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Im Jahr 2042 entdecken Astronomen einen lange postulierten neunten Planeten in unserem Sonnensystem. Ein beispielloses Weltraumrennen zwischen zwei mächtigen Megakonzernen beginnt, die als erste ihre Sonden zu dem Himmelskörper in der Dunkelheit jenseits Neptuns bringen wollen. Als die Robotersonden nach vielen Jahren mit Bodenproben aus dem äußeren System zurückkehren, stürzt eine davon auf Ganymed ab und zerstört dabei eine Forschungsstation. Nachdem der Kontakt zu dem Jupitermond abbricht, erreicht eine zweite Probe die Erde, auf der schon bald Konflikte um die Herrschaft eines Materials ausbrechen, das sämtliche Forscher vor Rätsel stellt. Inmitten des ausbrechenden Chaos begibt sich die Astronautin Rachel Ferreira an Bord eines Raumschiffes mit führenden Wissenschaftlern, um das mysteriöse Schweigen Ganymeds zu untersuchen. Auf der Erde wird derweil ein Söldnerteam in den Konflikt um die Kontrolle einer möglicherweise außerirdischen Technologie gezogen und deckt nach und nach eine Verschwörung auf, die an den Fundamenten der Zukunft rütteln könnte.
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1. Rachel
2. Theodore
3. Rachel
4. Theodore
5. Rachel
6. Theodore
7. Rachel
8. Theodore
9. Rachel
10. Theodore
11. Rachel
12. Theodore
13. Rachel
14. Theodore
15. Rachel
16. Theodore
17. Rachel
18. Theodore
19. Rachel
20. Theodore
21. Rachel
Nachwort
Dramatis Personae
Glossar
Zeitlinie
Leseprobe »Das Fossil«
Für John Keats,
einen, dessen Name in Wasser geschrieben stand.
Im Jahr 2058 beherrschen vier Megakonzerne de facto die Welt. Staatliche Strukturen bröckeln und Regierungen verkommen zu Marionetten der Aufsichtsräte, während der Kapitalismus immer rücksichtslosere Formen annimmt. Große Teile der Erde sind durch Umweltkatastrophen, Kriege und den Klimawandel unbewohnbar geworden und Großstädte zu versmogten Molochen angewachsen, in denen Krankheiten und Kriminalität grassieren. Die NAGER-Seuche hat einen Großteil der Menschheit dahingerafft und ihre Entstehung gibt Forschern bis heute Rätsel auf. Eine kleine Schicht reicher Bürger schottet sich in Gated Communities und Firmenarkologien ab und hält sich die sozialen Missstände durch Geld und Einfluss vom Leib. In Zeiten, in denen sowohl Erdöl als auch frische Nahrungsmittel knapp werden, sind technologische Errungenschaften ihnen und ihren Lohnsklaven vorbehalten. Cyberimplantate und -prothesen, »Augmentierungen« genannt, verbessern die Körper derjenigen, die es sich leisten können und lassen andere neidisch zurück.
Private Sicherheitsfirmen haben weite Teile der Exekutive übernommen, um sozialen Unruhen und der immer zügelloseren Gewalt Herr zu werden. Korruption und polizeiliche Übergriffe gehören ebenso zum Alltag wie unberechenbare Wetterphänomene, organisiertes Verbrechen und Drogenkonsum.
Im Weltraum haben die Konzerne derweil das Sonnensystem erforscht und Außenposten auf Mond und Mars gegründet. Selbst die Distanzen zu den Jupiter- und Saturnmonden werden mit hohem finanziellen Aufwand überwunden, um in Zukunft den wachsenden Ressourcenhunger einer überfüllten Erde zu stillen. Die Gier der Konzerne kennt auch in der Weite des Alls keine Grenzen mehr. Insbesondere die Entdeckung eines Astronomen sorgt für ein Weltraum-Wettrennen zwischen den Mächtigen: Ein lange postulierter, neunter Planet, der jenseits von Neptun entdeckt wird, gibt Forschern Rätsel auf und den Konzernen ein neues Objekt für ihr Verlangen nach Prestige und Möglichkeiten zur Profitmaximierung.
Im zerrütteten Los Angeles leidet derweil ein besonders großer Teil der Bevölkerung an Armut und Krankheit. Nach dem stärksten jemals gemessenen Erdbeben in der Geschichte der Menschheit, wird die Megacity von einem kilometertiefen Riss in zwei Hälften geteilt. Aus diesem hermetisch abgeriegelten »Höllenschlund« steigen toxische Gase auf und vergiften das Klima der Stadt. Auf der Straße regiert außerhalb der inneren Stadtgrenzen das Gesetz des Stärkeren und Gruppen von Söldnern, sogenannte »Mercs«, operieren versteckt im Auftrag der Höchstbietenden, um Konkurrenzfirmen zu bestehlen, zu erpressen und um ihre besten Mitarbeiter zu bringen. Inmitten dieses Chaos des Jahres 2058, kehren zwei Raumschiffe aus den bisher unentdeckten Tiefen des Sonnensystems zurück. An Bord befinden sich Proben eines bisher unbekannten Materials, das auf dem neuentdeckten Planeten gefunden wurde ...
Im Anhang befindet sich eine detaillierte, stichpunktartige Chronologie zu den Ereignissen zwischen den Jahren 2018 und 2058. Es empfiehlt sich, diese vor Beginn der Geschichte zu lesen. Im Anhang befinden sich außerdem ein Glossar und ein Personenregister.
Die Ankunft des Raumschiffs RRI Walkyre war in einundsechzig Minuten vorgesehen und die Besatzung der Ganymed-Station war bereits in heller Aufregung.
Rachel Ferreira saß im Kontrollzentrum und sah dem Countdown auf einem der vielen Bildschirme zu. Die Zahlen wirkten kalt und geradezu langweilig im Vergleich zu ihrer Bedeutung.
Seufzend ließ sie sich in ihren unbequemen Sessel zurücksinken und streckte die Arme aus, um sich zu strecken. Ihre Schultergelenke knirschten, als ihre Fäuste gegen die Wandverkleidung stießen. Rachel fühlte sich, als hätte sich die Mischung aus Müdigkeit und Nervosität in Form von Blei in ihren Gefäßen festgesetzt – und der Countdown zeigte ihr, wie lange das noch so bleiben würde.
»Hey, Ferry«, hörte sie eine tiefe, weibliche Stimme hinter sich rufen. Es war Diggs, die Bohringenieurin, sie musste nicht einmal gegen das Blei ankämpfen und sich umdrehen, um diese an ihrer Stimme zu erkennen.
»Hey«, gab sie zurück und stieß sich mit dem Stiefel von ihrer Konsole ab, bis sich der Sessel um hundertachtzig Grad gedreht hatte. »Alles in Ordnung?«
Diggs hatte ihren blauen Overall bis zur Hüfte ausgezogen und mit den Ärmeln vor ihrem Bauchnabel verknotet. Das weiße Unterhemd und ihre kräftigen Wangen waren mit einer schwarzen Flüssigkeit beschmiert, genau wie ihre dicken blonden Haare, die sie zu einem Dutt hochgebunden hatte.
