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Valerie Blankenstern - "Cashmere-Nomade, und herzvoller Egoist mit Katastrophen-Gen" - sitzt nach ihrer dritten Ehe schon einige Zeit in ihrer "selbst verschuldeten Unabhängigkeit" in ihrem Londoner Hauptquartier und nimmt aus der Notwendigkeit der monetären Lebenssituation einen Buchauftrag über Au Pairs an. Dem Thema auf der Welt von dem sie - bisher kinder- und familienlos – so viel Ahnung hat wie nur noch vergleichsweise von der "Teilchenphysik und dem Münzwesen zu Zeiten des trojanischen Krieges". Zwecks dringend notwendiger Material-Evaluierung zu dem Thema führt sie der Weg - heraus aus ihrem chaotisch-selbstfokussierten und unkonventionell-traditionellen Leben - nach Hamburg zu Magnus und Alice Schwanenburg, ihren Freunden mit fünf Kindern und Au Pairs Erfahrungen im Wandel der Jahrhunderte. Hauptsächlich dreht sich bei Valerie jedoch alles um die zentrale Frage in ihrem Leben: "Freiheit wofür und Abhängigkeit wovon" und vice versa, sowie um ihre sonstigen ebenso selten stringent zu Ende gedachten Lebenskonzepte. Ihre Buchprojektreise führt sie vorbei an bizarren Nachbarn, alten Lebensfreunden, ehemaligen Schwiegermüttern und profunden Lebenserkenntnissen zum "Apollo von nebenan": Richard Fox. Das es hierbei, wie im wirklichen Leben, nicht immer ganz einfach ist den Überblick zu behalten und den Weg nicht aus den Augen zu verlieren - von dem sie noch nicht einmal weiß, wohin er eigentlich führt - merkt sie dann auch spätestens, als die Londoner Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fällt. Und Valeries Hauptanliegen "bei allen Dingen immer die Option zu haben", lässt sich dann auch nicht immer ganz einhundertprozentig durchtragen.
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Für immer bis zum nächsten Mal
Für immer bis zum nächsten Mal
Text Copyright: © 2012 Tiny von Wedel
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Alle Rechte vorbehalten.
"Denn all solche Beschäftigungen erfordern die Hilfe
der Götter oder man muss Glück dabei haben."
(Marc Aurel)
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1
Es war gerade neun Uhr morgens, die Sonne nahm langsam Fahrt auf und schien für Londoner Verhältnisse geradezu blendend, das hieß das Tageslicht reichte schwach aus, um das Nomaden-Sammelsurium des Zimmers zu erhellen. Zwei Stadtfüchse durchstreiften die Straße nach Fuchstauglichem, und die Vögel sangen ein Lied. Valerie Blankenstern war gerade aufgestanden und bereits hellwach nach dem eben erhaltenen frühmorgendlichen Anruf. Sie war nicht gerade auf dem Höhepunkt ihrer guten Laune. Frühes aufstehen machte Spaß, wenn man es sich für besondere Gelegenheiten aufhob und diese war keine davon. Der Anruf war von Adrian Blankenstern, ihrem momentanen Namensgeber und letzten ihrer Ehemänner gewesen. Sie ging möglicherweise manchmal mit Jahreszahlen und einigen unbedeutenden Tatsachen recht „ökonomisch“ um. Einen überaus ökonomischen Umgang mit der Wahrheit musste sie allerdings an diesem Morgen bei ihrem ehemaligen Ehemann feststellen und sie kam dann auch nicht umhin, ihm hierzu ein zwei, wie sie fand, passende Worte zu sagen. Die Geschichte war klassisch in ihren Grundzügen. Es ging natürlich, wie meistens bei Ex-Ehemännern entweder um Geld oder um andere Frauen, oder – wie in diesem Fall – um „eine“ andere Frau. Oder eine andere „gute Freundin“ wie hier und immer wieder gerne behauptet wurde. Auf jeden Fall um seinen und damit auch um ihren guten Namen.
Adrian Blankenstern und Valerie waren zwar seit über drei Jahren geschieden, es konnten auch schon fünf sein, das gab ihrem Ex-Ehemann aber noch sehr lange nicht das Recht zur freien Partnerwahl über jedwede Geschmacksgrenzen hinaus. Und genau dabei ging es bei diesem neuerlichen Stein des Anstoßes, dieser Boccia-Kugel der Geschmacklosigkeit, und um Adrians Überschreitung der Grenze in das Land der lächerlichen Figur. Sicherlich hatte er schon auf schlechterem Papier geschrieben aber dies war nun kaum noch als eine Unterlage zu bezeichnen. Amelie „The Mattress“ war bestenfalls eine Laune der Natur an einem ziemlich schlechten Tag. Und es wären ihr sicherlich noch einige weitere relevante Argumente für die Unmöglichkeit einer solchen Konstellation eingefallen, hätte Adrian – der eigentlich nur kurz nach der neuen Telefonnummer eines gemeinsamen Freundes fragen wollte – nicht angekündigt, dass er das Gespräch lieber beenden wollte und jetzt auflegen würde. Und das tat er dann auch.
