Fünf Welten zu dir - Jessica Fischer - E-Book

Fünf Welten zu dir E-Book

Jessica Fischer

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Beschreibung

Wann habe ich in meinem Leben die falsche Abzweigung genommen? Dieser Frage muss sich die verträumte Jenna stellen. Jung, hübsch, immer schon ein bisschen anders und gefangen in einer lieblosen Ehe kämpft sie sich durch den grauen Alltag. Bis sie eines Tages Toby Lincoln begegnet und ihr ganzes Leben plötzlich auf den Kopf gestellt wird. Zum ersten Mal liebt Jenna. Doch der Zeitpunkt könnte nicht schlechter sein, so fällt sie die schwerste Entscheidung ihres Lebens: Sie muss ihren Traummann loslassen – und damit alles, was ihr Leben lebenswert macht. Als plötzlich ein geheimnisvoller Antiquitätenhändler auftaucht und Jenna die Möglichkeit erhält, in vier Parallelwelten zu reisen, lässt sie sich in ihrer Suche nach der großen Liebe und dem Glück auf das unglaubliche Abenteuer ein.

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Seitenzahl: 466

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0245-9

ISBN e-book: 978-3-7116-0246-6

Lektorat: Daphne Schild

Umschlagabbildungen: Kingjon, Lawcain, Gnel Karapetyan | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorwort

Es gibt einen winzigen Augenblick in unserem Leben, in dem wir ganz plötzlich erkennen, dass der Weg zum Glück nicht existiert.

Ein Augenblick, der nur so lang dauert, wie ein Zwinkern oder ein Atemzug. Dieser eine, bedeutende Moment, in dem wir feststellen, dass das Glück gegenwärtig ist und dass es keinen Weg gibt, den es zu bestreiten gilt.

Es ist hier. Bei uns. Wir müssen nur unser Herz öffnen,

um es hineinzulassen.

Kapitel 1

Jenna Barnes saß gelangweilt, das Kinn auf den Unterarm gestützt, am Tisch und beobachtete mit ausdruckslosem Gesicht, wie ihre Schwiegermutter sich noch eine Ladung Bacon in den Mund schaufelte. Es war das dritte Frühstück in diesem kalten März, welches sie mit der Familie ihres Ehemannes über sich ergehen lassen musste.

Sie mochte das kleine Café „Philly“ am Schuylkill River, das am Fuße des Museum of Art lag. Durch die großen Fensterscheiben konnte sie die vereisten Stufen sehen, die einst Rocky Balboa hinaufgelaufen war. Jenna liebte diese Filme mit Stallone abgöttisch. Sie hatte immer so getan, als hätte es diesen unglaublichen Boxer wahrhaftig gegeben. Sogar das Filmgrab von Adrian, das im Norden Philadelphias auf dem Laurel Hill Friedhof lag, besuchte sie fast jeden Monat.

Jenna nippte verträumt an ihrem Kaffee und ließ ihren Blick über die wenig befahrene Straße schweifen. Philadelphia hatte sich in den letzten Jahren verändert, fand sie. Alles war so friedlich und entspannt geworden. Sogar der Ortsteil Strawberry Mansion, in dem Jenna aufgewachsen war und bis heute noch lebte, hatte sich mit der Zeit zum Positiven verändert. Es gab viel Natur, hübsche neue Häuschen und das Wasser des Schuylkill Rivers schien klarer als je zuvor.

Jenna fragte sich nun, während sie die politische Diskussion ihres Ehemannes mit seinem Vater bewusst ignorierte, ob nur sie diese Friedlichkeit Philadelphias empfand. Vielleicht war alles so laut und stressig, wie es immer gewesen war.

Sie wusste, dass sie immer ein wenig in ihrer eigenen kleinen Welt gelebt hatte. Schon als Teenager hatte sie sich oft gefragt, ob sie die Welt anders sah als die Menschen um sie herum. Sie mochte weder große Menschenmengen noch gefiel ihr die Art, wie die Menschen heutzutage lebten. Der permanente Dauerstress, dass man überall und zu jeder Zeit irgendwo erwartet wurde, machte sie traurig. Sie hätte sich gerne irgendwohin verkrochen, wo die Zeit keine Rolle spielte, doch leider war das einfach nicht möglich.

„Jenna? Hast du was?“ Vollkommen aus ihren Gedanken gerissen löste sich Jenna vom Anblick der Straße. Sie betrachtete aufmerksam den fragenden Gesichtsausdruck ihres Mannes und zuckte dann wortlos mit den Schultern. Es war schon erstaunlich wie kurz Coles Aufmerksamkeitsspanne war, denn ohne auf eine Antwort seiner offensichtlich nachdenklichen Frau zu warten, lehnte er sich wieder zu seinem Vater hinüber und stieg erneut in die heiße Diskussion ein. Jenna betrachtete das Profil ihres Mannes und runzelte genervt die Stirn, als sie das penetrante Schmatzen ihrer Schwiegermutter vernahm.

Cole war viele Jahre lang Jennas bester Freund gewesen. Er hatte ihre oft seltsame Art immer schon akzeptiert und wusste, dass sie ein sehr emotionaler Mensch war. Zwar versteckte Jenna ihre Gefühle grundsätzlich vor ihren Mitmenschen, doch gerade diese Eigenart war für Cole ein wichtiger Grund dafür, weshalb ihr Zusammenleben harmonisch war. Er selbst war so emotionslos wie ein Felsbrocken.

Als Jenna so darüber nachdachte, fragte sie sich, warum sie Cole geheiratet hatte. Im März 2014 hatte sie ihm das Jawort gegeben, und ein Jahr später saß sie mit ihrem Gatten und seinen Eltern in ihrem Lieblingscafé und fragte sich, wie das alles hatte passieren können.

Es war keine alles erschütternde Liebe gewesen, die sie damals dazu gebracht hatte, Cole an sich heranzulassen. Es war schlicht und einfach Sicherheit gewesen. Wie sehr sie auch manchmal die Stille und das Alleinsein genoss, sie hatte Angst vor der Einsamkeit. Diese widersprüchlichen Gefühle machten sie oft wütend und nachdenklich. Die eine Seite von Jenna schrie regelrecht danach, für sich allein zu bleiben und alles Negative von sich abzuhalten. Doch die andere Seite hatte Panik davor, dass niemals jemand den Unterschied bemerken würde, ob sie nun da war oder nicht.

Vielleicht hatte sie sich deshalb für Cole entschieden. Während sie nämlich versuchte, ihre komplizierte Eigenart zu begreifen, lebte er vollkommen entspannt und lässig das Leben. Es gab weder Streit noch Schmerz darin. Keine Forderungen. Cole Barnes war einfach da. An Jennas Seite.

Nachdem ihre hagere Schwiegermutter Jane endlich aufgehört hatte, zu essen, beschloss Jenna, nun auf ein Glas Sekt umzusteigen. Schließlich war es schon nach 11 Uhr. „Also, Kinder!“, brüllte Jane etwas zu energisch und erntete dafür einen ernsten Blick von ihrem Mann Charles, der die politische Diskussion mit seinem Sohn bereits aufgegeben hatte. „Wann bekomme ich endlich das lang ersehnte Enkelkind?“ Janes Stimme klang wie eine Kreissäge in Jennas empfindlichen Ohren, und bevor sie auf die altbekannte Frage antwortete, betrachtete sie ihre Schwiegereltern noch einmal eindringlich.

Sie waren alle miteinander eine vollkommen emotionslose Bande von Arbeitstieren. Wie hätte Cole da anders werden können? Jenna hatte immer das Gefühl, dass sie nicht dazugehörte, und obwohl sie selbst keine Familie mehr hatte, wollte sie unter keinen Umständen in Coles passen. „Ihr wisst genau, dass Jenna keine Kinder will, Mama.“, sagte Cole trocken und nippte an seinem Orangensaft. Sie will keine Kinder, wiederholte Jenna in Gedanken und war nicht einmal überrascht, dass Coles Worte so vorwurfsvoll geklungen hatten. Er hatte es gewusst, bevor er sie geheiratet hatte, und trotzdem tat Cole so, als hätte sie es ihm gerade erst an den Kopf geknallt.

Überhaupt wurde Jenna ständig und überall dafür verurteilt, dass sie keine Kinder bekommen wollte. Mit ihren dreiunddreißig Jahren war sie scheinbar in genau dem richtigen Alter, um sich ein Kind machen zu lassen. In diesem Moment, während sie ihr erstes Glas Sekt zügig hinunterspülte, konnte sie es kaum erwarten, alt zu werden.

