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Der Streit um die außerirdischen Artefakte spitzt sich zu: Auf der Erde wird Los Angeles zum Hexenkessel, als die Megakonzerne sich mit harten Bandagen nach dem fremden Material strecken. Auf der Ganymed Explorer muss Rachel Ferreira feststellen, dass die größte Bedrohung für das Raumschiff und ihre Kameraden nicht etwa im Weltraum auf sie wartet, sondern direkt unter ihnen. Sowohl für sie als auch für Theodore entbrennt ein Kampf gegen die Zeit, während immer rätselhaftere Satellitenbilder von Ganymed eintreffen. Der Trabant verändert sich und niemand vermag abzuschätzen, in welche Richtung oder mit welchem Ziel.
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1. Theodore
2. Rachel
3. Theodore
4. Rachel
5. Theodore
6. Rachel
7. Theodore
8. Rachel
9. Theodore/ Ludwig
10. Rachel
11. Theodore
12. Rachel
13. Theodore
14. Rachel
15. Theodore
16. Rachel
17. Theodore
18. Rachel
19. Theodore
20. Rachel
Nachwort
Dramatis Personae
Glossar
Zeitlinie
Leseprobe: »Letzte Chance Mond« von O. E. Wendt
Im Jahr 2058 beherrschen vier Megakonzerne de facto die Welt. Staatliche Strukturen bröckeln und Regierungen verkommen zu Marionetten der Aufsichtsräte, während der Kapitalismus immer rücksichtslosere Formen annimmt. Große Teile der Erde sind durch Umweltkatastrophen, Kriege und den Klimawandel unbewohnbar geworden und Großstädte zu versmogten Molochen angewachsen, in denen Krankheiten und Kriminalität grassieren. Die NAGER-Seuche hat einen Großteil der Menschheit dahingerafft und ihre Entstehung gibt Forschern bis heute Rätsel auf. Eine kleine Schicht reicher Bürger schottet sich in Gated Communities und Firmenarkologien ab und hält sich die sozialen Missstände mit Geld und Einfluss vom Leib. In Zeiten, in denen sowohl Erdöl als auch frische Nahrungsmittel knapp werden, sind technologische Errungenschaften ihnen und ihren Lohnsklaven vorbehalten. Cyberimplantate und -prothesen, »Augmentierungen« genannt, verbessern die Körper derjenigen, die es sich leisten können, und lassen andere neidisch zurück.
Private Sicherheitsfirmen haben weite Teile der Exekutive übernommen, um sozialen Unruhen und der immer zügelloseren Gewalt Herr zu werden. Korruption und polizeiliche Übergriffe gehören ebenso zum Alltag wie unberechenbare Wetterphänomene, organisiertes Verbrechen und Drogenkonsum.
Im Weltraum haben die Konzerne derweil das Sonnensystem erforscht und Außenposten auf Mond und Mars geschaffen. Selbst die Distanzen zu den Jupiter- und Saturnmonden werden mit viel finanziellem Aufwand überwunden, um in Zukunft den wachsenden Ressourcenhunger einer überfüllten Erde zu stillen. Die Gier der Konzerne kennt auch in der Weite des Alls keine Grenzen mehr. Insbesondere die Entdeckung eines Astronomen sorgt für ein Weltraum-Wettrennen zwischen den Mächtigen: Ein lange postulierter, neunter Planet, der jenseits von Neptun entdeckt wird, gibt Forschern Rätsel auf und den Konzernen ein neues Objekt für ihr Verlangen nach Prestige und Möglichkeiten zur Profitmaximierung.