Manchmal stellt man aus der Entfernung die Nähe fest aber meistens ist es leider umgekehrt. Und dann hieß es eben wieder „Leinen los“. Adrian war der vorerst letzte ihrer drei Ehemänner. Und Valerie konnte sich schwer von einmal geliebtem Besitz und noch schwerer von einmal geliebten Männern trennen, was für sie eigentlich auf das Gleiche hinauslief. Das hieß, verlassen konnte sie sie schon, nur ganz trennen konnte sie sich einfach nicht von ihnen. Was Valerie einmal gut und wertvoll erschien, büßte auch nach Jahren kaum etwas an Attraktivität ein, nur die Faszination nahm vorher leider immer unproportional ab. Aber für das was einem gehörte, dafür hatte man nun einmal auch eine Verantwortung – ein Begriff, zu dem Valerie ansonsten in allen anderen Lebensbereichen einen eher vagen Bezug hatte – und der würde sie sich nicht entziehen. Nicht in diesem Fall. In guten wie in schlechten Zeiten hieß es. Und dies waren eindeutig Tage des Sturms. Scheidung hin, Scheidung her. Eine Ehe ist schließlich nicht zu Ende, nur weil man geschieden ist.
Ähnlich wie Heinrich der VIII. war Valerie nun einmal ungern unverheiratet. Sie war einfach gerne verheiratet. Und am liebsten für immer. Bis zum nächsten Mal. Jedes Mal. Und ohne Kinder konnte man eben immer einfach wieder gehen. Außer der Ehe, und den jeweiligen Ehemännern liebte Valerie noch ihre Freiheit. Die Abhängigkeit liebte sie nicht so sehr. Und es bestand durchaus eine gewisse Schwierigkeit, diese Voraussetzungen unter ein gemeinsames Dach zu bekommen. Sprichwörtlich. Daher probte sie jetzt schon seit einiger Zeit das Lebenskonzept der "selbst verschuldeten Unabhängigkeit" und kam in der letzten Zeit immer häufiger zu der zentralen eigentlichen Grundfrage: Freiheit wofür und Abhängigkeit wovon? Und vice versa.
Sie musste schon bald feststellen, dass die eine Sache, die noch unangenehmer war als die Abhängigkeit von einem Ehemann, die Abhängigkeit von volatilen Märkten und die damit verbundene Eigenverantwortlichkeit in den finanziellen Dingen des Lebens war. Eigenverantwortlichkeit war eine gute Sache. Wenn sie optional betrieben wurde. Die Banken sahen das generell leider aus einem etwas anderen Blickwinkel. Die Schwierigkeit und Notwendigkeit von Geldgeschäften hatte sich Valerie dann auch nicht ganz so freudlos gedacht und die Überbrückungszeit von ihrer dritten zu ihrer vierten Ehe auch nicht ganz so lang. Und so machte sie sich über viele der elementaren Dinge im Leben immer gerne erst Gedanken, wenn das Wasser schon kurz unter dem Sicherungskasten stand. Und da, so hatte sie die nette Dame ihrer Bank Adam & Co gestern verstanden, sei ungefähr der Wasserstand auf dem Konto ihres Namens angekommen. Oder wie ein anderer enger Freund versuchte es ihr deutlich zu machen "Valerie, mein stilles Lieb, dein finanzielles Gerüst kann mit der Depression in den 1920er Jahren mithalten."
Eine unorthodox-traditionelle Erziehung und ein darauf folgendes ebenso unkonventionell-konservatives Leben hatten bei Valerie eine recht eigene Sichtweise der Dinge an den Tag treten lassen, die dann für ihre Umwelt auch nicht immer ganz mit den Geschehnis-Abläufen in Einklang zu bringen war. Und so war auch ihr Freiheits-Konzept nicht immer ganz stringent und zu Ende gedacht. Sie hatte auf jeden Fall bei allem gerne die Option.
Und so viele Möglichkeiten der Weltordnung konnte es ja schließlich auch nicht geben. Valerie kam auf drei. Entweder alles ist Schicksal und das Lebens-Los eines jeden steckte schon gleich von Anfang an in seiner Tasche. Dann brandet einfach alles in den unterschiedlichen Zustands-Wellen des Glücks und der weniger glücklichen Zeiten an das Lebensufer, und man kann sich ganz entspannt mit einem Eis auf die Treppe setzen. Und wenn man da lange genug saß, dann würde naturgemäß auch irgendwann wieder einmal etwas Gutes vorbei kommen. Auch da gab es natürlich Ausnahmen, aber so dunklen Gedanken sollte man sich gar nicht hingeben.
Dann gibt es zum anderen natürlich noch die „Selfmade-Theorie“, bei der ein zielstrebiger Lebens-Aktionismus einen zu jedem Ziel bringt. Man ist was man tut, „wir sind, was wir denken, was wir sind“ und so weiter. Das Glück ist kein Zufall, und der Zufall ist der einzige, der ab und zu in dieses absolute Lebens-Selbstbestimmungs-Programm pfuschen kann. Ohne dieses Modell würde es auf jeden Fall eine große Selbsthilfe-Industrie nicht geben, und es wären der Menschheit unter anderem so entscheidende Werke wie: „Die 10001 Wege zum Erfolg“, „Glück ist machbar“, „Du kannst. Wir können. Ihr könnt“ und dergleichen mehr, vorenthalten geblieben. Die Zutaten in beiden Lagern sind letztendlich ziemlich die gleichen. Bei den Schicksals-Anhängern heißt es lediglich "Glück" und "Pech", und bei den Lebens-Aktionisten und "Do-it-yourself-Jüngern“ hat alles generell den Namen "Zufall", in welche Richtung auch immer. Romantik versus Aufklärung.