Nach einer weiteren Stunde voller unangenehmer Gespräche, vorwurfsvoller Blicke und ein wenig mehr Alkohol, als es zu dieser Tageszeit üblich war, streckte Jenna ihre müden Glieder und rutschte unruhig auf ihrem Platz herum. „Wollen wir los?“, fragte Cole seine abwesende Frau und hob die Augenbrauen. „Was hast du denn heute bloß?“ Selbst diese Frage aus Coles Mund klang vorwurfsvoll. Es ist kein Wunder, dass ich lieber eine halbe Stunde unter der Dusche heule, als ihm mein Herz auszuschütten, dachte Jenna genervt und beschloss, wie so oft, ihr Grübeln zu beenden und den Frust einfach zu belächeln. „Fahren wir, Cole. Ich muss morgen wieder früh raus.“, sagte sie an ihre Schwiegereltern gewandt und schnappte sich ihre schwarze Handtasche.

Während Cole noch eine Weile mit Jane und Charles auf dem kleinen Parkplatz des Cafés plauderte, lehnte Jenna sich rücklings an ihren kleinen VW und sog gierig den frischen Duft der kalten Märzluft ein.

Nach fast drei Stunden mit ihren Schwiegereltern war ihr nun klar geworden, dass Coles Familie endlich aufgehört hatte, sie in ihre Gemeinschaft zu zwingen. Sie hatten sie mehr oder minder in Frieden gelassen und akzeptiert, dass Jenna Barnes kein Familienmensch war. Dass Cole ihren Familiennamen angenommen hatte, weil Jenna sich nicht hatte vorstellen können, ihren eigenen Namen abzulegen, schienen sie mittlerweile auch akzeptiert zu haben. Wenn auch mit knirschenden Zähnen.

Nachdem Cole sich von seinen Eltern verabschiedet hatte und träge auf Jenna zuging, stieg diese in ihren VW und startete den Motor. „Hauen wir uns gleich auf die Couch?“ Jenna nickte abwesend und setzte den Wagen zurück, während Cole die Heizung aufdrehte.

Der Weg nach Hause kam ihr ewig vor. Es lag vermutlich daran, dass Cole ihr von seinem Bürojob erzählte. Es interessierte sie keineswegs, welchen Menschen er täglich welche Versicherungen andrehte, aber sie hörte ihm grundsätzlich sowieso nur mit einem Ohr zu. Es wäre respektlos gewesen ihm einfach zu sagen, er solle die Klappe halten. Also nickte und lächelte Jenna einfach, während Cole von seiner höchst interessanten Arbeit sprach.

Sie glaubte, dass er sie zu einem besseren Menschen machte. Er selbst war ein außergewöhnlich guter Mensch, der regelmäßig Blut spendete, zu helfen versuchte, wo er nur konnte, und sich in die Politik einbrachte. Cole wusste scheinbar über alles Bescheid, und Jenna gefiel das sehr. Mit ihm an ihrer Seite schien niemand zu bemerken, wie wenig Interesse sie an ihrem Umfeld hatte. Sie lebte in ihrer eigenen kleinen Welt, die manchmal so still war, dass sie glaubte, sie sei der einzige Mensch darin.

Jenna bog in die Lehigh Avenue am Mount Vernon Friedhof. Dort war sie geboren und aufgewachsen. Nachdem ihre Mutter vor vielen Jahren nach Kanada gezogen war, hatte sie sich weiter um das kleine Haus in der Douglas Street gekümmert. Ihr Vermieter war schon sehr alt und meldete sich kaum. Jenna hatte schon früh gelernt, sich um sich selbst zu kümmern. So erledigte sie den monatlichen Papierkram, pflegte den kleinen Vorgarten ihres Wohnhauses und versuchte, es in Stand zu halten, so gut sie konnte.

Trotz ihres Jobs in einer kleinen Blumenhandlung in der Nähe schaffte sie es immer, ihren Ehemann nicht zu vernachlässigen. Cole Barnes stand mit seinen dreißig Jahren in der Blüte seines Lebens. Jedenfalls hätte man das annehmen sollen. Jenna wusste nicht mehr genau, wann sie sich daran gewöhnt hatte, dass dieser Mann für absolut gar nichts zu gebrauchen war. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie täglich nach der Arbeit noch allein kochte, putzte und sich um Coles Wäsche kümmerte, während dieser den ganzen Abend auf der Couch hockte und entspannt auf den nächsten Tag wartete.

Oft fragte sie sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, jemanden zu haben, der sich um sie kümmerte. Der hin und wieder den Müll hinausbrachte und ihr Frühstück machte.

Vielleicht liegt es an mir, dachte Jenna geknickt, während sie in der Küche stand und auf eine der vielen Postkarten starrte, die an der Kühlschranktür hingen.

Fast jedes Jahr bekam Jenna von ihrer Mutter Megan eine Karte zu Weihnachten. Meist stand dort nur unwichtiges und oberflächliches Zeug. Im März letzten Jahres hatte sie sogar eine zweite Karte erhalten, auf der ihre Mutter dem frischgebackenen Ehepaar alles Gute für die Zukunft gewünscht hatte. Sie war nicht betrübt darüber, dass ihre Mutter und sie keine Beziehung zueinander hatten. Schon als Teenager hatte sie mit ihr nichts gemein gehabt und das Leben zu Hause als furchtbar stressig empfunden. Verwandt oder nicht. Wenn man so verschieden ist, kann das einfach nicht funktionieren, dachte Jenna etwas entspannter und warf ihren Autoschlüssel auf den kleinen Küchentisch.

Es dämmerte bereits, als sie sich endlich neben Cole auf der Couch niedergelassenen hatte und mit gerunzelter Stirn dabei zusah, wie ihr Mann einen Rekord im Durchzappen der TV-Sender aufstellte. Für Jenna war es kein entspannter und ruhiger Sonntag gewesen. Sie hatte Stunden mit ihren Schwiegereltern verbringen müssen, hatte das Bad geputzt, die Mülltonne an die Straße gestellt und Cole etwas zum Essen warm gemacht. Und Morgen würde alles wieder von vorn beginnen.

Während Jenna gerade versuchte, den zahlreichen Sendungen im Fernsehen zu folgen, lehnte sich Cole etwas näher zu ihr und betrachtete ihr ausdrucksloses Gesicht. „Sag mal, wann hatten wir eigentlich das letzte Mal Sex?“ Jenna drehte sich zu ihm und betrachtete die trüben, blassgrünen Augen ihres Mannes. Einen Moment lang dachte sie über die Antwort nach und hob dann belustigt ihre Mundwinkel.

„Ich schätze, vor drei Monaten.“ Cole begann zu grinsen als sie, etwas überrascht von ihrer eigenen Antwort, die Augenbrauen hob. „Wow! Wir sind wie ’ne Wohngemeinschaft geworden.“, stellte Cole lachend fest und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Er hat recht, grübelte Jenna vor sich hin und betrachtete weiter sein Profil. Der Sex mit Cole hatte Jenna immer gefallen. Was war also der Grund dafür, dass sie seit Monaten keine Lust hatte, mit ihm zu schlafen? „Also, ich wäre jetzt auf jeden Fall nicht abgeneigt.“, nuschelte Cole, wobei er sie keines Blickes würdigte. Aha. Das ist der Grund, spekulierte Jenna gedanklich und atmete hörbaraus. Wie sollte sie in Stimmung kommen, wenn dieser unglaublich faule Kerl sich nicht einmal bewegte? Wenn sie wirklich mit ihm schlafen wollte, hätte sie sich schon nackt auf ihn setzen müssen. Was für ein leidenschaftlicher Verführer, dachte sie ironisch und starrte dann gedankenverloren aus dem kleinen Wohnzimmerfenster in die aufkommende Dunkelheit.

Der Montagmorgen erwies sich als klar und sonnig. Cole war bereits in sein Büro gefahren, als Jenna die Haustür hinter sich verschloss und durch ihren Vorgarten spazierte. Sie atmete genussvoll die kühle Luft ein und fragte sich, wie lange es wohl noch dauerte, bis endlich die ersten Frühjahrsblüher aus der Erde sprossen.

Nachdenklich blickte sie über die kleinen Nachbarhäuser bis hin zum Mount Vernon Friedhof, der gegenüber lag. Egal wie laut und stressig es in der Welt auch werden konnte, auf dem Friedhof fand sie immer ihre notwendige Ruhe.

Jenna wusste, dass einige Nachbarn es merkwürdig fanden, dass sie ständig auf diesem Friedhof herumschlenderte, aber das machte ihr nichts aus. Sie wollte sowieso nicht dazugehören. Sie war sich sicher, dass sie anders war. Sie konnte durchaus amüsant und gesellig sein, aber zog meistens die Einsamkeit vor. Und oft hatte sie das Gefühl, als hätte sie nie Zeit genug für sich.

