Für immer EINS – ECHOLOST - Daniela Gesslein - E-Book

Für immer EINS – ECHOLOST E-Book

Daniela Gesslein

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Beschreibung

Völlig unerwartet verlässt Carmens Ehemann während einer Urlaubsreise in Portugal das Auto und kehrt nicht mehr zurück. Verzweifelt sucht Carmen nach ihm und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, denn eines weiß sie mit Gewissheit: Sie lieben sich von ganzen Herzen. Daher stellt sie sich die Frage: Warum musste er fortgehen, ohne ein Wort der Erklärung? Was war nur passiert, dass er vor ihr flüchten musste? Einem Hinweis folgend, lässt sie sich nachts in die Knochenkapelle, eines der bekanntesten Baudenkmäler der Stadt Évora, einschließen ... Begleite Carmen in diesem Liebesdrama auf ihrer Reise zur Wahrheit.

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Inhalt

POESIA I

Teil I: CARMEN

POESIA II

Teil II: VOLKER

POESIA III

Teil III: PEDRO

POESIA IV

Teil IV: CARMEN

POESIA V

Anhang

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Ein Liebesdrama

DANIELA GESSLEIN

© FeuerTanz-Verlag ist ein Imprint im VA-Verlag

www.feuertanz-verlag.de • [email protected]

www.va-verlag.de • [email protected]

Weitere Infos: Siehe Impressum am Ende

Die Erstausgabe erschien unter dem Titel ECHOLOST – Für immer eins

TRIGGERWARNUNG:

In diesem Roman geht es um Liebeskummer, Trennungsschmerz und Tod. Diese Themen können – besonders wenn es in der eigenen Biografie Parallelen gibt – aufwühlende Gefühlszustände und Reaktionen hervorrufen. Bitte gib auf dich acht, wenn das bei dir der Fall ist.

POESIA I

Neem me mee,

neem me even mee

naar een plaatsje in de zon

omdat ik anders

zonder jou verwaai

en jij mij niet herkennen zult.

Blijf me bij,

ik wil je niet vergeten!

Nimm mich mit,

nimm mich bitte mit

zu einem Platz an der Sonne,

da ich ansonsten

ohne dich verwehe

und du mich nicht mehr wiedererkennen würdest.

Bleib bei mir,

ich will dich nicht vergessen!

© Willemina Preiß, aus: »Verschillen in Liefde«, 1977

Teil I: CARMEN

Portugal, 13. August

Autoestrada

»Halt an!«, kommt es wie aus heiterem Himmel über seine Lippen. »Lass mich raus!«

Ich lache erst, nehme ihn nicht ernst. »Mitten auf der Autobahn? Meu amor, das ist unmöglich.«

Unser Leihwagen, ein klappriger Polo, rauscht an goldgelben Feldern und Korkeichen-Hainen vorbei. Die Sonne sticht bereits morgens um zehn mit solcher Kraft vom Himmel, dass sich die Blechkiste binnen weniger Minuten in einen Backofen verwandelt hat. Klimaanlage? Es ist zwar eine vorhanden. Nur funktioniert das Mistding nicht. Deshalb stehen die Fenster auf beiden Seiten einen Spalt offen. Das Gebläse lärmt mit den rollenden Reifen um die Wette, weswegen wir das Radio längst abgestellt haben – bei dem Krach kann man eh nichts verstehen. Erst recht nicht in der hiesigen Landessprache, obwohl wir vor Reiseantritt fleißig geübt haben. Und Musik mutiert ohnehin zu unmelodischem Jaulen und dumpfem Klopfen, das lediglich nervt anstatt zu unterhalten.

Für gewöhnlich können mein Mann und ich Hitze ganz gut vertragen. Nun entlockt sie sogar meiner Haut Schweißtropfen, die mich im Nacken kitzeln und meine mohnrote Lieblingsbluse am Rücken festkleben. Ich hätte mir die Haare hochbinden sollen, ärgere ich mich. Dann würde ich jetzt nicht so schwitzen.

Aber mein Mann liebt es, wenn ich meine langen schwarzen Haare offen trage, und ihm zuliebe nehme ich den Schweiß eben in Kauf.

»Halt bitte an!«

Das unüberhörbare Zittern in seiner Stimme alarmiert mich.

»Was ist denn los? Musst du auf die Toilette? Ist es so dringend?« Ich werfe einen kurzen Blick aufs Navi. Santa Sofia heißt der Ort, an dem wir in Kürze vorbeikommen werden. »Bis Évora sind es knapp zwanzig Kilometer. Hältst du es bis dahin nicht mehr aus?«

»Nein. Nein, du verstehst mich nicht. Ich will aussteigen. Ich kann das nicht mehr!«

»Du kannst was nicht mehr?« Ich steige vom Gaspedal. »Geht es dir nicht gut?«

»Echo, ich muss hier raus!« Echo. Er hat mich Echo genannt. Das hat er so lange nicht mehr getan. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Mit einem Male ist meine Kehle staubtrocken.

Ich hasse meinen bescheuerten – ja, lächerlichen – Namen, für den ich so oft Spott geerntet habe. Spätestens seit meinem ersten Schultag habe ich Papa für diesen Namen verflucht. Er hat meinen Ärger darüber nie verstanden oder besser gesagt: nie verstehen wollen. Im Gegenteil: Er hat sich geärgert, dass ich meinen Namen nicht mag.

Anders mein Mann. Er versteht mich. Er war von Anfang an auf meiner Seite. Na ja, fast. Anfangs hat auch er seine Scherze damit getrieben.

Ich erinnere mich allzu deutlich an unsere erste Begegnung.

»Wie bitte?« Der blonde Schönling verschluckte sich an seinem Eiskaffee. Sein Kumpel musste ihm auf den Rücken klopfen, damit er überhaupt weiterreden konnte.

»Ja, es stimmt, was er sagt. Mein richtiger Name ist Echo. Saukomisch, was?« Ich warf meiner niederländischen Freundin Ineke einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie war es, die mich unbedingt dem Bekannten ihres Mannes vorstellen wollte.

Von wegen, er ist nett, was Besonderes und anders als die anderen Männer in unserer Stadt. Pah!

Ich wollte nur noch weg und griff bereits nach meinem Rucksack.

Die Worte nach seinem Hustenanfall waren es, die mich innehalten ließen: »Angenehm, Echo. Ich bin Lot.« Ganz förmlich streckte er mir seine Rechte entgegen. »Zusammen heißen wir Echolot. Schön, oder?«

»Du verarschst mich.«

»Ganz und gar nicht, meine liebe Echo. Du bist offensichtlich nicht die Einzige, deren Eltern einen etwas … exquisiten Geschmack in Sachen Namenswahl für ihren Nachwuchs haben. Aber mal ehrlich: Echo … Lot …, das kann kein Zufall sein. Zusammen sind wir das Echolot und gehen nie verloren.« Er klatschte in die Hände. »Ich finde, das ist ein Zeichen. Wir sollten es miteinander versuchen.«

Zielsicher zog er eine prächtige weiße Dahlie aus der Tischdeko und hielt sie mir unter die Nase.

Und der Rest ist Geschichte. Inzwischen sind wir fünf Jahre verheiratet, und ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu sein. Ich will es auch nicht.

Nur ungern löse ich mich von den schönen Erinnerungen und kehre in die unwirklich anmutende Gegenwart auf der Autobahn zurück. In den kochend heißen Schrottkübel von Auto.