Für Valerie war eigentlich ohnehin ziemlich klar, dass es wahrscheinlich, wieder einmal auf eine Art Mischkonzept hinauslaufen würde. Dabei würden Schicksal plus Eigeninitiative zumindest ein Fine-Tuning in der Vorsehung zulassen. Ein klein wenig Mitspracherecht im eigenen Leben gibt einem einfach ein besseres Gefühl. Es gibt eine Lebens-Hauptstraße aber jeder Trampelpfad oder Wanderweg, jede Tür ist frei zu wählen. Jeder Moment und jedes Ereignis in Leben ist damit ein Teil eines göttlichen Dechiffrierungs-Systems zur Entschlüsselung des persönlichen Glücks. Man muss die Zeichen nur erkennen, um - wenn es wieder an der Zeit ist - vor der Vorsehung einen Haken zu schlagen direkt auf den perfekten Weg. Und so würde auch dieses Mal wieder alles Tanz und Sonnenschein werden.
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2
Das Beste, womit man harte Zeiten überwindet, ist harte Arbeit. Das leuchtete Valerie mittlerweile ein, und es war auch unter den Top-Fünf ihrer Zitatenschilder, mit denen ihre Blankenstern Ltd. nebenbei einen mehr oder weniger schwungvollen Handel betrieb. Neben ihrer momentanen Haupttätigkeit als freie Autorin. In letzter Zeit sehr zu Valeries Leidwesen und sogar für ihren Geschmack ein wenig zu frei. Aber ein neues Projekt würde schon wieder rechtzeitig am Horizont auftauchen. Und da es für Pessimismus bereits zu spät war, konnte jetzt ohnehin nur noch sonnigster Optimismus weiterhelfen. Alles, was man bräuchte war ein wenig Nervenstärke und „It´s silly not to hope. It´s a sin.“ (The old man and the sea, Nr. 27 der Zitatenschilder). Und schließlich war sie selbstständig, unabhängig, frei und ungebunden, kompromisslos und fest in ihre Zukunft vertrauend. Deswegen würde sie auch morgen als Erstes einen Termin machen. Bei Madame Primrose, der zur Zeit vielversprechendsten Wahrsagerin der Metropole.
Jetzt würde erst einmal ein Morgenlauf die Welt in einem freundlicheren Licht erscheinen lassen, denn Valerie hatte gerade ihre Laufphase. Sie war ein großer Befürworter des Phasen-Prinzips, wobei eine Laufphase bei ihr ohne Weiteres von einer Cocktail-Phase abgelöst werden konnte, die dann wieder von einer längeren Schlaf-Phase abgelöst werden konnte, die dann wieder in eine Schlaf-Phase überging unter Umgehung der Wachphase. Und sich treiben zu lassen war dann auch eine ihrer bevorzugten Disziplinen. Auf dem Rückweg machte sie einen kurzen Stopp bei ihrem Lieblings Organic Deli „Fresh and wild“- der Firmennamen sprach sie persönlich an - und fühlte sich nach zwei Gläsern des besonders scheußlich schmeckenden Triple-Anti-Aging Weizengrass-Safts ausreichend legitimiert für einen kurzen zweiten Stopp im gegenüberliegenden Tabakgeschäft um zwei Packungen American Spirit mitzunehmen - organische Zigaretten (nur nicht rauchen war noch gesünder). Nicht ganz so "fresh" aber dafür wild und mindestens genauso scheußlich schmeckend. Valerie rauchte zur Zeit nicht aber man konnte schließlich nie wissen, wie lange diese Phase anhielt.
Und kaum war sie zu Hause angekommen und der Puls und die morgendliche Aufregung waren weitestgehend entschleunigt, klingelte auch schon wieder das Telefon, und es war Bernhard, ihr erster Ehemann. Es war anscheinend ein Tag der Verantwortungen und der Stimmen der Vergangenheit und sie würde die Würfel heute nehmen, wie sie fielen.
„Valerie, Darling-Love, ewig nichts gehört, oder mindestens nicht mehr seit Livias Party." Die war gerade fünf Wochen her. "Bei dir alles in bester Ordnung, wie ich hoffe. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“
Der anhaltende Kontakt hatte bei allen ehemals Ehebeteiligten zu einem recht zwanglosen Umgangston untereinander geführt.
„Bernhard, danke. Die Nachrichten über meinen Tod waren übertrieben. Was macht das Leben bei dir? Die kleinen Goldfasane und sonstige Familie wohlauf, wie ich hoffe.“
„Danke, alles bestens. Und das Wetter bei dir im Königreich, sonnenverwöhnt wie immer?“
„Absolut, es wurden heute Sonnenbrillen ausgegeben an die Bevölkerung. Hunny, was ist der Grund deines Anrufes?“
„Die Sehnsucht nach dir lenkt meine Schritte....“
„Ich weiß, ich weiß. In die entgegengesetzte Richtung. Gibt es eigentlich einen „Valerie-Gedächtnistag“ in eurer Familie? Hätte ich dich damals nicht verlassen, hätte dieses Familienglück...“
„Valerie, was hat deinen Frohsinn getrübt? Ich kenne dich doch. Was macht der Zitaten-Handel und die Kunst?“
„Die Realwelt ist ein momentanes Desaster, aber ein Schiff wird kommen. Ich bin ein wenig eilig Sweatheart, also nennen Sie Grund und Zeit Ihres Anrufes...“
„Mein geliebter apokalyptischer Reiter...“
„Bernhard...“
„Wir kommen Ende des Monats nach London...“
„Und ich soll auf die Kinder aufpassen.“
„Das würden wir natürlich nicht einmal unseren ärgsten Feinden empfehlen.“
„Danke.“
„Bist du ein Schatz und schickst mir deine „All-favorite-London-List“, dann kann Frau Fischbacher die Reservierungen und das Programm für uns machen.“ Frau Fischbacher war Bernhard Anheims langjährige Assistentin und einige behaupteten, sie wäre auch schon sein Kindermädchen gewesen.
