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Von der Freude und Traurigkeit des Erwachsenwerdens, vom Ende der Unschuld und von der Kraft der Anteilnahme Im Sommer des Jahres 1961 kommt der Tod in vielen Formen nach New Bremen. Als Unfall. Als Selbstmord. Und als Mord. Zusammen mit seinem kleinen Bruder Jake scheint der dreizehnjährige Frank immer am falschen Ort zu sein – oder am richtigen, schließlich liefert eine Leiche auch Stoff für gute Geschichten. Bis das Sterben auch Franks Familie heimsucht. Plötzlich tut sich vor den Brüdern die ganze Welt der Erwachsenen auf, und der Tod fordert von allen eine Entscheidung: für die Familie, die Freunde und das Leben. »Ein wundervoller Erzählton. Ich liebe dieses Buch.« Dennis Lehane
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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Tanja Handels
© Piper Verlag GmbH, München 2019Deutsche Erstausgabe© 2013 by William Kent KruegerPublished by arrangement with William Kent KruegerTitel der amerikanischen Originalausgabe: »Ordinary Grace« bei Atria Books, New York, 2013Covergestaltung:Covermotiv:
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
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Epilog
Danksagung
Für Diane, meinen größten Segen
Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.
Blaise Pascal
Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten. Er hieß Bobby Cole. Er war ein liebenswertes Kind, und damit meine ich vor allem, dass sein Blick immer verträumt wirkte und ein halbes Lächeln auf seinen Lippen lag, als würde er gleich etwas begreifen, das man ihm schon seit Stunden zu erklären versuchte. Ich hätte ihn besser kennenlernen, ihm ein besserer Freund sein sollen. Er wohnte ganz in unserer Nähe, und wir waren gleich alt. Aber in der Schule war er zwei Klassen unter mir und verdankte es nur dem Wohlwollen einiger Lehrer, dass er nicht noch weiter zurückblieb. Er war ein schmächtiges Kind, ein argloses Kind, das der dieselbefeuerten Kraft einer Lokomotive der Union Pacific Railroad nicht das Geringste entgegenzusetzen hatte.
Es war ein Sommer, in dem uns der Tod in vielen Gestalten heimsuchte. Als Unfall. Als natürliches Phänomen. Als Selbstmord. Als Mord. Man sollte meinen, dass ich diesen Sommer als Tragödie in Erinnerung habe, und so ist es auch, aber eben nicht nur. Mein Vater zitierte gern den griechischen Dichter Aischylos: »Er führt die Menschen zum Denken, belehrt sie durch Leiden, gibt ein Gesetz. Wenn auch die Sorge, Unglück erweckend, den Schlaf vom Herzen vertreibt: Am Ende naht sich das Wissen auch dem, der sich sträubt. Göttliche Gnade steuert gewaltig und ernst mit den Schlägen des Ruders das Schicksal des Menschen.«
Vielleicht ging es in jenem Sommer letztlich genau darum. Ich war ja kaum älter als Bobby und konnte solche Dinge noch nicht erfassen. Inzwischen sind vier Jahrzehnte verstrichen, aber auch jetzt noch bin ich nicht sicher, ob ich es vollständig begreife. Ich verbringe nach wie vor viel Zeit damit, über die Ereignisse jenes Sommers nachzudenken. Über den schrecklichen Preis der Weisheit. Die göttliche Gnade, gewaltig und ernst.
Mondlicht sammelte sich auf dem Boden des Zimmers. Draußen belebte das Zirpen der Grillen und anderen Nachtgetiers das Dunkel. Es war noch nicht einmal Juli und trotzdem schon brütend heiß. Vielleicht lag ich deswegen wach. 1961 besaßen nur die reichsten Bewohner von New Bremen eine Klimaanlage. Wir anderen bekämpften die Hitze, indem wir tagsüber die Vorhänge schlossen und die Sonne aussperrten, und nachts lockten Ventilatoren die Verheißung kühlerer Luft heran. In unserem Haus gab es nur zwei Ventilatoren, und keiner davon stand in dem Zimmer, das ich mir mit meinem Bruder teilte.
Während ich mich auf der Bettdecke hin und her warf und versuchte, trotz der Hitze eine bequeme Position zu finden, klingelte das Telefon.
Vater sagte oft, dass Anrufe mitten in der Nacht nie etwas Gutes bedeuten. Trotzdem nahm er immer ab. Ich vermutete, dass das auch zu seiner Arbeit gehörte, als eines von den vielen Dingen, die Mutter an seinem Beruf verabscheute. Das Telefon stand auf einem Tischchen draußen im Flur vor meinem Zimmer. Ich starrte zur Decke hinauf und lauschte dem blechernen Schrillen, bis das Licht im Flur anging.
»Hallo?«
Auf der anderen Zimmerseite regte sich Jake, ich hörte sein Bettgestell quietschen.
Vater fragte: »Sonst irgendwelche Schäden?« Dann sagte er, müde und höflich: »Ich bin in ein paar Minuten da. Danke, Cleve.«
Er hatte noch nicht aufgelegt, da war ich schon aus dem Bett und stand im Flur. Seine Haare waren wild und zerzaust vom Schlaf, auf den Wangen lag ein bläulicher Bartschatten. Er sah müde und traurig aus. Er trug ein T-Shirt und gestreifte Boxershorts.
»Geh wieder schlafen, Frank«, sagte er.
»Kann ich nicht«, sagte ich. »Es ist zu heiß, ich war sowieso schon wach. Wer war das?«
»Die Polizei.«
»Ist jemand verletzt?«
»Nein.« Er schloss die Augen und rieb sich die Lider. »Es ist wegen Gus.«
»Ist er betrunken?«
Vater nickte gähnend.
»Und im Gefängnis?«
»Geh wieder ins Bett.«
»Kann ich mitkommen?«
»Du sollst wieder ins Bett gehen.«
»Bitte. Ich störe bestimmt nicht. Und schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr.«
»Sprich leiser. Du weckst ja alle auf.«
»Bitte, Dad.«
Er hatte genügend Energie gehabt, aufzustehen und seine Pflicht zu erfüllen, aber um das Drängeln eines Dreizehnjährigen abzuwehren, der mitten in einer drückenden Sommernacht ein Abenteuer wittert, reichten seine Kräfte nicht. Also sagte er: »Zieh dich an.«
Jake saß auf der Bettkante. Er trug bereits seine Shorts und streifte gerade die Socken über.
»Wo willst du denn hin?«, fragte ich.
»Ich fahre mit.« Er kniete sich hin und angelte in der Schwärze unter seinem Bett nach seinen Turnschuhen.
»Den Teufel tust du.«
»Du hast Teufel gesagt«, kommentierte er halb unter dem Bett hervor.
»Und du bleibst hier, Howdy Doody.«
Jake war zwei Jahre jünger als ich und zwei Köpfe kleiner. Wegen seiner roten Haare, der Sommersprossen und der Ohren, die abstanden wie die Henkel einer Zuckerdose, nannten die anderen ihn manchmal Howdy Doody, wie die Bauchrednerpuppe aus dem Fernsehen. Wenn ich sauer war, sagte auch ich Howdy Doody zu ihm.
»Du kannst mir gar nichts b-b-b-befehlen«, sagte er.
In der Öffentlichkeit stotterte Jake ständig, aber bei mir tat er es nur, wenn er wütend oder verängstigt war.
»Nein«, gab ich zurück, »aber ich kann dich zu B-B-B-Brei schlagen, wenn ich will.«
Er hatte seine Turnschuhe gefunden und zog sie an.
Die Nacht ist die Finsternis der Seele, und für mich lag ein lustvoller Reiz darin, zu einer Uhrzeit auf den Beinen zu sein, zu der die ganze Welt tief und fest schlief. Vater brach häufig zu diesen einsamen Missionen auf, aber ich hatte noch nie mitkommen dürfen. Das war etwas Besonderes, und ich wollte es nicht mit Jake teilen. Aber ich hatte schon genug kostbare Zeit verschwendet, also ließ ich den Streit ruhen und zog mich an.
Mein Bruder wartete schon im Flur, als ich aus dem Zimmer kam. Ich hätte gern noch weiter mit ihm gestritten, aber da trat Vater aus dem Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Er musterte Jake, als läge ihm eine scharfe Bemerkung auf der Zunge. Aber dann seufzte er nur und bedeutete uns, vor ihm die Treppe hinunterzugehen.