»Ja, alles klar. Ich habe die letzten Wasserproben hereingeholt und den Bohrer für heute versiegelt«, meldete Diggs, wollte sich umwenden, hielt dann aber inne und schien mit sich zu kämpfen.
»Was ist los?«, fragte Rachel geduldig.
»Die Walkyre ...«, erwiderte die Ingenieurin.
» ... Ja?«
»Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«
»Wieso nicht?«
»Erstens ist es ein Schiff, das von einem verdammten Algorithmus gesteuert wird und zweitens befinden sich Roboter an Bord«, brummte Diggs und stemmte die Hände in die Hüften. Dabei hinterließ sie weitere Schmierflecken auf ihrer Kleidung.
»Na und? Es sind Drohnen, die zum Steinesammeln gebaut wurden und genau das getan haben«, hielt Rachel dagegen und seufzte. Sie war selbst nervös aufgrund dieses Zwischenstopps. Wenn sie ehrlich war, hatte sie damals selbst nicht viel davon gehalten, eine unbemannte Mission zu dem neu entdeckten Himmelskörper zu schicken. Natürlich wäre dasselbe Projekt mit Menschen deutlich teurer und langsamer gewesen. KIs und Roboter mussten nicht bei Laune gehalten werden, brauchten nicht essen, nicht schlafen und scherten sich nicht um hohe Beschleunigungskräfte. Sie verloren auch keine Muskulatur in der Schwerelosigkeit und waren rundum die besseren Astronauten. Trotzdem fühlte es sich falsch an, nach einer so großen Entdeckung den menschlichen Pionierdrang hinunterzuschlucken und einfach nur willenlose Gerätschaften zu schicken. Möglicherweise war auch ein wenig Neid dabei, hätte sie doch selbst gerne an einer solchen Mission teilgenommen. Im 21. Jahrhundert kam es nicht gerade oft vor, dass etwas Neues in relativ unmittelbarer Umgebung entdeckt wurde. Andererseits hatte sie sich später gefragt, ob es sich für echte Astronauten wie sie überhaupt gelohnt hätte, zu einem kahlen Felsen zu fliegen, der noch nie die Sonne gesehen hatte. Ihre Begeisterung für das Weltall war auch nach dem anderthalbjährigen Flug nach Ganymed und ihren zwei Monaten als Kommandantin der Forschungsstation ungebrochen – trotzdem: Fünf oder sechs Jahre Lebenszeit zu verlieren, um am äußersten Rand des Sonnensystems Steine klopfen und nachhause zu fliegen, erschien ihr mittlerweile doch ein wenig zu viel des Guten zu sein.
»Genau genommen sind es ziemlich alte Drohnen! Die sind noch aus den Vierzigern!«, widersprach Diggs, doch Rachel wusste natürlich, dass es um etwas ganz anderes ging. Sie sah dieselben Sorgen in den Augen der Bohringenieurin, die sie auch schon bei Mönning, Skjorgard und Mitchel bemerkt hatte. Es war die Anordnung aus dem Kontrollzentrum in Vandenberg, die ihnen den Schlaf raubte.
»Sag einfach, was dir wirklich auf dem Herzen liegt, Diggs«, seufzte Rachel und fuhr sich durch ihre kurzen Haare, die sie an den Seiten frisch abrasiert hatte.
»Wir bekommen den Befehl, das Teil aufzutanken, verbrauchen damit den Großteil unseres Treibstoffs und müssen ein verdammtes Jahr länger hierbleiben als geplant! Wir sind eine Forschungsstation, keine Tankstelle«, schimpfte Diggs jetzt und kniff wütend die Augen zusammen.
»Aber ...«
»Aber wir haben doch genug Vorräte und Luft ...«, kam die Ingenieurin ihr aufbrausend zuvor und äffte dabei Rachels Stimme nach - zumindest glaubte diese, dass es eine Imitation sei. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie zu freundschaftlich und nachsichtig mit ihren Untergebenen umging. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Kommandanten auf Mars, Mond oder Enceladus sich solch einen Ton anhören mussten.
»Auch die Bonuszahlungen sind mir egal! Ich habe eine Familie zuhause und dieser verdammte Fels beginnt mich schon nach zwei Monaten zu nerven«, fuhr Diggs ungehalten fort und fuchtelte wild mit einer Hand vor Rachels Nase herum. »Und wieso dürfen wir nicht an Bord gehen, hm? Was soll denn da so Geheimes sein, dass wir nicht einmal ansehen dürfen, was wir da volltanken?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich weiß es auch nicht! Die anderen wissen es auch nicht. Wir müssen drei Tage unsere Arbeit unterbrechen, um etwas vollzutanken und zu warten, was uns nicht einmal anvertraut wird. Uns! Wir wurden aus tausenden Kandidaten ausgewählt, da wird man doch erwarten können ...«
»... dass wir uns professionell verhalten«, beendete Rachel den Satz ihrer aufgebrachten Gegenüber und sah sie ernst an.
»Mhm«, brummte Diggs.
»Verhalten wir uns also wie gute Astronauten und Wissenschaftler und erledigen unsere Aufgabe. Ein Jahr mehr Forschung und dann ist die Bahnkonstellation zwischen Erde und Jupiter genau richtig für eine schnelle Heimreise. Dort angekommen gibt es einen feinen Bonus und wir entspannen uns.« Rachel machte eine kurze Pause und als Diggs nicht gleich antwortete, fügte sie hinzu: »Das ist ein Befehl.«
»Na gut. Ich seh mir nochmal die Pumpen an.«
»Das ist eine hervorragende Idee.« Als die Ingenieurin wieder verschwunden war und mit ihr der Geruch nach Schmieröl und Dichtmittel, schüttelte Rachel den Kopf und wandte sich dem mittleren der vielen Bildschirme zu, der lediglich den Countdown und den Kamerafeed von der Landezone zeigte. Der freigefräste Bereich vor den zehn knubbeligen Modulen der Station, welche wie ein wild zusammengewürfelter Haufen gedrungener Quader wirkte, sah im Licht der Scheinwerfer gruselig aus. Das gesteinsartige Eis des Bodens war pechschwarz und von grauen Fäden durchzogen wie die Haut eines Wals, der sich jeden Moment bewegen konnte. Im Hintergrund ragte die Silhouette des Bohrers auf, mit dessen Hilfe sie die Salzwasserreservoire unter dem oberen Eispanzer Ganymeds erreicht hatten. Luft und Wasser waren die dringlichsten Probleme, die es hier draußen zu lösen galt und hätten ihre Vorgänger den bis zur ersten Ganymed-Mission postulierten, aber nie nachgewiesenen, unterirdischen Ozean nicht entdeckt, hätte es die Station in ihrer heutigen Form nicht gegeben. Jetzt suchten sie nach möglichen Mikroorganismen, die in der kalten Dunkelheit leben könnten und pumpten alles in eine Miniatur-Entsalzungsanlage.
