich genauso gut mit ihm unterhalten.

Erst mal.

»Gern, habt ihr Weißwein?«

»Ich hoffe, sie haben welchen kalt gestellt! Würde es sonst auch Rosé tun? Französisch natürlich. Ziemlich gut und vor allem kalt.«

»Ja klar, Rosé ist fein.«

»Kommt sofort.«

Er geht zum Kühlschrank.

Sie nutzt den Moment, um noch einmal unauffällig zum Gitarristen hinüberzuschauen, und erschrickt, als sich ihre Blicke treffen.

Zu ihrem Glück kommt in diesem Moment der Schlagzeuger mit zwei Gläsern Rosé zurück.

Er reicht ihr eines davon und hält ihr seins zum Anstoßen hin. »Jetzt aber. Ich bin …«

»Ich weiß natürlich, wer du bist.«

»Sorry, my bad. Und darf ich erfahren, wie du heißt?«

Seine manierierte Umständlichkeit gefällt ihr ein wenig.

Sie nennt ihm ihren Namen.

»Der hat einen schönen Klang. Passt zu dir, wenn ich das sagen darf«, säuselt er für ihren Geschmack etwas zu flirty, »komm, wir setzen uns zu den anderen.«

Sie folgt ihm durch den Raum, aber der Schlagzeuger wird von einem korpulenten und etwas zerzausten Mann aufgehalten, der ihm ein Mobiltelefon übergibt und wieder verschwindet.

»Ich nehme es immer mit auf die Bühne und mache ein paar Selfies von mir vor der Kulisse des Publikums, weißt du? Für unseren Social-Media-Content«, klärt sie der Schlagzeuger auf, »aber ich Schussel lass es immer liegen. Zum Glück passt der gute Mampffred auf. Setzen wir uns doch!«

Sie gehen zu der großen Ledercouch, die fast die ganze Rückseite des Raumes einnimmt. Auf der einen Seite sitzen bereits der Bassist der Band und ein Mädchen mit großen, fast unwirklich schönen Augen, das an seinen Lippen hängt.

Das hier ist keine Garderobe. Es gibt weder einen Spiegel noch liegen Kleidungsstücke herum oder andere Hinweise darauf, dass sich in diesem Raum ein Musiker vor oder nach der Show umgezogen hat. Aus einer gewaltigen Boom Box tönt leise Musik. Mehr als Berieselung ist es nicht. Vor der Couch steht ein sehr großer Tisch, auf dem drei Sektkühler mit Champagnerflaschen platziert sind. Daneben reihen sich einige Schalen mit Nüssen und Chips auf. Keine Süßigkeiten. Keine Deko.

Sie vermutet, dass hier am Nachmittag noch Meet & Greets mit Fans oder Interviews stattgefunden haben.

Jetzt, nach der Show, sind hier neben ein paar Ordnern und der Band nur noch Frauen zu sehen. Keine von ihnen, sie eingeschlossen, trägt ein Kleidungsstück mit dem Logo der Gruppe. Ausgewiesene Fan Girls haben wohl eher keine Chance, Zutritt zu diesem Ort zu bekommen.

Wie aus dem Nichts steht der Gitarrist vor ihr.

Unwillkürlich geht ihre Hand an die Stelle, wo der gerissene BH-Träger verstaut ist.

Die Rothaarige und Morticia sind nicht bei ihm. Er sieht sie aus seinen schönen Augen mit den langen Wimpern an.

»Was haben wir denn hier? Is das Shareware? Wolltest du uns die Lady etwa vorenthalten?«

»Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Das ist …«, antwortet der Schlagzeuger, aber der Gitarrist unterbricht ihn.

»Schsch, Namen brauchen wir hier nicht.«

Während er spricht, lässt er sie nicht aus den Augen.

Ihr Herz klopft wie verrückt, aber sie weicht seinem Blick nicht aus.

»Kommst du noch mit auf unsere Party im Hotel?«

Sie ist zu verdattert, um zu antworten. Und wie war das mit der Shareware gemeint?

Der Schlagzeuger schaut sie ebenfalls lächelnd an. Die offensichtliche Anmache seines Bandkumpans scheint ihm nichts auszumachen.

Sie schluckt kurz, dann reißt sie sich zusammen.

»Hi, ich heiße …«

»Bist du dabei oder nicht?«, unterbricht sie der Gitarrist rüde.

»Danke, ich trinke erst mal meinen Wein«, antwortet sie trotzig.

Die Rothaarige gesellt sich zu ihnen. Sie balanciert ein Tablett mit randvollen Schnapsgläsern und stellt es auf dem Tisch vor ihnen ab.

»Hier ist was zum Lockermachen«, lacht sie. »Wo ist denn euer Frontmann? Der soll auch einen mittrinken.«

Der Gitarrist antwortet, ohne den Blick von seiner Neuentdeckung abzuwenden. »Ist schon weg. Will auf eine Vernissage in Berlin morgen, unser Bildungsbürger.«

»Wenn ich an diese Dozentin denke, die ihn abgeholt hat, bereue ich, nicht studiert zu haben«, kommentiert der Bassist. »Das Warm-Up zur Ausstellung kann ich mir rege vorstellen.« Der Gitarrist sieht ihn missbilligend an.

»Die war maximal BWL-Studentin, du Sherlock. Langweilig genug dafür sah sie jedenfalls aus«, knurrt er.

Die hagere Schwarzhaarige kommt an ihren Tisch, ebenfalls mit einem Tablett in den Händen. Sie drängt sich am Gitarristen vorbei, bedeutet dem Schlagzeuger und dem Bassisten Platz zu machen, dreht sich geschickt um die eigene Achse und lässt sich, das Tablett so ruhig wie möglich haltend, rückwärts auf die Couch fallen.

Auf dem Tablett befinden sich sieben Linien eines weißen Pulvers. Daneben liegt ein locker gerollter Hunderteuroschein.

Der Bassist greift sich den Schein, rollt ihn fester zusammen und zieht eine Linie durch die Nase, dann reicht er ihn an die junge Frau neben ihm weiter.

Der Schlagzeuger lehnt ab. »Ich zieh den Dreck nicht. Ihr wisst ganz genau, dass an jeder Line Koks Kinderblut klebt!«

Niemand achtet auf ihn. Das Tablett wandert reihum weiter und liegt plötzlich auf ihrem Schoß. Der Gitarrist kniet sich vor sie, rollt den Schein neu und zieht ebenfalls eine Linie. Dann sieht er sie herausfordernd an.

»Und jetzt du.«

Sie zögert. Es geht ihr alles ein bisschen schnell.

Und an dem, was der Schlagzeuger gesagt hat, ist ja auch was dran.

»Na, was ist?«, drängt der Gitarrist. »Das macht locker. So kommen wir viel besser ins Gespräch.«

Sprechen will er also mit ihr? Die Situation ist strange, aber die Aussicht auf mehr Kontakt zu ihm gefällt ihr. Wegen des Drummers ist sie schließlich nicht hier.

Sie nimmt den Schein und zieht ihre Line.

Der Schlagzeuger kommentiert es mit einem schnaufenden Geräusch. »Und Corona gibt’s auch nicht mehr, was?«

Das Kokain ist sehr mild. Sofort setzt die euphorisierende Wirkung ein.

»Und hier ist der Nachtisch.« Die Rothaarige reicht ihr ein kaltes, beschlagenes Schnapsglas.

»Das ist bester ukrainischer Wodka«, sagt der Gitarrist, »danach willst du nichts anderes mehr. Und du tust sogar noch was Gutes damit.«

Er sagt diesen Satz nicht zum ersten Mal, denkt sie, stößt aber mit den anderen an. Wie choreografiert kippen alle den Alkohol hinunter.