Draußen zirpten die Grillen wie wahnsinnig. Glühwürmchen hingen in der schwülen, schwarzen Nachtluft, blitzten auf und verloschen wie das träge Blinzeln träumender Augen. Als wir zur Garage gingen, glitten unsere Schatten vor uns her wie schwarze Boote auf einem silbrigen Meer aus Mondlicht.
»Ich sitz vorn!«, rief Jake.
»Ach, komm. Du hast hier doch eigentlich gar nichts verloren.«
»Aber ich hab’s als Erster gesagt.«
So lautete die Regel. Und in New Bremen, einer Stadt, die von Deutschen erbaut und bevölkert worden war, hielt man sich an die Regeln. Trotzdem beklagte ich mich weiter, bis Vater sich einschaltete. »Jake hat es als Erster gesagt«, entschied er. »Keine Diskussionen, Frank.«
Wir stiegen in den Wagen, einen dosenerbsengrünen Packard Clipper, Baujahr 1955, den Mutter »Lizzie« getauft hatte. Sie gab jedem unserer Autos einen Namen. Den Studebaker nannte sie »Zelda«. Der Pontiac Star Chief hieß »Klein Lulu«, nach der gleichnamigen Zeichentrickfigur. Es hatte noch weitere gegeben, aber ihr Liebling – der Liebling der ganzen Familie, bis auf Vater – war dieser Packard. Er war gewaltig, leistungsstark und elegant. Und er war ein Geschenk von Großvater und ein ständiger Streitpunkt zwischen meinen Eltern. Obwohl Vater es nie klar äußerte, hatte es, glaube ich, seinen Stolz verletzt, ein so kostspieliges Geschenk von einem Mann anzunehmen, den er nicht sonderlich mochte und dessen Werte er offen kritisierte. Schon damals war mir klar, dass Großvater Vater für einen Versager hielt und fand, Mutter habe etwas Besseres verdient. Jedes Abendessen, bei dem die beiden an einem Tisch saßen, war wie ein dräuendes Gewitter.
Wir fuhren los und durchquerten die Ebene – so nannten wir das Viertel von New Bremen, in dem wir wohnten. Es erstreckte sich am Ufer des Minnesota River unterhalb des Hochlands, wo die wohlhabenden Familien residierten. Dort, hoch über uns, lebten durchaus auch Leute, die nicht reich waren, aber niemand mit Geld zog in die Ebene. Wir fuhren an Bobby Coles Haus vorbei. Wie alle anderen Häuser auf unserem Weg war es stockdunkel. Ich versuchte, mir seinen Tod zu vergegenwärtigen, der erst einen Tag zurücklag. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein anderes Kind gestorben war, und es kam mir unnatürlich und schauerlich vor, als hätte ein Ungeheuer Bobby Cole geraubt.
»Hat G-G-Gus Ärger?«, fragte Jake.
»Ein bisschen«, antwortete Vater. »Aber es ist nicht so schlimm.«
»Hat er nichts kaputt gemacht?«
»Diesmal nicht. Er hat mit einem anderen Mann Streit angefangen.«
»Das macht er oft.«
»Aber nur, wenn er betrunken ist«, meldete ich mich vom Rücksitz. Normalerweise war Vater dafür zuständig, Rechtfertigungen für Gus zu finden, aber er blieb auffallend still.
»Dann ist er eben oft betrunken«, sagte Jake.
»Genug jetzt.« Vater hob die Hand, und wir hielten den Mund.
Wir fuhren die Tyler Street entlang und bogen auf die Main Street ab. Die ganze Stadt war dunkel und voll wunderbarer Verheißung. Ich kannte New Bremen so gut wie mein eigenes Spiegelbild, aber nachts änderten sich die Dinge. Dann trug die Stadt ein anderes Gesicht. Das Ortsgefängnis lag direkt am Marktplatz. Nach der ersten Evangelisch-Lutherischen Kirche war es das zweitälteste Gebäude von New Bremen. Beide waren aus dem gleichen Granit erbaut worden, der dem Steinbruch vor der Stadt entstammte. Vater parkte schräg vor dem Gefängnis.
»Ihr zwei bleibt hier«, sagte er.
»Ich muss auf die Toilette.«
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu.
»Tut mir leid. Bis wir wieder zu Hause sind, kann ich nicht warten.«
Er musste wirklich todmüde sein, so schnell, wie er nachgab. »Gut, dann komm mit. Du auch, Jake.«
Ich hatte das Gefängnis noch nie von innen gesehen, aber es hatte meine Fantasie immer schon intensiv beschäftigt. Jetzt stand ich in einem kleinen, schmucklosen Raum, der von Neonröhren erleuchtet wurde und sich in vielerlei Hinsicht kaum vom Maklerbüro meines Großvaters unterschied. Zwei Schreibtische, ein Aktenschrank und ein Schwarzes Brett mit Aushängen. In die rechte Wand war eine vergitterte Zelle eingelassen, und in der Zelle saß ein Häftling.
»Danke für’s Kommen, Mr Drum«, sagte der Polizist.
Sie gaben sich die Hand, und Vater stellte uns vor. Officer Cleve Blake sah jünger als Vater aus, er trug eine goldene Nickelbrille und blickte uns aus blauen, verstörend aufrichtigen Augen an. Trotz der späten Stunde und der schwülen Nacht wirkte er in seiner Uniform wie aus dem Ei gepellt.
»Ist es nicht schon ein bisschen spät für euch, Jungs?«
»Wir konnten nicht schlafen«, antwortete ich. »Es ist viel zu heiß.«
Jake schwieg. Das war seine übliche Strategie, wenn er befürchtete, vor anderen Leuten zu stottern.
Den Mann in der Zelle kannte ich. Morris Engdahl. Ein unangenehmer Zeitgenosse. Schwarzes Haar, mit Pomade zur Schmalztolle gekämmt, und eine Vorliebe für schwarze Lederjacken. Er war ein Jahr älter als meine Schwester, die gerade die Highschool abgeschlossen hatte. Engdahl hatte keinen Schulabschluss. Er war geflogen, weil er einem Mädchen, das nicht mit ihm ausgehen wollte, ins Schließfach gekackt hatte. Aber er besaß den heißesten fahrbaren Untersatz, den ich je gesehen hatte. Einen schwarzen Ford Deuce Coupe, Baujahr 1932, mit Selbstmördertüren, chromglänzendem Kühlergrill und Weißwandreifen. Auf die Seiten waren Flammen gemalt, als züngelte Feuer den Wagen entlang.
»Na, wen haben wir denn da? Das Frankfurter Würstchen und Howdy D-D-D-Doody«, rief er. Er hatte ein blaues Auge und nuschelte seine Worte hinter einer geschwollenen Lippe hervor. Durch die Gitterstäbe richtete er seinen bösen Blick auf Jake. »Wie g-g-g-geht’s, wie steht’s, Schwachkopf?«
Jake hatte wegen seines Stotterns schon alles Mögliche einstecken müssen. Ich war mir sicher, dass es ihm naheging, aber meistens machte er einfach dicht und starrte vor sich hin.
»Jake ist kein Schwachkopf, Mr Engdahl«, sagte Vater ruhig. »Er stottert nur.«
Ich war erstaunt, dass Vater Morris Engdahl überhaupt kannte. Sie verkehrten nicht gerade in denselben Kreisen.
»Ach w-w-w-was«, gab Engdahl zurück.
»Das reicht jetzt, Morris«, sagte Officer Blake.
Vater beachtete Engdahl nicht weiter und fragte den Polizisten, worum es denn eigentlich gegangen sei.
Blake zuckte die Achseln. »Zwei Besoffene, ein falsches Wort. Wie ein Streichholz am Benzinkanister.«
»Ich bin nicht besoffen.« Engdahl saß vornübergebeugt auf dem äußersten Rand einer langen Metallbank und starrte auf den Boden, als überlegte er, ob es wohl ratsam wäre, dort hinzukotzen.
»Er ist ja auch noch gar nicht alt genug, um in der Öffentlichkeit zu trinken, Cleve«, gab Vater zu bedenken.
»Darüber rede ich dann noch mit der Belegschaft von Rosies Bar«, erwiderte der Officer.
Hinter einer Tür in der Rückwand des Raums rauschte eine Toilettenspülung.
»Ist viel zu Bruch gegangen?«, fragte Vater.
»Hauptsächlich Morris. Sie haben sich auf dem Parkplatz geprügelt.«
Die Tür in der Hinterwand wurde geöffnet, und ein Mann kam heraus, der noch am Reißverschluss seiner Hose nestelte.