Ihr war in den vergangenen zwei Monaten nie langweilig geworden, da es im All immer etwas zu tun gab. Da war das tägliche stundenlange Training, um bei einem Siebtel der Erdanziehungskraft nicht wertvolle Muskulatur zu verlieren und die Wartungsarbeiten, die nie aufhörten. War man an einem Ende fertig, konnte man am anderen wieder anfangen. Der hydroponische Garten brauchte ihre Zuwendung, genau wie die sauerstoffproduzierenden Algen in ihren Wassertanks. Dann waren da noch die VR-Spiele und Entspannungsprogramme, die Vorschrift waren, um keine Ängste wie Klaustrophobie, Raumfahrerdepression oder ganz einfach Einsamkeit zu bekommen. Jetzt aber gab es rein gar nichts für sie zu tun, als auf den Countdown zu starren und die Annäherungsdaten der RRI Walkyre zu überprüfen, die auf einem Bildschirm weiter rechts aufgelistet waren. Der Vektor der Flugbahn stimmte präzise mit dem übermittelten Kurs überein, die Geschwindigkeit entsprach den Vorgaben. Wärme-, Treibstoff- und Softwareanzeigen waren innerhalb der Norm. Eine Stunde vor dem »Touchdown« eines Raumfahrzeugs musste sie als Kommandantin, den Vorschriften entsprechend, in dem winzigen Kontrollraum sitzen und sämtliche Daten überwachen, obwohl sie eine Liste mit einhundert Dingen im Kopf hatte, die sie erledigen musste. Es gab keine freien Tage auf Ganymed und auch keine freien Stunden.
»Alice«, wandte sie sich per Spracheingabe an den KI-Assistenten. »Alarmiere mich mit einem Warnsignal, falls irgendein Wert aus der Norm fällt.«
»Habe verstanden, Commander Ferreira«, gehorchte das Betriebssystem mit sonorer, androgyner Stimme und Rachel wandte sich einem anderen Bildschirm zu. Mit schnellen Fingerbewegungen schaltete sie die Kamerafeeds aus der Luftschleuse ein und sah ihren Kollegen zu, wie sie sich für den Gang nach draußen bereitmachten.
Mönning und Skjorgard halfen gerade der zierlichen Mitchel in ihren dunkelroten Raumanzug mit dem Rhein Ruhr Industries Logo. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren. Die beiden waren unverbesserliche Machos, hatten aber ein gutes Herz, also hatte Rachel ihnen ihre Art bislang nachgesehen. Sie war sich ziemlich sicher, dass Mitchel es zumindest Skjorgard ebenfalls nachgesehen haben musste, denn wenn sie nicht alles täuschte, hatten die beiden schon seit ihrer Ankunft eine Bettgeschichte am Laufen.
Ein Fingerdruck und sie hatte den Ton zugeschaltet.
»Wird ein Spaziergang«, versicherte Mönning gerade. Der glatzköpfige Däne half Mitchel in die Handschuhe und streckte dann seinen muskulösen Körper in der enganliegenden Funktionswäsche.
»Wohl eher ein wildes Rumgehüpfe, wenn ich mich richtig an euren letzten Spaziergang erinnere«, lachte der jüngere Skjorgard. Doch Rachel kannte beide mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass auch sie nicht ganz unbeschwert an die Sache herangingen.
»Ihr müsst doch eh nichts machen, ich steuer schließlich die Drohne, die die ganze Arbeit macht«, warf Mitchel ein, die in dem roten Anzug wie ein Insekt aussah – ein Eindruck, der durch den zu groß geratenen Helm, der an jeder Seite durchsichtig war, noch verstärkt wurde.
»Wir sind die einzigen hier mit Y-Chromosomen. Wer soll denn da draußen das Richtige tun, wenn nicht wir?«, widersprach Mönning und wehrte halbherzig einen Fausthieb seiner Kollegin ab.
»Y heißt why und das frage ich mich bei euch Pappnasen ständig.«
»Es ist besser nicht zu fragen, bei diesen Nichtsnutzen«, grollte Diggs, die Rachel erst entdeckte, nachdem sie auf die zweite Kamera umgeschaltet hatte.
Die Ingenieurin deutete auf die äußere Tür. »Seht zu, dass ihr dieses Mal weniger Steine mit reinbringt, sonst müsst ihr nur wieder ewig die Quarantäne abwarten.«
»Ist gebongt, Leutnant«, sagte Mönning und salutierte nachlässig, als Diggs wieder verschwand.
Wenigstens maulen sie nicht herum, sondern überspielen ihre Frustration mit schlechten Witzen, dachte Rachel und schaltete den Ton ab. Sie sah ihnen noch beim Ankleiden zu, bis die drei Gestalten ihre Helme aufgesetzt, die Sauerstoffzufuhr gegenseitig überprüft hatten und dann die Gasfontänen der Quarantäne über sich ergehen ließen. Hier drinnen nichts zu kontaminieren war mindestens genauso wichtig, wie die Oberfläche Ganymeds nicht mit irdischen Keimen zu verseuchen. Sie glaubte zwar nicht, dass besonders viel dem Strahlungsbombardement Jupiters standhalten würde, der als mächtige Scheibe am Himmel drohte, doch man wusste nie. Auch die Serenity im Erdorbit musste regelmäßig von Schleimpilzen befreit werden, die unter Strahlung prächtig gediehen.
Ein Blick auf den Countdown zeigte ihr, dass weniger als fünf Minuten bis zur Landung verblieben. Sämtliche Parameter der Raumschiffsysteme, die sie über die Pilotensoftware erhielt, waren noch immer normal, der Eintrittswinkel in Ganymeds hauchdünne Atmosphäre optimal. Die Daten deckten sich mit jenen der Sensorphalanx auf dem Kommunikationsmodul, also sah alles nach einer ruhigen Landung aus.
»Drei Minuten und zwanzig Sekunden bis Touchdown«, verkündete sie über die Stationslautsprecher. »Bereithalten für Außeneinsatz.«
Auf dem Kamerabild links von sich sah sie, wie Mönning, Skjorgard und Mitchel ihre Daumen in Richtung Kamera hochreckten. Über die Teleskope der Sensorik betrachtete sie den hellen Lichtfleck, der sich aus dem endlosen Schwarz des Alls auf sie zubewegte wie eine besonders gemächliche Sternschnuppe. Ihr Schweif war aufgrund des Winkels zu kurz um romantisch auszusehen und der Himmel zu finster, um die plötzliche Lichtquelle heimelig wirken lassen zu können. Das kleine Raumschiff schien im Gegenteil eher ein verlorenes, winziges Etwas zu sein, das unwillkürlich ein Gefühl tiefster Einsamkeit in Rachel hervorrief. Sie selbst war dieser Punkt mitten im Nichts, immerhin war die Erde und sämtliche ihrer Artgenossen beinahe siebenhundert Millionen Kilometer entfernt. Ganz zu schweigen von der nächsten atembaren Biosphäre, die sie nicht über recycelte Luft, recycelte Abfälle und recycelten Urin am Leben halten musste. Obwohl – wenn man es genau nahm, waren die jeweiligen Prozesse sich doch ähnlicher, als sie sich eingestehen wollte.