Mit diesen Gedanken stieg Jenna in ihren VW, fuhr ihn sachte aus der schmalen Einfahrt und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

„Miss Barnes? Könnten Sie bitte zur Warenannahme gehen? Die frischen Lilien sind eingetroffen!“ Mrs Townsend brüllte, so wie sie es immer tat, durch den gesamten Verkaufsraum der kleinen Blumenhandlung „Flowers“, als Jenna gerade einem älteren Herrn aus der Eingangstür half. Warum schreit sie nur immer so? Ich bin doch nicht taub, dachte sie peinlich berührt. Die fünfundsechzig Jahre alte Mrs Townsend führte das „Flowers“ am Benjamin Franklin Parkway nun schon seit dreißig Jahren, und das immer noch erfolgreich. Ihre zahlreichen Stammkunden wussten um ihr schlechtes Gehör und ließen sich regelmäßig und ohne Beschwerden von ihr anbrüllen. Jenna fragte sich immer, warum jemand mit einem schlechten Gehör so laut schreien musste. Schließlich war sie, Mrs Townsend, es doch, die nichts verstand.

„Ich kümmere mich darum, Mrs Townsend!“, rief sie in Richtung Büro und eilte dann zur Warenannahme.

„Was?“

Jenna hielt kurz in der Bewegung inne und rollte genervt mit den Augen. „Ich sagte, ichgeheschon!“ Ihre Stimme schien sogar für sie selbst zu laut. Wissend, dass die sinnlose Unterhaltung damit noch nicht beendet war, hob sie grinsend den Zeigefinger und wartete auf den Showdown.

„Telefon? Es hat doch gar nicht geklingelt!“

Jenna hielt sich auflachend die Hand vor den Mund und eilte dann amüsiert zur Warenannahme.

Der Montagnachmittag verlief sehr ruhig. Jenna konnte sich dadurch viel Zeit für die fünf bestellten Gestecke nehmen und steckte ihre gesamte Geschicklichkeit in die Arbeit. Sie hatte Blumen schon immer geliebt und arbeitete gerne im „Flowers“. Sogar die alte Mrs Townsend, die zwar nicht hören konnte und oft durcheinander war, hatte sie gern.

Sie fand es erstaunlich, dass die alte Dame scheinbar in allen Lebenslagen Probleme hatte, aber wenn es um die Buchhaltung des Geschäftes ging, war ihr Verstand so scharf wie kein anderer.

Jenna musste lächeln, als ihre Fantasie wieder einmal mit ihr durchging. Wahrscheinlich hört sie ebenso gut, wie sie rechnet. Bestimmt tut sie bloß so, als könnte sie nichts verstehen, spekulierte sie belustigt, während sie die fertigen Gestecke in die Kühlkammer stellte.

Gähnend schaute sie auf die Uhr und runzelte die Stirn darüber, dass ihr Arbeitstag erst in drei Stunden vorbei sein würde. Danach musste sie noch einkaufen gehen und den Geschirrspüler ausräumen.

Ein leises Seufzen kam Jenna über die Lippen, als ihr klar wurde, dass sie zurzeit scheinbar ein großes Tief erlebte. Nicht einmal die Arbeit gefiel ihr mehr so richtig. Cole nervte sie schon allein durch seine Anwesenheit, und ihr gemütliches Zuhause schien kalt und finster geworden zu sein. Was ist nur los mit dir, Jenna?, fragte sie sich selbst und ließ sich schwerfällig auf einen Hocker fallen. Ein vertrautes Pochen machte sich in ihrer Brust breit, was sie nur noch mehr verunsicherte.

Seit drei Jahren arbeitete sie nun im „Flowers“. Das unangenehme Pochen, das hin und wieder auftauchte, hatte Jenna noch von ihrem alten Job zurückbehalten. Es fühlte sich an, als würde ihr Blutdruck vollkommen verrückt spielen, doch sie wusste, dass sie gesund war wie ein Pferd.

Zehn Jahre lang hatte sie einen großen Supermarkt in Fishtown geleitet. Sie hatte alles gegeben und wenig dafür erhalten. Die Zeit war einfach so an ihr vorbeigezogen, während sie sich um die Buchhaltung, das Personal, den Einkauf und die Umsatzsteigerung gekümmert hatte. Eines Tages hatte ihr Körper dann einfach aufgehört, zu funktionieren. Die Ärzte hatten es „psychosomatische Erkrankung durch Stress“ genannt.

Jenna hatte sich gegen eine Behandlung beim Psychologen entschieden. Irgendwann hatte sie akzeptieren müssen, dass sie sich vollkommen verausgabt hatte, und aufgehört, sich dafür bei ihren Mitmenschen zu rechtfertigen. Niemand hatte ihre Abgeschlagenheit und ihre Depressionen verstanden. Jenna hatte ihren Job an den Nagel gehängt, gelernt positiv zu denken, und die Sorgen einfach fortgelächelt. Im Großen und Ganzen hatte diese Therapie funktioniert. Nur selten überfiel sie eine erschöpfende Schlaflosigkeit oder eben dieses penetrante Pochen in ihrer Brust. Es war ein Opfer, das sie gerne brachte. Denn jetzt, da sie diese schweren Jahre allein durchgestanden hatte, wusste Jenna, dass sie nichts und niemanden brauchte und dass sie stark sein konnte.

„Miss Barnes? Geht es Ihnen gut? Sie sehen ja so blass aus!“, stellte Mrs Townsend sorgenvoll fest. Bevor Jenna ihr antwortete, betrachtete sie nachdenklich das faltige und braungebrannte Gesicht ihrer Chefin. Wie jeden Tag hatte Mrs Townsend ihr langes, graues Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Jenna fand, dass es der alten Dame Würde verlieh. Sie schenkte ihrer Chefin ein leichtes Lächeln und nickte dann. „Es geht mir gut, Mrs Townsend. Tut mir leid. Ich bin wohl zurzeit etwas gestresst.“

Die alte Dame kam näher und betrachtete prüfend das hübsche Gesicht ihrer Angestellten. Liebevoll strich sie ihr durch das lange, blonde Haar, das der jungen Frau bis weit über die Schultern fiel. Mrs Townsend schaute gerne in diese tiefgrünen Augen, die stets blickten, als könnten sie durch alles und jeden hindurchsehen. Und manchmal, wenn das Licht stimmte, erkannte sie die gelbbraunen Sprenkel und den dunkelblauen Rand um die grüne Iris herum. Es war ein fantastisches Farbspiel, fand die alte Dame.

„Schätzchen. Heute ist es ruhig. Wie wäre es, wenn Sie sich die letzten drei Stunden einfach freinehmen?“ Jenna lächelte kurz liebevoll und stand dann zaghaft auf. „Kommen Sie denn wirklich allein zurecht?“ Mrs Townsend war bereits wieder Richtung Büro geschlendert und deutete mit einer unsanften Handbewegung zur Eingangstür. „Wir sehen uns morgen, Miss Barnes.“ Jenna atmete einmal tief durch, schnappte sich ihre Handtasche vom Tresen und ging zur Eingangstür. Mit einem aufkommenden, schlechten Gewissen drehte sie sich noch einmal um und rief lauthals durch den Verkaufsraum. „Aber wenn etwas ist, dann rufen Sie mich sofort auf dem Handy an, okay?“ Während Jenna still dastand und auf eine Antwort wartete, hatte Mrs Townsend sich bereits in ihren uralten Bürosessel niedergelassen. „Was tut Ihnen weh, Schätzchen?“, brüllte die alte Dame zurück und brachte damit Jenna einmal mehr zum Lachen. Grinsend schüttelte sie den Kopf und warf dann zügig die Eingangstür der kleinen Blumenhandlung hinter sich zu.

Eine ganze Weile saß Jenna noch grübelnd in ihrem VW, den sie vor dem „Flowers“ geparkt hatte und starrte durch die Windschutzscheibe. „Wenn ich jetzt nach Hause fahre, mache ich doch nur wieder Hausarbeit.“, stöhnte sie genervt. Drei Stunden Freizeit lagen vor ihr, und sie hatte absolut keine Ahnung, was sie damit anfangen sollte. „Das ist wirklich traurig, Jenna Barnes!“ Sie fuhr sich durch das blonde Haar und prüfte im Rückspiegel ihr Make-up.

Stöhnend startete sie den Wagen und beschloss, erst einmal einkaufen zu gehen. Das dumpfe Pochen in ihrer Brust schien langsam abzuklingen, was Jenna etwas beruhigte. Sie entschied sich, zu lächeln. So wie sie es immer tat.

Der Nachmittag wurde von strahlendem Sonnenschein begleitet und ließ auf den Beginn des Frühlings hoffen. Die Winter in Philadelphia waren nicht sehr kalt, doch dafür umso finsterer. Jenna glaubte, wenn sie zu lange Zeit zu wenig Sonne tanken konnte, trug das nur zu ihrer düsteren Stimmung bei.