Auch der Wodka ist sehr gut.

»So«, sagt der Gitarrist und steht wieder auf, »die Band ist versorgt, wie ich sehe. Dann lasst uns mal zum Fun-Part des Abends übergehen und unsern Chef-Secu den Transport organisieren.«

Der Gitarrist mustert sie mit einem zweifelnden Blick, dann nickt er dem Schlagzeuger zu und geht mit der Rothaarigen und der Hageren im Arm zu einem großen Mann mit kurz geschorenen Haaren und einem Kinnbart, der in einer Ecke steht. Es war ihr vorhin schon aufgefallen, wie er mit ernstem Gesicht das Geschehen beobachtet hat, statt an der Party teilzunehmen. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihm um den Bodyguard der Band oder so was. Als er den Gitarristen auf sich zusteuern sieht, setzt er ein Lächeln auf, das seine Ausstrahlung komplett verändert. Er wirkt jetzt so warm und freundlich, wie sie es vor ein paar Sekunden noch nicht für möglich gehalten hätte.

»Die Band ist versorgt.« Der Satz hallt in ihrem Kopf nach.

Etwas fühlt sich hier nicht mehr richtig an.

Sie bemerkt einen anderen Ordner, der einigen Frauen, die abseits geblieben waren, etwas zuflüstert. Die Frauen reagieren unterschiedlich. Die meisten scheinen enttäuscht, einige sogar entsetzt zu sein. Eine der Frauen sieht zu ihnen herüber und ruft den Namen des Gitarristen. Dabei zieht sie ihr Telefon aus dem Ausschnitt ihres Kleides.

»Du weißt nicht, was du verpasst. Mach wenigstens noch ein Foto mit mir!«

Der Ordner hält blitzschnell seine Hand vor das Objektiv. »Keine Fotos mehr!«

Morticia und die Rothaarige stecken ihre Köpfe zusammen, tuscheln und kichern albern. Es scheint, als lachten sie die Frau aus.

»Nur ein Autogramm? Bitte!« Die abgewiesene Frau wirkt regelrecht verzweifelt.

»Mädchen, beruhig dich! Die Jungs haben auch mal Feierabend.« Der Ordner spricht sanft mit ihr, aber in seiner Ruhe liegt eine Bestimmtheit, die keinen Widerspruch erlaubt.

Sie hört das Mädchen mit den Wahnsinnsaugen nun ebenfalls kichern. Ihr wird klar, dass sie und die beiden anderen Frauen nicht aus Schadenfreude lachen, sondern aus Erleichterung darüber, dass nicht sie es sind, die rausgeworfen werden.

Die Situation beunruhigt sie zunehmend. Es hat etwas Bedrohliches, das nicht mehr zu ihrer drogenbedingten Euphorie passt.

Der Schlagzeuger unterhält sich inzwischen mit dem Bassisten, der samt der Augenfrau in seinem Arm näher herangerückt ist. Das Gespräch dreht sich um Musik, und die Umgebung scheint davon ausgeschlossen zu sein.

Plötzlich erkennt sie zu ihrem Entsetzen, dass die Hand des Bassisten im Dekolleté der Frau steckt und er mit den Fingern an ihrer Brust herumspielt. So beiläufig, als handele es sich um einen Kugelschreiber.

Unwillkürlich tastet sie nach der Stelle, wo der Träger ihres BHs abgerissen ist, und wendet sich angewidert ab, da spürt sie eine Berührung. Die Hand des Schlagzeugers liegt auf ihrem Knie. Sie kann die Schwielen daran fühlen. Seine Finger streichen über ihre Kniescheibe, ohne von der Unterhaltung abzulassen.

Einen Moment lang lässt sie es geschehen, dann zieht sie ihr Bein weg. Der Schlagzeuger unterbricht sein Gespräch und sieht sie überrascht an. »Was ist los? Magst du mich nicht mehr?«

Sie hebt ihr Kinn und sieht ihm direkt in die Augen. »Wie heiße ich?«

»Was?« Er wirkt konsterniert.

Der Bassist steht auf und zieht die Augenfrau mit sich. »Komm, lassen wir die beiden mit ihren Problemen allein«. Er gibt seiner Auserwählten einen Klaps auf den Hintern, die daraufhin gekünstelt aufkiekst. Sie will offensichtlich so tun, als ob es ihr gefällt, aber sie ist eine schlechte Schauspielerin.

Der Schlagzeuger schaut ungläubig.

»Wie heiße ich?«, fragt sie noch einmal. »Wie ist mein Name?«

»Was ist denn plötzlich los mit dir?«, fragt er genervt.

»Du hast mich vorhin nach meinem Namen gefragt. Also?«

»Mann, Mädchen, sei doch nicht so unentspannt.«

Sie steht auf und stellt ihr Weinglas auf den Tisch. »Danke für den Wein, ich wünsch euch einen schönen Abend.« Sie wendet sich zum Gehen.

»Alara!«, ruft er so laut, dass auch der Bassist und die Augenfrau ihre Turtelei unterbrechen und interessiert herüberschauen. »Dein Name ist Alara.«

Alara dreht sich zu ihm um.

»Falsch geraten«, sagt sie mit so viel Festigkeit in der Stimme, wie sie aufbringen kann.

Der Schlagzeuger zieht nachdenklich die Stirn in Falten. »Echt nicht? Also ich hätte schwören können, dass du so heißt.« Er blickt sich suchend um. »Ach nein, entschuldige. Andrea. Du bist Andrea. Alara war jemand anders.«

Sie lächelt kalt. »Netter Versuch, aber lass mal. Vielleicht findest du deine Andrea ja noch.«

Der Bodyguard kommt mit ernstem Blick auf sie zu. »Ist bei euch alles in Ordnung?«

»Jaja«, sagt der Schlagzeuger, der nun nicht mehr nur genervt, sondern richtig wütend zu sein scheint. »Die Dame will gehen.«

Der Bodyguard mustert Alara. »Okay, Püppi, nach dir. Hier geht’s lang.«

Sie macht einen Schritt in die Richtung, die er ihr weist, als sie den Schlagzeuger noch etwas sagen hört.

Sie dreht sich um.

»Was war das?«

»Frigide Sau«, zischt er.

Verächtlich mustert sie ihn von oben bis unten. Das Koka und der Alkohol geben ihr die nötige Selbstsicherheit. Sie fängt an zu lachen.

»VERPISSDICHENDLICH, DUDRECKS-LESBE!«, schreit der Schlagzeuger.

Der Bodyguard schiebt sie unsanft aus dem Raum. »Auf geht’s. Ich hab noch was anderes zu tun.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwidert sie und erntet einen warnenden Blick.

Das Letzte, was sie aus dem Backstageraum hört, ist das Geräusch eines zerschellenden Glases.

MONTAG

1

»Na du süßes Stück, wie perfekt siehst du denn aus? Fast zu gut, um dich zu essen. Aber wir wissen beide, dass das dein Schicksal ist. Es wäre auch schade um deine weiche weiße Sahnefüllung. Auf die musst du doch ganz besonders stolz sein.« Zärtlich betrachtet Liane das Gebäck auf dem Küchentresen vor ihr. »Genauso stolz wie auf deine Schokoglasur, was?«

Ihr Zeigefinger nähert sich langsam dem braunen Überguss. Soll sie? Nur einmal kosten. Es wird niemand merken. Ihr Finger ist nur noch Millimeter entfernt. Sie ist wie hypnotisiert vom Anblick der süßen Verheißung.