Doch trotz aller Begeisterung für ihre Arbeit im neuen Randgebiet menschlicher Neugier und Erfindungsreichtum, ließ das Gefühl, dass sie hier nicht her gehörte, sie schon seit Längerem nicht mehr los. Sie mochte ihre Arbeit, war noch immer motiviert und erstaunt über all die Dinge, die sie täglich über Jupiter, Ganymed, Io, Kallisto und Europa lernten. Trotzdem gab es etwas in ihr, das ganz genau wusste, dass dies kein Menschengebiet war und sie sich hier mit gekaufter Zeit aufhielten. Nichts an alldem, was sich außerhalb ihrer paar winzigen Module befand, unterstützte von sich aus Leben. Das Eis musste erst geschmolzen und verarbeitet werden, die Fallgeschwindigkeit war gerade hoch genug, um ein Gefühl für eine Richtung zu bekommen, und ständig bestand Gefahr einschlagender Himmelskörper. Wenn sie bald wichtige Ressourcen für ihren Konzern fanden, würde der möglicherweise ein Abwehrsystem wie den Near Earth Orbit Defense Perimeter, NEO-DP, herüberschaffen, doch das blieb ein großes wenn. Noch immer waren Flüge hier heraus teurer als das Jahresbudget, das manche Kleinstaaten zur Verfügung hatten und so lange noch immer ausbeutbare Vorkommen auf der Erde gefunden wurden, standen die Chancen schlecht.
Die Fackeln der feuernden Manövertriebwerke der RRI Walkyre wurden stärker, waren jetzt ganz nah und spiegelten ihren gelben Glanz auf der glattpolierten Oberfläche der Landezone mit ihren roten Positionsleuchten. Mithilfe eines aufgeklärten Sensorbildes konnte Rachel jetzt auch Details erkennen: Die Walkyre sah aus wie eine dickbauchige Rakete mit konischer Spitze, ähnlich einem Gewehrprojektil, mit zwei knubbeligen Auswüchsen an der Seite. Darin befanden sich die riesigen Solarsegel, die während des Fluges ausgefahren wurden und die Batterien für Sekundärsysteme aufluden. Mittlerweile gab es charmantere Lösungen, doch die Walkyre war bereits eine Dekade alt.
»Alle Systeme weiterhin nominal. Sieht gut aus, Leute«, verkündete sie über die Lautsprecher und streckte den Rücken durch, als nur noch zwanzig Sekunden verblieben. Die Antriebsgondel erlosch und die Manövrierdüsen übernahmen den nötigen Gegenschub, um das Raumschiff nicht zum Projektil werden zu lassen. Mit präzisen Ausgleichsschüben hielt sich die Rakete aufrecht und kam der Landezone immer näher. In der Schwerkraftsenke der Erde wäre das niemals möglich gewesen.
Einer der Vorteile hier draußen, rief sie sich in Erinnerung.
»Ach du Scheiße!«, fluchte sie laut und sprang mit den Füßen auf ihren Sessel. Aufgrund der niedrigen Schwerkraft bekam sie zu viel Schwung und stieß sich den Kopf an der niedrigen Decke. »Autsch!«
Nur wenige Meter vor dem Boden begannen die Manövrierdüsen, wieder stärkeren Schub zu geben und die Rakete in der Schwebe zu halten.
»Commander!«, funkte Mönning sie an, doch sie ignorierte ihn.
Hastig tippte sie auf ihre Konsole ein, gab ihren Vorrangcode als Kommandantin ein und schielte auf die Sensoren.
Altes KI-System, dachte sie und starrte die grafische Oberflächen-Pilotsoftware an, auf der Suche nach dem Fehler. Was hast du für einen Fehler gemacht?
Als die Analysesoftware der Station sich einklinkte, half diese bei der Suche und spuckte schnell drei Ergebnisse aus: Das eine war eine Warnung vor unvorhergesehenem Treibstoffverbrauch. Die zweite Warnung betraf eine zu hohe zulässige Gesamtmasse, knapp fünfzig Kilo über dem erlaubten Wert.
Deshalb also die Treibstoffknappheit!
Die dritte Warnung bezog sich auf einen bevorstehenden Absturz in weniger als zehn Minuten. Nur zwei Meter bis zum Boden und eine weitaus geringere Fallbeschleunigung als auf der Erde bedeuteten nicht, dass das nicht das Ende der Station bedeuten würde. Stürzte sie auf eines der Module, waren sie alle tot. Wenn nicht sofort, dann innerhalb der nächsten Stunden oder Tage, je nachdem was getroffen wurde. Hier draußen gab es nichts Entbehrliches, nicht eine Schraube, die nicht einen wichtigen Zweck erfüllte.
»Dumme, alte KI«, schimpfte Rachel. Die Pilotensoftware weigerte sich, aufzusetzen, weil die Gesamtmasse sich über dem erlaubten Wert befand, für den die Landestützen ausgelegt waren, und weil sie mit wenigen Kilos über der Toleranzschwelle lagen. »Deswegen schickt man Menschen und keine verdammten Algorithmen!«
Sie wies ihre Analyse- und Steuersoftware an, die Kontrolle über das Schiff zu übernehmen, reduzierte ganz sachte den Schub, bis die Walkyre langsam an Höhe verlor. Nervös leckte sie sich ein paarmal über die Lippen, bis nur noch eine Handbreit dünnster Luft Stützen und Eis voneinander trennte.
»Ganz ruhig jetzt, Großer«, flüsterte sie und schob mit ihrem Finger sachte den Schubregulator weiter herunter.
Das Roboterschiff setzte auf, wackelte leicht, blieb aber aufrecht stehen. Die Düsen erloschen, ausgestoßene Kühlflüssigkeit entwich an den Seiten und gefror sofort zu winzigen Kristallen.
»Walkyre gelandet«, sagte sie erleichtert über die Lautsprecher und sah, wie Skorsgard, Mönning und Mitchel die Luftschleuse mit kontrollierten Hüpfern, die sie mit einigen wenigen Aufsetzern bis zur dreißig Meter entfernten Rakete brachten, verließen.
»Was war da los?«, fragte Diggs über Funk.
»Das Gesamtgewicht wurde überschritten«, antwortete Rachel und kratzte sich an ihren rasierten Schläfen.
»Wie ist das möglich? Die Pilotsoftware wäre niemals mit zu hoher Beladung von Transneptun gestartet.«
»Transpluto«, korrigierte sie ihre Ingenieurin beiläufig. Sie hasste es, wenn der in den Medien kolportierte Populärname des von Michail Scherewenko entdeckten Himmelskörper benutzt wurde. Er befand sich jenseits von Pluto. »Ich weiß es nicht. Ich muss mir die Logs ansehen. Dafür muss ich aber manuell an die Blackbox.«
»Aber das heißt ...«
»... dass ich in das Ding rein muss, ja«, seufzte Rachel und bevor Diggs etwas erwidern konnte, fügte sie hinzu: »Ich weiß, dass das gegen eine direkte Anweisung aus Vandenberg verstößt. Ich bin mir aber sicher, dass die Schlipsträger verstehen werden, dass es die einzige Möglichkeit sein wird, ihre ach so wichtigen Steinchen zurückzubekommen.«
»Wie du meinst, Boss!«
»Komm mal bitte rüber, du musst dir etwas ansehen.«
»Bin gleich da«, versprach Diggs.