Sie hatte ihre Einkäufe, die sie im Supermarkt um die Ecke besorgt hatte, sorgfältig in ihrem Kofferraum verstaut und fuhr nun die Hauptstraße Richtung Museum entlang. Sie sträubte sich regelrecht, nach Hause zu fahren, also entschied sie sich, ihre geliebte Rocky-Statue zu besuchen und die Stufen des Museum of Art hinaufzugehen. Jenna hoffte, dass heute nicht allzu viele Touristen dort ihr Unwesen trieben, denn die zweiundsiebzig Stufen, die einst Rocky Balboa hinaufgelaufen war, waren ein sehr beliebtes Ausflugsziel. Jenna beschloss, positiv zu denken, indem sie sich vormachte, es sei ihr egal, wie viele Menschen sich heute dort tummelten. Die Hauptsache war, dass sie die frische Luft genießen und ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte. Danach würde sie in ihr Lieblingscafé gegenüber schlendern und sich ein Glas Wein gönnen. Dieser Plan brachte Jenna zum Lächeln, als sie gerade ihren VW abschloss und sich auf dem Parkplatz neben dem Museum umschaute. „Wow! Wohl nichts los heute.“, stellte sie grinsend fest und spazierte gemütlich zu der steinernen Treppe des Museum of Art.

Am Fuße der Treppe blieb sie stehen und schaute lächelnd hinauf. Bis auf einen Mann, der seinen Hund ausführte, und ein Paar Kids, die auf der Treppe herumlungerten, war Jenna vollkommen allein.

Die Sonne stand so tief, dass sie das Dach des Museums küsste und ein unglaubliches Lichtspiel auf den sonst so grauen Steinstufen hinterließ. Jenna schloss besänftigt ihre Augenlider und ließ das warme Licht auf ihr Gesicht scheinen. Sie schaltete entspannt und friedlich die Geräusche ihrer Umgebung ab. Das konnte sie besonders gut, denn sie hatte es oft geübt. Für sie war es wichtig, das Gleichgewicht zu bewahren, und das ging am besten, wenn sie tief in sich ging. Sie beruhigte ihre Atmung und lauschte dem Klang ihres Herzschlags, der von einem leichten Vogelgezwitscher und einer aufkommenden Brise begleitet wurde. Sogar das Lachen der Kinder, die auf den Stufen herumalberten, wurde langsam dumpf und verschwand schließlich in der friedlichen Stille, die Jenna sich geschaffen hatte. Wenn es doch nur immer so still sein könnte, dachte sie sehnsüchtig und vergaß für einen Augenblick ihre Unzufriedenheit und den inneren Stress.

Durch ihre leisen und ruhigen Gedankengänge vernahm sie plötzlich lauter werdende Schritte. Tief und bewusst atmete sie ein und öffnete träge ihre Augen, als die Schritte laut und schnell hinter ihr ertönten. Ihre Neugier siegte doch als sie sich gerade umdrehen wollte, um zu sehen, wer es denn so eilig hatte, schnellte plötzlich eine große Gestalt an ihr vorbei und streifte gefährlich nah ihre Schulter. Jenna fuhr erschrocken zusammen und beobachtete dann mit gerunzelter Stirn, wie ein großer Mann in einem Kapuzenpullover in rasantem Tempo die Stufen hinaufhechtete. „Wieder so ein Tourist.“, murmelte sie leicht genervt und stemmte die Fäuste in ihre Hüften.

Jenna beobachtete etwas belustigt, wie der Riese auf den letzten zwanzig Stufen langsamer wurde und lauthals zu keuchen begann. Gleich macht er schlapp, dachte sie grinsend und hoffte darauf, dass der Mann vor dem Ende der Treppe in sich zusammensacken würde.

„Hm. Sportlich!“ Jenna wusste, dass die meisten Menschen diese zweiundsiebzig Stufen kaum bewältigen konnten. Aber dieser Riese schaffte es in einem enormen Tempo, auch wenn er dabei klang, als würde er jeden Moment ersticken.

Aus einem ihr unerklärlichen Interesse heraus bewegte Jenna sich langsam Stufe für Stufe nach oben und ließ den Mann dabei keine Sekunde lang aus den Augen. Irgendetwas hatte dieser Kerl an sich, das sie interessierte. Vielleicht war es die Art, wie er seinen Körper hinaufbewegte. Scheinbar entschlossen. So als hätte er ewig darauf gewartet.

Als er die letzte Stufe eroberte, vernahm Jenna ein heiseres Auflachen, das für einen kurzen Augenblick sein atemloses Keuchen erstickte. Auf der Hälfte der steinernen Treppe blieb sie neugierig stehen und schaute dabei zu, wie der Fremde kurz nach Atem rang, sich dann groß wie eine Mauer aufbäumte, die Fäuste in die Höhe riss und über den leeren Platz „Adrian!“ brüllte, als ginge es um sein Leben.

Seine Stimme war so laut und eindringlich, dass nicht nur Jenna vor Schreck zusammenfuhr. Die Kids blickten plötzlich ehrfürchtig nach oben und wagten, keinen Laut von sich zu geben. Ein Schwarm Tauben, der vor dem Museum aufgeschreckt worden war, flog schlagartig über den Kopf des Mannes hinweg.

Jenna hob erstaunt die Augenbrauen und beobachtete, wie der Mann langsam seine Arme sinken ließ und über ihren Kopf hinweg in die Ferne blickte. Das war ziemlich beeindruckend, dachte sie und begann zu lächeln. Die meisten Touristen, die sie bei diesem beliebten Vorhaben beobachtet hatte, waren entweder kurz vor dem Ende der Treppe zusammengesackt oder hatten ihren Ruf versaut. Jenna hatte den Film „Rocky“ bereits so oft gesehen, dass sie durchaus in der Lage war, zu beurteilen, ob dieser große Mann vor ihr wahrhaftig seinem offensichtlichen Vorbild allen Respekt erwiesen hatte, den ein Mensch aufbringen konnte. Sie entschied, dass er einen filmreifen Auftritt hingelegt hatte und grinste zufrieden in sich hinein.

Da stand er nun im Zwielicht der untergehenden Sonne, während sein Blick über den Platz wanderte. Jenna ging, ohne es zu bemerken, weiter die Stufen hinauf und versuchte, sein Gesicht zu erkennen, das durch die Kapuze seines Pullovers im Dunkeln verborgen lag.

Als sie kurz vor ihm zum Stillstand kam und plötzlich unsicher die Hände in die Taschen ihres Parkas steckte, zog der Riese seine Kapuze herunter und starrte sie so eindringlich an, dass ihr ganz kurz die Luft wegblieb. Seine dunkelbraunen Augen funkelten neugierig, wobei er immer noch bewegungslos dastand. Ich kenne diesen Mann, dachte sie erstaunt und suchte in ihrer Erinnerung nach einer Verbindung zu ihrem Gegenüber. Der Mann neigte neugierig den Kopf und öffnete leicht seine Lippen, als wolle er etwas sagen. Jenna betrachtete aufmerksam sein dunkelbraunes, kurzes Haar, das im letzten Licht der untergehenden Sonne leicht schimmerte.

Als sie sich erneut von seinen tiefbraunen Augen losreißen musste, um das leichte Kribbeln in ihrer Magengegend loszuwerden, bewegte der Riese sich ganz plötzlich auf sie zu und hob erstaunt seine dunklen Augenbrauen. Ihr blieb die Stimme versagt, während sie noch immer in ihrer Vergangenheit nach diesem attraktiven Gesicht suchte.

„Jenna? Jenna Barnes?“ Seine sanfte Stimme hallte durch ihren Verstand, als Jenna sich plötzlich direkt vor dem Fremden wiederfand.

Seine ausgeprägten Wangenknochen und der leichte Kinnbart machten seine Erscheinung nur noch attraktiver für sie. Sie sagte kein Wort, sondern betrachtete vollkommen konzentriert jeden Zentimeter seines Gesichtes, während er still vor ihr stand und sie unsicher anlächelte. Dieser Mann war sicher über einen Meter neunzig groß und schaute sie an, als wäre sie die erste Frau, die er je gesehen hatte.

Ein paar Stufen ging er vorsichtig hinab, an Jenna vorbei und drehte sich dann zu ihr um, wobei ihre Augen wie hypnotisiert seiner Erscheinung folgten. Vielleicht wollte er nicht, dass sie zu ihm aufsehen musste. Jenna konnte darüber im Augenblick nicht nachdenken. Sie wollte nur wissen, wer er war und wo er herkam.

Als er auf Augenhöhe vor ihr stand, wurde sein Lächeln breiter. Sie räusperte sich verlegen, um ihre Stimme zu testen. „Sie kennen meinen Namen?“, fragte sie leise und trat dann noch ein paar Zentimeter näher heran. „Jenna Barnes. Ich glaub’s nicht, dass ich dich hier treffe! Ich bin’s! Toby!“ Nachdenklich runzelte sie die Stirn, bis es ihr dann nach einer gefühlten Ewigkeit wieder einfiel. „Toby Lincoln. Die Highschool.“, flüsterte Jenna überrascht und wagte dann ein leichtes Lächeln.