Da hört sie Schritte die Treppe herunterkommen. Guido. Die Geräusche lösen Liane aus ihrer Starre, und sie fährt sich mit der Hand durch ihr halblanges, dunkles Haar.

»Guten Morgen, meine Koalita, gibst du mir die Lunchbox?«

Sie mag es, wenn er sie so nennt, und würde ihm gern mit einem Kuss antworten, aber sie will die Überraschung nicht verderben. Also bleibt Liane mit dem Rücken zu ihm stehen, um das Gebäck vor ihm zu verbergen.

»HALT! Nimm dir einen Kaffee und bleib da stehen!«, kommandiert sie über die linke Schulter hinweg, »und komm erst näher, wenn ich es dir sage!«

Sie ist extra eine halbe Stunde früher aufgestanden, um ihm eines von den Eclairs in der französischen Bäckerei zu kaufen, die er so liebt. Die Überraschung ist fürs Büro gedacht, und sie freut sich schon auf seinen Dankesanruf, der darauf folgen wird. Und Guido wird dankbar sein. Er wird diese süße Sünde lieben, die er sich mit Blick auf seine Figur nicht sehr oft gestattet. Ihr Mann gönnt sich sowieso zu wenig, findet Liane, und wenn es anders wäre, würde sie ihn hierfür auch nicht kritisieren. Es gibt an diesem Gesamtpaket Guido so gut wie gar nichts auszusetzen. Vielleicht liebt sie ihn nicht so, wie er es verdient hätte, aber sie bewundert ihn. Seine Disziplin und Umsicht, seine Werte. Sie sind ehrlich zueinander, und sie haben immer noch regelmäßig Sex. Welches Paar kann das nach fünfundzwanzig gemeinsamen Jahren von sich behaupten?

In ihren Augen ist Guido ein großartiger Mensch, und darum hat er sich hin und wieder ein Mehr an Aufmerksamkeit absolut verdient.

Mit einem Lächeln übergibt sie Guido die Lunchbox, nimmt ihm den Kaffeebecher aus der Hand und verabschiedet ihn wie jeden Morgen mit einem Kuss auf sein Kinn.

Sie geht nach oben und klopft an die Zimmertür ihrer Tochter.

»Was denn? Es ist noch mitten in der Nacht.«

Den genervten Tonfall kennt Liane und zuckt trotzdem zusammen.

Ihre Hand sucht die kleine Verletzung am Oberschenkel, die sie sich gestern auf der Arbeit an einer Buchseite zugezogen hat, wie auch immer ihr das gelungen ist. Sachte drückt sie darauf. Gern würde sie sich zu ihrer Tochter legen und gegenfragen: »Was ist denn mit dir, mein Schatz?« Aber diese Zeiten sind vorbei. Bei dem Gedanken drückt sie etwas fester auf die schmerzende Stelle. Sie weiß nicht, warum, aber es beruhigt sie.

Maila ist zweiundzwanzig Jahre alt. Eine Frau, kein Mädchen mehr und doch noch verhältnismäßig orientierungslos. Maila würde sie für diesen Gedanken sicher hassen. Liane bewundert ihre Tochter für die selbstbewusste Wildheit, die hedonistische Lebenseinstellung, früher mal war sie auch so.

Bis Maila kam.

Liane hat ihr Muttersein trotzdem nie bereut. Sie liebt ihre Tochter. Es ist eine pure, tiefe Liebe. Diese Liebe gibt ihr Halt.

Sie nimmt die Hand von ihrem Oberschenkel und ordnet ihre Gedanken.

»Ich muss jetzt los, lass uns heute Abend etwas zusammen machen, ja?«, ruft Liane durch die Tür. Sie wartet kurz, bevor sie »Ich küsse dich!« hinterherschiebt.

»Warte, Mum!«

Die Tür geht auf. Verschlafen und umso schöner steht Maila vor ihrer Mutter und gibt ihr einen Kuss auf den Mund, während sie die Arme um sie schlingt.

»Bis heute Abend, Mum. Ich hab eh keine Vorlesungen. Ich glaub, ich tanke mal ganz chillig Kraft zu Hause.«

Liane fährt wie meistens mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie atmet tief ein, trinkt förmlich die frische Luft des Frühsommers. Ihr ist, als würde jeder Vogel nur für sie singen.

Sie ist ein positiver Mensch, und sie weiß, warum. Sie braucht keine Überraschungen mehr im Leben, kein Risiko und erst recht kein Adrenalin. Davon hat sie mehr als genug gehabt, als sie mit ihrer Tochter schwanger wurde. Es waren komplizierte Zeiten damals, die sie einiges an Kraft gekostet haben. Da war sie so alt wie Maila heute.

Ihr Mobiltelefon vibriert. Liane stoppt ihr Rad an einer Ampel, obwohl die eben erst auf Grün gesprungen ist. Hinter ihr hupt ein Auto.

Sie dreht sich um. Am Steuer des teuer aussehenden SUVs gestikuliert wütend der genervte Fahrer. Sie schaut ihn herablassend an.

»VOMHUPENWIRDDEINPIMMELAUCHNICHTGRÖSSER, DUCRO-MAGNON-MENSCH!«, brüllt sie ihm zu. Ein älterer Mann auf dem Gehweg zuckt zusammen und erhöht merklich das Tempo seiner Schritte.

Liane wendet sich ihrem Telefon zu und liest seelenruhig die Nachricht.

Schätzchen, ich kann dir das Geld für das Boot erst nach unserem Trip geben. Is das okay? Timo hat mal wieder Geldsorgen. Mann ey, bin ich froh, wenn ich mal rauskomme. So was von keinen Bock auf Typen mehr. Huggies Selina

Die Ampel springt auf Grün, der SUV kurvt um sie herum und fährt mit quietschenden Reifen weg.

Liane beachtet ihn nicht weiter und denkt an ihre Freundin. Sie freut sich auf den gemeinsamen Bootstrip am Wochenende mit ihr und der toughen Frankie. Mit Selina ist sie schon ewig befreundet, war es schon lange vor Mailas Geburt, und sie hat sich nicht wirklich verändert in all den Jahren. Selinas Kraft kommt aus dem Chaos, denkt Liane. Und ist froh, dass es bei ihr selbst heute anders ist.

Na klar ist das okay. Ich kenn dich doch. Aber lass dich nicht mehr von Timo ausnehmen! Kisses, L.

Sie kommt wie immer zu früh. Liane liebt die kurze Zeit der Stille, bevor die ersten Kollegen eintrudeln und mit der umfangreichen Arbeit beginnen, die getan werden muss, bevor die Bibliothek öffnet.

Als sie nach ihrem Studium zur Bibliothekarin den Job annahm, fühlte es sich wie ein Heimkommen an, hier hatte sie so viele Stunden ihrer Kindheit verbracht. Damals war es eine wenig frequentierte Kleinstadtbibliothek gewesen, die sie erst einmal auf Vordermann hatte bringen müssen – sowohl das Programm als auch die Räumlichkeiten. Zu ihrem Glück war ihr Chef sehr offen für ihre Vorschläge, und so entstand unter ihrer Anleitung ein Ort der Kommunikation, zu dem die Leute wieder gerne kommen. Ob eine bessere, lesegerechte Beleuchtung, genügend Sitzgelegenheiten oder die in freundlichem Pfirsichton gestrichenen Wände – das alles geht auf ihr Konto. Auch die Kaffeestube im Eingangsbereich, das Café Ankommen, ist ihr zu verdanken.