Es dauerte keine zwei Minuten, in denen die drei Astronauten draußen damit beschäftigt waren, ihre stundenlange Arbeit zwischen Treibstofflager und Rakete anzugehen, dann tauchte der Dutt der Ingenieurin neben ihr auf.
»Was soll ich mir ansehen?«
»Die Blaupausen hier«, antwortete Rachel und deutete auf die Pläne der Walkyre, die sie auf den Hauptschirm geholt hatte. »Wenn ich das richtig sehe, befinden sich in der Ladebucht drei Rover mit ihren Greifarmen und all dem Zeug und die beiden Quarantänekisten für mitgenommene Proben. Korrekt?«
Diggs kniff ein wenig die Augen zusammen, als würde sie schlecht sehen, und scannte die Darstellung mit ihren Augmentaugen.
»Ja, sieht so aus. Die Kisten stehen ganz hinten, beziehungsweise oben. Dann folgen die beiden Roboter-Rover, deren Ersatz und der Zugang zur Schleuse mit der Rampe oberhalb der Landestützen.«
»Dann befindet sich der Lesezugriffspunkt für die Blackbox hinter der letzten Kiste, richtig?«
»Richtig«, bestätigte Diggs und nickte.
»In Ordnung.« Rachel öffnete den Kanal zu Mönning, der von ihren drei Kollegen im Außeneinsatz den höchsten Rang innehatte.
»Ja, Commander?«, antwortete er sofort.
»Planänderung«, erwiderte sie. »Ihr müsst die drei Roboter und die beiden Kisten mit den Proben herausholen, ich muss an die Blackbox.«
»Hm, aber das verstößt ...«
»... gegen unsere Anweisungen, das ist mir klar«, gab sie genervt zurück. »Wenn ich nicht herausfinde, weshalb ein zu hohes Gewicht angegeben wird, startet das Ding nie wieder und die Proben gelangen nicht zurück. Dann sind wir erst recht im Eimer.«
»Hab verstanden.«
Über die Außenkameras sah sie, wie Mönning eine kreisende Geste machte und die drei sich vom Treibstoffdepot in Richtung der stehenden Rakete bewegten. Über ihre Steuersoftware gab sie Mitchels mobilem Terminal die erforderliche Genehmigung, um die Kontrolle über die Roboter im Schiff zu übernehmen.
»Wir müssen die Proben zu uns holen. Draußen werden sie von der Strahlung gegrillt«, stellte sie fest und tippte mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.
»Die sind doch abgeschirmt, oder?«, fragte Diggs irritiert.
»Ja, aber nur für kurzen Transport weit draußen jenseits von Pluto. Ich schätze, dass Jupiters Strahlungsgrill hier zu viel für sie sein könnte. Ich weiß schließlich nicht, wie lange das Ganze dauert.«
»Hast wahrscheinlich recht. Stellen wir sie einfach ins Lager vom grünen Raum«, schlug Diggs vor.
Rachel hasste es, wenn die anderen ihren hydroponischen Garten so nannten, nickte jedoch einfach.
»In Ordnung. Hilf den anderen beim Tragen. Ich will keine Verladedrohne durch meine Pflanzen klettern sehen«, befahl sie etwas barscher als beabsichtigt, doch die Ingenieurin nickte bloß und ihr Kopf verschwand wieder aus Rachels Sichtfeld.
Sie schnappte sich aus der Schublade unter der Konsole ihr Datenpad heraus, wühlte ein wenig umher, bis sie ein passendes Kabel mit Eins-Fünfer-Anschluss gefunden hatte und machte sich auf den Weg zur Luftschleuse.
Eine Viertelstunde später war sie in ihren Anzug geschlüpft, hatte sich einen kleinen Koffer für ihren Außeneinsatz gepackt, ihren Sauerstoffvorrat und sämtliche Verschlüsse vorschriftsmäßig von Diggs prüfen lassen und diesen Gefallen erwidert. Nach der kurzen Quarantäneprozedur ließ sie zuerst die Ingenieurin nach draußen gehen, um den anderen Drei beim Tragen zu helfen. Laut Protokoll musste immer mindestens eine Person in der Station bleiben, wenn sich der Rest im Außeneinsatz befand und wer wollte schon das Protokoll verletzen, wenn einem milliardenschwere Aktionäre im Nacken saßen.
Als die äußere Luftschleusentür sich endlich wieder öffnete und zuerst Mönning und Mitchel und dann Skjorgard und Diggs mit jeweils einer der beiden schwarzen Kisten eintraten, zwängte sie sich an ihnen vorbei nach draußen.
»Vorsichtig in meinem Garten«, gab sie den Vieren noch eine Anweisung mit auf den Weg, bevor die Tür hinter ihr wieder zuging, und sie alleine in der Stille von Ganymeds unwirtlicher Oberfläche stand.
Mit ihrem eigenen Atemgeräusch in den Ohren lief sie mit federnden Schritten, von denen jeder mehrere Meter maß, zu der reglos dastehenden Rakete mit dem großen, blasser gewordenen Rhein Ruhr Industries Schriftzug. Die drei Rover, die auf Transpluto die Proben genommen hatten, standen achtlos zurückgelassen auf halbem Weg zur Luftschleuse.
Wie ein in die Breite gezogener Monolith ragte das erstaunlich kleine, aber gedrungene Raumfahrzeug vor ihr auf, als sie über die Verladerampe nach oben ging und schließlich ins düstere Innere eintauchte. Das Licht der Fluter von außen gestand ihr einen überschaubaren Photonenkegel zu, der einen schmucklosen Raum mit wuchtigen Wandpanels aus Komposit und Keramik zu erkennen gab.
Rachel schaltete ihre Helmlampen an und machte sich auf den Weg zur Blackbox im nächsten Raum oberhalb. Dort fand sie im Schein ihrer kalten LEDs Zurrgurte mit automatischen Befestigungssystemen an den Wänden, die sich mit Hilfe kleiner Roboterarme autonom bewegen und arbeiten konnten. Ansonsten entdeckte sie rein gar nichts Interessantes, außer der Tatsache, dass dieses Schiff so viel kleiner war, als jede bemannte Mission hätte sein können. Nicht einmal Lampen gab es hier – alles überflüssig für das Drahtgehirn eines Roboters.
Den Zugang zur Leseschnittstelle der Blackbox hätte sie niemals gefunden, ohne zu wissen, wonach sie suchte. Das winzige Panel in der grauen Wand war kaum an seinen Umrissen zu erkennen, schob sich aber gehorsam nach außen und dann nach oben, als sie ihren Vorrangcode sendete. Ein schlichter Eins-Fünfer-Anschluss kam zum Vorschein.