Echo nennt mein Mann mich selten. Für gewöhnlich ruft er mich mit einem seiner hundert Kosenamen, darunter meine Favoriten Seelensymphonie, Kirschblüte oder Karamellbonbon, oder wenn er weniger kreativ ist, ganz einfach mit meinem Zweitnamen. Denn Carmen gefällt mir wesentlich besser, weil er – nun ja, einfach normaler klingt als der andere. Und das ist es, was ich sein will: normal. Eine meiner schwersten Übungen.

Echo nennt er mich höchstens, wenn er seine Echolot-Scherze treibt. Aktuell sieht es allerdings überhaupt nicht danach aus, als sei er zu Scherzen aufgelegt.

Es bedrückt mich, ihn so ernst dreinblicken zu sehen. Das bin ich schlichtweg nicht gewohnt. Lot ist die gute Laune in Person. Mein Sonnenschein und der beste Partner, den ich mir wünschen kann.

Heute früh war er anders drauf. Was ist passiert? Wann ist die Stimmung gekippt? Habe ich vielleicht was Blödes gesagt? Was ist mir entgangen?

Wir passieren ein Hinweisschild.

»Da vorne ist eine Raststätte. Wir können dort halten, wenn du möchtest, uns die Beine vertreten und ein bisschen frische Luft schnappen.«

Er nickt nur und verschränkt seine Arme vor der Brust. Dieses Verhalten passt absolut nicht zu meinem Lot.

Während ich den Wagen auf die Abbiegespur lenke, knabbere ich auf meiner Unterlippe herum.

»Nein. Es geht mir wirklich nicht gut.« Er patscht mit beiden Händen auf seine Oberschenkel, ringt nach den richtigen Worten. Er findet sie nicht. Ich spüre das, obwohl ich ihm gerade nicht ins Gesicht schauen kann, weil ich mit der Ausfahrt beschäftigt bin. Ich höre an seiner Stimme, dass er kämpft, sehe aus dem Augenwinkel, dass er eine Grimasse zieht, und ahne, dass etwas naht, das alles verändern wird. Es macht mir Angst, schon bevor er es ausspricht. Ich will es nicht hören. Zu spät.

»Tut mir leid, Echo. Ich habe bei dir das Gefühl zu ersticken. Es geht einfach nicht mehr.«

»Was?« Trotz der Hitze wird mir kalt, und wir rumpeln über einen Bordstein, so heftig, dass ich mir auf die Zunge beiße. »Aua!«

Er geht nicht darauf ein. »Das alles hier …« Er reißt seine Arme auseinander, als meine er die ganze Welt. »Wie du bist und … ja, nehmen wir zum Beispiel diese Urlaubsreise. Wieso können wir nicht einfach wie ein glückliches Ehepaar an den Strand fahren? Ich meine, wir sind in Portugal unterwegs. Wieso gehen wir nicht an die Algarve? Von mir aus hätten wir auch in Lissabon bleiben, eine Bootsfahrt machen und lecker essen gehen können. Aber nein! Nicht wir. Wir gucken alte Steine an. Dolmen, Menhire, Megalithen und wie diese Dinger heißen.«

»Hä?« Ich kurbele am Lenkrad. Das Auto hat keine Servolenkung.

»Skelette, Friedhöfe, uralte, stinkende Gemäuer und …«

»Das stört dich?« Endlich finde ich einen Parkplatz neben einem weißen Kleintransporter und stelle mich viel zu schräg in die Lücke. »Unsere Sightseeing-Touren?« Ich schalte den Motor aus und ziehe die Handbremse fest.

Der fehlende Lärm des Autos lässt Lots Stimme umso lauter und bedrohlicher klingen. »Sightseeing nennst du das?« Er schnaubt. »Du lebst mehr in der Vergangenheit als im Jetzt. Die Toten interessieren dich mehr als deine Freunde. Mehr als ich. Zwar bin ich immer irgendwie dabei, aber du schleppst mich mit wie ein Gepäckstück, fragst mich nie danach, was ich gerne sehen möchte, was ich für Bedürfnisse habe. Eigentlich könntest du alleine fahren. Dein oller Buchhalter vom Land ist dir inzwischen zu langweilig geworden. Du brauchst mich gar nicht.« Er räuspert sich. »Und jetzt sagst du nicht mal was dazu. Wahrscheinlich denkst du gerade an irgendeinen toten König, der hier vor Hunderten von Jahren einen Furz gelassen hat, weswegen dieser Parkplatz historisch wichtig ist und in den Geschichtsbüchern erwähnt wird, oder du überlegst dir eine Überschrift für irgendein Kack-Kapitel in irgendeinem bescheuerten neuen Buch, das du schreiben willst.«

Ich öffne meinen Mund und schließe ihn wieder, mustere Lot, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Wer ist dieser Mann neben mir? Ist das nicht mein Lot, der mich über alles liebt, und den ich über alles liebe?

Es dauert eine Weile, bis ich meine Stimme wiederfinde: »Du wolltest das doch auch. Du hast extra eine Historikerin geheiratet, damit sie dir erzählt, wo wir herkommen, wer wir sind und warum wir so sind, wie wir sind. Das alles interessiert dich doch auch. Unser Ehegelübde … du hast gesagt …« Ich verstehe die Welt nicht mehr. »Wir haben diesen Urlaub zusammen geplant. Du warst genauso Feuer und Flamme wie ich!«

Lot schüttelt den Kopf. »Nein. Ich war Feuer und Flamme wegen dir. Weil ich total vernarrt in dich war.«

»War? Und jetzt bist du das nicht mehr?«

Seine Schultern sacken nach unten. »Ich … weiß es nicht, Echo.«

Beim Klang meines Erstnamens zucke ich zusammen, und eine dunkle Ahnung befällt mich. »Du hast eine andere?« Schweigen ist die Antwort. »Hast du eine andere?«

»Darum geht es doch gar nicht.«

»Doch, darum geht es. Lot! Wir gehören zusammen. Wir sind das Echolot. Hast du das vergessen? Wir …«

»Nichts Echolot. Ich habe es versucht. Es geht nicht. Wir sind …« Seine Stimme klingt hart wie Gestein. »Echolost.«

»Aber …«

»Nein. Es ist vorbei.« Er schnallt sich ab. »Oh Gott! Ich muss hier raus!« Und ehe ich es mich versehe, hat er die Tür aufgerissen und den Wagen verlassen. Er geht nicht zu den Toiletten, sondern an den Straßenrand, wo sich gerade jemand daranmacht, wegzufahren. Er hält seinen Daumen zur Seite. Deutlich sichtbar für den Fahrer des anderen Autos.

»Lot?« Ich kurbele das Fenster komplett herunter. »Lot!«

Das reicht nicht. Ich muss hinterher.

Ich schnalle mich ab, stelle fest, dass ich leider viel zu dicht an dem Kleintransporter links neben mir geparkt habe, als dass ich hätte aussteigen können, ohne Schaden anzurichten. Ich muss über den Beifahrersitz nach draußen klettern oder umparken.

Bevor ich mich für eine der Möglichkeiten entschieden habe, ist Lot bei dem Fremden eingestiegen und davongefahren, ohne sich von mir zu verabschieden und ohne mir noch einen einzigen Blick zu widmen.