»Doyle, ich wollte gerade erzählen, wie du Engdahl und Gus hergebracht hast.«
Der andere Mann setzte sich und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er trug keine Uniform, aber aus der Behaglichkeit, mit der er sich im Gefängnis bewegte, schloss ich, dass auch er Polizist sein musste. »Ja«, sagte er. »Ich habe mir nach Feierabend noch einen in Rosies Bar genehmigt. Die beiden sind in der Kneipe aufeinander los, haben sich allen möglichen Mist an den Kopf geworfen. Als sie dann draußen weitergemacht haben, fand ich, es wird langsam Zeit, die Party zu beenden.«
Vater wandte sich wieder an Officer Blake: »Kann ich Gus jetzt mitnehmen?«
»Klar. Er ist hinten.« Der Polizist kramte in der Schreibtischschublade nach dem Schlüssel. »Ein schreckliches Unglück, das mit dem kleinen Cole. Ich habe gehört, Sie waren gestern den halben Tag bei den Eltern.«
»Ja«, antwortete Vater.
»Ich muss sagen, mein Job ist mir deutlich lieber als Ihrer.«
»Mir gibt die Sache ja zu denken«, schaltete sich Doyle ein, der Polizist außer Dienst. »Ich hab den Jungen schon x-mal dort auf den Gleisen gesehen. Wahrscheinlich mochte er Züge. Aber keine Ahnung, wie er sich von einem totfahren lassen konnte.«
»Wie meinst du das?«, fragte Officer Blake.
»Ich habe mit Jim Gant geredet. Er war als Erster vor Ort. Gant meinte, es hätte ausgesehen, als hätte der Junge einfach im Gleis gehockt. Hat sich nicht vom Fleck gerührt, als der Zug kam. Komisch, oder? Er war ja nicht taub.«
»Vielleicht war er auch so ’n Schwachkopf wie Howdy Doody hier«, ließ sich Engdahl aus der Zelle vernehmen. »Zu blöd, um den Hintern rechtzeitig vom Gleis zu kriegen.«
»Noch ein Wort von dir«, sagte Doyle, »und ich komm rein und verpass dir eine.«
Officer Blake hatte endlich den richtigen Schlüssel gefunden und schloss die Schublade wieder. »Gibt es denn Ermittlungen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Offiziell war’s ein Unfall. Und es gibt keine Zeugen, die was anderes behaupten.«
»Ihr bleibt hier, Jungs«, sagte Officer Blake. »Und du, Morris, benimmst dich.«
»Kann mein Sohn kurz Ihre Toilette benutzen, Cleve?«, fragte Vater.
»Aber klar«, antwortete der Officer. Er schloss die Metalltür auf, aus der Doyle vorhin gekommen war, und führte Vater hindurch.
Ich musste gar nicht auf die Toilette. Das war nur ein Vorwand gewesen, um mit ins Gefängnis kommen zu dürfen. Ich hatte Angst, dass Doyle darauf herumreiten würde, aber ihn schien das gar nicht zu interessieren.
Jake starrte Engdahl unverwandt an. Sein Blick hätte töten können.
»Was glotzt du so, Schwachkopf?«
»Er ist kein Schwachkopf«, sagte ich.
»Klar, und deine Schwester hat keine Hasenscharte, und dein Alter ist keine Scheißmemme.« Er lehnte den Kopf an die Wand hinter sich und schloss die Augen.
Ich fragte Doyle: »Wie haben Sie das mit Bobby gemeint?«
Er war groß und hager und sah zäh aus wie Leder. Das Haar trug er in einem kurzen Bürstenschnitt, und seine Stirn glänzte in der heißen Nacht vor Schweiß. Seine Ohren standen mindestens so sehr ab wie die von Jake, aber einen Mann wie ihn nannte niemand, der noch halbwegs bei Verstand war, Howdy Doody. »Kanntest du ihn?«, fragte er.
»Ja.«
»Netter Junge, was? Nur ein bisschen langsam.«
»So langsam, dass er’s nicht mal schafft, ’nem Zug auszuweichen!«, rief Engdahl.
»Schnauze, Engdahl.« Doyle sah wieder zu mir. »Spielst du auch manchmal auf den Gleisen?«
»Nein«, log ich.
Er sah Jake an. »Du?«
»Nein«, antwortete ich für ihn.
»Gut so. Da sind nämlich Gammler unterwegs. Männer, die anders sind als die anständigen Leute hier in New Bremen. Falls euch so einer mal anspricht, kommt ihr sofort hierher und erzählt es mir. Fragt einfach nach Officer Doyle.«
»Glauben Sie, das ist Bobby passiert?« Ich war wie vom Donner gerührt. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Bobbys Tod kein Unfall gewesen sein könnte. Aber ich war ja auch kein erfahrener Polizist wie Officer Doyle.
Er ließ die Fingerknöchel knacken. »Ich sag einfach nur, ihr sollt die Augen offen halten, wenn sich jemand an den Gleisen rumtreibt. Klar?«
»Ja, Sir.«
»Sonst holen euch die Kobolde, wenn ihr nicht aufpasst«, sagte Engdahl. »Zarte Bissen wie dich und den Schwachkopf haben die zum Fressen gern.«
Doyle erhob sich. Er trat vor die Zelle und winkte Morris Engdahl an die Gitterstäbe. Engdahl kauerte sich auf der Bank zusammen und drückte sich an die Wand.
»Wusste ich’s doch«, sagte Doyle.
Die Metalltür ging wieder auf, und Officer Blake trat heraus. Hinter ihm kam Vater. Er stützte Gus, der kaum aufrecht gehen konnte. Gus wirkte deutlich betrunkener als Engdahl, war aber völlig unversehrt.
»Ihr lasst den wirklich gehen?«, rief Engdahl. »Das ist unfair, verdammt noch mal!«
»Ich habe mit deinem Vater gesprochen«, sagte Officer Blake. »Er meinte, eine Nacht im Gefängnis würde dir ganz guttun. Beschwer dich also bei ihm.«
»Mach uns die Tür auf, Frank«, sagte Vater. Dann drehte er sich noch einmal zu Blake um. »Danke, Cleve. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
»Ist ja auch für uns einfacher. Aber du musst dich in Acht nehmen, Gus. Der Chief verliert langsam die Geduld mit dir.«
Gus grinste bierselig. »Wenn er reden will, sag ihm, ich besprech das gerne bei ’nem Bier.«
Ich hielt die Tür auf, und Vater beförderte Gus nach draußen. Ich schaute noch einmal zurück zu Morris Engdahl auf seiner harten Bank. Heute, vierzig Jahre später, ist mir klar, dass ich dort nur einen Jungen sah, der eigentlich kaum älter war als ich. Mager, zornig, verblendet, verloren und weder zum ersten noch zum letzten Mal hinter Gittern. Wahrscheinlich hätte ich ihm etwas anderes entgegenbringen sollen als das, was ich empfand: Abscheu. Ich schloss die Tür.
Als wir am Wagen waren, richtete Gus sich plötzlich auf und wandte sich meinem Vater zu. »Danke, Captain.«
»Steig ein.«
»Was ist mit meinem Motorrad?«, fragte Gus.
»Wo steht das?«
»Vor Rosies Bar.«
»Du kannst es morgen holen, wenn du wieder nüchtern bist. Steig ein.«
Gus schwankte leicht. Er sah zum Mond herauf. Sein Gesicht wirkte in dem bleichen Licht völlig blutleer. »Warum macht er das, Captain?«
»Wer?«
»Gott. Warum holt er immer die Nettesten?«
»Irgendwann holt er uns alle zu sich, Gus.«
»Aber ein Kind?«
»Habt ihr euch deshalb gestritten? Wegen Bobby Cole?«
»Engdahl hat ihn ’nen Schwachkopf genannt, Captain. Hat gemeint, tot wär er besser dran. Das konnte ich ihm doch nicht durchgehen lassen.« Gus schüttelte verständnislos den Kopf. »Also, Captain, warum ist Gott so?«
»Ich weiß es nicht, Gus.«
»Aber ist das nicht Ihr Job? Zu wissen, warum der ganze Mist passiert?« Gus sah enttäuscht aus. Dann sagte er: »Tot. Was heißt das eigentlich?«
»Es heißt«, meldete sich Jake zu Wort, »dass er sich nicht m-m-mehr darum zu sorgen braucht, wer sich über ihn l-l-l-lustig macht.«
Gus musterte Jake. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist das der Grund. Was meinen Sie, Captain?«
»Vielleicht.«
Gus nickte, als wäre er damit zufrieden. Er beugte sich zur offenen Autotür, um auf den Rücksitz zu steigen, blieb dann aber stehen und erbrach sich schauerlich.