Besonders aber liebt sie ihren Job wegen der Menschen, den Nutzerinnen und Nutzern der Bibliothek. Eine Klientel, die so bunt wie interessant ist. Alte Leute, die etwas Gesellschaft suchen, treffen hier auf die ein, zwei Obdachlosen der Gegend, von denen der eine allerdings regelmäßig über seinem Buch einschläft, Studenten und Jugendliche, die zu Hause nicht die nötige Ruhe zum Lesen haben, und Geflüchtete aus dem nahe gelegenen Containerdorf, die hier Platz zum Lernen finden. Jeder Tag ist anders, herausfordernd und spannend.

Bevor sie ihren Arbeitstag beginnt, gönnt sich Liane wie immer ein kleines Ritual. Einen Milchkaffee in der Teeküche. Den Nachrichten im Radio zuhören, während die warme Flüssigkeit langsam Koffein in ihren Kreislauf spült. Schön zu wissen, was kommt.

Die Anschaffung des Radios hat sie einige Überredungskunst gekostet. Derart geräuschvolle Medien sind selbst in den Büroräumen einer Bibliothek eigentlich ein No-Go, aber nachdem sie auch die IT-Abteilung zum Laufen gebracht hatte, konnte ihr Chef es ihr nicht abschlagen.

Der Kaffeevollautomat ist gut, wenn nicht perfekt eingestellt. Sie hat vor Kurzem ihre Kollegen dazu gebracht, Hafer- statt Kuhmilch zu akzeptieren, was die Zubereitung eines Milchkaffees, wie Liane ihn liebt, ohne das lästige Schlauchwechseln und Durchspülen der organischen Reste, deutlich beschleunigt. Wer auf Kuhmilch besteht, kann ja ins Ankommen gehen.

Sie hält die bauchige Tasse mit beiden Händen. Die Küche ist leer, das Radio läuft.

Life is good.

Die Signalmelodie der halbstündlichen Nachrichten holt sie aus ihren Gedanken.

»Es ist acht Uhr dreißig. Hier ist Radio Crash mit dem Nachrichtenüberblick. Ausdiskutiert: Zoff in der Koalition wegen geplanter Grundgesetzreform, die Opposition erhebt derweil schwere Vorwürfe. – Ausgezockt: Eine weitere Hamburger Privatbank meldet Insolvenz an. – Ausgerockt: Ambivalente Äußerungen des Sängers der Rockband nbl/nbl, Maler Meister, haben einen massiven Shitstorm in den sozialen Medien ausgelöst. Die umstrittene Band befindet sich derzeit auf ihrer Wunder-Wear-Tour und wird kommendes Wochenende ganze drei Shows im Hockeystadion von Sasenheim spielen, die alle bereits ausverkauft sind.«

In Lianes Schläfen beginnt es unangenehm zu pochen. Sie schließt die Augen und reibt die Stelle, bis das Pochen nachlässt.

»Verdammt noch mal«, entfährt es ihr leise. Sie öffnet die Augen, lässt einen Stoßseufzer los, geht zum Radio hinüber und schaltet es aus. »Einmal ein Arschloch, immer ein Arschloch, was, Emil?«

Für einen Augenblick lauscht sie nachdenklich in die Stille. Dann nimmt Liane den letzten Schluck Kaffee und zwingt sich zu einem Lächeln.

2

Jetzt wird sich zeigen, ob sein Lieferant so gut ist, wie er immer von sich behauptet. Bassey hatte zwar bereits frühzeitig seine Tourvorräte an Medikamenten aufgefüllt, aber dass die Ware so reißenden Absatz finden würde, dass er bereits nach vier Shows nachordern muss, damit hat er nicht wirklich gerechnet.

Die Tournee ist so gut wie ausverkauft, da kann die Band schon mal steiler gehen als sowieso schon.

Bassey öffnet den Spind in der Umkleide des kleinen Fitnessstudios, in dem er gerade sein Training beendet hat. Wer weiß, was für Workout-Möglichkeiten er in Sasenheim haben wird?

Sein Telefon vibriert.

Eine Nachricht von Krass.

Hey Bassey, ready für heavy Anal-Action?

Der Security schüttelt grinsend den Kopf und schreibt nur ein Wort ins Antwortfeld:

Immer.

Krass ist vielleicht der Durchgeknallteste der Band. Er hängt gern mit ihm und den anderen Security-Leuten rum. Stets loyal und leicht zu händeln, auch wenn sein Licht nicht unbedingt am hellsten strahlt. In Basseys Augen einfach ein feiner Kerl. Wenn es um Band-Angelegenheiten geht, ist Krass allerdings der Falsche. Da ist Fox die bessere Adresse. Den Gitarristen muss man zwar mit Vorsicht genießen, aber als inoffizieller Bandchef kann der sich schon ein paar Launen leisten.

Bassey zieht sich an und verstaut seine nassen Trainingsklamotten in der schwarzen Sporttasche, da brummt sein Telefon. Eine Datei von Krass, ein Video.

Bassey öffnet es. Erst kann er kaum etwas erkennen, das Bild ist sehr dunkel. Er hört einen Mann stöhnen. Will Krass ihn mit einem Homovideo schocken? Ist der vielleicht an eine private Videoaufnahme von Petar gekommen?

Bassey zögert. Will er sich das wirklich antun? Die Neugier siegt.

Er kneift die Augen zusammen und kann erst nur undeutlich Bewegungen erkennen. Dann wird es kurz scharf. Es ist die sehr nahe Aufnahme einer analen Penetration. Bassey schaltet den Film sofort aus. Er ekelt sich vor anderen männlichen Geschlechtsteilen.

Du machst deinem Namen alle Ehre, Krass

textet er zurück.

So was können Bassey gegenüber nur Leute ungestraft bringen, die ihn bezahlen.

Haha, geil, oder? Bis Mittwoch, Alter

antwortet Krass.

Bassey will das Video löschen, als eine weitere Nachricht eintrifft. Sein Lieferant. Er liest den Text und grinst zufrieden. Die Ware wird morgen schon im Hotel in Sasenheim eintreffen. Für die drei großen Open Airs am Wochenende just in time.

Ein Grund mehr für ihn, sich jetzt schon, nach nur einem freien Tag, den er in Berlin allein vor dem Fernseher verbracht hat, auf den Weg nach Sasenheim zu machen. Es ist nichts dagegen zu sagen, auf Bandkosten schon ein paar Tage früher in einem Luxushotel abzuhängen, bevor der Trubel losgeht. Außerdem: Je früher er am Venue ist, desto mehr Arbeitsstunden kann er abrechnen. Die Gründe für seine frühere Anreise muss er der Tourleitung noch vermitteln, aber das sollte kein Problem sein. Der Aufbau hat bereits begonnen, und es gibt im Vorfeld auch für ihn bestimmt genug zu tun. Er ist für die Gitter-Situation am Einlass und vor der Bühne und für die Wellenbrecher verantwortlich.

Bassey verlässt das Studio und geht nach draußen. In Gedanken schon bei den kommenden Tagen. Am Mittwoch werden alle Musiker für das Bandmeeting eintrudeln. Diese drei Konzerte in Sasenheim sind ihre größten auf dieser Tour. Die einzigen Open-Air-Gigs. Das Licht wird völlig anders sein, die Band will ein längeres Programm spielen, und es wird noch diesen Special-Effekt geben, bei dem Maler aus der Traverse fallen soll. Eigentlich hat die Band nur den Donnerstag und den halben Freitag für ihre Proben, was Basseys Meinung nach schon ziemlich knapp ist. Ihm soll’s recht sein. Wenn die Band kommt, ist er am Start, was auch für seine Mittelchen gilt.