Perdida

Wir sind Echolost, hallt es durch meinen Kopf. Lost. Ich betrachte mein Gesicht im Spiegel in der Raststätten-Toilette und kann nicht fassen, was geschehen ist. Unwirklich erscheinende Bilder rasen durch meinen Kopf, die mich schwindelig machen, mich dazu bringen, mich am Rand des Waschbeckens festzuklammern wie an einer Boje inmitten eines wogenden Ozeans, dessen Gischt mir ins Gesicht klatscht und mir den Atem nimmt. Ich japse nach Luft wie eine Ertrinkende.

Das Rauschen einer Toilettenspülung ist zu vernehmen, und kurz darauf stöckeln Pumps von hinten auf mich zu.

»Tudo bem?« Das zarte Stimmchen gehört zu einer noch zarteren Frau. Ich gehe zur Seite, damit sie sich die Hände waschen kann. »Precisa de ajuda?« Ob ich Hilfe brauche? Ja. Nein. Vielleicht. Weiß nicht. Aber du kannst mir eh nicht helfen. Niemand kann das. Außer Lot, und der ist nicht da.

»Não, obrigada«, verneine ich. Die junge Frau wartet eine Weile ab. »Tudo bem«, lüge ich. Es ist alles in bester Ordnung.

Nichts ist in Ordnung!, widersprechen meine Augen, die mich aus dem Spiegel anfunkeln, als wäre ich an allem Elend schuld.

Bin ich an allem Elend schuld?

Ja, ich habe Lots Leid nicht erkannt. Er ist nicht mehr glücklich mit mir. Schuldig im Sinne der Anklage.

»Tudo bem.« So hohl klingt meine Lüge. Dennoch zeigt sie Wirkung.

»Okay.« Die Fremde zuckt mit den Schultern, trocknet sich die Hände mit einem Papierhandtuch ab und stakst nach draußen. Im Spiegel erkenne ich, dass sie sich noch einmal nach mir umdreht.

Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß!, schicke ich ihr in Gedanken hinterher.

Nachdem die Tür hinter ihr zugefallen ist, atme ich tief durch, lehne mich an den Spiegel, der hier und da mit Wasserspritzern versehen ist. Das Dunkel meiner Augen greift nach mir. Dunkelbraun, von feinen Linien durchzogen, die nur eine Spur heller sind als der Rest der Regenbogenhaut. Spiralförmig sehen diese Striche aus. Ein Strudel, der meinen Fokus ins Zentrum lenkt: zu den tiefschwarzen Pupillen.

Zwei schwarze Löcher, in die ich gesogen werde.

Und doch glaube ich, in ihren Tiefen etwas erkennen zu können.

Spiegele ich mich in ihnen wider? Mein Spiegelbild in meinen gespiegelten Augen. Im Spiegel, der von meinen Augen widergespiegelt wird?

Ich beuge mich so nahe an das Glas, dass meine Nasenspitze seine Oberfläche berührt, und werde in den Strudel der Erinnerung gerissen.

Das Auto, in dem sich Lot von mir entfernte, rollte rasch vom Parkplatz.

Wo will er hin? Ich muss hinterherfahren! Ich drehte den Schlüssel. Der Motor zündete, soff aber gleich wieder ab. »Nein, nein! NEIN!« Beim zweiten Mal sprang er an. Ich legte den Rückwärtsgang ein, stieg von der Kupplung, während ich Gas gab – und mit einem hässlichen Knirschen gegen ein Auto stieß, das just in dem Moment hinter mir rangierte.

»Scheiße!«, keuchte ich und stieg auf die Bremse. Sofort vernahm ich durch das offene Fenster portugiesische Flüche. Ein Motor stotterte, bevor er verstummte, und kurz darauf hörte ich das penetrante Klopfen einer Faust gegen die Karosserie meines Wagens. Ich schaltete den Motor ab und stieg aus. Da ich bereits ein ganzes Stück zurückgefahren war, gelang mir dies inzwischen wieder auf der Fahrerseite. Ich torkelte gegen die Heckscheibe des geparkten weißen Kleintransporters. Beiläufig las ich den flammend roten Schriftzug, der die Scheibe zierte: APOCALIPSE. Und blinzelte, während ich mich zu meinem Unfallgegner umdrehte. Die Knie wurden mir weich, und ich ließ regungslos Schimpftiraden über mich ergehen, von denen ich höchstens die Hälfte verstand. Mein Gegenüber, ein Portugiese in den mittleren Jahren, hatte ja recht. Ich war schuld. Ich hatte nicht in den Rückspiegel geschaut. Im Grunde durfte ich froh sein, dass ich in ein Auto gefahren war und nicht etwa in einen Fußgänger.

Alles, was folgte – Polizei, Schadensbeschau, noch mehr Gezeter, tröstendes Schulterklopfen einer wildfremden Passantin – nahm ich hin, während mein Blick wiederholt in die Richtung zuckte, in die mein Lot verschwunden war.

Es stellte sich heraus, dass der Schaden, den ich verursacht hatte, kaum der Rede wert war. Beide Autos – keines jünger als zehn Jahre – blieben fahrtüchtig und hatten eben ein, zwei Dellen mehr als zuvor. Sogar der Polizist mit dem schwarzen Schnauzbart meinte, es sei von meinem Unfallgegner übertrieben gewesen, die Polizei einzuschalten. Ich solle meine Versicherung unterrichten und vor allem nicht vergessen, der Leihwagengesellschaft den Schaden zu melden. Außerdem musste ich ihm versprechen, von nun an vorsichtiger beim Ausparken zu sein.

Ja, ja, schon gut, kommt nicht mehr vor.

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, stellte ich mein Auto in dieselbe Parklücke wie zuvor, diesmal mit mehr Abstand zum Kleintransporter, und rief bei Lot an. Er ging nicht ans Handy. Ich schrieb ihm eine WhatsApp-Nachricht: »Bitte, Lot, die Trennung kann nicht dein Ernst sein. Bitte lass uns reden.«

Die zwei blauen Haken hinter meiner Nachricht gaben mir Gewissheit, dass sie bei ihm angekommen und auch von ihm gelesen worden war. »Ich liebe dich«, tippte ich. Bevor ich auf Senden drücken konnte, erschien eine Nachricht von ihm: »Ruf mich nicht mehr an und schreib mir nicht. Es ist aus.«

Ich drückte dennoch auf Senden und wartete eine Weile ab. Es kam keine Antwort. Ich gab auf, stieg aus und schlich zum Gebäude der Raststätte, wo ich versuchte, das Chaos in meinem Kopf zu sortieren.

Durch meinen Unfall ist viel zu viel Zeit vergangen. Zeit, die es mir unmöglich macht, Lot einzuholen. Er kann inzwischen sonst wo sein. Ich lasse meine Stirn gegen die Spiegeloberfläche klopfen. Toll, ganz toll gemacht, Carmen. Du bist ein Echo von dir selbst, hast dir nicht einmal das Kennzeichen gemerkt. Und ans Handy geht er auch nicht mehr.

Ich hebe meinen Zeigefinger an die Stelle des Spiegels, wo ein Tropfen an meinem Auge glitzert. Weine ich etwa? Ich schüttele den Kopf. Nein. Es handelt sich um einen Wassertropfen auf dem Spiegel. Mein Finger verschmiert die Glasoberfläche, und ich fasse für mich zusammen: Ich fühle mich schlecht. Habe deswegen sogar einen Unfall verursacht. Ich vermisse meinen Mann. Trotzdem weine ich nicht. Wieso? Wer ist diese Frau im Spiegel?

Ich betrachte mein Gegenüber. Lange Haare, die wie ein schwarzer Vorhang herabhängen und die eine Gesichtshälfte fast völlig verdecken.