»Ach, Gus. Direkt auf die Sitze«, seufzte Vater.
Gus richtete sich auf, zog den Hemdzipfel aus der Hose und wischte sich über den Mund. »Tut mir leid, Captain. Kam etwas unerwartet.«
»Setz dich nach vorn«, sagte Vater. »Frank, du und Jake, ihr müsst laufen. Ist das ein Problem?«
»Nein, Sir. Aber können wir den Wagenheber aus dem Kofferraum haben? Für den Notfall?«
New Bremen war beileibe keine Stadt, in der man einen Wagenheber brauchte, um sich zu schützen, aber ich deutete mit dem Kopf auf Jake, der bei der Aussicht, durch die Nacht nach Hause zu laufen, ein bisschen blass geworden war, und Vater verstand. Er öffnete den Kofferraum und gab mir die Eisenstange. »Aber nicht trödeln«, sagte er.
Dann setzte er sich auf den Fahrersitz. »Wenn du dich noch mal übergeben musst, Gus, dann bitte aus dem Fenster. Verstanden?«
»Laut und deutlich, Captain.« Gus grinste tapfer und winkte uns zu, ehe Vater losfuhr.
Wir standen im Mondschein auf dem verlassenen Marktplatz. Das Gefängnis war das einzige Gebäude weit und breit, in dem noch Licht brannte. Auf der anderen Seite der Grünfläche ließ die Rathausuhr vier dumpfe Schläge hören.
»In einer Stunde wird es hell«, sagte ich.
»Ich will nicht nach Hause laufen«, sagte Jake. »Ich bin müde.«
»Dann bleibst du eben hier.«
Ich ging los. Einen Moment später folgte mir Jake.
Wir gingen aber nicht nach Hause. Jedenfalls nicht gleich. An der Sandstone Street bog ich von der Main Street ab.
»Wo willst du hin?«, fragte Jake.
»Wirst du schon sehen.«
»Ich will nach Hause.«
»Gut, dann geh nach Hause.«
»Ich will aber nicht allein laufen.«
»Dann komm mit. Es wird dir gefallen, versprochen.«
»Wie, gefallen?«
»Wirst schon sehen.«
Eine Straßenecke weiter, an der Walnut Street, lag eine Kneipe mit einem Schild über der Tür. Rosies Bar. Auf dem Parkplatz stand eine Indian Chief mit Beiwagen, Baujahr 1953. Gus’ Motorrad. Sonst parkte nur ein Auto dort: ein schwarzer Deuce Coupe, dessen Seiten mit Flammen bemalt waren. Ich näherte mich dem Schmuckstück und fuhr bewundernd mit der Hand über die Rundung des vorderen Radkastens, wo sich ein silberner Streifen Mondlicht über die schwarze Lackierung schlängelte. Dann brachte ich mich in Stellung, holte mit dem Wagenheber aus und schlug den linken Scheinwerfer ein.
»Was machst du denn da?«, schrie Jake.
Ich ging zum anderen Scheinwerfer, und das Geräusch von splitterndem Glas zerriss ein zweites Mal die nächtliche Stille.
»Hier.« Ich reichte meinem Bruder den Wagenheber. »Die Rücklichter gehören dir.«
»Nein«, sagte er.
»Der Kerl hat dich ›Schwachkopf‹ genannt. Dich und Bobby Cole. Außerdem hat er über Ariels Hasenscharte hergezogen und Dad als Memme beschimpft. Willst du da nichts an seinem Wagen zerschlagen?«
»Nein.« Er sah erst mich an, dann den Wagenheber und dann den Wagen. »Oder vielleicht doch.«
Ich gab den Zauberstab der Rache an Jake weiter. Er ging um Morris Engdahls heiß geliebten Wagen herum, warf mir einen letzten fragenden Blick zu und holte dann aus. Aber er schlug daneben, traf nur Metall und ließ den Reifenheber fallen.
»Mann«, sagte ich. »Bist du ein Trottel.«
»Lass mich noch mal versuchen.«
Ich hob den Reifenheber auf und gab ihn Jake. Diesmal gelang es ihm, und er sprang zurück, um den roten Glassplittern auszuweichen. »Darf ich auch den anderen?«, bat er.
Als er fertig war, blieben wir stehen und begutachteten unser Werk, bis an einem Haus hinter uns die Fliegengittertür geöffnet wurde und eine Männerstimme rief: »He, was ist denn da draußen los?«
Wir rannten die Sandstone Street entlang zurück zur Hauptstraße und von dort auf die Tyler Street. Erst als wir wieder in der Ebene waren, wurden wir langsamer.
Jake beugte sich vor und hielt sich die Rippen. »Ich hab Seitenstechen«, keuchte er.
Auch ich war völlig außer Atem. Ich legte den Arm um meinen Bruder. »Du hast das klasse gemacht. Wie Mickey Mantle höchstpersönlich.«
»Glaubst du, wir kriegen Ärger?«
»Ist doch egal. War das etwa kein gutes Gefühl?«
»Doch«, sagte Jake. »Es war ein richtig gutes Gefühl.«
Als wir unser Haus erreichten, stand der Packard auf dem Parkplatz gegenüber der Kirche. Das Licht über dem Seiteneingang brannte noch, Vater war wohl damit beschäftigt, Gus ins Bett zu bringen. Ich legte den Wagenheber auf die Motorhaube, und wir gingen hinüber. Vom Seiteneingang der Kirche führte eine Treppe hinunter ins Untergeschoss, wo Gus sein Zimmer hatte, gleich neben dem Heizungskeller.
Gus war nicht mit uns verwandt, gehörte aber trotzdem auf sonderbare Weise zur Familie. Er hatte zusammen mit Vater im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und Vater sagte, diese Erfahrung habe sie enger zusammengeschweißt als Brüder. Sie waren in Kontakt geblieben, und wenn Vater uns etwas Neues von seinem alten Freund berichtete, war es stets ein weiteres Kapitel in einer endlosen Litanei von Fehltritten. Und dann, eines Tages, kurz nachdem wir nach New Bremen gezogen waren, hatte Gus vor unserer Tür gestanden, angetrunken, ohne Arbeit und mit seinem ganzen Hab und Gut in einem Bündel, das im Beiwagen seines Motorrads lag. Vater hatte ihn aufgenommen, ihm ein Dach über dem Kopf geboten und Arbeit für ihn gefunden, und seither war Gus bei uns. Er verursachte große Meinungsverschiedenheiten zwischen meinen Eltern, wie so vieles. Jake und ich liebten ihn heiß und innig. Vielleicht ja, weil er mit uns redete, als wären wir nicht nur Kinder. Oder weil er nicht viel besaß, aber auch gar nicht mehr zu wollen schien und sich an seinen fragwürdigen Lebensumständen nicht weiter störte. Vielleicht aber auch, weil er sich gelegentlich sinnlos betrank und sich in Schwierigkeiten brachte, aus denen Vater ihn zuverlässig befreite, was ihn mehr wie einen fehlgeleiteten älteren Bruder wirken ließ als einen weiteren Erwachsenen.
Sein Zimmer im Keller der Kirche machte nicht viel her. Ein Bett. Eine Kommode. Ein Nachttisch mit Nachttischlampe. Ein Spiegel. Ein quadratisches Regal mit drei Fächern voller Bücher. Der kleine rote Teppich, den Gus auf den Betonboden des Zimmers gelegt hatte, steuerte einen Farbfleck bei. Auf Deckenhöhe befand sich ein Fenster, das aber nur wenig Licht hereinließ. Am anderen Ende des Kellers lag ein kleines Bad, das Vater und Gus selbst eingebaut hatten. Dort fanden wir sie jetzt. Gus kniete vor der Toilette und erbrach sich, Vater stand geduldig hinter ihm. Jake und ich warteten im Schein der nackten Glühbirne in der Mitte des Kellerraums. Vater schien uns gar nicht zu bemerken.
»Immer noch am Röhren«, flüsterte ich Jake zu.
»Röhren?«
»Du weißt schon: R-Ö-H-R«, erwiderte ich und ahmte dabei ein Würgegeräusch nach.
»Das war’s, Captain.« Gus rappelte sich mühsam hoch, und Vater reichte ihm einen feuchten Waschlappen, damit er sich das Gesicht abwischen konnte.
Dann betätigte er die Spülung und führte Gus in sein Zimmer. Er half ihm, das dreckige Hemd und die Hose auszuziehen. Gus legte sich aufs Bett, jetzt nur noch in Unterhemd und Unterhose. Im Keller war es kühler als draußen, und Vater deckte seinen Freund sorgsam zu.