Krass ist während dieser Tour bisher sein Hauptabnehmer, obwohl der sonst nur Alkohol konsumiert und harte Drogen ablehnt. Aber die anderen sind auch meist nicht abgeneigt. Bassey muss nur den richtigen Moment abpassen, wann er wem etwas anbietet. Ein bisschen Psychologie gehört dazu. Das ist in seinem Beruf als Personenschützer genauso nützlich wie als Betreuer ihrer speziellen Wünsche. Wünsche, die ihnen Miriam nicht erfüllen kann, nicht erfüllen darf und sicher auch nicht erfüllen will.

Es gibt Bereiche im Tourleben, zu denen hat selbst die Tourmanagerin keinen Zugang. Die Frauen, die er dorthin lässt, sprechen nur, wenn sie etwas gefragt werden.

Die Selektion ist Basseys Aufgabe. Auf ihn ist Verlass. In jeglicher Hinsicht. Er passt auf seine Jungs auf, schließlich ist er ihr Bruder und bei den Die-Hard-Fans fast genauso bekannt wie die Band selbst.

Und ähnlich beliebt. Er hat seine eigene Gästeliste in fast jeder Stadt der Tour. Die Band vertraut ihm. Mit Miriam kommt er meistens klar, und innerhalb der Crew gibt es auch ein paar Leute, die ihn mögen. Aber längst nicht alle. Das war am Anfang mal anders, als er sich als Teil der Roadcrew begriff und mit ihnen im Nightliner unterwegs war.

Dass er jetzt im Tourbus der Band von Gig zu Gig fährt, weckt bei nicht wenigen Begehrlichkeiten. Gerade bei den Backlinern, die sich um die Instrumente kümmern und gefühlt immer am dichtesten an den Musikern dran sind. Schwenni zum Beispiel, der Gitarrentechniker, und dieser fette Drumroadie, den aus offensichtlichen Gründen alle Mampffred nennen.

Selbst seiner Secu-Crew ist nicht immer zu trauen. Sie sind zwar handverlesen, aber der Job ist hart umkämpft. Jeder Türsteher träumt von einer gut bezahlten Stelle bei einer erfolgreichen Rockband. Fans abwimmeln, Autogrammstunden überwachen, immer ein Auge auf die Musiker haben, die sich aber eh meistens in abgeschirmten Backstagebereichen oder Hotels aufhalten. Überschaubare Arbeit, die auch noch – je nach Erfolg seiner Arbeitgeber – sehr gut bezahlt ist. Und im direkten Umfeld der Band multipliziert sich alles noch einmal. Mehr Geld, mehr Komfort und jede Menge Frauen, die zu allerlei Gefälligkeiten bereit sind, um in das Umfeld der Stars vorzudringen. Deshalb fallen sich viele der Kollegen gegenseitig in den Rücken, wenn sie eine Möglichkeit wittern, in der Hierarchie ein paar Plätze gutzumachen.

Doch Bassey sitzt als Chef-Security fest im Sattel.

Seit vier Jahren ist er jetzt dabei und verdient sich mit dem Verticken seiner verschreibungspflichtigen Ware noch was dazu. Als Dealer versteht er sich aber nicht. Die zwei, drei Pusher, die regelmäßig auf der Tour auftauchen, sind für den illegalen Scheiß zuständig. Meist Freunde von Hüsker, dem Bassisten, der überall Connections zu haben scheint. Diskret und zuverlässig zwar, aber eben auch beschissene Kriminelle. Bassey sieht professionell weg. Als Kraftsportler nimmt er keine Drogen. Dreimal im Jahr ein Bier allerhöchstens, und nur wenn eine Hochzeit oder ein runder Geburtstag ansteht.

Ein bisschen Stangenstärke hat noch keinem geschadet, nicht nur die Band hat einen Ruf zu verlieren. Auch die, die, wie Bassey, nehmen, was übrig bleibt.

Und sein Epo-Kontakt kann gleich eine ganze Auswahl verschiedener Potenzmittel besorgen. Cialis, Levitra, auch die teureren Sildenafil, Tadalafil, Vardenafil, Avanafil, was der Markt so hergibt. Und aktuell ist noch etwas Besonderes in der Auslage: Rohypnol, dieses krasse Schlafmittel, auf das Junkies so abfahren.

Bassey ist bei Beruhigungsmitteln zwar eher vorsichtig, aber die Musiker nehmen hier und da welche, wenn sie mal richtig runterkommen müssen.

Die Pillen wirken bei Bedarf auch bei den Ladys auf den After-Show-Partys.

Zum Lockermachen.

Zufrieden schließt Bassey sein Rennrad auf, schultert die Sporttasche und fährt pfeifend los.

3

Maila liegt auf ihrem Bett und wartet, bis ihre Mutter das Haus verlässt. Kein Motorengeräusch. Leises Knacken auf dem Kies vor dem Haus. Sie hat das Fahrrad genommen. Perfekt. Dann hat Maila den Toyota für sich, falls sie ihn braucht. Ihr Vater würde ihr nie seinen Wagen geben.

Sie checkt Twitter, ihre Insta-Story und TikTok-News, dann steht sie auf und will gerade ins Bad gehen, als ihr Telefon vibriert.

»AAAAAAAAALTER! DU. WIRST. MICH. LIIIIEEBEN!«, Oksana hustet und schnappt nach Luft. »Halt dich fest, wir sind für Samstag nicht nur VIP, oh no, Baby, wir haben AFTER-SHOW-PÄSSE!«

Oksanas ekstatische Freude überträgt sich sofort auf Maila.

»Weißt, was das heißt, Girl? All Areas!!! ALLES-UND-ÜBER-ALL!«

Maila klappt der Kiefer auf. »Echt jetzt? Sag, dass du mich verarschst! Scheiße, das ist wirklich endgeil!!! Oxy, du bist die Queen!!«

Maila lacht laut auf. Am kommenden Wochenende gibt es nur einen Ort, an dem alle sein wollen. Sie geht zwar kaum noch aus, weil all die ewig gleichen Langweiler sie nerven, aber das am Samstag verspricht anders zu sein. Dank Oxys Kontakten werden sie an der Schlange vorbei ins Allerheiligste vorgelassen. Allein das wird sich schon richtig gut anfühlen.

»Wir schauen vorher das Konzert von der VIP-Tribüne, und dann werden wir so eskalieren, Mann! Das wird so hammerkrass! Okay, ich muss Schluss machen, wir fonen später!«

»Ich liebe di…«

Oksana hat schon aufgelegt.

Die abrupte Stille verstärkt Mailas Aufregung. Sie glaubt ihr Herz schlagen zu hören. Verwirrt schaut sie auf ihr Smartphone. Sie braucht einen Moment, um sich daran zu erinnern, was sie ursprünglich im Bad vorhatte.

Duschen und Zähne putzen natürlich. Und Musik hören.

Sie koppelt ihr Telefon mit der Bluetoothbox auf dem Waschtisch.

Ihr ist plötzlich nach einem heißen Bad. Sie will sich gut fühlen.

Maila dreht die Wasserhähne auf, gießt etwas von dem Duftbad in die Wanne, holt das Badesalz aus der Schublade und schüttet es ins Wasser. Dann wirbelt sie in einer tänzerischen Drehung herum und kracht mit dem Knie gegen die offene Schublade.

»AUA … SCHEISSE!«

Sie atmet ein. Sie atmet aus.

Wimmernd betrachtet sie sich im Spiegel, während langsam der Schmerz nachlässt.

Was sie sieht, gefällt ihr. Einigermaßen.

Maila zieht ihre Unterhose aus, behält ihr T-Shirt aber noch an.