Ein Schleier, der die Tatsache verbirgt, dass ich nicht weine. Ich streiche den Vorhang nach hinten, über die Schulter. Ich habe die einzige Konstante in meinem Leben verloren. Wo soll ich hin? Weiter nach Évora? Zurück nach Lissabon? Echolost. Lost.

»Perdida«, übersetze ich in die Landessprache und wundere mich, wieso mir ausgerechnet in diesem Moment das Wort einfällt. Statt zu übersetzen, müsste ich weinen. Wieso weine ich nicht?

Ich stehe starr. Einzig meine Lider heben und senken sich. Und meine Brust, unter der sich die Lungen mit Sauerstoff füllen und wieder entleeren. Füllen und entleeren. Füllen und … Während sich auch mein Kopf zunehmend leert. Oder sich stattdessen mit sinnlosen Gedanken füllt.

Zum Glück bin ich endlich alleine im Casa de banho. Casa de banho? Komisches Wort. Das heißt eigentlich Badehaus, obwohl das hier eindeutig kein Badehaus, sondern eine öffentliche Toilette ist. Die Portugiesen sind komisch. Ich korrigiere: Nein, ich bin es, die komisch ist. Wieso denke ich über die portugiesische Sprache nach? Als hätte ich keine anderen Sorgen.

Ich kämme mit meinen Fingern durch die Haare, drücke dabei fest auf die Kopfhaut, um mich zu spüren. Es tut fast weh. Aber nur fast. Etwas anderes schmerzt umso mehr. Oder hätte es zumindest sollen.

Wahrscheinlich stehe ich unter Schock und kann erst später weinen. Boah, ich sehe furchtbar aus!

Mein Gesicht leichenblass. Beinahe weiß. Die Lippen ebenfalls farblos, käsig, leergepresst zu einer hellen Linie. Meine Augen wie immer nur leicht geschminkt. Ich bin nie jemand gewesen, die zentimeterdick Schminke aufträgt, sondern ein eher natürlicher Typ.

Lot liebte mich, wie ich bin. Liebte? Jetzt denke ich auch schon im Imperfekt. Nun liebt er mich nicht mehr? Wieso? Ich werde bald dreißig. Findet er mich etwa nicht mehr attraktiv? Hat er sich eine Jüngere gesucht?

Ich berühre meinen Augenwinkel, wo sich feine Linien abzeichnen. Richtige Falten sind das noch nicht. Klar werde ich älter. Er ebenfalls. Hat einen leichten Bauchansatz …

Bei der Erinnerung an seinen »Schwimmreifen«, wie er es selbst zu nennen pflegt, muss ich schmunzeln. Ich habe mich an seinem Pölsterchen nie gestört. Im Gegenteil. Ich bin sogar stolz darauf, weil es mir als Beweis dient, dass ihm mein Essen schmeckt. Vielleicht denke ich auch insgeheim, dass er mit dem Bäuchlein eher bei mir bleiben und an Reizen für das ungebundene weibliche Volk verlieren würde.

Gemein von mir? Egoistisch?

Blödsinn! So groß ist sein Bauch gar nicht.

Eine neue Vermutung drängt sich in den Vordergrund: Ich koche nicht besonders oft. Kochen ist einfach nicht meins. Ich gehe lieber mit ihm essen oder hole uns etwas vom Chinesen oder vom Griechen nach Hause. Stört ihn das? Lot hat sich nie darüber beschwert. Aber er hat sich bisher auch nie über unsere Sightseeing-Touren beschwert. Und jetzt erfahre ich, dass sie ihm zuwider sind. Oder war das vorhin nur ein Vorwand? Er bleibt für mich jedenfalls der Einzige und Schönste. Bauch hin oder her. Bloß … ist es umgekehrt genauso? Ich bin nicht mehr die Frau, die ich einst war. Das ist einfach so.

Ich betrachte mich kritisch im Spiegel, und da geschieht etwas ganz Komisches: Mein Gesicht verändert sich. Die Falten werden tiefer, eine alte Frau blinzelt mir entgegen. Ihre Lippen bewegen sich.

»Du hast es versaut, Echo. Du hast ihn vertrieben«, spricht mein Gegenüber. »Du bist dazu verdammt, alleine durchs Leben zu gehen. Du bist lost, perdida. Echolost.«

»Was?«, keuche ich. »Das … ich bilde mir das ein! Hau ab!«

Ich greife nach dem Gesicht im Spiegel. Die Konturen lösen sich auf, werden zu einer Fratze, schließlich zu formlosen Flecken, die vor mir hin und her schwimmen, bis sie sich wieder zu meinem Gesicht zusammensetzen.

Und endlich kommt eine Regung von mir. Ich schreie. Ich schreie so laut, dass mir die Kehle schmerzt. Und ergreife die Flucht.

Im Korridor begegnet mir die zierliche Frau von vorhin. Bevor sie eine Frage stellen kann, stürme ich an ihr vorbei nach draußen.

Auf einmal kann ich nicht schnell genug ins Auto einsteigen. Es fällt mir viel leichter als das Aussteigen, denn der Kleintransporter ist weg.

Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und stutze: »Nee, das ist jetzt nicht wahr.« Ich starre auf den runden Saugnapfabdruck an der Innenseite der Frontscheibe. »Das kann nicht wahr sein.«

Doch es stimmt. Das Navi ist weg. Ebenso mein Portemonnaie, das ich leichtsinnigerweise auf dem Beifahrersitz liegengelassen habe. Und das Handy.

Vielleicht ist es unter den Sitz gerutscht. Ich schaue nach, taste mit schweißpappenden Fingern nach etwas, das dort nicht liegt. Das offenstehende Fenster fällt mir auf, und ich klatsche mit flacher Hand an meine Stirn. Ich bin so doof! Der Dieb hat sich Zugang durch das Fenster verschafft und alles mitgenommen, was wertvoll aussah.

Überall auf der Rückbank sind Kleidungsstücke verteilt. BHs, getragene T-Shirts und Unterhosen. Sogar meinen Koffer hat er durchsucht. Unglaublich! Alles, was mir geblieben ist, sind meine Wäsche und der Schlüssel zu dieser Schrottkiste, die mir nicht einmal gehört. Ach, und das da! Ich greife nach einer Packung Kaugummis, – Lots? – nehme mir einen. Das Silberpapier knülle ich in meine Hosentasche, den Kaugummi stecke ich in den Mund.

Und kaue.

Und kaue.

Der schmeckt scheiße. Richtig widerlich.

»BÄH!« Ich suche nach dem Haltbarkeitsdatum auf der Verpackung. Ein Jahr drüber. Ich spucke den Kaugummi in ein Taschentuch. Der stammt wahrscheinlich vom vorherigen Mieter des Autos.

Und dann bricht es aus mir heraus. Es sind keine Tränen. Nein. Es ist ein Lachanfall. Ich lache.

Hysterisch.

Laut.

Und lange.

Sangue

Nach dem Lachkrampf kommen die Tränen, und ich tue mir furchtbar leid. Ich schlüpfe aus meinen wenig modischen, dafür umso bequemeren Sandalen – »Jesuslatschen«, hat Lot sie stets genannt – und stelle meine Füße auf den Sitz, schmiege mein Kinn an die Knie, umschlinge mit den Armen meine Beine, wippe vor und zurück und wimmere wie ein Kind.