Toby Lincoln war mit ihr zur Highschool in Strawberry Mansion gegangen. Sie hatte nicht viel Kontakt mit ihm gehabt, aber dennoch hatte Jenna ihn fast täglich auf dem Schulhof getroffen. Wie hatte sie ihn nur vergessen können? Wahrscheinlich lag es daran, dass dieser Mann damals kaum gesprochen hatte. Plötzlich kamen ihr die Bilder eines schüchternen, großen Jungen in den Kopf. Ihr Lächeln wurde, ebenso wie seines, breiter, und ihr fiel nichts Besseres ein, als sich zu ihm vorzubeugen und ihn einfach zu umarmen.

Toby hob etwas überrumpelt seine dunklen Augenbrauen. „Dann erinnerst du dich ja doch wieder an mich.“, stellte er mit etwas unsicherer Stimme fest und zog sie dann energisch an sich, um an ihrem seidigen, langen Haar zu riechen.

Es dauerte eine kleine Weile, bis beide wieder dazu bereit waren, sich voneinander zu lösen. Jenna strich noch einmal über seine kräftigen Schultern und atmete Tobys anziehenden Duft ein, bevor sie wieder einen Schritt zurücktrat und ihm ein strahlendes Lächeln schenkte.

„Toby Lincoln. Wie lange ist es jetzt her, dass ich dich das letzte Mal gesehen habe?“ Er überlegte kurz und starrte beeindruckt in Jennas tiefgrüne Augen, die in der Dämmerung des Abends intensiv funkelten.

„Fünfzehn lange Jahre.“ Es klang, als konnte er es selbst kaum glauben. „Ich bin mit neunzehn nach Ohio umgezogen. Mit meinen Eltern.“ Jenna nickte aufmerksam.

„Und jetzt besuchst du deine Heimatstadt und suchst das Auge des Tigers, oder wie?“ Toby lachte leise auf. „Ich steh halt auf ‚Rocky‘! Außerdem bin ich gerade wieder hierhergezogen, und die zweiundsiebzig Stufen standen bei mir ganz oben auf der Liste.“

Jenna erkannte ein begeistertes Aufblitzen in seinen dunklen Augen. „Du hast recht. Stallone ist der Größte! Du hast ihm übrigens gerade alle Ehre gemacht, Toby.“ Er bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln und schaute sich dann etwas verlegen um. „Ich bin froh, wieder hier zu sein. Ich hab Philadelphia echt vermisst. Und du? Du warst die letzten Jahre hier?“ Jenna nickte. „Ich wohne immer noch in Strawberry Mansion. In der Douglas Street gegenüber vom Friedhof.“

Als sie plötzlich bemerkte, wie eindringlich Toby sie musterte, schaute Jenna verlegen zu Boden und räusperte sich. Warum bist du nur so nervös?, schalt sie sich selbst und zwang sich, wieder zu ihm aufzublicken.

„Sag mal, wenn du vielleicht gerade nichts vorhast…wir könnten vielleicht zusammen was trinken…oder so.“ Er klang so unsicher, dass sie ein Grinsen unterdrücken musste. Scheinbar ging es diesem großen Kerl nicht besser als ihr. Jenna nahm all ihren Mut zusammen und nickte. „Sicher! Ich hab ein paar Stunden Zeit. Ich wollte da unten ins Philly gehen.“ Sie zeigte mit dem Arm in die Richtung des Cafés. „Ich bin gerne dort. Hast du Lust?“ Toby atmete erleichtert auf, weil Jenna ihm keinen Korb gegeben hatte. Obwohl sie sich offensichtlich freute, ihn zu sehen, war er doch etwas unsicher gewesen. Auf der Suche nach ein bisschen mehr Selbstvertrauen nickte er lächelnd und drehte sich langsam um. „Dann lass uns gehen.“, sagte Toby lässig und schlenderte zusammen mit ihr die Treppe des Museum of Art hinunter, während die Dämmerung sich wie eine schützende Decke über sie legte und die Geräusche der Umgebung wieder lauter wurden.

Toby gefiel das kleine Café und sie gefiel ihm auch. Er hatte sie damals in der Highschool stets im Auge gehabt, es allerdings nie gewagt, sie anzusprechen.

Während Jenna ihm von den vergangenen Jahren erzählte, beobachtete Toby ihr feingeschnittenes Gesicht und das goldene, lange Haar. Ihre helle Haut ließ die großen Augen kräftig leuchten, sodass es Toby kaum möglich war, sich von ihnen loszureißen. Und wenn es ihm zwischendurch gelang, dann hatte er dasselbe Problem mit ihren vollen Lippen.

Nachdem sie ihren Parka ausgezogen hatte, hatte er bemerkt, wie schlank sie war, und sich bei der Frage ertappt, wann er sie endlich wieder in den Arm nehmen durfte.

Toby fuhr vor Schreck zusammen als Jenna plötzlich mit den Fingern vor sein Gesicht schnippte.

„Hey! Du hörst mir ja gar nicht zu“, sagte sie eher belustigt als empört. „Was?“, antwortete er herausfordernd und grinste dabei verschmitzt. „Na ja, auf jeden Fall hab ich dann letztes Jahr Cole geheiratet. Er war viele Jahre mein bester Freund. Es hat sich irgendwie so ergeben.“ Als Jenna klar wurde, wie übel das geklungen hatte, biss sie sich peinlich berührt auf die Zunge.

Toby glaubte für einen kurzen Moment, einen Schatten über ihrem hübschen Gesicht zu erkennen.

„Und jetzt ist er es nicht mehr?“, fragte er etwas besorgt.

„Was?“

„Na, dein bester Freund?“ Jenna musste über diese Frage kurz nachdenken, was ihr gar nicht gefiel. Die Antwort gefiel ihr ebenso wenig, aber sie hatte keinen Grund, ihn anzulügen. Es reichte ihr schon, dass sie sich selbst oft belog.

„Nein. Jetzt ist er mein Ehemann. Mein gnadenlos fauler Ehemann, der es nicht einmal schafft, eine Glühbirne auszuwechseln.“ Eigentlich hätte Toby diese Antwort traurig finden müssen, doch Jenna klang so unbeschwert und witzig, dass er darüber nur lachen konnte. Er fand es beeindruckend, dass diese Frau sich durch solche Dinge scheinbar nicht aus dem Gleichgewicht bringen ließ. Sie lachte ihre Sorgen einfach fort. Genauso, wie er selbst es oft tat.

„Na, dann hast du ja einen guten Fang gemacht, Jenna.“, sagte er ironisch und nippte an seiner heißen Schokolade.

„Was ist mit dir? Hast du auch eine Beziehung? Entschuldige. Ich hab dich kaum zu Wort kommen lassen.“ Jenna entschuldigte sich mit einem warmherzigen Blick, der Tobys Magen verrückt spielen ließ.

„Ähm, ja. Ich habe letztes Jahr Anna geheiratet. Hab sie in Mansfield kennengelernt. Wir haben dann beschlossen, nach Philly zurückzukommen und dann zu bauen. Meine Eltern leben immer noch dort.“ Etwas in seinem Blick sagte Jenna, dass das noch nicht alles war.

„Und?“ Sie lächelte neugierig und ignorierte einen unverständlichen Stich der Eifersucht.

„Ich werde Vater.“ Toby hatte es mit so viel Ehrfurcht gesagt, dass Jenna ganz kurz wehmütig die Augen schloss. „Dann gratuliere ich dir. Ist schön für dich und Anna.“ Warum störte es sie nur den Namen seiner Frau auszusprechen? Zügig trank sie einen großen Schluck ihres Rotweins und versuchte, das Bauchkribbeln zu verdrängen, das sein eindringlicher Blick auslöste. „Danke. Im Oktober ist es so weit. Es wird ein Junge.“ Der Stolz in seiner Mimik verflüchtigte Jennas innere Unruhe sofort. Sie sagte kein Wort, sondern schaute Toby weiter auffordernd an. „Naja, auf jeden Fall haben Anna und ich eine Wohnung in Fishtown gemietet, bis ich ein Grundstück für unser Haus gefunden habe.“

Jenna hob erstaunt die Augenbrauen. „Dann lässt du dir ein richtiges Haus bauen? Du kaufst keins? Das find ich genial! Wenn ich das Geld hätte, dann würde ich mir auch eins bauen lassen.“ Toby schüttelte sanft den Kopf. „Nein. Eigentlich will ich es selbst bauen. Vielmehr ich und mein Team.“ Jenna öffnete beeindruckt ihren Mund. „Das ist mein Job, Jenna. Ich habe in Mansfield fast zehn Jahre studiert, um Bauingenieur zu werden.“ Jenna schien immer noch zu begeistert, um etwas zu erwidern, also sprach Toby einfach weiter. „Ich habe jetzt eine eigene, kleine Firma in Fishtown, einige Angestellte und genug Aufträge, dass uns das Geld so schnell nicht ausgeht. Ich kann Büro und Baustelle miteinander verbinden und habe ein tolles Team, weißt du? Es macht mich glücklich!“ Als Jenna endlich wieder in der Lage war, ihren Mund zu schließen, schenkte sie ihm erneut ein warmherziges Lächeln und hob dann auffordernd ihr Weinglas, um mit Toby anzustoßen. „Ich bin stolz auf dich. Ich weiß gar nicht was ich sonst sagen soll, Toby. Ich schätze, du hast alles richtig gemacht, du Genie!“ Leise lachte er auf.