Das Surren der elektrischen Zahnbürste lullt sie ein. Ihr Blick wandert auf das untere Ende ihres Shirts. Die gerade Linie des Saums an ihren gebräunten Oberschenkeln.

Sie stellt sich vor, so unter die Leute zu gehen. Keiner weiß, dass sie unter dem Shirt keinen Slip trägt.

Plötzlich registriert sie, dass sie seit einer halben Ewigkeit dieselbe Stelle putzt.

Die Wanne ist außerdem fast voll, aber sie hat immer noch keine Musik ausgesucht.

Maila schlüpft aus ihrem Shirt und tippt nbl/nbl in die App. Sie wählt das aktuelle Album, weil sie nichts außer ein paar Radiosingles kennt, und drückt auf Play.

In der Wanne holt sie tief Luft und taucht erst einmal ab. Die sie umschließende Hitze beruhigt sie. Durch die Stille unter Wasser mulmt das Song-Intro. Vielleicht ein Synthesizer? Unvermittelt bricht ein lauter dumpfer Schwall los, der ihr in den wassergefüllten Ohren wie Baulärm vorkommt.

Maila taucht auf, als der Lärm einem fluffigen Beat weicht. Gesang setzt ein. Die Stimme ist bassig, männlich, wirkt aber auch sensibel.

Du lässt mich warten, mich verzehren und wirst doch gar nichts mir verwehren.

Obwohl die Worte für sie nicht viel Sinn ergeben, berührt sie etwas am Klang der Stimme. Sie schiebt es auf die Aufregung wegen Samstag.

Auch der zweite Song gefällt ihr.

Maila lacht und pustet Badeschaum in die Luft.

»Kann man machen!«

Sie hört das Album bis zum Ende, dann steigt sie aus der Wanne. Sie sieht an sich herunter und entdeckt etwas Blut an ihrer Oberschenkelinnenseite. Sie holt einen Tampon aus dem Badezimmerschrank und reißt die Schutzfolie auf, die sie achtlos auf den Boden fallen lässt.

Wenigstens sind ihre Tage am Samstag vorbei, denkt sie. Dann findet sie den Gedanken unfeministisch und schüttelt den Kopf über sich selbst.

»Ich hab sie doch nicht mehr alle.«

4

Ein Liebesknochen?«

Guido betrachtet amüsiert die Überraschung in seiner Lunchbox. Liane gibt sich wirklich Mühe. Er macht um solche Kalorienbomben normalerweise einen Bogen, das weiß seine Frau natürlich.

Liane verzichtet außerdem seit ein paar Jahren fast gänzlich auf tierische Produkte, was auch seiner Figur zugutekommt, obwohl herzhafte Hausmannskost mehr sein Fall ist. Aber ihm gefallen Lianes Komplimente über seinen sportlichen Körper, den er mit den Jahren immer verbissener verteidigen muss.

Mit Anfang fünfzig verbrennen die Kalorien nicht mehr wie früher, das ist Fakt, und er übt sich lieber in Verzicht, als fett zu werden.

Trotzdem schön, wenn seine Frau ihn zu einem Ausrutscher ermutigt.

Guido legt sich ein paar Worte zurecht, mit denen er sich später bedanken wird.

Bevor die ersten Lieferanten eintreffen, will er noch ein paar Medikamentenbestellungen durchsehen und Rezepte kontrollieren. Dann wird er Liane anrufen und vielleicht sogar ein bisschen sündigen, wenn ihm nach etwas Süßem sein sollte.

Er muss an Maila denken. In letzter Zeit hat er einen wirklich guten Draht zu seiner Tochter. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Maila seit einer Weile etwas offener für Rockmusik zeigt und nicht nur dieses elektronische Gedudel hört, auf das Leute ihres Alters heutzutage so abfahren. Als Rockfan der alten Schule konnte er schon mit ein, zwei Tipps bei ihr punkten. Es läuft echt gut mit ihr, denkt er zufrieden.

Guido schaut zwischen zwei Bestellungen auf und wirft einen Blick durch die Glastür seines Büros.

Irissa, die Auszubildende in ihrem letzten Lehrjahr, hebt in diesem Moment ihren Kopf. Ihre Blicke treffen sich.

Sie zeigt auf den Aktenberg vor Guido und macht ein gespielt besorgtes Gesicht.

Er schüttelt grinsend den Kopf und zeigt ihr zwei Daumen rauf. Irissa lächelt und winkt freundlich. Sein Blick bleibt noch an ihr hängen, als sie schon wieder in ihre Unterlagen vertieft ist.

Er wird sie definitiv übernehmen. Ihre Art gefällt ihm, und ihr scheint es in der Firma auch zu gefallen. Sie ist zwar etwas jünger als Maila, aber viel erwachsener als seine Tochter. Eine Frau, die weiß, wo der Frosch die Locken hat.

Irissa hat ordentlich Schwung in seine Online-Apotheke gebracht. Ihre Jugendlichkeit und offene Art verzaubern jeden hier. Einige der männlichen Mitarbeiter versuchen ganz offen mit ihr zu flirten. Es ist ihnen nicht zu verdenken. Irissa ist hübsch und hat eine Premiumfigur. Sie stylt sich nicht betont sexy, aber ihre Pullover sind eng genug. Aber Guido war bei ein, zwei Gelegenheiten Zeuge davon, wie selbstbewusst sie die Männer auf Abstand hält, das gefällt ihm.

Ihm gegenüber benimmt sie sich anders.

Er ist der Chef, und natürlich ist sie freundlich zu ihm. Aber sie scheint sich in seiner Nähe auch wohlzufühlen, das spürt er. Guido wird sie als Anerkennung für ihre bestandene Ausbildung zum Essen einladen. An diesem Wochenende noch. Maila will ausgehen, und Liane ist mit ihren Freundinnen auf der Müritz unterwegs.

Er reißt sich von Irissa los und wendet sich wieder den Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu. Als sein Blick auf das Eclair fällt, zieht er seine Stirn in Falten.

Guido nimmt das kalorienhaltige Backwerk, geht in die Büroküche und wirft es in den Biomüll.

Es fällt mit einem leisen Plopp auf einen Berg Kaffeereste.

»Du bist keine Gefahr mehr für mich.«

Auf dem Rückweg zu seinem Büro macht er einen Schlenker zu dem kleinen Eckschreibtisch, an dem Irissa sitzt. Er nähert sich unbemerkt von hinten.

Guido legt seine Hand auf ihren Rücken, genau an die Stelle, an der sich der Verschluss ihres BHs befindet.

»Irissa, ist alles gut bei Ihnen?«

Sie schreckt hoch, setzt aber sofort ein Lächeln auf, als sie erkennt, wer sie anspricht. »Ja, ich bin gleich fertig, dann mach ich Pause, wenn es recht ist.«

Guido spürt ihre Wärme an seiner Hand. Ihr Rücken fühlt sich fest und muskulös an. »Na klar. Ich hab auch noch nichts gegessen heute. Wissen Sie was? Ich bearbeite noch zwei Aufträge, dann machen wir die Pause zusammen. Ist das ein Vorschlag?«

Irissa lächelt immer noch, aber er meint einen Funken Unsicherheit über ihr Gesicht huschen zu sehen. Es kommt ja nicht alle Tage vor, dass der Chef mit einem die Mittagspause verbringen will, denkt er. Guido findet ihre Unsicherheit süß.

Sie nickt.

»Also bis gleich. Freut mich.«

Guido nimmt langsam die Hand von ihrem Rücken, richtet sich auf und geht in sein Büro. Sein Gang ist leicht und federnd, aber das bildet er sich vielleicht auch nur ein.