Im Los Angeles der zerrütteten USA leidet derweil ein besonders großer Teil der Bevölkerung an Armut und Krankheit. Nach dem stärksten jemals gemessenen Erdbeben in der Geschichte der Menschheit wird die Megacity von einem kilometertiefen Riss in zwei Hälften geteilt. Aus diesem hermetisch abgeriegelten »Höllenschlund« steigen toxische Gase auf und vergiften das Klima der Stadt. Auf der Straße regiert außerhalb der inneren Stadtgrenzen das Gesetz des Stärkeren und Gruppen von Söldnern, sogenannte »Mercs«, operieren versteckt im Auftrag der Höchstbietenden, um Konkurrenzfirmen zu bestehlen, zu erpressen und um ihre besten Mitarbeiter zu bringen. Inmitten dieses Chaos des Jahres 2058, kehren zwei Raumschiffe aus den bisher unentdeckten Tiefen des Sonnensystems zurück. An Bord befinden sich Proben eines bisher unbekannten Materials, das auf dem neuentdeckten Planeten gefunden wurde. Als ein Teil der Proben bei einem Unfall auf Ganymed zurückbleibt, bricht der Funkkontakt ab. Satellitendaten zeigen später, dass sich eigenartige Ringstrukturen gebildet haben und sich die atmosphärische Zusammensetzung Ganymeds leicht verändert hat. Eine Expeditionsgruppe um Dr. Rachel Ferreira entdeckt zudem einen fremdartigen Monolith auf der Oberfläche, der ihr Rätsel aufgibt. Auf der Erde hat sich aus den geborgenen Proben ebenfalls eine dieser Ringstrukturen gebildet und ist aus dem Wolkenschiff Tomahawk auf die Ark gestürzt, eine riesige Brücke über dem Höllenschlund, der Los Angeles in zwei Hälften teilt.
Im Anhang befinden sich ein Glossar und ein Personenregister.
Geschlagene zwei Wochen war Theodore dazu gezwungen, in den Kellerbehausungen der Schlachter zu verbringen. In der Stadt war die Hölle los und sämtliche Nachrichtensendungen waren nur noch damit beschäftigt, vierundzwanzigstündige Dauerberichte über aktuelle Entwicklungen zu bringen. Die absurdesten Spekulationen über mögliche Hintergründe dominierten die VR- und Videoformate.
Insgesamt sah die Lage in etwa so aus: Rhein Ruhr war wie durch Zauberhand zuerst an der Unglücksstelle auf der Ark aufgetaucht und wollte sich den Ring unter den Nagel reißen. Theodore hatte keinerlei Zweifel mehr daran, dass Rhein Ruhr über das seltsame Gebilde bereits vorher informiert war und mit dem Absturz zumindest gerechnet hatte. Doch ob das Spiel des europäischen Giganten aufgehen würde, stand noch in den Sternen. Die Ark gehörte nämlich tatsächlich der Alpha Corporation und war von den USA, genauer gesagt dem Bundesstaat Kalifornien, gepachtet. Rhein Ruhr hatte es aber offenbar geschafft, beim Absturz des Wolkenschiffs dafür zu sorgen, dass die Stadtverwaltung sie offiziell um Hilfe bat. Nun gab es ein Dilemma: Der Besitzer der Brücke wollte den Ring haben, genau wie der Pächter und derjenige, der die Stadt vor den Trümmern gerettet hatte. Da die Tomahawk zur Alpha Corporation gehört hatte, war ihr Stand in diesem Zwist nicht besonders fest. Seither häuften sich »Unfälle« und »kleinere Zwischenfälle« in der Stadt, bei denen hochrangige Manager ums Leben kamen, Einrichtungen von »Gaslecks« und »Materialermüdung« heimgesucht wurden. Was Theodore aus der Versenkung noch mitbekam, war außerdem, dass es noch nie so viele Merc-Aktivitäten gegeben hatte seit Ausbruch des Schneekriegs.
Die meisten Aktionen drehten sich neben Sabotage und Datendiebstahl offenbar um die Bergung der vielen Trümmerstücke der Tomahawk. Zwar hatten Rhein Ruhrs Raketen und Kampfjets der US-Luftwaffe die meisten größeren Trümmer zerstört, bevor sie in der Stadt einschlagen konnten wie Bomben, doch es waren genügend kleinere übriggeblieben. Sie hatten Dächer zerfetzt, Passanten in Gulasch verwandelt und dicke Schlaglöcher auf den Straßen hinterlassen. Da sie über einem riesigen Gebiet der Oststadt niedergegangen waren, hatten die Konzerne offensichtlich Probleme damit, alles zu bergen. Also schickte man eben wie immer Mercs.