„Frau Fischbacher gibt es immer noch? Die Frau, die es am längsten mit dir ausgehalten hat, ha! War ein Scherz. Liebe Grüße von mir und ich schicke sie dir heute noch raus. Oder die Tage. Sag mir Bescheid, wann Ihr genau kommt, vielleicht können wir uns sehen. Ich meine - solltest du vielleicht früher kommen ...?“
„Das wäre natürlich fabelhaft, aber ich kann es dir noch nicht genau sagen. Wir werden diesmal wahrscheinlich alle zusammen ankommen und du kennst Esther und ihre Reaktion wenn ich deinen Namen...“
„Fein. Ich bin auf dem Sprung. Wenn es klappt, dann klappt es sonst, bleib mir gewogen.“ Die Leitung klang plötzlich ein wenig frostig.
„Das weißt du doch genau. Big kiss, danke dir und pass gut auf dich...“ Die Leitung wurde jetzt plötzlich unterbrochen, da Valerie versehentlich aufgelegt zu haben schien. Bernhard war sicherlich unter den Top-Drei ihrer Ex-Ehemänner aber die Kommunikation war manchmal eine Zerreißprobe. Lieb, lieb, lieb! Zu allen. Und „Esther“, allein der Name reichte für die erste American Spirit dieses Tages. Sicherlich, sie hatte ihn damals verlassen, aber Esther musste es nun wirklich nicht sein. Aber es war, wie es nun einmal war und sie freute sich, wenn es allen gut ging. Und außerdem: Ende des Monats. Das war in zwei Wochen. Soweit hatte sie in ihrem Leben noch nie vorausgeplant. Platz für Neues. Platz für eine sonnige Zukunft. Platz für Madame Primrose.
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3
Sie bekam einen Termin am nächsten Tag um siebzehn Uhr – normalerweise dauerten die Wartezeiten bis zu drei Monaten – und auch nur weil „Mrs. Hurley“ ihren Termin abgesagt hatte. Sie wird gewusst haben warum. Bevor Valerie zu einem Wahrsager gegangen wäre, hätte sich normalerweise eher eine Katze eine Zehnerkarte für das Freibad gekauft. Aber es war nicht normalerweise. „In this business either you sink or you swim or you don´t.“ (Zitatenschild Nr.17) und sie wusste augenblicklich weder welches Geschäft noch die eigentliche Frage. Alle von Valeries 500 besten Freundinnen hatten Madame Primrose ausdrücklich empfohlen und ihr Name wurde wie der eines Schweizer Nummernkontos in den guten alten Zeiten weitergegeben. Und so hatte Valerie pünktlich um kurz vor fünf an diesem sonnigen Londoner Nachmittag, ihren 72er Mini Innocenti in einem der dunkleren Stadtteile der Stadt geparkt und machte sich auf die Suche nach dem Tor zur Zukunft.
Bei einem kaum zu findenden Haus führte dann auch vorbildlich von einer wackeligen Glühbirne flackernd beleuchtet, eine Treppe zu einem Souterrain-Apartment hinunter. An der Wand vor der Eingangstür lehnte ein altmodisches, schon ziemlich verrostetes schwarzes Damen-Fahrrad, ähnlich dem von Miss Gulch - der bösen Hexe des Westens in der "Wizard of Oz" - mit dem sie Dorothes Hund "Toto" entführt hatte. Inklusive vorderem Fahrradkorb, in dem sogar etwas lag, das wie eine kleine karierte Hundeleine aussah. Bis dahin also ein ganz ausgezeichnetes "Set-Design", wie man diesen Kulissenbau beim Film genannt hätte.
Das magische Einlasstor war in einem übernatürlichen Apfelgrün gestrichen und ein etwas modriger Souterrain-Geruch gemischt mit den Essensgerüchen der Freunde einer deftigen englischen Küche - die in dem hiesigen Wohnblock eine große Anhängerschaft zu haben schien - begrüßten den Suchenden. Auf das mehrfache Klingeln öffnete schließlich: eine enttäuschend normal aussehende Frau mittleren Alters, mittlerer Statur und mittlerer Tonlage, die Valerie Willkommen und eintreten hieß. Das war Doris Berman, die Empfangsdame.