»Dann wollen wir mal sehen«, sagte sie zu sich und ihre Stimme echote in ihrem Helm, während sie den Stecker behutsam aus ihrem Koffer zog und zuerst mit der Leseschnittstelle und dann mit ihrem Datenpad verband.
Während ihre intelligenten Programmroutinen die Blackbox auswerteten und Analysen aufbereiteten, schaltete sie mit ihrem Handgelenkterminal auf die Innenkameras der Station und verfolgte, wie die anderen ihre Fracht aus dem Verbindungsmodul ins Gewächshaus schleppten.
»Ganz schön schwer das Teil«, meckerte Mönning gerade.
»Ein Siebtel G und du beschwerst dich noch«, scherzte Diggs gerade, als Mitchel ihr Tragegriff entglitt. Die Kiste fiel zu Boden und wühlte einen Teil der frisch ausgelegten Erde auf.
»Verdammt nochmal«, schimpfte Rachel, als sie die Arbeit vieler Tage ruiniert sah.
»Äh, Commander«, funkte Diggs sie umgehend an. »Wir haben hier ein Problem!«
»Ich sehe es!«, antwortete sie aufgebracht.
»Ja, tut uns leid mit der Erde und den Setzlingen, aber es ist etwas anderes. Schalt mal auf die A2.«
Rachel tat wie ihr geheißen.
»Oh.« Die Kiste war an der Kante, auf die sie gefallen war, aufgesprungen und verlor offenbar einen Teil ihrer Ladung. Weiße Steine verschiedener Größe purzelten heraus und verteilten sich im dunkelbraunen Erdreich. Soweit sie das über die Kameras sehen konnte, waren einige klein wie Kiesel und andere groß wie eine Faust.
»Wie konnte die kaputt gehen?«
»Ich weiß es nicht«, gab Diggs zu. »Das macht keinen Sinn, normalerweise halten die Dinger eine ganze Menge aus. Die Polymere, aus denen die ...«
»Wir besprechen das später. Sammelt das Zeug schnell wieder ein und markiert die Kiste. Vermerkt auf dem ID-Chip, dass der Inhalt kompromittiert wurde, und macht weiter«, befahl Rachel kopfschüttelnd. Diese Mission wurde mit jeder Minute fataler für ihrer aller Bankkonten und Karrieren.
Wegen ein paar verdammter Steine, dachte sie und sah die Ergebnisse ihrer Analyseprogramme an.
»Das ist seltsam.« Sie wiederholte den Vorgang, doch er spuckte dasselbe Ergebnis aus: Das zulässige Gesamtgewicht war zum Zeitpunkt des Abflugs von Transpluto noch nicht überschritten gewesen, sondern lag mehr als fünfzig Kilo darunter.
Das ist vollkommen unmöglich. Wie soll ein versiegeltes Raumschiff auf seinem dreijährigen Flug hierher einhundert Kilo an Gewicht zugelegt haben?
Sie checkte die Daten ein weiteres Mal, bekam jedoch erneut das gleiche Ergebnis angezeigt.
»Leute? Die Blackbox ist entweder kaputt, oder die Sensorik des Schiffes hat eine Macke abbekommen«, funkte sie auf dem offenen Kanal.
»Was ist los?«, fragte Skjorgard als Erster.
»Angeblich hat die Walkyre bei Ankunft knapp einhundert Kilo mehr Gewicht auf den Rippen gehabt, als bei ihrem Abflug aus dem Kuipergürtel.«
»Vielleicht hat die kosmische Strahlung den Strahlungsschutz durchdrungen und die Festplatten erwischt?«, schlug Mitchel vor.
»Nein, das wäre als Problem geloggt«, widersprach Rachel. »Es sind aber keinerlei Probleme aufgezeichnet, außer jenem, dass das zulässige Gesamtgewicht überschritten wurde.«
»Wir haben noch ein anderes Problem«, rief Diggs so aufgeregt in ihr Headset, dass es in der Verbindung kratzte.
Der Tonfall der Ingenieurin alarmierte Rachel und ihr Puls schnellte schlagartig in die Höhe.
»Was ist los?«, drang sie auf ihre Kollegin ein, doch da hörte sie über die Headsets der anderen bereits Alarmsirenen losbrüllen. Mit einem Blick auf den Kamerafeed sah sie mit offenem Mund zu, wie die Türen zum botanischen Modul zuschlugen und auf den Displays darüber Strahlungswarnung aufleuchtete.
»Hol uns hier raus!«, brüllte Mönning aufgeregt, während die anderen noch verwirrt und entsetzt auf die blökenden Alarmsirenen starrten. Der Däne war zur Drucktür gelaufen und schlug frustriert auf die Steuerkonsole ein, als sie seinen Code nicht akzeptierte.
»Ich kann nicht«, antwortete Rachel heiser und schluckte gegen die Panik an, die in ihr aufzusteigen drohte wie ein unaufhaltsamer Feuersturm. Sie konnte tatsächlich nichts tun. Im Falle eines Strahlungsunfalls oder eines Atmosphärelecks wurden die betroffenen Module automatisch verriegelt, bis das Problem gelöst war. Die Sicherheitsprotokolle ließen nicht mit sich feilschen und würden während eines schweren Quarantänebruchs nicht einmal ihren Vorrangcode akzeptieren. Die KI-Hoheit für Notfälle war aus genau diesem Grund eingerichtet worden. Menschen handelten irrational und das gefiel den Konzernen nicht, die auf rationale Vorgänge und Profite setzten.
»Wie hoch sind die Strahlungswerte?«, fragte sie, um Ruhe bemüht, wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hatte.
Ruhe und Selbstbewusstsein zeigen, schwor sie sich selbst ein und atmete bewusst ruhig, um die anderen nicht noch nervöser zu machen.
»Achthundert Millisievert«, meinte Diggs und ihre Stimme klang nicht mehr ruppig, sondern brüchig. Sie wussten beide, was diese Strahlungsdosis bedeutete. Selbst wenn sie jetzt noch dort herauskämen, bräuchten sie intensivmedizinische Betreuung innerhalb der nächsten Stunden, um nicht in den nächsten Tagen und Wochen elendig zugrunde zu gehen.
»Ich ... ich weiß nicht, was ich tun kann«, gab Rachel schluchzend zu, unfähig, ihre Tränen der Hilflosigkeit und zurückzuhalten.
»Du kannst nichts tun.« Es war Mitchel, die antwortete. Ihre Stimme klang fest und entschlossen. »Sieh zu, dass du die Walkyre betankst, und von hier verschwindest. Schnapp dir einen der Beschleunigungssitze aus unserem Lander und schaff ihn da rein. Dann nimm sämtliche Vorräte mit, die du finden kannst.«
»Aber ...«, wollte sie protestieren, doch Mitchel unterbrach sie sofort.