Mein Mann ist weg. Geld weg, Handy und Navi weg. Ich bin in einem fremden Land, unter fremden Leuten. Wie kann Lot mir das antun und mich alleine lassen? Das habe ich nicht verdient. Ich brauche ihn doch! Bei allem, was recht ist: Woher soll ich denn wissen, dass ihm meine Art nicht passt, wenn er mir nichts sagt?

Ich versinke in Selbstmitleid und vergesse völlig die Zeit. Es wird brütend heiß im Auto, trotzdem gehe ich nicht nach draußen. Ich schwitze Tränen. Ich weine Schweiß, kann beide Körpersekrete nicht mehr voneinander unterscheiden.

»Lot«, heule ich. »Lot, Lot …”

Erst ein sachtes Klopfen an die Fensterscheibe neben mir lässt mich innehalten und aufsehen.

»Senhora?«

»Was ist denn?« Ich schniefe, wische mir die verräterischen Spuren aus dem Gesicht und nehme die Füße vom Sitz.

Oh nein! Die schon wieder? Ich erkenne die schlanke, bildhübsche Portugiesin aus dem Casa de banho. Ihre Haare sind viel länger als meine, dennoch scheint sie mit ihrem Vorhang nicht so sehr zu schwitzen, wie ich es tue. Was soll das? Verfolgt die mich?

»Senhora, por favor.«

Warum kann sie mich nicht endlich in Ruhe lassen? Ihre dunklen Rehaugen sind mit ehrlicher Besorgnis auf mich gerichtet.

»Senhora, é o seu.«

»O seu?«Ich kapiere gar nichts mehr.

»Isto.« Sie wedelt mit einem kleinen rechteckigen Gegenstand vor der Scheibe herum. Er kommt mir bekannt vor. Ist das möglich?

Ein weiteres Mal wische ich mir übers Gesicht, und dann gibt es keinen Zweifel mehr. Schwarz, kompakt, Lederoptik mit der eingravierten Dahlie auf dem silbernen Magnetverschluss.

»Mein Geldbeutel!« Ich öffne die Tür.

»Aqui.« Die Portugiesin klappt das Portemonnaie auf und zeigt auf ein Bild, das darin steckt. »A senhora.«

»Ja, das bin ich.« Mein Gesicht schaut mir entgegen. Mal wieder. Diesmal allerdings nicht aus einem Spiegel, sondern von meinem Personalausweis in meinem Geldbeutel.

»Woher haben Sie …?« Ich räuspere mich, bemühe mich um mein bestes Portugiesisch und erfahre, dass sie den Fund beim Leeren einer Mülltonne gemacht habe. Sie sei nämlich für die Sauberkeit der Raststätte zuständig, aber der Geldbeutel, der oben auf dem Müll lag, sei ihr ungewöhnlich vorgekommen. Viel zu schön zum Wegschmeißen.

»Dort lag er drin.« Sie deutet auf einen Behälter ganz in der Nähe. »Der Dieb ist nur auf das Geld scharf gewesen. Denn das ist weg.«

»Meine Kreditkarte und die EC-Karte sind auch weg«, erkenne ich.

»Genau.« Sie nickt. »Wohingegen Krankenkassenkärtchen, Personalausweis und Führerschein in ihren Fächern stecken. Ich habe das Bild gesehen und sofort Ihr Gesicht wiedererkannt. Ich bin froh, Sie angetroffen zu haben. Zuerst habe ich vermutet, Sie seien bereits weggefahren.«

»Weggefahren? Ich? Nein, nein.«

»Hoffentlich wurde nicht viel Geld gestohlen?«

»Na ja, ungefähr hundertfünfzig Euro.«

»Das ist schlimm. Sie sollten zur Polizei gehen.«

Schon wieder Polizei? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das heute noch einmal ertragen kann. »Vielleicht morgen.«

»Nein, nein, zögern Sie nicht zu lange.«

»Wo ist denn die nächste Polizeistation?«

»In Évora. Mein Vater ist dort Polizist. Sie kennen ihn schon. Er hat vorhin den Schaden aufgenommen. Er wird Ihnen bestimmt helfen können. Fragen Sie nach Senhor Pereira.«

»Okay.« Dann muss ich wohl wirklich nach Évora fahren. Ich schlucke.

»Haben Sie jemanden, zu dem Sie können?«

»Ja, ja«, lüge ich. »Dorthin wollte ich sowieso.«

»Trotzdem: Mit den Karten bitte nicht zu lange warten. Am besten, Sie kommen mit rein und telefonieren bei mir. Wir suchen die Telefonnummern übers Internet raus, und Sie lassen Ihre Karten sperren, damit niemand Blödsinn damit anstellen kann.«

»Bei Ihnen?«

»Ja, in der Tankstelle. Ich arbeite doch in der Tankstelle. Kommen Sie. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

Ich schäme mich für meine vorherige Unhöflichkeit dieser netten Frau gegenüber. Sie lässt mich tatsächlich gratis telefonieren und steckt mir obendrein einen Nussriegel und eine Flasche Mineralwasser zu.

»Nahrung für die Nerven. Auf den Schreck hin können Sie das sicherlich gebrauchen.«

Während ich telefoniere – erst mit der Bank, danach mit dem Kreditkarteninstitut und meinem Handyanbieter – schreibt sie irgendwas auf einen Zettel.

»Obrigada«, wispere ich ihr zu, während ich auswendig eine weitere Nummer wähle: Lots. Es tutet eine Weile, dann erklingt das Besetzt-Zeichen. Hat er mich weggedrückt? Ich versuche es ein zweites Mal.

»Der gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar«, verkündet eine Frauenstimme. Er hat sein Handy ausgeschaltet. Warum tut er das?

Die junge Frau drückt mir den Zettel in die Hand, auf dem sie eine Adresse notiert hat. »A polícia em Évora. Viel Glück!«

Wenig später hocke ich mit hängenden Schultern im alten Polo. Den Koffer habe ich eingeräumt, ohne mir beim Zusammenlegen der Kleidung sonderlich Mühe zu geben, die Gratis-Wasserflasche halb geleert und den Nussriegel gierig verdrückt. Jetzt habe ich den Straßenatlas auf dem Schoß und suche nach dem richtigen Weg.

Ein Glück, dass Lot sich immer doppelt absichert und sich zusätzlich zum Navigationsgerät mit Straßenkarten eindeckt. So werde ich auch ohne Navi nach Évora finden, und dort kann ich mich bis zur Polizeistation durchfragen. Was ich allerdings danach machen soll …, keine Ahnung.

Beiläufig drehe ich den Zettel um, den mir die Portugiesin gegeben hat. Es handelt sich um einen Flyer. Darauf ist ein rotes Herz zu sehen, das von zwei Händen gehalten wird. Darunter stehen ein paar Daten und Städtenamen.

»Hm.« Ich zucke desinteressiert mit den Schultern, lege den Flyer auf den Beifahrersitz, schnalle mich an und starte den Motor.

Die Polizeistation ist schnell gefunden. Mithilfe desselben Polizisten, der den Schaden bei der Raststätte aufgenommen hat, erstatte ich Anzeige gegen Unbekannt.

»Lia hat mir angekündigt, dass Sie kommen würden.«

»Lia?«

»Die Dame von der Tankstelle.«

»Ach ja, Ihre Tochter.«

»Exakt.« Der nette Schnauzbärtige legt den Kopf schief. »Sie haben aber auch ein Pech. Erst der Ärger mit dem Unfall, dann das. Rechnen Sie sich keine großen Chancen aus, dass der Dieb gefunden wird.«

»Schon klar.«

»Sie kommen zurecht?«

Ich nicke bloß und ärgere mich insgeheim, als ich die Polizeistation verlasse. Wieso lüge ich jeden an? Ich komme zurecht? So ein Quatsch! Ich kriege überhaupt nichts mehr auf die Reihe. Was mache ich bloß? Weder habe ich Geld für ein Hotel oder einen Rückflug, noch weiß ich, wo ich Lot finden kann. Es ist zum Kotzen!