In der Diele hing dann tatsächlich auch noch eines der Top-5 Zitatenschilder der Blankenstern Ltd. „Money can´t buy happiness, but neither can poverty.“ Eine begrüßenswert weltliche Haltung. Und Valerie sah hierin naturgemäß auch gleich ein positives Omen, und die gleich darauf folgende schnell erledigte Honorarforderung der Weltseherin war dann auch nur noch eine Formalie und schon der erste Blick in die Sterne. Madame Primrose selber war von derart insignifikantem Äußeren, dass Valerie - bei einer etwaigen nachfolgenden Polizeibefragung - sogar von der Vorzimmerdame eine präzisere Personenbeschreibung hätte abgeben können. Einzig die dicken grauen Nebelschwaden, die im Zimmer standen und der übervolle Aschenbecher auf dem mit grünen Filz ausgeschlagenen Kartentisch, verliehen der Situation ein wenig Pathos und Poesie.
Als Valerie eineinhalb Stunden später den Ort der weisen Vorsehung wieder verließ, wusste sie vor allem, was sie schon vorher recht genau wusste: ihre Vergangenheit. Ohne Frage recht beeindruckend aber 300 britische Pfund beeindruckend? Sie wusste außerdem, dass die kettenrauchende Madame Primrose eine Schwäche für lila-pink-und-mauve-farbene Einrichtung hatte, Plastikblumen ihr Trost und Zuflucht waren, die rauchgraue Katze auf der hinteren lila Chintz-Monstrosität entweder schon ausgestopft oder erst kürzlich verstorben war und dass sie es auch in Bälde sein würde, wenn sie nicht umgehend an die frische Luft und unter eine Dusche kommen würde.
Eine der goldenen Wahrsager-Regeln lautet: Sage entweder ein Datum oder ein Ereignis voraus. Niemals beides zusammen. Daran hatte sich dann auch diese Säule ihrer Zunft eisern gehalten. Ein paar Allgemeinplätze, einige vage Andeutungen, ein paar vage Warnungen und noch vagere Aussichten. Es war naturgemäß Valeries gesamtes Lebenspersonal in den Karten vorhanden - ein immer wieder beeindruckender äußerst vertrauensaufbauender Schachzug dieses Berufszweiges - und Reisen, ein eventueller Ortswechsel und ein dunkelhaariger Mann. Nicht aus dieser Stadt. Die Finanzen, nicht ganz klar erkenntlich - wem sagte sie das - und Veränderungen. Das reichte Valerie. Da wahrscheinlich jeder der das Verlangen hatte in die Zukunft sehen zu wollen, auf Veränderungen hoffte, war auch hier wieder ein weiterer zufriedener Kunde.
Und wäre die Verabschiedung nicht gewesen, wäre Valerie auch nur an Britischem Sterling ärmer aber an Lebensmut wieder ausreichend gestärkt ihres Weges gezogen. An der Türschwelle angekommen nahm jedoch Madame Primrose, Valeries rechte Hand zum Abschied in ihre beiden primrose-gelben Hände und wünschte ihr mit der letzten Zigarette im Mundwinkel: „Für die weitere nächste Zukunft viel Zuversicht und Kraft und viel, viel Glück!“ Es hatte nur noch der aufmunternde Zusatz von Churchill gefehlt „And never,never,never give up.“ (Zitatentafel Nr. 26). Eine schwächere Persönlichkeit als Valerie Blankenstern hätte nun sicherlich überlegt, sich gleich vor den nächsten Bus zu werfen, um die Sache abzukürzen. Valerie aber sagte sich, dies sei jetzt endlich die Chance zum Beweis ihrer Theorie, dass jeder seine Lebensgeschichte selber schreibe. Sie hatte sich plötzlich für die „Selfmade-Theorie“ entschieden. Allerdings erst nachdem sie im Pub nebenan zwei Wodka auf Eis, ohne Eis, auf den Weg getrunken hatte.
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4
Der nächste Morgen brachte dann auch schon gleich den ersten Schritt, hinaus aus dem nebelumwaberten Tal, in das Valerie sich von dem Primrose-Auftritt vorübergehend gestoßen sah. Die Musikanlage spielte in lebensbejahender Lautstärke „Quando,quando,quando?“, als sie in ihrer Küche, bei einem Morgentee und unter ihren zwei Küchenzitaten „Only dull people are bright at breakfast“ (Zitatenschild Nr.7) und „Never sit at a table when you can stand on a bar.“ (Nr. 3 der Top-5 der Zitatenschilder) auf ihrem Laptop die letzten Nachrichten und die Bestellungen der Blankenstern Ltd. überflog. Und da war sie auch schon, die helfende Hand des Zufalls, oder eben doch des Schicksals. Ihr Verlag suchte einen freien Autor für ein Buchprojekt und fragte an, ob sie Zeit hätte für: ein Buch über Au Pairs. Na, großartig! Da diese Spezies bekanntermaßen bevorzugt in kinderreichen Familien auftritt, waren ihre momentane Lebenssituation und der dahin führende bisherige Lebensweg ja geradezu ideal. Die Teilchenphysik und vielleicht noch das „Münzwesen zu Zeiten des Trojanischen Krieges“ waren im Moment die beiden Gebiete, die ihr einfielen, auf denen ihr Wissensstand ähnlich wasserfest gewesen wäre.
Bevor sie noch Zeit hatte sich der Projektbeschreibung eingehender zu widmen, klingelte es an der Tür. Fanny ihr Mädchen für alles - „Assistentin-Sekretärin-Londoner-Buschtrommel-und-Freundin-Hybrid“ - war mal wieder zu spät und Valerie noch in ihrer türkisbestickten marokkanischen Morgen-Tunika, aber Robert Redford würde es schon nicht sein.