»Danke, Captain«, murmelte Gus, während ihm schon die Augen zufielen.
»Schlaf jetzt.«
Dann sagte Gus etwas, das ich noch nie von ihm gehört hatte. Er sagte: »Sie sind trotzdem ein echter Mistkerl, Captain. Das wird sich auch nie ändern.«
»Ich weiß, Gus.«
»Wegen Ihnen sind alle tot, Captain. Auch das wird sich nie ändern.«
»Schlaf einfach.«
Gus fing sofort an zu schnarchen, und Vater drehte sich zu uns um. »Geht wieder ins Bett«, sagte er. »Ich bleibe noch und bete ein wenig.«
»Das ganze Auto ist vollgekotzt«, sagte ich. »Mom wird toben.«
»Lass das mal meine Sorge sein.«
Er ging nach oben in die Kirche. Jake und ich traten durch den Seiteneingang wieder nach draußen. Ich war noch nicht bereit, die Nacht zu beenden. Ich setzte mich auf die Stufen vor der Kirche, und Jake setzte sich neben mich. Müde lehnte er sich an mich.
»Was hat Gus gemeint?«, fragte er. »Dass alle wegen Dad tot sind. Was hat er damit gemeint?«
Das fragte ich mich auch. »Keine Ahnung«, sagte ich.
In den Bäumen zwitscherten schon die Vögel. Über den Hügeln, die das Tal um den Minnesota River umgaben, sah ich einen dünnen, leuchtend roten Streifen am Himmel: Die Morgendämmerung nahte. Und ich sah noch etwas. Auf der anderen Straßenseite löste sich eine vertraute Gestalt aus dem Schutz der Fliederbüsche, die am Rand unseres Grundstücks wuchsen. Ich sah, wie meine große Schwester über den Rasen schlich und durch die Hintertür ins Haus glitt. Ja, die Nacht und ihre Heimlichkeiten!
Ich blieb auf den Stufen vor Vaters Kirche sitzen und dachte mir, wie sehr ich die Dunkelheit liebte. Der Geschmack der Nacht war süß auf der Zunge meiner Fantasie. Der Reiz des Verbotenen ein köstliches Brennen in meinem Gewissen. Ich hatte gesündigt. Daran bestand nicht der leiseste Zweifel. Aber ich war nicht der Einzige. Und die Nacht war unser aller Komplizin.
»Jake?«, fragte ich. Aber er antwortete nicht. Er schlief.
Vater würde noch lange beten. Für ihn war es zu spät, um noch einmal ins Bett zu gehen, und zu früh, um Frühstück zu machen. Er hatte einen Sohn, der stotterte, und einen zweiten, der sich auf dem besten Weg zum jugendlichen Straftäter befand, eine Tochter mit einer Hasenscharte, die sich mitten in der Nacht von Gott weiß woher wieder nach Hause schlich, und eine Frau, die seinen Beruf verachtete. Und trotzdem wusste ich, dass er gerade weder für sich noch für einen von uns betete. Wahrscheinlich betete er für Bobby Coles Eltern. Und für Gus. Womöglich auch für einen Drecksack namens Morris Engdahl. Für sie setzte er sich in seinen Gebeten ein und erflehte die göttliche Gnade, gewaltig und ernst.
Sie trug einen Bademantel aus weißem Frottee und war barfuß. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Becher mit schwarzem Kaffee, an den sie eine Broschüre gelehnt hatte. In der rechten Hand hielt sie einen Druckbleistift. Auf der roten Resopal-Tischplatte lag ein aufgeschlagenes Notizbuch. Daneben qualmte eine halb gerauchte Zigarette in einem Keramikaschenbecher, den ein goldenes Relief mit den vier Präsidentenköpfen von Mount Rushmore schmückte. Hin und wieder legte sie den Bleistift aus der Hand, griff nach der Zigarette, nahm nachdenklich einen Zug und ließ dann langsam ein Fähnchen Rauch entweichen, das über dem Küchentisch hängen blieb.
»Nervös wie ein kaputter Fensterladen im Wind«, sagte sie und lauschte den Worten nach, während sie zusah, wie der Rauch allmählich verflog. Dann griff sie zufrieden nach dem Bleistift und machte sich eine Notiz.
Mutter machte gerade eine Phase durch, in der sie für Ayn Rand schwärmte und beschlossen hatte, selbst eine weltberühmte Schriftstellerin zu werden. Sie hatte sich von einer Schreibakademie in New York einen Test schicken lassen, der bestätigen sollte, dass sie auch wirklich das Zeug dazu hatte.
Jake löffelte seine Sugar Pops und sah zu, wie die Taucherfigur, die er aus der Packung gefischt hatte, langsam in einem Glas Wasser versank. Wenig später trieb eine Luftblase, erzeugt durch etwas Natron, das Jake in ein winziges Fach am Rücken des Tauchers gefüllt hatte, die Figur wieder zurück an die Oberfläche. Ich aß eine Scheibe Toast mit grober Erdnussbutter und Traubengelee. Eigentlich mochte ich keine grobe Erdnussbutter, aber sie war im Sonderangebot gewesen, und so hatte Mutter meinen Protest ignoriert.
Jetzt sagte sie: »Die Katze schlich durch das Zimmer wie …« Sie griff wieder nach der Zigarette und nahm einen gedankenvollen Zug.
»Ein Mörder, der sich an sein Opfer heranpirscht«, sagte ich.
»Iss dein Frühstück, Frankie.«
»Wie ein Räuber, der auf Geld aus ist«, sagte Jake, den Blick unverwandt auf den Taucher im Glas geheftet.
»Vielen Dank, aber ich brauche keine Hilfe.«
Sie dachte noch einen Moment nach und schrieb dann in ihr Notizbuch. Ich beugte mich vor, um zu sehen, was sie geschrieben hatte: … wie Liebe, die in ein Herz einzieht.
Vater kam herein. Er trug seinen guten schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte. »Die Messe beginnt um zwölf, Ruth.«
»Ich bin gleich fertig, Nathan.« Sie blickte nicht einmal von ihrer Broschüre auf.
»Die Leute werden heute früher kommen, Ruth.«
»Es ist nicht meine erste Beisetzung, Nathan.«
»Und ihr, Jungs, sorgt dafür, dass ihr ordentlich ausseht.«
»Das wissen sie schon, Nathan.«
Vater blieb noch einen Augenblick stehen und starrte auf Mutters Hinterkopf, dann ging er zur Haustür und nach draußen. Kaum war er fort, klappte Mutter ihr Notizbuch zu und legte die Broschüre darauf. Sie drückte die Zigarette aus und sagte: »Zwei Minuten noch, dann ist das Frühstück beendet.«
Eine Stunde später kam sie in einem schwarzen Kleid wieder nach unten. Sie trug auch einen schwarzen Hut mit schwarzem Schleier und schwarze Pumps und duftete nach Badezusatz. Jake und ich hatten uns bereits umgezogen. Jetzt saßen wir vor dem Fernseher und schauten eine Wiederholung von The Restless Gun. Unsere Mutter war sehr schön. Das wussten selbst wir, ihre achtlosen Söhne. Die Leute sagten immer, sie hätte ein Filmstar sein können. So hübsch wie Rita Hayworth, sagten sie.
»Ich gehe jetzt in die Kirche. Ihr zwei kommt in einer halben Stunde nach. Frankie, du sorgst dafür, dass ihr euch nicht dreckig macht.«
Die Anzüge, die wir trugen, waren unsere einzigen. Ich hatte mir selbst und dann Jake die Krawatte gebunden. Wir hatten uns beide das Gesicht gewaschen und die Haare feucht zurückgekämmt. Wir sahen absolut vorzeigbar aus.
Kaum war sie gegangen, sagte ich: »Du bleibst hier.«
»Wo willst du hin?«, fragte Jake.
»Egal. Bleib einfach hier.«
Ich ging durch die Hintertür nach draußen. Hinter unserem Haus lag eine kleine Wiese. Als wir eingezogen waren, hatten dort zwei Pferde gegrast. Die Pferde waren längst verschwunden, aber auf der Wiese wucherte immer noch das Gras, mit Gänseblümchen und Rotklee dazwischen. An ihrem anderen Ende stand ein einsames Haus, ein altes, gelbes Bauwerk, von Weiden umgeben. Ein Zaun trennte den Garten von unserer Wiese. Ich schlich durch das hohe Gras. Wie ein Mörder, der sich an sein Opfer heranpirscht. Ich näherte mich dem Zaun, einem rasch zusammengeschusterten Gebilde voller Lücken, dort, wo die verzogenen Bretter nicht miteinander abschließen wollten. Dann drückte ich ein Auge an eine dieser Lücken.