In diesem Moment fällt mein Blick auf eine riesige Plakatwand: Dar sangue é dar vida, steht darauf. Darunter ist ein rotes Herz zu sehen, das von zwei Händen gehalten wird.

Das Symbol vom Flyer! Ohne zu wissen wieso, beschleunigt sich mein Herzschlag. Sangue heißt Blut, weiß ich, und vida bedeutet Leben. Auf dem Plakat steht: Blut geben ist Leben geben. Blut spenden heißt Leben schenken, übersetze ich freier. Das ist ein Aufruf zum Blutspenden. Ich lese weiter: Alle zwei Sekunden braucht jemand Blut. Sie brauchen nur dreißig Minuten, um zu helfen. Helfen Sie uns, Leben zu retten, und lassen Sie sich im Anschluss von uns mit einem leckeren Imbiss verwöhnen.

Mein Magen knurrt daraufhin so laut, dass ich erschrocken eine Hand auf den Bauch drücke. Der Nussriegel ist längst verdaut. Ich habe kein Geld, um mir etwas zu essen zu kaufen.

Aus der Richtung einer Art Stadt- oder Turnhalle schwebt mir ein unwiderstehlicher Duft nach gekochten Kartoffeln und etwas Würzigem entgegen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

Na schön. Dann gehe ich eben in Portugal Blut spenden. Mal was anderes.

Wenn mir morgens jemand gesagt hätte, dass mich in ein paar Stunden mein Mann verlassen, ich beim Ausparken ein fremdes Auto demolieren und mich danach auch noch ausrauben lassen würde, sodass ich in Évora zum Blutspenden gehen muss, um etwas zu essen zu bekommen – ich hätte denjenigen für völlig verrückt erklärt. Und doch verhält es sich so.

Ich bin kaum nervös, als ich mich bei den wartenden Spendern einreihe. Eher gleichgültig, hungrig vor allem. Ohne Probleme passiere ich die Passkontrolle. Es werden ein paar Worte über meinen deutschen Blutspenderausweis verloren, ein paar Formalitäten besprochen und ein Zettel ausgefüllt.

Ich denke kurz daran, dass ich gar nicht hätte spenden können, wenn Lia meinen Geldbeutel nicht aus dem Abfall gefischt hätte, denn Personal- und Blutspenderausweise hat der Dieb nicht an sich genommen. Was hätte er damit auch anstellen sollen?

Um mich herum: Portugiesen, viele Gesichter, fremde, aber ausschließlich sympathische Leute. Alle mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Mein Eisenwert ist in Ordnung, und ich werde in den Raum mit den Liegen gewunken. Meine Bedenken wegen des bereits acht Stunden zurückliegenden Frühstücks sind unbegründet gewesen.

Der Nussriegel! Mit Sicherheit war er eine Eisenbombe.

Wenig später kommt die Nadel. Ihr Anblick macht mich nun doch etwas zittrig, und ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Es ist weniger der Piks. Ai! Der ist kaum der Rede wert und vor allem schnell vorbei. Das Gefühl der Nadel in meinem Arm hingegen bleibt. Ich spüre sie allzu deutlich, sehe sie fast vor mir, wie sie in meiner perforierten Ader liegt.

»Ah, mh …« Ich versuche eine Stellung zu finden, in der ich die Nadel eben nicht mehr so spüren würde.

»Alles in Ordnung?« Ich nicke und halte ab sofort still. »Wirklich?«

»Wirklich.«

Die Arzthelferin widmet sich meinem Nachbarn. Ich fange zu schwitzen an, bewege meine Finger, weil ich den Drang verspüre, irgendwas zu tun.

Mir wird so seltsam. Was heißt schwindelig auf Portugiesisch? Es fällt mir nicht ein. Spartelig? Quatsch! Das ist Niederländisch und heißt … zappelig? Ja, das bin ich auch. Oooh! Worauf habe ich mich nur eingelassen?

Klar hätte ich einfach »Hallo?« oder »Entschuldigung?« rufen können. Vermutlich hätte es gereicht, zu winken oder zu stöhnen, stattdessen beiße ich mir auf die Unterlippe. Aushalten, Carmen. Du liegst eh bloß rum, also kannst du gar nicht umkippen. Alles wird gut. Denk an das leckere Essen danach. Du kannst es bereits riechen. Du bist nur vierhundertneunzig Milliliter Blut davon entfernt.

Doch zusätzlich zu meinem Blut saugt die Nadel meine Contenance aus mir heraus, frisst sie. Ich will aufstehen. Mir die Nadel aus dem Arm ziehen. Weglaufen aus dieser bizarren Situation und meine Verzweiflung in die Welt brüllen.

Ich war so doof, dass ich hierhergekommen bin. Ich will nach Hause. Ach, Lot! Wieso hast du mich verlassen? Du spinnst doch, du Arsch! Wie kannst du nur?

Dann bemerke ich meinen Nebenmann. Ein kleiner dürrer Portugiese mit Nickelbrille. Ungefähr siebzig Jahre alt. Wie lange darf man in Portugal wohl Blut spenden? Was macht er denn da?

Immer wieder richtet er seinen Oberkörper auf – trotz der Proteste der Helfer –, wohl um auf die Apparatur zu schauen, die anzeigt, wie viel Blut er schon gelassen hat oder um mich breit anzugrinsen.

Wie er dabei seinen Kopf hin- und herdreht und angestrengt die Lippen spitzt … Ich muss unwillkürlich an ein Erdmännchen denken, und er eröffnet ein Gespräch, das mich vorerst von meinem Elend abzulenken vermag. Er findet es spannend, neben einer Deutschen Blut zu spenden, und monologisiert. So viel, dass ich gar nicht alles mitbekomme. Ab und zu schnappe ich Wortfetzen auf: gegrillte Wurst, die Alpen, Oktoberfest, Hose aus Leder und Kleider, die die Brüste von Frauen größer aussehen lassen.

»Äh …«

Er bewegt weiter seine Lippen. Geräusche kommen aus seinem Mund. Ich kann sie hören, doch für mich sind sie lediglich eine Aneinanderreihung von sinnlosen Lauten, die unvermittelt versiegen. Er sieht mich abwartend an.

Vermutlich hat er mir eine Frage gestellt, begreift mein – bedauerlicherweise viel zu träge funktionierender – Verstand. Verdammt, ich habe nicht mitgekriegt, was er wissen will.

Ich rechtfertige mich: »Entschuldigung. Können Sie das bitte wiederholen? Mein Portugiesisch ist leider nicht so gut.« Oder dreh dich am besten einfach um und glotz die Wand an.

Dann meldet sich eine andere Stimme in mir zu Wort: Reiß dich zusammen, Carmen! Er ist eigentlich ganz nett. Und die Blutspende ist sicher gleich geschafft. Nur noch ein paar Minuten. Das wird doch wohl gehen.

Nein. Es will nicht gehen. Ein Schweißtropfen gerät in mein Auge. Es brennt furchtbar. Ich will meine Hand heben, um ihn wegzuwischen, stelle jedoch fest, dass mir der Arm dafür zu schwer geworden ist. Klar, die Nadel steckt da drin.