Heute ist ein guter Tag. Liane wird er später anrufen. Die Idee mit dem Liebesknochen war lieb von ihr.

Es ist ein gutes Gefühl, wenn eine Frau sich um ihren Mann bemüht.

5

Miriam wollte die kurze Tourpause nutzen, um liegen gebliebene Mails zu beantworten und sich in das neue Abrechnungssystem einzuarbeiten. Deswegen ist sie nicht nach Hause gefahren, sondern hat sich schon in das Hotel eingebucht, in dem die Band erst ab Mittwoch untergebracht sein wird. Die Musiker sind privat in Berlin, die Crew baut in Sasenheim schon die Bühne auf. Vielleicht kann sie zwischendurch den Spa-Bereich nutzen und etwas ausspannen. Ihre Familie wird die paar Tage mehr auch ohne sie auskommen.

Miriam spricht gerade am Telefon mit ihrem Sohn Levin, als sie die erste Textnachricht erreicht. Während Levin ihr von seinem Fußballturnier am Wochenende erzählt, überfliegt sie den Text ihres Assistenten Eugen.

Mira, da braut sich was zusammen. Check mal SM, wenn du ’ne Minute hast.

»Und dann hat mein Tor nicht gezählt, weil ich angeblich im Abseits war, Mami. Wenn ich nicht doch noch eins geschossen hätte, wär ich jetzt voll sauer.«

»Das ist doch super, mein Schatz …«

Wieder das leise Ping einer neuen Nachricht. Wieder ist sie von Eugen.

Warst du schon auf Social Media heute? Maler hat sich einen ziemlichen Klops geleistet. Die UserInnen drehen komplett frei. Ruf an, wenn du kannst!

Miriam versucht ihr Gespräch zu beenden. »Mami muss jetzt wieder arbeiten, hörst du? Ich ruf euch heute Abend wieder an.«

Ping.

Die kommt von Kloot, nbl/nbls Manager. Es muss etwas Ernstes sein.

»Oooohkeee, aber nicht so spät, Mami? Wegen Schule morgen!«

Miriam wird warm ums Herz. »Da soll Papa erst mal gucken, ob du morgen schon wieder in die Schule kannst mit der Schniefnase. Jetzt muss ich aber wieder arbeiten …«

Ping.

»… ich hab dich sehr lieb und bin seeeehr stolz auf dein Tor!«

»Wie kann man auf ein Tor stolz sein, Mami? …«

Ping.

»… höchstens darauf, dass ich eins geschossen habe.«

»Ja, das meine ich doch. Mami muss jetzt Schluss machen. Bis später, Schnuffi.«

Sie wartet noch, bis Levin aufgelegt hat.

Mit einem erneuten Ping ihres Telefons erscheint eine weitere Nachricht von Eugen.

Meister ist jetzt hier. Wir haben seine Garderobe schon mal notdürftig hergerichtet.

Etwas ist vorgefallen zwischen dem Köln-Gig am Samstag und heute. Etwas, das mit der Band zu tun hat, und Maler ist Grund für die Aufregung.

Miriam öffnet auf ihrem Telefon den Instagram-Account von nbl/nbl.

Der Insta-DM-Ordner der Band quillt über. Sie überfliegt die ersten Posts.

Maler du bist Abschaum…malermeister-official, was zum Teufel soll das? Erklär dich JETZT!Ich wünsche euch, dass man euch auch ins Gesicht schießt!Wir verlangen eine sofortige Erklärung dieser unsäglichen Aussagen, nblnbl_official!

Miriam öffnet den Threads-Account der Band. Hier trenden Maler Meister und nbl/nbl bereits auf Platz zwei, direkt nach der geplanten Grundgesetzreform der Bundesregierung.

Mit TikTok kennt sie sich nicht aus, aber Miriam hat erst einmal genug gesehen.

Sie überfliegt die fünfzehn ungelesenen Textnachrichten. In zweien ist ein Link zu einem YouTube-Video.

Unter dem Video steht: »Zugedröhnter Maler Meister, menschenverachtendes Weltbild.«

Sie sieht eine Szene vor einer beleuchteten Tür, im Hintergrund sind Lichter und laufende Bildschirme zu erkennen. Eine Galerie in Berlin. Meister steht vor dem Gebäude. Eine blonde Reporterin hält dem Sänger ein Mikrofon vor die Nase.

»Maler, Sie kommen grad aus dieser höchstumstrittenen Ausstellung. Vor der Tür wird gegen menschenverachtende Kunst demonstriert. Akte der Sodomie, Nekrophilie und auch die reale Tötung zweier Männer sollen zu sehen sein. Warum schauen Sie sich so etwas an? Fällt das für Sie unter Kunstfreiheit?«

Meister sieht die Reporterin aus rot umränderten Augen durchdringend an. Er hat wie immer ein Glas mit Weißwein in der Hand. Offensichtlich ist er nicht nüchtern. Miriam ahnt, dass mehr als nur Alkohol im Spiel ist.

»Zuerst einmal muss Kunst alles dürfen. Wenn wir immer nur wegschauen, erkennen wir nichts mehr. Es geht um Relevanz, verstehen Sie?«

Er leckt sich seine trockenen Lippen. Miriam vermutet, die Reporterin gefällt ihm. Lächelnd fährt er fort.

»Abgesehen davon: Wer so etwas nicht erträgt, muss es sich ja nicht ansehen. Es gibt auf der Welt hundertmal Schlimmeres. Auf unseren Backstage-Partys ist auch nicht immer Disney … Fleisch ist vergänglich, meine Liebe, erst die Lust macht es unsterblich. Heute hatte ich nur Lust zu gaffen, aber meist will ich mehr, Madame. Das Fleisch muss nur jung genug sein. Und dann geb’ ich ihm die Angst. Die Angst vor dem, was kommt …«

Der Sänger wischt sich den Mund ab. Er hat scheinbar den Faden verloren, findet dann aber doch wieder zurück.

»… Angst und Lust sind die stärksten Emotionen, schöne Frau …«

Schöne Frau also? Ach Maler, denkt Miriam.

»… davon will ich andauernd kosten. Dafür lebe ich.«

Der Clip endet abrupt.

Nun gut, das ist typischer Maler-Schocksprech. Dafür ist er berüchtigt. Klug ist das natürlich nicht. Nicht in diesen Zeiten, wo immer und überall Kameras bereitstehen, um neuen Empörungsfeed für die sozialen Medien zu generieren. Alkohol und Drogen sind schlechte Ratgeber.

Trotzdem. Da werden sie gemeinsam herauskommen. Rockstars haben schon schlimmere Dinge gesagt. Und getan.

Es gibt noch einen zweiten Link zu YouTube.

Die Unterschrift lautet: »Schockkunst: Schwer erträgliche Vernissage in Berlin – unter den Gästen Maler Meister.«

Zu den Klängen elektronischer Musik ist eine Kamerafahrt durch die Ausstellungsräume zu sehen. Allzu viel ist nicht zu erkennen. Vieles ist verpixelt. Nach zwanzig Sekunden ist Miriam klar, dass das hier großen Ärger bedeutet. Sie kann nackte Menschen erkennen, die sich an Tieren vergehen, offensichtlich Tote, an denen herumgespielt wird, und zwei Männer, die sich mit Pistolen bedrohen. Ein ohrenbetäubender Lärm und gleißend weißes Licht. Anscheinend haben sie abgedrückt. Eine der Pistolen war offenbar mit Leuchtspurmunition geladen.