Adrian stand im Türrahmen und seine umwölkte hohe Stirn verhieß nichts Gutes. Das in die Augen fallende volle, noch immer im Stil der auslaufenden 70er getragene schon leicht ergraute Haupthaar und der hochgeschlagene Jackettkragen trugen das übrige zum düsteren Gesamteindruck des Besuchers bei. Er war nicht nur für sein Alter ein attraktiver Mann, und seine stets lässig-elegante Erscheinung strahlte auch nicht nur für Menschen die ihn nicht kannten Respekt und eine gewisse überhebliche Würde aus. Nach den fast zwanzig Jahren, die Valerie und er sich jetzt kannten, gab es zwischen ihnen immer noch eine für alle Anwesenden erkennbare gegenseitige Attraktion. Auch ohne Anwesende.
„Ich sag, Adrian, was machst du denn hier?“
„Valerie, du Albtraum meiner schlaflosen Nächte, darf ich kurz reinkommen?“
„Wo du schon einmal hier bist, wäre es ja wirklich blöd wenn nicht. Ich dachte du wärst in Lugano...“
Adrian verfügte über genügend Mittel um die Notwendigkeit von Arbeit zu vermeiden und pendelte in der Regel zwischen seinen Haupt-Wohnsitzen Lugano, New York und London hin und her. In seiner freien Zeit war er Anwalt des Rechts und verteilte auch dies recht gleichmäßig über Welt.
„Wie du siehst, bin ich hier. Gestern angekommen.“
„Welch Freude und Überraschung. Du weißt, wie sehr ich Überraschungen liebe. Möchtest du einen Tee?“
„Hast du vielleicht einen Kaffee? Fabelhaft siehst du übrigens aus. Das macht wahrscheinlich deine neuerdings so fürsorgliche Art.“
„Du auch Liebling! Das macht wahrscheinlich deine neuerdings so wahllose Art.“
„Wärst du geneigt mir kurz zu erklären, was die Vorstellung vorgestern am Telefon sollte? Es ist ja nicht so, das ich diese Art verheiratet nicht kenne, nur unverheiratet ist sie mir relativ neu, oder ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen.“ Adrian ließ sich auf einen der herumstehenden Riesensessel in ihrem Salon fallen, nachdem er die ungefähr fünfzehn Kissen und einige Bücher die darauf lagen, auf die umstehenden Sitzmöbel und den Boden verteilt hatte. Dann warf er noch ein Buch in seinem Rücken - "Yogi Ninja" - das Er übersehen hatte, auf den neben ihm am Boden liegenden Stapel großformatiger Fotobücher, der schon Beistelltisch-Höhe erreicht hatte.
„Was sammelst du immer noch alles für Dinge, Himmel! Das wird ja immer mehr. Wie schön, dass jetzt noch ein paar Kissen und Teppiche dazugekommen sind. Die konnten die Medina für einige Tage schließen, nachdem du da warst, wie es aussieht.“ Dann fuhr er sich mit beiden Händen gleichzeitig an den Seiten durch die Haare und verschränkte danach die Hände hinter seinem Kopf. Gäbe es eine typische Handbewegung bei Adrian, die wäre es gewesen. Dann schaute er zu Valerie hoch die gerade die Notwendigkeit entdeckt hatte, den vor ihm auf dem Sofatisch stehenden Riesenstrauß Freiland-Rosen, den sie sich am Wochenende vom Land mitgebracht hatte, in eine unerwartet neue Farbstellung umzuordnen.
Der Zweifel war einfach eine Hydra. Schlug man ihm einen Kopf ab, wuchsen zwei neue nach. Valerie musste an ein Interview mit Elvis Presley denken, dass Freunde Adrian einmal als besonders bezeichnend zum Geburtstag aufgenommen hatten:
Frage des Reporters: "Elvis, what´s your idea about the ideal girl?"
Antwort: "Female, Sir!"
Er war damals natürlich noch jünger. Elvis.
„Also, ich warte. Was hast du zu Deiner Verteidigung oder wenigstens zu meinem Verständnis beizutragen?“, fragte Adrian.
„Sweatheart, let the dead past bury its dead. Let bygones be bygones oder dergleichen mehr, wie die Einheimischen hier so treffend sagen. Ich verstehe nur nicht...“
„Was gibt es nicht zu verstehen, wenn ich völlig belanglos mit einer Bekannten essen gehe?“
„Hunny, Fanny hat Euch zusammen aus dem Haus...“
„Fanny? Dein „Taschen-Sherlock Holmes“? Valerie, jetzt ist aber wirklich ein Punkt erreicht.“
„Grüner Tee, du wolltest einen grünen Tee.....?“
Dieses spätnacheheliche Gespräch ging noch eine Weile so weiter, bis man sich in aller Freundschaft wieder trennte, Valerie im Bezug auf ihre unsachgemäßen Fremdeinmischungen Besserung gelobte und sie sich für nächste Wochen zum Abendessen verabredet hatten. Das war erst einmal das.
Nachdem Adrian gegangen war, kehrte Valerie zu ihrem Küchen-Büro zurück. Es war jetzt nicht die Zeit darüber nachzudenken, was man nicht hatte, sondern was man mit dem tun konnte, was man hatte. Sie steckte sich geistesabwesend die langen Haare mit einem herumliegenden Löffel hoch, wie so häufig, wenn sie geistesabwesend war und es war eigentlich ein Wunder, dass sie nicht große Teile ihres Lebens mit Löffeln im Haar verbrachte.