„Was ist mit dir, Jenna? Was machst du jetzt?“

Ihre kleine Welt schien plötzlich durch seinen bisherigen Lebenslauf noch kleiner zu werden, aber sie versuchte trotzdem, sich nicht unterlegen zu fühlen. Schließlich war dieser Mann, der ihr nun gegenübersaß, kein Rivale. Er konnte nichts dafür, dass Jenna in den letzten Jahren nicht mehr geschafft hatte, als sich irgendwie über Wasser zu halten.

Sie leerte ihr Weinglas in einem Zug und blickte in seine dunklen Augen. „Ich arbeite in einer kleinen Blumenhandlung. Mein Mann arbeitet in einem langweiligen Versicherungsbüro, und ich wohne immer noch zur Miete. Das war’s eigentlich schon.“ Toby lachte über ihre völlig tonlose Stimme und beobachtete dann das amüsierte Aufblitzen ihrer großen Augen.

Er fand es erstaunlich, wie unwichtig sie offensichtlich die wesentlichen Dinge ihres Lebens fand. Noch erstaunlicher fand er allerdings die Tatsache, dass diese junge Frau für die kleinsten und unwichtigsten Dinge des Lebens dafür umso begeisterter war. Zum Beispiel ihr sehnsüchtiger Blick, als sie von ihren stillen Spaziergängen auf dem Mount Vernon Friedhof erzählt hatte, oder ihr herzliches Lachen über die offensichtlich taube Mrs Townsend, die in Jennas Augen nur so tat, als würde sie nichts verstehen, um die Menschen damit wahnsinnig zu machen. Wie sie gelacht hatte, als sie Toby von ihrer Sucht nach Filmen erzählt hatte und dass sie manchmal gar nicht aufhören konnte, darüber zu sprechen. Als sie ihm dann noch erzählt hatte, dass sie glaubte, eine gespaltene Persönlichkeit zu haben, weil sie vollkommen harmoniesüchtig war, aber gleichzeitig nicht viel von den Menschen hielt, war er hin und weg gewesen. Vielleicht lag es daran, dass Jenna Barnes nicht in die gewöhnliche Gesellschaft hineinpasste. Für sie waren Dinge wesentlich, die andere Menschen meist vollkommen übersahen. Es machte diese Frau mehr als besonders für ihn.

Toby war begeistert von ihren Erzählungen und der Art, wie sie dabei lächelte. Er hätte Jenna am liebsten ewig zugehört, doch langsam wurde er nervös. Für ihn war es an der Zeit, nach Hause zu Anna zu fahren, auch wenn er sich im Augenblick nicht vorstellen konnte, Jenna zu verlassen.

Als sie ihr leeres Glas von sich fortschob und ihm dann ein strahlendes Lächeln schenkte, lehnte er sich etwas vor. „Du hast mir erzählt, dass du einen Fable für handgeschnitzte Marionetten hast, Jenna.“ Plötzlich wurde sie rot. Sie fragte sich gerade, ob sie ihm das wirklich erzählt hatte. Schließlich war es schon merkwürdig für eine erwachsene Frau, Marionetten zu sammeln. „Soll ich dir verraten, was ich sammle?“ Jetzt wurde Jenna neugierig. Offensichtlich hatte er auch ein ungewöhnliches Hobby.

„Sag’s mir.“, flüsterte sie grinsend und lehnte sich ebenfalls leicht über den Tisch.

„Ich habe eine besondere Sammlung an He-Man-Figuren.“ Toby erlitt sofort einen Schweißausbruch, als er das ausgesprochen hatte. Vielleicht würde sie ihn für verrückt halten, aber er hatte es ihr einfach erzählen wollen.

Vollkommen angespannt starrte er in ihr erstauntes Gesicht und wartete sehnsüchtig auf eine Antwort. Plötzlich lehnte Jenna sich noch näher zu ihm, schaute ihn erwartungsvoll an und öffnete leicht ihren Mund. „He-Man?“, fragte sie leise.

„Ja.“ Tobys Stimme klang plötzlich unsicher.

Sie begann leicht zu lächeln. „Hast du auch Gringer? Die Raubkatze?“ Es lag so viel Erwartung in ihrem Blick, dass ihm ganz kurz die Stimme versagte. „Na, du weißt schon! Battlecat!“

„Ähm…du kennst Gringer?“ Jenna lehnte sich wieder in ihrem Sitz zurück und schnaubte dann empört. „Na, hör mal! Wenn ich mich recht erinnere, bist du nur ein Jahr älter als ich. Was glaubst du wohl, welche Hörspielkassetten ich als Kind täglich verschlungen habe. Hast du nun Gringer, oder nicht?“

Er atmete lauthals aus und begann dann, kopfschüttelnd zu lachen. „Natürlich hab ich Battlecat! So langsam glaube ich, dass du auch ein bisschen sonderlich bist, Jenna.“ Sie genoss kurz den sanften Klang seines Lachens und stimmte dann mit ein.

Sie hatte diesen großen Mann mit den dunkelbraunen Augen unheimlich gern. Es wird schwer werden ihn gehen zu lassen, dachte sie plötzlich und wurde ernst. Toby Lincoln war vollkommen anders als die Männer, die Jenna im Laufe der Zeit kennengelernt hatte. Wenn er so dasaß und sie schweigend betrachtete, schien er den ganzen Raum zu erleuchten.

Er war charmant und unheimlich witzig, doch er brauchte keine Worte, um sie zu hypnotisieren. Seine Ausstrahlung war beeindruckend.

Das kleine Café am Museum of Art schien sich während der einkehrenden Dunkelheit langsam, aber sicher in eine zwielichtige Bar zu verwandeln, was die beiden extrem faszinierend fanden. Jenna hatte zum Beispiel bemerkt, wie sich ein altes Ehepaar, das seelenruhig ihren Kaffee an der Bar getrunken hatte, plötzlich in eine düster dreinblickende Frau mit einem offensichtlichen Alkoholproblem verwandelt hatte. Jenna und Toby lachten über den betrunkenen, älteren Herrn an der Jukebox, der nach Jennas Meinung ganz genauso aussah wie Roseanne Bar. Toby musste darüber so sehr lachen, dass der Klang seiner Stimme neugierige Blicke auf sich zog.

Jenna fand, dass er irgendwie im Mittelpunkt stand. So als würde diesen Mann ein warmes Licht umgeben. Egal wie verrückt es sein mochte, sie entschied sich, Toby Lincoln als etwas ganz Besonderes zu sehen. Etwas Wichtiges, das ein Teil von ihr nicht aufgeben wollte.

Nachdem Toby Jenna mit ernster Miene erklärt hatte, dass seine Frau ihn kastrieren würde, wenn er nicht bald zurück nach Hause käme, hatten sich die beiden schweren Herzens auf den Weg zu seinem Wagen gemacht, der in der Nähe des Cafés parkte.

Jenna beobachtete, wie Toby etwas gedankenverloren an der Fahrertür seines schwarzen Ford stehen blieb und durch die Dunkelheit starrte. Neugierig stellte sie fest, dass ihn etwas beschäftigte. Sie entschied sich, nicht nachzubohren, sondern einfach zu lächeln.

Sie hatte sich die letzten Stunden eisern geweigert, auf die Uhr zu sehen, da sie sowieso stets unter Zeitdruck stand. Als sie es dann doch tat, erschrak sie über die Uhrzeit. Zwei Stunden hatte Jenna mit Toby geredet. Es schien ihr, als wären es nur zehn Minuten gewesen. Etwas geknickt dachte sie daran, dass sich ihr Mann Cole offensichtlich nicht einmal wunderte, wo sie war. Er musste sicher schon seit einer Stunde zu Hause sein und hatte nicht einmal angerufen. Wahrscheinlich ist es ihm nicht aufgefallen, vermutete sie mit gerunzelter Stirn und bemerkte gar nicht, wie sie in ihren Gedanken versank.