Wieder wippt der Kopf des Männleins neben mir auf und ab. Senhor Erdmännchen, taufe ich ihn.

»Sie haben es geschafft!«, verkündet er frohlockend. »Ihr Beutel ist voll. Wunderschönes rotes deutsches Blut. Der Portugiese, der das kriegt, freut sich. Ob er dann Deutsch kann?«

»Häh?«, mache ich bloß, während die Arzthelferin an mir herumhantiert, um mich von der Apparatur zu befreien. Ich kneife die Augen zusammen, als die Nadel aus meinem Arm gezogen wird. Endlich, endlich! Weg mit dem Ding!

Trotzdem will sich keine Erleichterung einstellen. Während mir der Arm verbunden wird, dröhnt es in meinem Kopf, als würde ein Kind darauf Xylophon spielen. Das Geklimper ist allerdings so ein Durcheinander an den unterschiedlichsten Stellen meines Schädels und dermaßen in Dissonanz mit meinem Herzschlag, dass ich am liebsten dagegen anschreien und davonlaufen will. Immer größer wird der Drang, mich zu bewegen, um diesem unangenehmen Gefühl zu entkommen. Ruckartig richte ich mich auf.

»Senhora?«

Das Gesicht des Erdmännchen-Portugiesen ist das Letzte, was ich sehe. Es rutscht nach oben weg. Wieso? Das ist komisch. Oder bin ich es, die nach unten sackt?

Von einem Aufprall bekomme ich nichts mit. Alles wird dunkel. Dumpf. Als hätte jemand auf einen Ausschaltknopf gedrückt.

Gebrabbel in einer nervigen Sprache. Warme Hände, die an mir herumzerren, Gestalten, die mich hochwuchten, wohin legen. Ich spüre eine Kippbewegung. Beine hoch, Kopf nach unten.

Was soll das? Was macht ihr mit mir? Ich bin so müde. Lasst mich einfach schlafen. Bitte. Was habt ihr überhaupt in meinem Schlafzimmer verloren? Raus hier! Meine Lider flattern. Ich erspähe Balken über und blaue Fliesen neben mir. Das ist nicht mein Schlafzimmer. Ganz und gar nicht. Wo bin ich?

Und endlich begreife ich: Portugiesisch! Die sprechen Portugiesisch. Ich bin in Évora beim Blutspenden. Und ich bin aus den Latschen gekippt. Oh nein! Wie peinlich kann’s eigentlich noch werden?

»Wenn sie nicht endlich zu sich kommt, müssen wir ihr Blut zurückpumpen.« Endlich verstehe ich die Worte um mich herum.

»Nein!«, protestiere ich, besinne mich eines Besseren, schalte auf Portugiesisch um: »Não!«, und zwinge mich dazu, die Augen aufzuschlagen. »Tudo bem«, richte ich mich an die erste Person, die ich sehen kann. Es ist Senhor Erdmännchen, obwohl der gar nicht gesprochen hat. »Beachten Sie mich nicht. Ich werde schon wieder.«

»Nichts da, nichts da! Sie hatten einen Kreislaufkollaps, daher beachten wir Sie sehr wohl«, vernehme ich von hinten. »Kommen Sie erst mal zu sich. Bitte, kann ihr jemand etwas zu trinken bringen?«

»Aqui, ice tea!«Senhor Erdmännchen, einen dicken weißen Verband am Arm, hält mir einen Becher unter die Nase. »Danach geht es Ihnen wieder gut.«

»Es geht mir gut!«, behaupte ich, danke ihm und nehme einen Schluck. Jemand stützt mir dabei den Nacken. Die Fürsorge ist mir sehr unangenehm, und je länger es dauert und ich dazu verdammt bin, vor aller Augen auf der Liege zu bleiben, desto mehr will ich flüchten. Ich überlege sogar, ob ich mir das Essen sparen solle, um blöde Fragen und bohrende Blicke zu vermeiden. Ein Knurren meines Magens wehrt sich allerdings lautstark gegen diesen Gedanken.

»Was war das?«, meldet sich der Arzt erneut zu Wort. »Haben Sie heute ausreichend gegessen?«

Ich zögere. »Na ja, das Frühstück …«

»Hab ich’s mir doch gedacht! Den ganzen Tag nichts Vernünftiges essen und dann zum Blutspenden gehen! Kein Wunder, dass Sie umkippen! Ihre Tage haben Sie vielleicht auch noch?« Ich schüttele den Kopf. »Na, wenigstens was. Versprechen Sie mir eins.«

Alles, wenn Sie mich endlich in Ruhe lassen mit Ihrem Blutdruckmessgerät! »Was soll ich denn versprechen?«

»Tun Sie das nie wieder.«

»Blut spenden?«

Er lacht kurz. »Nein, das tun Sie bitte weiter. Das ist sehr wertvoll und eine große Hilfe für verletzte und kranke Menschen. Aber bitte essen Sie künftig ein paar Stunden vor der Spende, und Sie ersparen sich und uns Helfern schwierige Situationen.«

Ich atme erleichtert durch. Wenn es weiter nichts ist. »In Ordnung. Ich verspreche es.«

Und so dauert bei mir die Prozedur des Blutspendens nicht die angekündigten dreißig Minuten, auch nicht sechzig. Es werden fast neunzig daraus.

»Wie lange denn noch?«, frage ich den Arzt, als er zum dritten Mal meinen Blutdruck überprüft.

Er grinst. »Von mir aus können Sie gehen. Puls und Blutdruck sind in Ordnung. Nehmen Sie sich zu essen und trinken Sie reichlich Kaffee oder Eistee.«

Endlich darf ich aufstehen und dem Locken des verführerischen Dufts nachgeben. Kaum habe ich einen hübschen, von Palmen eingerahmten Hinterhof erreicht, als jemand mit seiner Hand wedelt: Senhor Erdmännchen. Zaghaft winke ich zurück.

»Kommen Sie, kommen Sie!« Der Portugiese deutet auf zwei riesige Töpfe. »Caldo Verde.« Er präsentiert mir seinen eigenen Teller. »Ein portugiesisches Nationalgericht. Kennen Sie das?«

Ich erkläre, dass ich zwar davon gehört hätte, aber nicht genau wisse, was das sei. Im Grunde ist es mir völlig egal, was es zu essen gibt. Hauptsache, es gibt endlich etwas.

»Vegetarisch hier. Mit Wurst da.« Während er mich über Zutaten und Zubereitung aufklärt, raubt mir das würzige Aroma, das mir in die Nase steigt, beinahe den Verstand. Nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten, die anderen Leute zur Seite zu schubsen und mich vorzudrängeln. Die Luft über den Töpfen flimmert, bringt die Palmen dahinter zum Tanzen und mich fast zum Sabbern.

Endlich bin ich an der Reihe, deute auf den Kessel mit der Wurst und lasse mir einschenken.

»Kommen Sie zu mir an den Tisch«, quäkt mir Senhor Erdmännchen von seinem Sitzplatz aus entgegen. »Dann können wir über Deutschland reden, während wir diese Köstlichkeit genießen.«

Innerlich seufze ich. Am liebsten wäre ich beim Essen alleine geblieben. Äußerlich zeige ich mein freundlichstes Lächeln. Na ja, es gibt Schlimmere als ihn, zumal ich ihn wahrscheinlich eh nie wiedersehen werde. Ich setze mich zu ihm, der ab und zu einen Löffel Suppe schlürft, die meiste Zeit jedoch über die Abenteuer eines Kollegen seines Bruders in Deutschland spricht.