»Kein Aber. Du weißt, was zu tun ist. Eine der Kisten mit den Proben hatten Mitchel und Mönning bereits ins Lagermodul geschoben, bevor sie uns beim Suchen der Steine geholfen haben. Du nimmst sie mit und dann werden sie dir zuhause hoffentlich nicht den Kopf abreißen. Für uns kannst du nichts mehr tun - und jetzt verschwinde, Commander!«
Rachel beendete die Verbindung, schrie frustriert auf und hämmerte mit ihren Handschuhen auf die Verkleidung vor ihren Augen ein, um ihrer Verzweiflung ein Ventil zu geben.
Als ihre Fäuste so stark zu schmerzen begannen, dass sie taub wurden, erhob sie sich, atmete tief durch und folgte Mitchels Anweisungen, unfähig zu begreifen, was hier gerade geschehen war.
Theodore folgte dem Strom der Autos. Die Rücklichter der endlosen Kolonnen auf der Interstate stauten sich zu einem depressiven Meer aus immergleichem Rot. Saurer Regen prasselte unnachgiebig auf die Windschutzscheibe seines in die Jahre gekommenen Ford Aurora und kämpfte mit den quietschenden Scheibenwischern um die Vorherrschaft auf dem zerkratzten Glas. Die Wassermassen machten es ihm trotz seiner Augmentaugen schwer, klar zu sehen. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass niemand allzu abrupt bremsen würde – falls es in nächster Zeit wieder vorangehen sollte.
Die Interstate 66 war normalerweise die beste Wahl um auf die andere Seite, nach West-LA, zu gelangen. Ein Stau so spät am Abend konnte nur bedeuten, dass es mal wieder einen Unfall gegeben hatte, oder aber Center-Sec einen ihrer willkürlichen Checkpoints errichtet hatte.
»Korrupte Arschlöcher«, murmelte er vor sich hin und aktivierte den Autopiloten seines Kleinwagens. Die betagte Pilotensoftware wies ihn über das Lenkraddisplay darauf hin, dass er wach und zum Eingreifen bereit bleiben solle. Es wurde Zeit, dass er sich ein Upgrade gönnte. Das System aus den Vierzigern war mittlerweile mehr Ärgernis als Hilfe.
Mit kaum hörbarem Summen meldete sich der Elektromotor seines Aurora und beschleunigte sanft, als wieder Bewegung in die Kolonne kam. Die Ausfahrt war keine fünfhundert Meter mehr entfernt, trotzdem würde es bei dieser Geschwindigkeit mindestens eine halbe Stunde dauern, bis er sie erreichte.
Ungeduldig warf er einen Blick auf sein Handgelenkterminal. Zweiundzwanzig Uhr. »Mist.«
Er würde zu spät kommen und das durfte er nicht. Umständlich rutschte er auf den Beifahrersitz hinüber, stieß sich das Knie an der Displaykonsole zwischen den Sitzen und unterdrückte einen Fluch. Im Handschuhfach tastete er nach der Rolle mit Bargeld, während er mit den Augen durch die Sturzfluten auf der Windschutzscheibe nach vorne spähte. Schließlich fand er sie zwischen einer knisternden Tüte mit Weingummi, allerlei zerknitterten Dokumenten und Speichersticks.
Zurück auf dem Fahrersitz atmete er tief durch, zählte einhundert Dollar in Zehnerscheinen ab, die er in zwei Stapel aufteilte, steckte sie sich in seine gepanzerte Lederjacke und warf den Rest des Bündels zurück ins Handschuhfach.
Als Nächstes drückte er sich ein wenig aus dem durchgesessenen Schalensitz hoch und fischte seine Brieftasche aus der Jeans. In dem versteckten Fach unter der Kartensammlung fand er seine verschiedenen Identifikationskarten. Er ging sie kurz durch, entschied sich dann für eine und verstaute die Brieftasche wieder in der Gesäßtasche seiner Hose.
Bei der ersten Gelegenheit übernahm er wieder das Steuer, setzte den Blinker und scherte auf die ganz rechte Spur aus. Ein Autofahrer, der sich das scheinbar anders vorgestellt hatte und seiner Frustration freien Lauf lassen wollte, hupte wild, doch Theodore beachtete ihn gar nicht. Über den Spiegel stellte er sicher, dass niemand den Standstreifen benutzte, und scherte dann abermals nach rechts aus. Mit maßvoller Geschwindigkeit fuhr er an dem Stau vorbei, was ein wildes Hupkonzert zufolge hatte.
Es war, wie er befürchtet hatte: Center-Sec hatte einen Straßencheckpoint errichtet. Zwei Streifenwagen mit dem Stern- und Helmsymbol des Polizeikonzerns verengten die drei Fahrbahnen der Ausfahrt auf eine einzige. Zwei Beamte in dunkelblauen Regen-Ponchos und ausladenden Hüten mit Plastiküberzügen überprüften ohne jegliche Eile jedes einzelne Fahrzeug. Sie ließen sich IDs durch die Scheibe zur Fahrerkabine geben, lasen sie mit ihren Handgelenkterminals aus und winkten dann Fahrzeug für Fahrzeug durch. Die offen zur Schau gestellte Überheblichkeit und Ruhe, mit der sie vorgingen, war frustrierend. Hinter ihnen standen noch zehn weitere Beamte in versiegelten Sicherheitspanzerungen mit Maschinenpistolen in den Händen und sorgten gemeinsam mit zwei bewaffneten Drohnen in der Luft dafür, dass niemand seiner Frustration Ausdruck verlieh. Zwei Beamte brachten ihre Waffen in Anschlag und kamen auf ihn zu.
Theodore zweifelte nicht daran, dass auch die Drohnen ihn bereits als Ziel erfasst hatten und seinen Ford Aurora beim kleinsten Zeichen von Aggression in seine Bestandteile zerlegen würden. Sicherheitshalber reduzierte er noch einmal seine Geschwindigkeit und hielt dann zwei Fahrzeuglängen vor der Straßensperre an, als einer der beiden Beamten, die die IDs kontrollierten, ihn mit ausgestreckter Hand dazu aufforderte. Gemeinsam mit den zwei Gorillas in ihren einschüchternden Sicherheitspanzerungen, kam er angestapft wie ein wütendes Nashorn.
An seinem Seitenfenster angekommen, machte er eine drehende Bewegung mit seinem Zeigefinger und Theodore betätigte den Fensterheber. Die Gorillas umrundeten sein Auto und schienen etwas zu suchen.
»Guten Abend, Officer«, sagte er höflich und behielt seine Hände vorschriftsgemäss am Steuer. Der Polizist leuchtete mit der Taschenlampe in seine Augen, dass es brannte.
»Center Security. Es ist illegal, den Seitenstreifen zu benutzen«, schnauzte der Mann. »Her mit der ID, aber plötzlich!«
»Ist schon gut, ich hab sie hier in der Hand.« Theodore warf einen Blick über seine Schulter und stellte sicher, dass die Gorillas noch immer auf der anderen Seite waren, bevor er dem Beamten seine ID-Karte mit den fünfzig Dollar entgegenstreckte.