Als sie einen der Männer mit verdrehten Augen, ein glühendes Feuer unter seinem Kinn, am Boden sitzen sieht, wird Miriam schwindelig. Sie klappt den Laptop zu. In ihrer Vorstellung glaubt sie, in das Innere des verbrannten Halses gesehen zu haben.

Hey Kloot, ich hab mir grad ein Bild der Lage gemacht. Das ist wahrscheinlich alles halb so schlimm. Ich fahre zum Venue und treffe Maler. Mach dir keine Sorgen. Ich melde mich, wenn ich da bin. M.

Miriam wird auch dafür bezahlt, nicht die Nerven zu verlieren.

Sie lässt sich ein Taxi rufen, weil der Veranstalter erst ab Mittwoch Shuttle-Fahrer stellt. Dann erkundigt sie sich nach der Verfügbarkeit von Malers Suite, damit er schon früher einchecken kann, und beauftragt per SMS ihren Assistenten Eugen damit, den Sänger von seinem Telefon fernzuhalten. Sie schaut sich zur Beruhigung Bilder ihrer Kinder an. Levin, der fast auf allen Bildern ein Fußballtrikot trägt, und Wanda, ihre ältere Tochter.

Auf einem Bild hat Wanda versucht, sich wie eine amerikanische Popsängerin zurechtzumachen. Geschminkt und mit viel Schmuck posiert sie auf dem Foto und sieht nicht mehr wie eine Zwölfjährige aus. Die Augen halb geschlossen, die Lippen geschürzt. Unter der weit geöffneten Bluse kann Miriam sogar den noch knappen Brustansatz erkennen. Ungewollt denkt sie an die Frauen, die sie so oft backstage beobachtet hat, und muss schlucken.

»Wie schlimm ist es?«, fragt Miriam, als sie Eugen in ihrem Tour-Office in den Räumen des Hockeystadions trifft. Das Büro wurde provisorisch für sie eingerichtet, und Eugen hat ihr einen bunten Blumenstrauß auf den Schreibtisch gestellt, was den kleinen, schmucklosen Raum aber nicht wirklich wohnlicher macht.

»Meister scheint nicht viel mitbekommen zu haben. Im Moment wirkt er sehr mellow und übernächtigt. Er hat sich auch gar nicht gewehrt, als ich mir sein Telefon ausgeborgt habe.«

»Okay! Gib mir eine Zigarette und ein Feuerzeug! Du rufst die Kern-Crew zusammen. In einer halben Stunde werde ich eine Ansprache an sie halten. Jetzt geh ich erst mal zu Maler und checke, in welchem Zustand er ist. Der Rest der Band kommt wie geplant am Mittwoch, ja?«

Eugen reicht ihr eine vorbereitete Schachtel, in der eine Zigarette plus Feuerzeug steckt. Miriam überprüft das Warnbild darauf. Ein Kind mit einer Zigarette im Mund. Sie nickt anerkennend.

»Mittwoch, wie gehabt. Fox will allerdings schon sehr früh hier sein an dem Tag, um noch irgendwas zu besprechen. Du weißt ja, wie er ist.«

Ja, das weiß sie.

»Abends ist ein Zoom-Meeting im Hotel anberaumt. Ich habe einen Raum dafür reserviert. Wir sind nicht eingeladen. Ach, und Bassey hat sich für heute angekündigt. Es gäbe noch was mit den Gittern zu regeln, dafür wird er keine Zeit haben, wenn die Band erst mal da ist. Für das Hotel ist das kein Problem, habe ich schon abgeklärt«, beendet Eugen seinen Lagebericht.

Miriam nickt und lächelt ihn an.

»Danke für die Blumen, sie sehen sehr schön aus auf dem Schreibtisch.«

Miriam klopft sanft an Malers Garderobentür. Nach einem fast unhörbaren »Ja?« betritt sie den Raum.

Maler liegt auf dem für ihn bereitgestellten Sofa in der erst halb eingerichteten Garderobe. Er hat seine weißen Stiefeletten ordentlich davor abgestellt.

Miriam beruhigt dieses kleine Detail sofort. Sie findet es süß. Und auch sonst sieht er nicht so schlimm aus, wie sie befürchtet hat.

Er wirkt zwar unausgeschlafen, aber sein dichtes Haar ist gekämmt. Seine Hose und sein Hemd sind sauber und kaum zerknittert. Die Socken muss er am Morgen frisch angezogen haben. Nur die Schatten unter den Augen zeugen von einem ausschweifenden Wochenende. Sie legt ihm die Zigarettenschachtel hin.

»Maler, ich weiß nicht, wie viel du mitgekriegt hast, aber da is ’ne Menge Wirbel entstanden wegen dem, was du gestern auf der Vernissage gesagt hast.«

Maler setzt sich langsam auf und überprüft die Schachtel, bevor er die Zigarette entnimmt und sie sich anzündet, dann greift er nach einer offenen Flasche Weißwein und gießt etwas davon in zwei Gläser. Er hält Miriam eines davon hin und lächelt sie verschmitzt an, während er den Rauch in seine Lunge zieht.

Miriam trinkt so gut wie nie Alkohol, und es ist erst halb eins. Aber sie muss jetzt behutsam vorgehen. Also nimmt sie das Glas und bedankt sich mit einem Augenzwinkern.

Seine entspannte Stimmung überträgt sich sofort auf sie.

Mit dem Glas in der Hand setzt sie sich auf den Sessel ihm gegenüber. Maler prostet ihr zu.

Miriam hat schon für viele männliche Rockstars gearbeitet und ist dabei auch nicht selten angegraben worden. Wäre sie für so etwas empfänglich, würde sie im falschen Job arbeiten. Aber Malers Charme hat etwas Besonderes. Sie kann nicht leugnen, dass er ihr ein wenig gefällt.

»Ach, was soll’s. Prost, du Provokateur.«

»Prost, meine Schöne.«

Ihr fällt sofort wieder das Interview ein. Ach Maler,du Charmeur, denkt sie wieder.

Der Wein ist gut. Sie wird für ein paar Minuten ein kleines bisschen beschwipst sein, aber dieser Moment mit Maler ist jetzt wichtig.

Ihr Telefon vibriert. Sie liest Eugens Nachricht.

Miriam, wir haben eine Situation.

Sofort spürt sie einen Klumpen im Magen. Eugen hat nicht die Angewohnheit, unnötig in Panik zu geraten. Sie stellt ihr Glas auf dem Boden ab und steht auf.

»Maler, ich hab noch ein paar Sachen im Büro zu erledigen. Ich habe im Hotel deine Suite schon ab heute gebucht. Die brauchen allerdings noch ein, zwei Stunden für das Zimmer. Willst du etwas essen vorher? Ich kann dir was machen lassen. Spaghetti aglio e olio as always?«

Maler antwortet mit einem breiten Lächeln.

»Wird erledigt. Dann lass ich dich jetzt allein, okay? Bassey kommt auch schon heute, aber sag bitte mir Bescheid, wenn du ins Hotel willst.«

Maler schnalzt mit der Zunge und schenkt sich Wein nach.

Im Gang, auf dem Weg zu ihrem Büro, überfällt Miriam ein unguter Gedanke.

Was, wenn an Malers Behauptungen etwas dran ist? Unzucht mit Tieren oder Leichen kann sie ausschließen, das hätte man nicht vor ihr verheimlichen können, aber was, wenn nicht alles, was er da in seinem Backstageraum mit den Frauen anstellt, einvernehmlich ist? Was, wenn er Frauen betrunken macht oder ihnen Drogen gibt? Was, wenn sich eine Minderjährige unter ihnen befunden hat?