Von mir aus. Ich nicke ab und zu, lächele höflich und esse Caldo Verde. Es ist eine Art Kartoffelsuppe, mit jeder Menge Zwiebeln und Kohlblättern. Für Fleischesser wurden würzig-aromatische Wurstscheiben hinzugegeben, und es gibt frisch gebackenes Baguette dazu, in das ebenfalls Stückchen dieser herrlichen Chouriço-Wurst eingebacken waren. Das Leckerste, was ich je gegessen habe.

Lot würde dieses Gericht lieben. Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. Scheiße! Jetzt bloß nicht heulen!

»Ja oder nein?«, schnappe ich eine Frage von Senhor Erdmännchen auf und reibe mir die Augen.

»Ja oder nein, was? Entschuldigung. Ich habe gerade nicht zugehört.«

»Das habe ich bemerkt. Die Suppe ist gut, nicht wahr?« Er zwinkert verschmitzt. »Ich habe gefragt, ob Sie morgen zu uns zum Abendessen kommen möchten? Pedro ist an dem Tag auch da.«

»Wer ist Pedro?«

»Na!« Er wedelt mit seinem Zeigefinger vor meiner Nase herum. »Ich glaube, Sie sind immer noch nicht ganz fit, was? Ich sagte bereits, dass Pedro der Kollege meines Bruders …«

»Ja, ja, ja.« Ich nicke. »Morgen zum Abendessen? Bei Ihnen?«

»Pedro spricht ein bisschen Deutsch. Wird bestimmt ein interessanter Abend, und Sie erzählen uns dann, was Sie nach Évora verschlagen hat. Bestimmt die Capela dos Ossos, richtig?«

Ich schlucke schwer. »Capela dos Ossos. Ja.« Die Knochenkapelle ist in der Tat eine der Sehenswürdigkeiten, die ich ursprünglich mit Lot zusammen besuchen wollte.

Lot, wo bist du? Bin ich dir wirklich so zuwider? Ich hole tief Luft und fasse einen Entschluss. Höchstwahrscheinlich habe ich morgen das Problem mit dem Geld und dem Essen immer noch nicht gelöst. Dieser Kerl hier ist ganz in Ordnung. Also … ja, warum eigentlich nicht?

»Na schön. Morgen Abendessen bei Ihnen, Senhor Erd… wie heißen Sie eigentlich?«

»Sérgio.«

»Angenehm, Sérgio. Und vielen Dank für die Einladung. Ich heiße …«

»Eco«, vervollständigt er und reißt freudig beide Arme auseinander, was seinen Teller zum Scheppern bringt. »Oh, ohahaha!«

»Woher wissen Sie …«

»Ihren Namen habe ich auf dem Zettel gelesen, den Sie vor der Spende ausgefüllt haben. Lustig, das klingt wie das portugiesische Wort für Echo, Widerhall. OLÁ, ECO!Eco,eco«, intoniert er, bei der Wiederholung stetig leiser werdend.

»Jaaaa«, maule ich. »Nennen Sie mich bitte …«

»Eco ist ja so originell.«

Ich rolle mit den Augen. »Originell hat mich noch niemand genannt.«

»Das Echo, das ohnmächtig wird, wenn es Blut spendet. Ohahaha.« Beim Lachen wackelt seine Nickelbrille so sehr, dass ich fest damit rechne, sie würde in die Suppe plumpsen. Ehrlicherweise würde das zur Abwechslung ich einmal originell finden.

»Lieben Sie Hunde?«, leitet er übergangslos zum nächsten Thema über. »Ich habe nämlich einen wundervollen …«

Jaja, blablabla, grummele ich innerlich. Ob ich tatsächlich zum Abendessen komme, muss ich mir noch einmal gründlichst durch den Kopf gehen lassen.

Proibido

Nach der Spende sitze ich lange Zeit auf einer Parkbank im Schatten eines Baumes. In der Sonne ist es für mich kaum auszuhalten gewesen.

»Puh!« Ich wische mir den Schweiß von der Stirn.

Évora blendet mich. Licht von oben. Von der Seite. Vom Boden. Die weiße Stadt. Dass die Portugiesen sogar den Boden weiß pflastern müssen! Und ihre Häuser … Sie anzuschauen, tut ja fast weh. Nee, Hochsommer ist definitiv nicht die beste Zeit, um hier Urlaub zu machen. Wenn ich wenigstens eine Sonnenbrille hätte! Ich hätte im Herbst kommen sollen. Vielleicht wäre Lot dann noch bei mir. Womöglich ist die Hitze schuld daran, dass ihm die Nerven durchgegangen sind. Es ist sechs Uhr abends und immer noch brütend heiß!

Angestrengt blinzele ich gegen das flimmernde Licht an und widme mich etwas, das nicht weiß, sondern eher grau-beige ist. Hohe schlanke Säulen recken sich ganz in meiner Nähe in den wolkenlosen Himmel, greifen nach ihm, verbinden Himmel und Erde miteinander. Und ich hänge irgendwo dazwischen und weiß nicht mehr, wohin ich gehöre.

»Die Ruine eines römischen Tempels, Diana-Tempel genannt, obwohl er mit der Göttin des Mondes und der Jagd wahrscheinlich überhaupt nichts zu tun hat«, brabbele ich vor mich hin. Ich habe das Gefühl, über etwas reden zu müssen, worüber ich Bescheid weiß, um zu verhindern, dass ich durchdrehe. Auch wenn es bedeutet, Selbstgespräche zu führen und mir den ein oder anderen irritierten Blick eines Passanten einzuheimsen. »Typischer Säulenbau. Aus der Epoche des Augustus. Für politische und religiöse Zwecke genutzt. Alter des Gebäudes: zirka tausendneunhundert Jahre. Länge: fünfundzwanzig, Breite: fünfzehn Meter. Im fünften Jahrhundert nach Christus von den Barbaren zum größten Teil zerstört. Jetzt: Weltkulturerbe der UNESCO und Wahrzeichen der Stadt Évora.« Ich komme mir wie eine Reiseführerin vor, die ihr Wissen auswendig herunterleiert.

Die Säulen weisen am oberen Ende anmutige Blütenverzierungen auf. Ich seufze. Diesen Tempel wollte ich mit Lot zusammen besichtigen.

Das Monument ist mitten in der Stadt, folglich leicht zu finden, und frei zugänglich. Meine Füße haben mich nahezu automatisch dorthin getragen. Nun weiß ich nicht weiter.

Gesetzt den Fall, ich finde jemanden, der mich sein Handy benutzen lässt: Wen könnte ich anrufen? Papa? Heftig den Kopf schüttelnd, wehre ich mich gegen diese Idee. Nein! Er war von Anfang an gegen die Reise. Außerdem meint er eh, ich käme alleine nicht klar – womit er ausnahmsweise gar nicht so unrecht hat. Trotzdem: Den Gefallen tue ich ihm nicht und gebe ihm auch noch recht.

Ineke?, fällt mir meine beste Freundin ein. Sie würde mir garantiert helfen wollen, aber sie ist schwanger. Ich will nicht, dass sie sich aufregt oder gar versucht hierherzukommen, um mich zu retten. Das wäre nicht so gut in ihrem Zustand. Also: Lot noch mal anrufen?

Ich verwerfe den Gedanken sofort wieder.

---ENDE DER LESEPROBE---