Das Haus gehörte Avis und Edna Sweeney. Avis arbeitete in den Getreidesilos am Rand der Ebene. Er war ein klapperdürrer Mann mit einem gewaltigen Adamsapfel. Edna war blond und ihr Busen so ausladend wie der Bug eines Flugzeugträgers. Die Sweeneys hatten einen hübschen Garten voller Pflanzen und Blumen, und Edna erledigte die Gartenarbeit. Das tat sie in engen Shorts und einem Neckholder-Oberteil, das ihre Brüste kaum fassen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie ich die reizende Edna Sweeney entdeckt hatte, aber ich war regelrecht süchtig nach ihrem Anblick in dieser Aufmachung, ganz in ihre Arbeit vertieft. In jenem Sommer verbrachte ich viel Zeit damit, durch die Lücken im Zaun zu spähen.
An diesem Morgen war Edna Sweeney nicht im Garten, hatte aber die Wäsche gemacht. Unter der Kleidung, die auf der Leine hing, befanden sich auch zwei BHs mit ausladenden Körbchen und ein paar Spitzenhöschen, die ziemlich sicher nicht Avis gehörten. Ich hatte Jake nicht kommen hören. Als ich seine Hand auf der Schulter spürte, zuckte ich zusammen.
»Großer Gott!«, zischte ich.
»Du hast den Namen des Herrn missbraucht.«
»Was machst du hier?«
»Was machst du hier?«
»Nichts«, sagte ich, packte ihn am Kragen und versuchte, ihn wieder in Richtung unseres Hauses zu steuern. »Gehen wir.«
Er schüttelte meine Hand ab und drückte ein Auge an den Zaun.
»Verdammt, Jake.«
»Jetzt hast du auch noch geflucht. Was gibt’s da zu sehen?«
»Gar nichts.«
»Du guckst dir ihre Unterwäsche an.«
»Gut, dann gucke ich mir eben ihre Unterwäsche an. Du guckst ja auch.«
Er drehte den Kopf ein wenig, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen.
»Komm schon.« Ich griff nach seinem Ärmel und zog daran. Er rührte sich nicht, aber die Naht an der Schulter riss mit einem markerschütternden Krachen entzwei. »Ach, Herrgott!«
Jake richtete sich auf. »Du hast …«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Lass mal sehen.« Ich drehte ihn zu mir und begutachtete den Schaden, den ich angerichtet hatte. Es würde mir schwerfallen, meinen Eltern die genauen Umstände des Unglücks zu erläutern. Die Wahrheit war also keine Option. Eine Lüge allerdings stand und fiel mit Jake, und da lag das Problem. Selbst wenn ich ihn überzeugen könnte, sich auf irgendeine alberne Geschichte einzulassen, würde er so schrecklich stottern und stammeln, dass unsere Schuld sofort offensichtlich wäre.
Jake verrenkte sich den Hals, um den Riss zu sehen. »Jetzt k-k-kriegen wir Ärger.«
»Nein, kriegen wir nicht. Komm mit.«
Durch Gras, Gänseblümchen und Rotklee rannte ich über die Wiese. Jake blieb mir dicht auf den Fersen. Wir hetzten durch die Hintertür und liefen nach oben ins Schlafzimmer unserer Eltern. Ich zog den Korb mit Mutters Nähzeug aus dem Schrank und wählte eine Spule mit hellbraunem Garn aus. Dann biss ich ein langes Stück davon ab und fädelte es in eine Nadel ein.
»Gib mir das Jackett«, sagte ich und machte mich an die Arbeit.
Ich war Pfadfinder. Kein besonders guter. Grundsätzlich gefiel mir der Gedanke, zuverlässig, ehrlich, sparsam, tapfer, rein und aufrichtig zu sein, aber der Aufwand, den es kostete, diesen gewichtigen Tugenden treu zu bleiben, war in der Regel größer als das, was ich zu betreiben bereit war. Das ein oder andere Brauchbare hatte ich trotzdem gelernt. Zum Beispiel, die Abzeichen, die das Pfadfinderdasein so mit sich brachte, an meine Uniform zu nähen. Ich schwang die Nadel wie kein Zweiter. Jetzt heftete ich den Ärmel mit ein paar schnellen Stichen wieder an, sodass nichts mehr auffiel, wenn man nicht ganz genau hinsah.
»Hier«, sagte ich und reichte Jake das Jackett.
Er beäugte es skeptisch, zog es über und bohrte einen Finger durch die Lücke zwischen den groben Stichen. »Immer noch k-k-kaputt.«
»Wenn du nicht dauernd daran rumfummelst, hält das.« Ich stellte Mutters Nähzeug wieder in den Schrank und warf einen Blick zum Wecker auf dem Nachttisch. »Wir müssen uns beeilen. Die Messe fängt gleich an.«
Meine Schwester Ariel war im Mai achtzehn geworden, hatte im Juni ihren Abschluss an der New Bremen Highschool gemacht und würde im Herbst an der Juilliard anfangen. Als Jake und ich in die Kirche traten, saß sie an der Orgel und spielte etwas wunderschön Trauriges, das wie Händel klang. Die Reihen waren gut gefüllt. Die meisten Leute kannten wir. Gemeindemitglieder. Freunde der Familie. Nachbarn. Viele der Menschen, die regelmäßig zu Vater in die Kirche kamen, gehörten gar nicht zu unserer Gemeinde. Sie waren nicht einmal Methodisten. Sie kamen, weil es die einzige Kirche in der Ebene war. Jake und ich setzten uns in die hinterste Reihe. Mutter saß ganz vorn, wo normalerweise der Chor Platz nahm. Über ihrem schwarzen Kleid trug sie eine Robe aus rotem Satin. Sie lauschte Ariels Spiel und betrachtete dabei das große Buntglasfenster mit demselben entrückten Blick wie vorhin am Küchentisch, auf der Suche nach Inspiration. Das lag zum Teil sicher an der Musik, vor allem aber an der Art, wie Ariel sie spielte. Bis heute gibt es Stücke, die ich mir nicht anhören kann, ohne die Finger meiner Schwester vor mir zu sehen, die diese Klänge so wundersam formten wie Gott die Flügel der Schmetterlinge.
Vor der Chorschranke stand der Sarg, zu beiden Seiten flankiert von einer Unmenge Blumen. Die ganze Kirche duftete nach Lilien. Bobbys Eltern saßen in der vordersten Reihe. Ein ältliches Paar, das Bobby erst sehr spät bekommen hatte. Ich hatte beobachtet, dass sie ihn mit großer Sanftheit und Liebe behandelten. Jetzt saßen sie nebeneinander, die Hände im Schoß gefaltet, und starrten stumm über den Sarg hinaus auf das vergoldete Kreuz auf dem Altar.
Vater war nirgends zu sehen.
Jake beugte sich zu mir. »Ist er da drin?«
Ich wusste, was er meinte. »Ja.«
Vor Bobbys Tod hatte ich mir nicht viele Gedanken über das Sterben gemacht, aber als ich ihn mir jetzt in dem kleinen Sarg vorstellte, befiel mich ein entsetzliches Staunen. Ich glaubte nicht an den Himmel – vor allem nicht an die Version mit der Himmelspforte –, und so war die Frage, was wohl aus Bobby Cole geworden war, verwirrend und beängstigend.
Gus betrat die Kirche. Seinem unsicheren Gang merkte man an, dass er getrunken hatte. Er hatte sich in seinen Sonntagsstaat geworfen, einen dunklen Anzug aus zweiter Hand. Die Krawatte saß schief, und der natürliche Wirbel in seinem roten Haar stand vom Hinterkopf ab. Er setzte sich in die letzte Reihe auf der anderen Seite des Mittelgangs, schien Jake und mich aber nicht zu bemerken. Sein Blick war starr auf Bobbys Sarg gerichtet, und ich hörte ihn lautstark atmen.
Schließlich erschien auch Vater. In seinem schwarzen Talar mit der weißen Stola trat er aus der Tür der Sakristei. Er war ein gut aussehender Mann und wirkte Ehrfurcht gebietend in seinem Priesterornat. Als er das Ehepaar Cole passierte, blieb er stehen und wechselte leise ein paar Worte mit ihnen, dann nahm er seinen Platz auf dem Stuhl hinter der Kanzel ein.