„Jenna? Alles klar?“ Ertappt zuckte sie zusammen und begann etwas zu plötzlich wieder zu lächeln. „Ja. Es war schön dich mal wiedergesehen zu haben, Toby Lincoln.“ Ihre Stimme klang plötzlich so süß wie Honig, während sie zögernd auf ihn zuging und dann mit funkelnden Augen zu ihm aufschaute.

„Ich hab dich nie vergessen, weißt du? Ich meine, ich…“ Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte Jenna die Röte bemerkt, die schlagartig in sein Gesicht stieg. Warum hab ich das jetzt laut gesagt?, fragte er sich und fluchte innerlich. Jemandem zu sagen, man hätte ihn nach fünfzehn Jahren immer noch im Kopf, obwohl man nie mehr als drei Worte miteinander gewechselt hatte, fand er doch merkwürdig.

Er rammte mit gesenktem Blick die Fäuste in seine Hosentaschen und machte ein Gesicht, als hätte Jenna ihm gerade eine Ohrfeige verpasst. Sie musste schmunzeln, als sie das mit ansah. Dieser Mann hatte absolut keine Ahnung, wie süß er war, und das gefiel ihr so sehr, dass sie sich ohne Worte auf die Zehenspitzen stellte und ihre Arme vorsichtig um seinen Nacken schlang.

Als sie seine flache Atmung und den leisen Seufzer hörte, den er von sich gab, als er seine Arme besitzergreifend um ihre Hüften schlang, blieb Jenna für einen Augenblick lang das Herz stehen. Alles um sie herum verstummte urplötzlich und hinterließ eine intensive Wärme, die sich überall dort ausbreitete, wo sein Körper den ihren berührte. Was ist das nur für ein Gefühl? Völlig bestürzt über die heftige Anziehungskraft und einer Vertrautheit, die sie nie für möglich gehalten hatte, löste Jenna sich von Toby und hielt kurz die Luft an, um dann hörbar auszuatmen. Diese Schmetterlinge im Bauch würden sie noch umbringen.

Toby begann zu grinsen, als ihm klar wurde, dass nicht nur er vollkommen nervös war. Er fasste sich ein Herz und strich zögernd eine verirrte, blonde Strähne aus Jennas Gesicht. Er fand, dass sie ihn ansah, als würde sie nach etwas suchen. Nach etwas, das tief in seinem Innern verborgen lag und auf sie wartete. Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass er sich noch nie so heftig zu einer Frau hingezogen gefühlt hatte. Wie gerne hätte er ihr erklärt, wie stark die Elektrizität zwischen ihnen beiden sich für ihn anfühlte. Doch dafür war es noch zu früh, fand er. Oder zu spät, dachte Toby betrübt, als Anna ihm in den Sinn kam.

Jenna ging unsicher ein paar Schritte zurück, um die Entfernung zwischen ihnen beiden zu vergrößern. Sie wollte und musste darüber nachdenken, was heute Abend mit ihr geschehen war. Es ist nur Chemie, Jenna. Nur eine chemische Reaktion, beruhigte sie sich selbst und räusperte sich dann verlegen. „Also, ich muss dann auch mal los. Vielleicht sehen wir uns bald wieder.“ Obwohl ihre Worte nicht wie eine Frage geklungen hatten, erkannte er sie doch in ihren großen Augen, die geheimnisvoll im Licht der Straßenlaternen schimmerten.

„Ich würde jetzt gerne die Zeit anhalten, Jenna.“ Seine Worte waren wie Balsam für ihre Seele, denn genau dasselbe hatte sie in diesem Moment auch gedacht.

„Meine Nummer hast du ja. Melde dich einfach bei mir, und wir laufen wie Bescheuerte die zweiundsiebzig Stufen hoch! Du bist Rocky und ich bin Adrian.“ Toby lachte leise, als er sich dieses Szenario vorstellte und öffnete dann widerwillig die Wagentür.

„Mach’s gut!“ Jenna lächelte ihn noch einmal strahlend an, bevor sie sich zögernd abwandte.

„Bis dann.“

Toby schaute noch einen kurzen Augenblick zu, wie Jenna Barnes durch das Dunkel über die verlassene Straße schlenderte und beobachtete, wie das warme Licht der Laternen von ihrem goldenen Haar aufgefangen wurde. Plötzlich überkam ihn eine unerträgliche Panik, dass er sie vielleicht nicht mehr wiedersehen würde. Er schob energisch die Wagentür auf und lehnte sich über das Autodach. „Adrian!“, schrie er lauthals über die Straße. Es war so laut gewesen, dass nicht nur Jenna erschrocken zusammenfuhr, sondern ebenso ein alter Mann, der mit seinem kleinen Hund gerade nichtsahnend die Straße überquerte. „Was für ein Spinner!“, fluchte der alte Herr, als Jenna sich gerade laut auflachend zu Toby umdrehte.

„Wasist?“, brüllte sie kichernd zurück und erkannte durch die Dunkelheit nur noch die Silhouette von Toby, der offensichtlich immer noch an seinem Auto stand.

„Ich sehe dich doch wieder, oder?“ Sie hob überrascht die Augenbrauen, als sie eine leichte Angst in seiner Stimme erkannte. Es geht ihm nicht anders als mir, dachte sie und lächelte zufrieden in sich hinein.

„Ja!“, rief sie etwas zu energisch über die Straße. „Wirwerdenunswiedersehen!“

Einen Moment lang durchschnitt eine eisige Kälte die stille Atmosphäre und brachte Jenna eine intensive Gänsehaut. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief ein. An diesen Moment werde ich mich erinnern, dachte sie zufrieden und wandte sich wieder von Toby und seinem Ford ab.

Als sie den Motor seines Wagens hinter sich aufbrummen hörte, überkam sie wieder dieses heftige Bauchkribbeln, das drohte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Toby Lincoln hatte ihre kleine Welt ein Stück weit vergrößert, und anstatt in Panik auszubrechen, wie Jenna es oft insgeheim tat, entschloss sie sich diese fremden Gefühle einfach kampflos über sich ergehen zu lassen und friedlich in sich hineinzulächeln.

Eigentlich musste Jenna dringend nach Hause. Mrs Townsend hatte bereits vor zwei Stunden den kleinen Blumenladen geschlossen, und die Dunkelheit des Abends brachte eine eisige Kälte mit sich.

Sie war schon fast am Parkplatz des Museum of Art angekommen, als sie plötzlich kehrt gemacht und zu ihren geliebten zweiundsiebzig Stufen geschlendert war. Dort stand sie nun im orangenen Licht der Laternen am Fuße der mächtigen Treppe und starrte hinauf. Sie erinnerte sich noch einmal daran, wie Toby Lincoln in einem enormen Tempo an ihr vorbeigerauscht und die steinernen Stufen hinaufgehetzt war. Jenna rief sich das geheimnisvolle Glitzern seiner tiefbraunen Augen in Erinnerung und das Gefühl in ihr, als er sie an sich gezogen hatte. Das warme Kribbeln als sie sein zurückhaltendes, aber dennoch intensives Lachen gehört hatte. Wehmütig schloss sie die Augen. Dreiunddreißig Jahre war sie nun alt, und in dieser langen Zeit hatte sie niemals so heftig für einen Menschen empfunden.

Sie kannte ihn nicht einmal richtig. Doch diese unglaubliche Vertrautheit hatte ihr das Gefühl gegeben, als gehörte sie einfach zu diesem großen und liebenswerten Mann. Es war einfach alles richtig gewesen. Besser konnte Jenna es nicht beschreiben.

Wieder und wieder ging sie in Gedanken die Gespräche und die Blicke durch, als sie sich endlich ein Herz fasste und leicht betrübt in ihren VW stieg, um den Weg nach Hause anzutreten. Ob sie es nun wollte, oder nicht. Sie hatte keine Wahl.

Die Nacht brach bereits an, als Jenna im Türrahmen des Wohnzimmers lehnte und mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihre Couch starrte. Dort lag er und schlief tief und fest. Es war nicht neu für sie, dass ihr Mann auf der Couch eingeschlafen war. Eigentlich war es sogar ein Dauerzustand. Die Pizzaschachtel auf dem Tisch und der flackernde Fernseher vervollständigten das vertraute Bild. Jenna neigte den Kopf und betrachtete ihren schlafenden Ehemann, der in seiner Unterhose halb unter der zerwühlten Fernsehdecke ruhte. Wird es jetzt immer so sein?, fragte sie sich beinahe bestürzt. Sie fragte sich auch ob sie nun ihr Leben lang für sich selbst und für Cole sorgen musste. Jenna schloss kurz trübselig ihre müden Augen und atmete tief ein. Wer kümmert sich um mich?, fragte ein kleiner Teil in ihr, den sie tief in sich eingeschlossen hatte. Sie schüttelte eisern ihre aufkommende Traurigkeit ab und stemmte dann mit einem gezwungenen Lächeln die Fäuste in ihre schmalen Hüften. „Wenigstens trägst du keine Feinrippunterwäsche mit Eingriff.“, flüsterte sie zu dem schlafenden Cole und wandte sich dann grinsend von ihm ab, um endlich schlafen zu gehen.