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5
Im Bezug auf Trennungen hatte Valerie im Rückblick leider große und ausgeprägte Phasen selektiver Amnesie. Das hieß, sie konnte sich, weil sie wollte, nur noch an Dinge erinnern, die ihr angenehm waren. Auf jeden Fall weitaus angenehmer als die Dinge, an die sich die übrigen Beteiligten zumeist erinnern konnten. Und auch ansonsten war sie ein lausiger Chronist. Und warum hatten Adrian und sie sich eigentlich getrennt damals? Sie hatte im Leben zwar nicht immer bekommen was sie wollte aber eigentlich immer wen sie wollte. Und seit Adrian gab es eine gewisse Vakanz, wie sie feststellen musste.
Und immer wieder neu verliebt sein. Und immer wieder eine neue Liebe. Und immer wieder von vorne anfangen und alles neu erklären. Und immer wieder das Leben ändern und den Namen. Irgendwie eine anstrengende Option und so wenig vielversprechend. Sicherlich auch immer wieder absolut fantastisch, schwerelos, haltlos, atemlos und unverwundbar. Bis man dann aber auch immer wieder nach einiger Zeit zum schmerzvollen Teil kam. Der Teil des Krankheitsverlaufes an dem sich entschied, ob der Patient überlebte oder nicht. Und wenn ja mit welchem Befund. Und immer gab es daraufhin die befundsbedingten Einschränkungen. Und mit Adrian waren sie eigentlich gar nicht so gravierend, die Einschränkungen. Analog vielleicht mit „All zu lange Tauchgänge vermeiden, keine stärkehaltigen Lebensmittel nach Mitternacht und möglichst das Ausschließen von Zugluft.“ Alles in allem also absolut eine Liebe mit nicht zu lebensqualitätseinschränkender Diagnose.
Gut, es gab irgendwann Phillip und sie war zu ihm nach London gegangen - Adrian und sie lebten damals noch in New York - aber deswegen musste man sich doch nicht gleich wieder scheiden lassen. Nach nur einundzwanzig Monaten Ehe. Und sechs Jahren Zusammenleben. Und fast zwanzig Jahren kennen. Grundgütiger. Immer diese übereilten, impulsiven Entscheidungen, aber „Boys will be Boys!“ Man hätte sich die Sache doch einfach erst einmal ansehen können. Und sie war nach kaum zwei Jahren sowieso vorbei. Und wären sie verheiratet geblieben, hätte sie sicherlich noch viel eher erkannt, dass Phillip nur ein Irrtum war. Und wieder riss das Telefon sie aus ihren Sentimentalitäten. Aber wie konnte Adrian auch nur dieselbe Luft atmen mit dieser Amelie? Dieser Person, deren einzigen Insignien der Macht ein Outfit war, das sich auch für das ungeschulte Auge zu einem Gesamtwert von zwanzig- dreißig Tausend Euro aufaddieren ließ. Ihr einzig erkennbarer Wert. Es war einfach jammervoll und hochnotpeinlich. Früher da gab es ein gemeinsames Wollen, gemeinsame Ziele, gemeinsame Werte. Und jetzt waren seine Freundinnen in Preisschilder gekleidet. Sie würde auch das Abendessen wieder absagen. Und wer rief jetzt schon wieder an.
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6
„Hallo, Blankenstern.“ Sagte Valerie, als sie eines der Telefone endlich unter einer Pelzdecke in ihrem Schlafzimmer gefunden hatte.
„Hallo Val altes Mädchen, hier ist Leonard, wir waren mal verheiratet.“
Leonard war Ehemann Nummer zwei und langsam machte sich Valerie einen Begriff, was die Primrose mit der nächsten Zukunft gemeint haben könnte.
„Leonard, Himmel. Was machst du? Wir haben bestimmt seit Ostern nicht mehr gesprochen.“
„Alles blendend. Ich bin übernächste Woche in London und dachte, es wäre doch eine Freude dich zu sehen. Hast du immer noch deine wilde Wohnung in Battersea? Und was machen die Tennislehrer?“
„Ich bitte dich.“
„War dein letzter nicht Tennislehrer? Oder Tauchlehrer, aber Tanzlehrer?“
„Er unterrichtete Klavier an der Royal Academy of Music und...“
„Ein Klavierlehrer also, großartig. Siehst du, ich höre doch zu, wenn du mir etwas erzählst. Und sonst, was gibt es sonst Neues?“
„Nichts Neues unter der Sonne, Darling.“
„Was unter dem ganzen weiten abendländischen Himmel nichts Neues? Was treibst du nur Kind. Also, was ist der Plan?“
Und da war er wieder: Der Plan. Grundgütiger Himmel, ein Plan. Das hatte schon zu Ehezeiten an den Nerven gezerrt und davor erst recht, und da war er schon wieder. Pläne waren dafür da, umgeworfen zu werden. Um danach ein neu gewonnenes Gefühl von Freiheit zu haben. Das war die einzige Plan-Daseinsberechtigung. Das unvergleichliche Geschenk einer abgesagten Abendverabredung - hatte man es unvorsichtigerweise schon einmal so weit kommen lassen und das galt sogar bis hin zum absoluten Führungspersonal ihrer Freundesmenschen – war doch immer wieder ein Geschenk. Wie Ferien. Aber dies alles Leonard zu erklären, hatte Valerie schon nach ziemlich kurzer Zeit aufgegeben und die war schon ziemlich lange her. Der eine Teil der Menschheit brauchte anscheinend seine Pläne der andere Teil offensichtlich nicht.