Ariel beendete das Musikstück. Dann erhob sich Mutter. Ariel legte die Hände erneut auf das Manual der Orgel, hielt kurz inne und begann erneut zu spielen. Und Mutter schloss die Augen und machte sich zum Singen bereit.
Wenn meine Mutter sang, glaubte ich beinahe doch an den Himmel. Sie hatte nicht nur eine wunderschöne Stimme, sondern auch eine Art zu singen, die einem das Herz zerriss. Mit ihrem Gesang hätte sie selbst einen Laternenpfahl zu Tränen gerührt! Ihre Stimme konnte Menschen zum Lachen bringen, zum Tanzen, dazu, sich zu verlieben oder in den Krieg zu ziehen. In dem kurzen Moment, ehe sie begann, war in der Kirche kein Laut zu hören, nur das Flüstern einer leichten Brise, die durch die offene Tür hereinkam. Die Coles hatten das Stück ausgesucht, es war eine ungewöhnliche Wahl, vermutlich die von Mrs Cole, die ursprünglich aus dem südlichen Missouri stammte. Sie hatte Mutter um ein Spiritual gebeten: »Swing Low, Sweet Chariot«.
Doch Mutter sang nicht nur ein Kirchenlied, sondern gab uns Trost in vollkommener Vollendung. Sie sang langsam und innig, sie enthüllte das Herz dieses großartigen Spirituals, als würde sie den Himmel selbst enthüllen, und ihr Gesicht war dabei schön und voller Frieden. Ich schloss die Augen, und ihre Stimme griff nach mir, um meine Tränen fortzuwischen, mein Herz zu umfangen und mir ganz und gar zu versichern, dass Bobby Cole heimwärts getragen werde. Fast weckte sie etwas wie Freude für ihn in mir: Jetzt brauchte dieser liebenswerte Junge sich nicht mehr damit abzumühen, eine Welt zu begreifen, die ihm doch immer eher unverständlich geblieben wäre. Er brauchte all die grausamen Hänseleien nicht mehr über sich ergehen zu lassen. Er brauchte sich nie mit der Frage zu quälen, zu welcher Art Mann er heranwachsen und was aus ihm werden würde, wenn seine ältlichen Eltern ihn einmal nicht mehr beschützen und umsorgen konnten. Mutters Gesang ließ mich glauben, Gott habe Bobby Cole aus dem besten aller Gründe zu sich geholt.
Und als sie endete, war das Geräusch der sanften Brise in der Tür wie das anerkennende Seufzen der Engel.
Vater stand auf und verlas das Evangelium von der Kanzel herab, aber seine Predigt hielt er nicht dort oben. Stattdessen kam er die Altarstufen herunter, trat durch das Tor in der Chorschranke und blieb schließlich neben dem Sarg stehen. Ich muss zugeben, dass ich nicht viel von dem mitbekam, was er sagte. Das lag sicher teilweise daran, dass mein Herz schon ganz von Mutters Gesang erfüllt war und mein Kopf zu voll vom Staunen über den Tod. Aber auch daran, dass ich Vater schon Hunderte Male hatte predigen hören. Es hieß, er predige gut, wenn auch nicht ganz so feurig, wie manche Gemeindemitglieder sich das gewünscht hätten. Er äußerte sich immer ernsthaft, niemals leidenschaftlich. Er war ein Mann des Geistes und versuchte nie, die Menschen mit überbordender Rhetorik oder dramatischer Geste zum Glauben zu zwingen.
Als er geendet hatte, war es still in der Kirche. Der Wind, der durch die Tür hereinkam, verschaffte uns Kühlung, und die Blumen neben dem Sarg raschelten, als wäre gerade jemand vorbeigegangen.
Da erhob sich Gus.
Er ging durch den Mittelgang auf Bobbys Sarg zu und legte eine Hand auf das polierte Holz. Falls Vater überrascht oder irritiert war, ließ er sich das nicht anmerken. »Gus«, sagte er nur. »Willst du etwas sagen?«
Gus streichelte den Sarg wie das weiche Fell eines Hundes. Ich sah, wie er zitterte, und begriff, dass er weinte. Irgendjemand in der Trauergemeinde hüstelte. Es klang künstlich, nur dazu gedacht, den Moment aufzubrechen. Aber Gus fühlte sich dadurch veranlasst, sich umzudrehen und sich der Gemeinde zuzuwenden.
Er sagte: »Manchmal hat Bobby mir geholfen, den Friedhof in Ordnung zu halten. Er mochte die Stille. Er mochte das Gras und die Blumen. Bei mir und bei euch hat er nicht viel geredet, aber mit den Grabsteinen hat er ständig geflüstert, als wenn er den Toten darunter ein Geheimnis verraten wollte. Und Bobby hatte ein Geheimnis. Wisst ihr, was es war? Es brauchte praktisch nichts, um ihn glücklich zu machen. So war das. Er hielt das Glück einfach in der Hand, als wenn er … ich weiß auch nicht … einen Grashalm gepflückt hätte. Und sein ganzes kurzes Leben lang hat er nichts anderes gemacht, als jedem, der ihn anlächelte, dieses Glück zu schenken. Mehr hat er nicht von mir gewollt, von euch, von allen. Nur ein Lächeln.«
Er sah wieder auf den Sarg, und plötzlich legte der Zorn sein Gesicht in Falten.
»Und was haben die Leute ihm zurückgegeben? Sie haben sich über ihn lustig gemacht. Lauter Christenmenschen, und alle haben Dinge zu ihm gesagt, die so wehtaten, als hätten sie mit Steinen nach ihm geworfen. Ich hoffe ehrlich, Captain, Sie haben recht, und Bobby sitzt jetzt dort oben in Gottes Schoß. Hier unten war er nämlich nur ein lieber Junge, der Prügel bezogen hat. Ich werde ihn so vermissen. Ich werde ihn vermissen, wie ich die Rotkehlchen vermissen würde, wenn sie mal nicht mehr wiederkämen.«
Sein ganzes Gesicht zerfloss in Tränen. Auch ich weinte. Herrgott, alle weinten. Nur Vater bewahrte die Fassung, und als Gus wieder auf seinem Platz saß, fragte er: »Möchte sonst noch jemand eine Erinnerung teilen?«
Ich überlegte, aufzustehen. Ich dachte, vielleicht könnte ich ja erzählen, wie Bobby damals, in der ersten Klasse, in der hintersten Bank saß. Die Lehrerin kümmerte sich nicht viel um ihn. Sie gab ihm einen Klumpen Knete, und Bobby brachte seine Zeit am Schulpult damit zu, mit großer Sorgfalt Schlangen zu rollen, die er dann in Reihen anordnete. Hin und wieder blickte er auf, während wir anderen das Alphabet aufsagten und zwei plus zwei zusammenzählten, und in seinen kurzsichtigen Augen hinter den dicken, goldumrandeten Brillengläsern lag ein zufriedener Blick. Ich überlegte auch, der Trauergemeinde zu erzählen, dass ich Bobby immer für einen hoffnungslosen Fall gehalten hätte, dass das aber ein Irrtum gewesen sei und Gus recht habe. Bobby besaß eine Gabe, und diese Gabe lag in seiner Schlichtheit. Für Bobby Cole war die Welt ein Ort, den er akzeptierte, ohne ihn begreifen zu müssen. Ich für meinen Teil jagte immer mehr einem Sinn nach, je älter ich wurde, und war erfüllt von Verwirrung und Angst.
Aber ich stand nicht auf. Ich sagte nichts. Wie alle anderen auch blieb ich stumm sitzen, bis Vater ein letztes Gebet gesprochen hatte, Ariel einen letzten Choral zu spielen begann und Mutter sich in ihrer roten Satinrobe erhob, um all der Endgültigkeit eine Stimme zu geben.
Und als sie fertig war, hörte ich draußen, vor der offenen Kirchentür, den schwarzen Leichenwagen im Leerlauf tuckern, und alle standen auf, um Bobby zu der Grube zu folgen, die Gus auf dem Friedhof bereits für ihn ausgehoben hatte.
»An dem Tod des Jungen ist doch was faul«, sagte Doyle.
Es war Samstagnachmittag, der Tag nach Bobby Coles Beerdigung. Jake und ich hatten den ganzen Vormittag im Garten unseres Großvaters gearbeitet. Den Rasen gemäht, zurückgeschnitten, geharkt. Dieser Pflicht gingen wir im Sommer jeden Samstag nach. Großvater besaß ein großes Haus im Hochland, sein Garten war ein wunderschönes grünes Meer aus dichtem Gras. Er war Immobilienmakler und behauptete immer, sein eigenes Grundstück sage mindestens so viel über ihn aus wie jedes Werbeplakat, das er irgendwo aufhängte. Er bezahlte uns gut, überwachte aber jeden Handgriff, den wir taten. Und nach der Arbeit fand ich jedes Mal von Neuem, dass es eigentlich viel zu wenig Geld war.