Die Taschenlampe ging aus und er konnte zum ersten Mal das Gesicht des Polizisten erkennen. Er war Ende dreißig, schlecht rasiert und hatte die glänzenden Augen eines Alkoholikers. Der Regen prasselte von seinem Hut und dem blauen Poncho und sandte schmutziges Spritzwasser in den Innenraum und auf Theodores Gesicht. Das würde einen hässlichen Ausschlag geben, wenn er sich nicht bald wusch.
Unkommentiert verstaute der Beamte das Geld unter seinem Hut und tat es so geschickt, dass es aussah, als hätte er sich gekratzt. Erfahrung und Gewohnheit sprachen aus seinen Bewegungen und Theodore war nicht einen Augenblick überrascht. Als Nächstes berührte der Mann mit der gefälschten ID sein Handgelenkterminal und schaute dann überrascht auf.
»Ein Kollege aus Deutschland«, stellte er fest und hielt ihm die ID hin. Als Theodore mit einem Lächeln, das ebenso gefälscht war, wie sein Ausweis, der ihn als Polizist der Stadt Hamburg auswies, sie nehmen wollte, hielt der Beamte sie fest.
Ihre Blicke trafen sich und in die trüben Augen seines Gegenübers trat feuchter Glanz. Er kannte den Anblick von Gier und zelebriertem Machtmissbrauch nur zu gut.
»Dann wissen Sie ja nur zu gut, wie ärgerlich der Papierkram ist, wenn ich erklären muss, warum ich einen Verkehrssünder, der den Standstreifen benutzt hat, durchgelassen habe«, meckerte der Beamte und schickte die beiden Gorillas fort, die gerade angekommen waren und offenbar keine Sprengsätze entdeckt hatten.
»Natürlich.« Theodore nickte mit gespieltem Verständnis.
»Außerdem müssen Sie als Kollege ja wissen, wie gefährlich es ist, den Standstreifen aus Ungeduld zu benutzen. Wenn es sich hier um einen Unfall gehandelt hätte, würden die Rettungsfahrzeuge gar nicht ...«
»Nicht durchkommen, ich weiß«, lenkte Theodore ein und klopfte sich auf die Brust, wo in dem Holster sein Colt Bronco steckte. »Ich muss meine Lizenz verlängern. Ich komme nicht so häufig auf die andere Seite.«
Er deutete über die Schulter seines Gegenübers zu der Brücke, die über den Höllenschlund nach West-LA führte.
»Na dann zeigen Sie mal die Lizenz, Herr Kollege.«
Theodore nahm den zweiten präparierten Geldstapel, fischte seine Lizenz für einhändige Handfeuerwaffen aus seiner Brieftasche und reichte sie dem Polizisten mit der sauren Alkoholfahne. Es kam immer auf die richtige Dosierung aus Diskretion und Direktheit an in diesem Spiel, also bugsierte er die Scheine so unter die Karte, dass sie nicht zu erkennen waren. Obwohl niemand sonst sie sehen konnte, war es wichtig, den Schein zu wahren. Man wusste nie, ob eine Überwachungsdrohne zusah oder nicht.
»Sieht sauber aus, die Lizenz«, verkündete der Beamte schließlich großspurig und reichte ihm die Karte zurück. Das Geld hatte er so unauffällig verschwinden lassen, dass es Theodore beinahe entgangen wäre.
»Danke, Officer.«
»Kollegen müssen schließlich zusammenhalten, nicht wahr?« Der Anblick gelber Zähne, die sich zu einem Grinsen öffneten, hätte Theodore in jüngeren Jahren dazu verleitet, sie mit einem Fausthieb blutig werden zu lassen. Doch heute war das anders. Statt gewalttätig zu werden lächelte er diplomatisch und schloss das Fenster, nachdem der Mann ihn mit einer knappen Geste zum Weiterfahren aufforderte.
Die Bewaffneten im Hintergrund gaben den Durchgang zwischen den Streifenwagen frei und er fuhr an den empörten Blicken der Wartenden vorbei auf die Ausfahrt in Richtung Brücke. Die Straße war plötzlich wie ausgestorben und er kam paradoxerweise deutlich schneller voran, als er ursprünglich gedacht hatte. Sein Ausflug war zu einer teuren Fahrt geworden, aber immerhin würde er pünktlich ankommen.
Die verwaiste Ausfahrt wurde nach einer 180-Grad Kurve zu einer Auffahrt für die Interstate 33, die über die Ark führte, wie die Brücke über den Höllenschlund genannt wurde. Sie war eine von drei Übergängen, die nach dem großen Beben errichtet worden waren und verband die komplett voneinander getrennten Stadtteile West und Ost. Auf der Interstate war erstaunlich wenig Verkehr ohne den Zustrom der 66, also drückte Theodore ein wenig mehr aufs Gas.
So nahe am Höllenschlund, aus dem das rote Leuchten der Lava tief am Grund emporstieg, waren die meisten Häuser unter der auf Betonpfeilern gebauten Straße klein und schäbig. Sie überragten den Verkehr um wenige Stockwerke und der Beton der Außenwände war von Schimmel, Rost und Schmutz übersät. Es handelte sich um ein eng bebautes Ghetto, das von giftigen Dämpfen aus dem Schlund heimgesucht wurde. Niemand wohnte freiwillig in der Nähe unter dem Einfluss der unsichtbaren Dämpfe. Nicht einmal Center-Sec wagte sich freiwillig in dieses Gebiet vor, das keine Gesetze kannte, außer der Gewalt und Unterdrückung durch Yakuza, Vory und der Mafia.
Als Theodore mit dem Strom der ihn umgebenden Autos über die Ark fuhr, wurde ihm wie jedes Mal mulmig zumute. Das Wissen, gerade über einen dreihundert Meter breiten Abgrund zu fahren, an dessen Grund Lava brodelte, machte es ihm unmöglich, sich zu entspannen. Die Tatsache, dass dieser Koloss eines Bauwerks, in dem auf mehreren Ebenen Magnetschwebebahnen und Autos dahin rasten, lediglich von gigantischen Stahlmasten getragen wurde, half auch nicht.
Nur zu gerne hätte er gewusst, was in den Forschungsanlagen von Rhein Ruhr fabriziert wurde, die sich an der Unterseite der Brücke befanden wie kleine, hässliche Pickel. Doch da ging es ihm wie so ziemlich jeder Regierung und jedem Unternehmen auf dieser Welt. Vielleicht würde ihn irgendwann ein Auftrag hinein führen und ihm die Chance geben, es herauszufinden – obwohl er sich kaum vorstellen konnte, jemals einen so selbstmörderischen Kontrakt anzunehmen. Auf der Westseite des Schlunds war ein Wall aus kaltem grauen Beton errichtet worden, um die dahinter liegende Skyline des ehemaligen Finanzdistrikts von den Dämpfen abzuschirmen. Während des Bebens, als der Riss sich aufgetan hatte, war die Hälfte der Wolkenkratzer in die Tiefe gestürzt.