Das Planungszentrum saß bei Leonard gleich neben seiner ausgeprägten Vernunftsabteilung, die erwachsene Männer für Valerie so anziehend und lebensnotwendig machte. Das „Sie-brauchte-selber-nicht-nachzu-denken-und-keine-Entscheidungen-treffen-Zentrum“. Optional natürlich. Wie sie das in ihrer selbst verschuldeten Unabhängigkeits-Phase vermisste. Aber: „Alle Rechte keine Pflichten“ - das waren schon die Worte ihres geliebten Vaters gewesen - so liefe es im Leben nun einmal leider nicht. Aber genau die Lebensbereiche zu finden, in denen diese Weltformel keine Gültigkeit besaß, darin sah Valerie schon immer eines ihrer Hauptziele. Die „rechtsfreien Zonen“ in denen auch „erst denken dann reden“ und „wer etwas verliert, hat zu viel davon“ und dieser Dinge mehr außer Kraft gesetzt waren. Leider gehörten diese Bereiche zu den bedrohten Biotopen dieser Welt.
„Valerie, bist du noch am Apparat?“, erinnerte Leonard sie wieder an ihre Verbindung zur Außenwelt.
„Unbedingt. Natürlich. Also du kommst in die Hauptstadt, dann sehen wir uns natürlich. Ich freu mich. Das ist wirklich eine fabelhafte Nachricht.“
„Ist sonst alle fein und lebenswert? Hast du die Welt im Griff oder ist es umgekehrt? Wenn ich helfen kann...“, wollte Leonard gerade ausführen, als Valerie ihn unterbrach.
„Ich danke dir. Du bist mein Held. Aber man muss die Dinge tun von denen man dachte man könne sie nicht tun, oder so ähnlich hast du es mir doch immer beigebracht."
Die Unterhaltung hatte einen kritischen Moment erreicht. Entweder würde Valerie ihre momentane Lebensdissonanz beichten und damit eine gewisse vorübergehende Lebensflugunfähigkeit eingestehen müssen, oder:
„Leonard, hör zu, ich habe hier gerade ein eiliges Projekt auf dem Tisch und lass uns doch in Ruhe die Welt besprechen, wenn du kommst. Ich weiß meine Planung - ha!, dein Einfluss. Also, ich weiß meine Planung momentan noch nicht so genau. Aber eventuell wollte ich irgendwann diesen Monat noch ein paar Tage nach Reykjavik.“
„Zu den Elfen und Trollen, dann pass auf, dass sie dich nicht gleich da behalten. Ich wohne im Blakes wie immer und bestelle einen Tisch für den Freitagabend, sollte ich keine Abwesenheitsnotiz von dir erhalten. Abgemacht.“
„Und Val“, fügte er noch hinzu,„ Viel Erfolg für deinen neuen Auftrag. Ich sage, es ist immer ein gutes Gefühl die Zukunft in den eigenen Händen zu halten.“ Leonard war eindeutig Anhänger des „Selfmade-Lagers“. Dieser Träumer. Keine Ahnung von der Romantik der Vorsehung, dachte sie nur.
„Ja, ja, ganz sicher. Unbedingt. Exzellent, hervorragend. Ich freu mich auf dich."
Und gleich neben der Planung - nicht zu vergessen - wohnte auch gleich noch die große Schwester, die Disziplin. Mit Verantwortung, Ernsthaftigkeit und Cousine Konsequenz eine große, glückliche Familie und verschworene Gemeinschaft in ihrem Haus in der Routine-Straße. Eine Gegend, die Valerie bereit war zu meiden, wie der Vegetarier das Schlachthaus. Anscheinend ging es im Leben aber nicht ganz ohne Verbindung in dieses feindliche Lager, derer„von-und-zu-ohne Fleiß-keinen-Preis“. Und ab und zu musste man einfach auf die Hilfe der Götter hoffen.
Es war manchmal wirklich nicht ganz einfach, sich ein erwachsenes, eigenständiges Leben aufzubauen, die Verantwortung für drei Ex-Ehemänner zu haben – sich außerdem zu versuchen gleichmäßig in deren Leben einzumischen – und nebenbei noch die eigene Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren. Der eine hat eine Illusion der andere hat eine Wirklichkeit. Und dieser würde sie jetzt in die Augen sehen. Und dazu gehörte unbedingt der nächste Auftrag, und das war es, was sie sich jetzt ansehen wollte. Irgendwas mit „Au“.
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Geld verschönt die guten Zeiten und tröstet in deren Abwesenheit. Und da in dieser Welt nun einmal eine gewisse Kausalität zwischen Arbeit und Geld zu bestehen scheint und da Arbeit außerdem und bekanntermaßen das beste Mittel ist, um einen den dunklen Abgründen zu entreißen, würde sie den Buchauftrag selbstverständlich annehmen. Aber ausgerechnet Au Pairs, eines der wenigen Gebiete, auf dem Valeries Erfahrungsschatz auf ein überschaubares Häuflein Nichts zusammenfiel. Valerie hatte Kindermädchen gehabt. Als sie klein war. Also für sich selbst. Aber das war nun wirklich schon – nun, ein bisschen her.