Wenn wir endlich fertig waren – erhitzt, verschwitzt und von Kopf bis Fuß mit Gras bedeckt –, stürmten wir als Erstes Haldersons Drugstore, um uns dort an die Theke zu hocken und Root Beer aus eisgekühlten Gläsern zu trinken.
Im hinteren Teil des Ladens befand sich ein offener Durchgang zum Lagerraum. Meist wurde er von einem Vorhang verdeckt, an diesem Nachmittag aber nicht. Im gelblichen Licht einer nackten Glühbirne, die in dem Hinterzimmer von der Decke hing, sah ich drei Männer auf Kisten sitzen. Zwei von ihnen tranken aus braunen Flaschen, die wohl Bier enthielten. Der Mann, der nicht trank, war Mr Halderson. Gus war einer der beiden anderen. Und der dritte war der Polizist außer Dienst, den wir auf dem Revier kennengelernt hatten. Doyle. Er hatte das Wort.
»Klar, der Kleine war ein bisschen langsam. Aber er war nicht taub. Er muss den Zug doch kommen gehört haben.«
»Vielleicht hat er geschlafen«, meinte Halderson.
»Auf dem Bahngleis? Das wäre ja, als würde man sich auf ein Nagelbett legen wie so ein Scheich.«
»Fakir«, sagte Gus.
»Was?«
»Kein Scheich. Sondern ein Fakir.«
»Von mir aus.«
Doyle nahm einen langen, geräuschvollen Schluck.
»Ich sage ja auch nur, hinter dem Tod des Jungen steckt mehr, als irgendwer ahnt. Ich habe da an den Gleisen schon jede Menge Rumtreiber aufgelesen. Und damit meine ich Kerle, zu denen sich keine Mutter mehr bekennen würde. Die sind so krank im Hirn, das glaubt ihr gar nicht.«
»Aber doch sicher nicht alle«, sagte Halderson.
»Da muss nur gerade der Falsche zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Der Junge war so leichtgläubig, der war doch leichte Beute.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Gus.
»Was ich im Dienst schon alles gesehen habe, da würde sich euch der Magen umdrehen«, sagte Doyle. Er setzte die Flasche wieder an die Lippen, dann entdeckte er Jake und mich, wie wir mit gespitzten Ohren am Tresen saßen. Er stellte sein Bier ab und winkte uns zu sich. »Kommt mal her, ihr zwei.«
Jake sah mich an. Er wollte sich auf keinen Fall zu den Männern setzen. Aber mir kam die Gelegenheit gerade recht, mich an dem Gespräch im Hinterzimmer zu beteiligen. Ich rutschte vom Barhocker. Jake kam mir nach, wenn auch langsam.
»Ihr seid doch die Söhne vom Pastor, oder?«
»Ja, Sir.«
»Habt ihr schon mal oben auf den Gleisen gespielt?«
Es war dieselbe Frage, die er uns zwei Nächte zuvor auf dem Revier gestellt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es an den zwei leeren Bierflaschen lag, die schon neben seiner Kiste standen, ob er vergessen hatte, dass er das schon gefragt, oder einfach nicht mehr wusste, was ich auf die Frage geantwortet hatte, oder ob das Polizisten eben so machten, dieselbe Frage immer wieder stellten, um zu sehen, ob einen das durcheinanderbrachte. Ich jedenfalls kam nicht durcheinander.
»Nein«, schwindelte ich. So wie beim letzten Mal.
Seine Stirn war wie ein flacher, breiter Felsvorsprung, und in ihrem Schatten wanderte sein Blick jetzt zu Jake. »Und du?«
Jake gab keine Antwort.
»Na, was ist, Junge?«
Jake verzog den Mund, versuchte zu antworten.
»Na los, spuck’s aus.«
»Er stottert«, sagte Gus.
»Das merke ich selber.« Doyles Ton wurde schärfer. »Sag mir die Wahrheit, Junge.«
Doyle hatte Jake eine Heidenangst eingejagt. Es war kaum auszuhalten, wie mein Bruder versuchte, ihm zu gehorchen. Er verzog das Gesicht, blickte Doyle unter tiefen Stirnfalten hervor an, in denen der dunkle Zorn der Verzweiflung über sich selbst lag. Schließlich gab er auf und schüttelte nur nachdrücklich den Kopf.
»Wer’s glaubt.«
In dem Moment hasste ich den Mann. Da setzte er Jake solchen Qualen aus und ließ das Ergebnis nicht einmal gelten.
Gus sagte: »Ihr Vater erlaubt ihnen nicht, auf den Gleisen zu spielen.«
»Und du glaubst, die gehen nicht trotzdem hin?« Doyle warf mir einen Blick zu, in dem ein Hauch des Verschwörerischen lag, so, als würde er mich durchschauen, mich aber für das, was er sah, nicht ganz verurteilen. Als wären wir in gewisser Weise Brüder.
Ich wich einen Schritt zurück. Mit jeder Minute hasste ich diesen Mann mehr. »Können wir jetzt gehen?«
»Ja.« Doyle entließ uns wie zwei Verdächtige, die er doch nicht festnehmen wollte.
Ich legte den Arm um Jake, der immer noch zornig zu Boden starrte, und führte ihn weg. Wir ließen die Männer zurück. Doyle lachte leise und gemein hinter uns her.
Draußen war es brütend heiß. Die Sonne warf ihre Glut herab, die Gehsteige speicherten sie und ließen die Sohlen unserer Turnschuhe schmelzen. Der Teer, der die Risse im Asphalt ausfüllte, war zu einer schwarzen, klebrigen Masse geworden, und wir mussten aufpassen, wo wir hintraten. Wir kamen am Friseursalon vorbei, durch dessen offene Tür lockere Männerstimmen und der Geruch von Haarwasser nach draußen drangen. Wir kamen an der Bank vorbei, die in den Dreißigern von Pretty Boy Floyd und Ma Barkers Bande überfallen worden war und mir lange Zeit Stoff für meine eigenen Tagträumereien geboten hatte. Laden um Laden ließen wir hinter uns, und alle waren sie leer in der Trägheit dieses heißen Spätjunitags. Wir hielten uns im Schatten der Markisen und schwiegen, und Jake starrte auf den Gehsteig und kochte innerlich.
Von der Geschäftsstraße gingen wir die Main Street entlang bis zur Tyler Street. Die Häuser am Hang waren alt, viele noch viktorianisch, und obwohl ihre schweren Vorhänge zum Schutz vor der Hitze zugezogen waren, hörten wir aus den kühlen, dunklen Räumen hin und wieder die Fetzen einer Baseball-Übertragung. Wir gingen durch die Tyler Street in Richtung Ebene hinunter. Ich spürte das Feuer von Jakes Wut wie den dampfenden Asphalt unter unseren Füßen.
»Vergiss ihn«, sagte ich. »Der ist ein Arschloch.«
»S-s-s-sag das nicht.«
»Aber es stimmt doch.«
»Das Wort, meine ich.«
»Arschloch?«
Jake warf mir einen vernichtenden Blick zu.
»Du darfst dir das nicht so zu Herzen nehmen. Der ist ein Niemand.«
»Niemand ist ein N-n-niemand«, sagte Jake.
»Ach, zum Teufel, jeder ist ein Niemand. Und ja, ich weiß, dass ich ›Teufel‹ gesagt habe.«
In der Ebene ragten die Getreidesilos neben den Bahngleisen auf. Groß und weiß waren sie und durch Stege und Transportbänder miteinander verbunden. Es lag eine schroffe Schönheit darin, wie sie sich vor dem Himmel abhoben, wie Standbilder aus Elfenbein. Gleich neben ihnen verlief ein Abstellgleis, auf das sonst immer die Güterwägen gerollt und mit Getreide gefüllt wurden, aber an diesem Nachmittag standen keine Waggons bereit, und die Speicher lagen verlassen da. Wir überquerten die Gleise, wo sie die Tyler Street kreuzten. Jake wollte nach Hause. Ich blieb stehen, drehte mich um und folgte meinem gestauchten schwarzen Schatten über das Gleis nach Osten.
»Was machst du?«, fragte Jake.
»Wonach sieht’s denn aus?«
»Wir dürfen nicht auf den Bahngleisen spielen.«