An alles, woran sie nun noch denken wollte, waren Toby Lincolns dunkle Augen und der sanfte Klang seiner Stimme. Wenn Jenna sich schon etwas gönnen durfte, dann wenigstens das. Denn ihre Gedanken gehörten nur ihr allein, und das konnte ihr niemand wegnehmen.

Es vergingen achtundvierzig Stunden der Ruhelosigkeit, in denen Jenna nichts von Toby hörte. Obwohl ihr die Welt seit dem Abend im Café nun farbloser vorkam und sich alles irgendwie anders anfühlte, begann sie, sich einzureden, dass sie sich getäuscht hatte. Dass es unmöglich war, sich ganz und gar in jemandem zu verlieren, den man kaum kannte. Es schien ihr plötzlich dumm und sinnlos zu sein.

Jenna versuchte, das zwanghafte Starren auf ihr Handy abzuschalten, und jedes Mal, wenn sie es wieder tat, konnte sie nur darüber lachen. Für sie hatte sich alles verändert. Doch weil Cole diesen unerklärlichen Wandel ihrer kleinen Welt offensichtlich nicht bemerkte, hatte Jenna es leichter, mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Vielleicht hatte sich nichts verändert. Vielleicht hatte nur Jenna sich verändert, und das in einem scheinbar winzigen Moment. In einem einzigen Augenblick.

Ihre Gedanken über den Verlauf ihres bisherigen Lebens nagten plötzlich so stark an ihr, dass es Jenna kaum möglich war, den Alltag sorglos zu bewältigen. Trotzdem hielt sie eisern stand, kümmerte sich um den Haushalt, sorgte für Cole und ging zur Arbeit, weil das eben ihr Leben war. Als sie kurz davor war, von ihren eigenen zweifelhaften Gedanken verrückt zu werden, bekam Jenna endlich die Nachricht von Toby, auf die sie eine gefühlte Ewigkeit gewartet hatte. In dem Augenblick, als sie seine SMS auf ihrem Handy las, hörte ihre kleine Welt ganz plötzlich auf, sich zu drehen, und alles verstummte.

Die Tage vergingen wie im Fluge, während Jenna nur auf den Moment wartete, in dem Toby ihr schrieb. Ihre Welt wurde still. An jedem einzelnen Tag konnte sie es kaum abwarten, sich von Mrs Townsend zum Feierabend zu verabschieden, nach Hause zu rasen und ihren Abend damit zu verbringen, Toby alles zu erzählen, was ihr auf der Seele brannte.

Jenna vernachlässigte keineswegs ihr Leben. Die stundenlangen Gespräche mit Toby waren ihre Belohnung für jeden arbeitsreichen Tag, den sie stolz hinter sich brachte. Sie arbeitete schneller und effizienter in ihrem kleinen Mietshaus, um mehr Zeit mit seinen Nachrichten verbringen zu können, und sie bemerkte auch, dass sie mehr lachte. Jenna Barnes nahm die Welt um sich herum intensiver wahr, und es verging kein Tag, an dem nicht irgendetwas Komisches passierte, das sie sofort Toby erzählen wollte. Es waren die winzigsten Kleinigkeiten, die sie für so wichtig empfand, dass sie es ihrem großen, dunkelhaarigen Freund mitteilen musste.

Beinahe eine Woche verging, in der sie täglich kommunizierten. Sie tauschten so viele Dinge aus, die sie hassten, liebten und interessant fanden, dass Jenna sich zu fragen begann, ob Toby Lincoln ihre zweite Hälfte war. Er schrieb Dinge, die sie dachte, und hatte scheinbar stets die gleichen Ansichten. Er war wie sie. Fantasievoll, ironisch, nachdenklich und emotional.

Vielleicht hatte sie ihn deshalb so gern. Weil er emotional war, und weil er sie stets nach ihren Gefühlen fragte. Wer tut das sonst schon?, grübelte Jenna vor sich hin, während sie in ihrem kleinen Vorgarten herumspazierte.

Es war ein sonniger Sonntag, an dem sie sich die Zeit nahm, nach ihren Pflanzen zu sehen. Jenna hatte den ganzen Samstag lang geputzt und aufgeräumt, um den heutigen Tag für sich und ihre Gedanken freizuhaben. Lächelnd beugte sie sich über ihr kleines Beet, das sie am weißen Gartenzaun angelegt hatte, und bewunderte die winzigen Spitzen der Frühlingsblüher, die sich langsam aus der dunklen Erde wagten. Ihr Handy hatte sie heute ausnahmsweise mal nicht in ihrer Hosentasche, denn sie wusste mittlerweile, dass Toby ihr am Wochenende kaum schrieb.

Da sie beide kaum über ihre Partner sprachen, konnte Jenna nur erahnen, weshalb das so war. Anna, dachte sie stirnrunzelnd und atmete schwer aus. Wenn er mir gehörte, würde ich auch meine freien Tage mit ihm verbringen. Sie konnte es ihm nicht verübeln, dass er die Wochenenden mit seiner Frau verbrachte. Das wäre in Jennas Augen nicht nur egoistisch, sondern auch respektlos gewesen. Wenn irgendjemand ihren Respekt verdient hatte, dann war es Toby Lincoln. Der einzige Mann, der es in kurzer Zeit geschafft hatte, sie davon zu überzeugen, dass sie eine schöne Frau war. Der erste, der ihr immer wieder klarmachen wollte, dass sie anders war. Etwas Besonderes.

Sie lächelte bei diesem Gedanken zufrieden und atmete die klare Luft des milden Tages ein. „Hey, Jenna!“ Abrupt aus ihren Gedanken gerissen ertappte sie sich dabei, wie sie beim Klang von Coles Stimme mit den Augen rollte. Sofort fragte sie sich, ob er ihr eigentlich schon länger auf die Nerven ging oder ob es erst seit kurzem so war. „Was ist?“ Coles Kopf lugte aus der Haustür, als Jenna sich zu ihm umdrehte.

„Warst du gestern nicht einkaufen? Der Kühlschrank ist voll leer!“ Es klang eigentlich nicht vorwurfsvoll, aber Jenna fühlte sich für einen kurzen Augenblick trotzdem ertappt. Sie ignorierte es eisern.

„Wie kann denn bitte der Kühlschrank voll und leer zur selben Zeit sein?“

„Du weißt genau, was ich damit meine.“, antwortete Cole mit genervtem Blick und kam ihr träge entgegen. Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften. Sie hasste Streit wie die Pest. Jenna glaubte sogar, dass sie gar nicht in der Lage war, sich anständig zu streiten. „Cole. Ich war gestern den ganzen verdammten Tag im Haushalt beschäftigt, und was hast du gemacht? Du hingst in Embryostellung vor der Glotze rum und hast dich absolut nicht bewegt!“ Jetzt klang sie vorwurfsvoll.

„Ich hab ’nen harten Job, Jenna.“ Vielleicht würde sie sich besser fühlen, wenn sie jetzt einen Streit anfing. „Ich arbeite auch, du Arsch! Von den Arbeiten hier im und am Haus ganz zu schweigen. Sieh dir das an!“ Jenna zeigte mit dem Arm auf die kleine Gartenleuchte aus Edelstahl, die schon vor Wochen aus ihrem Fundament gebrochen war und im Blumenbeet lag. Cole begann zu grinsen.

„Wieso? Die funktioniert doch noch.“ Jenna überlegte gerade, wie groß der Stein wohl sein sollte, den sie ihrem faulen Mann an den Kopf werfen musste.

„Sie liegt auf dem Boden! Leuchten sollten nicht auf dem Boden liegen.“

„Ich hab keine Zeit. Ich muss gleich noch zu einem Freund.“ Jenna schloss genervt die Augen und versuchte, ihre innere Ruhe zu finden, die sie gerade eben verloren hatte. „Dann mach ich es eben selbst.“, sagte sie, wie zu sich selbst, als Cole auch schon wieder in der Haustür verschwunden war. Wie immer hatte sie das Gefühl dieses sinnlose Gespräch gerade mit sich selbst geführt zu haben.

Ein Teil von ihr wusste, dass Cole in seinem Elternhaus immer alles abgenommen worden war. Er wusste es vielleicht nicht besser. Der andere, größere, Teil in Jenna war furchtbar enttäuscht. Sie fragte sich, warum er nicht ein einziges Mal während ihrer Beziehung etwas für sie getan hatte. Sie wusste nicht einmal, wie es sich anfühlte, das Frühstück ans Bett gebracht zu bekommen. Dabei war es doch nur eine Kleinigkeit, etwas