Da sich besonders Rhein Ruhr und die Alpha Corporation kurz vor einem offenen bewaffneten Konflikt befanden, der durch das Verhandlungsgeschick des Stadtrats noch verhindert wurde und auch Hyun-Hakkamoto und die Noble Group nur auf den passenden Moment warteten, hatte CenterSec die halbe Stadt abgeriegelt. Selbst Unterschichtsgegenden, die sie normalerweise nur besuchten, um sich Schmiergelder vom organisierten Verbrechen abzuholen, das dort das Sagen hatte, wurden jetzt ausgiebig kontrolliert. Bis vor einigen Tagen hatte es noch Straßensperren an allen größeren Übergängen zwischen den Stadtbezirken gegeben, um nach »terroristischen Aktivitäten« zu fahnden. Irgendjemand mit viel Macht und Einfluss hatte offenbar die Aktivitäten der Mercs satt und wollte dem Krieg in den Schatten ein Ende setzen. Erst jetzt, nach geschlagenen zwei Wochen, zogen sich die Polizeieinheiten langsam wieder in ihre üblichen Gegenden und Tagesroutinen zurück. Die Ark war noch immer vollständig abgeriegelt und sorgte für das reinste Verkehrschaos, jetzt, da es nur noch zwei kleinere Brücken gab, die beide Stadthälften miteinander verbanden. Rhein Ruhr hatte die Ark vollständig verhüllt und hunderte modernster Kampfdrohnen im Dauereinsatz, die jedes neugierige Auge sofort vertrieben – oder direkt abschossen.
Jack putzte seit einer Woche nur noch ihr ansehnliches Waffenarsenal und gab sich wortkarg, während Muffin die meiste Zeit in seinem Feedback-Anzug verbrachte und das DeepWeb bereiste. Er hatte schon am zweiten Tag zwei Spionagedrohnen an den verbliebenen Orten positioniert, die das Wolkenschiff als verdächtige Strahlenquelle identifiziert hatte. Die winzigen Spinnendrohnen von der Größe eines Brillenglases hatten kurioserweise noch niemanden bemerkt. Also hatte auch Kruger bisher offenbar die Füße still gehalten und sich mit so heißer Ware nicht durch die Stadt getraut. Das war gut so, immerhin hätten sie ihn sonst niemals abfangen können. Ludwig hingegen verbrachte viel Zeit oben, im »Kundencenter«, wie Baker es nannte. Theodore wurde einfach nur schlecht, wenn er an die Machenschaften der Organhändler dachte. Sie waren vollkommen neu in der Stadt, extra für Ludwig hergereist und hatten trotzdem einige hundert »Kunden« am Tag zu bearbeiten: Glücklose Mercs, die es im Einsatz erwischt hatte, ermordete Prostituierte, Bauarbeiter, die bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen waren und jede Menge Gorillas des organisierten Verbrechens, die Bakers Leute sich einfach geschnappt hatten. Seither standen die Kreissägen und Skalpelle in den großen Zelten nicht mehr still und obwohl die riesigen Augmentzombies auf eine ruppige Art ganz umgänglich waren, konnte Theodore sich einfach nicht an sie gewöhnen. Einige von ihnen gingen sogar mit ihren blutbesudelten Schürzen schlafen, oder fielen abends einfach in eine Art Alkoholkoma. In den Pausen zwischen ihren groben Operationen, während derer sie Implantate in eine Box, Organe in eine andere und die Überreste in einen Mülleimer warfen, trafen sie sich oben und schauten Bloodsports – eine Mischung aus American Gladiators und Takeshis Castle, nur mit echten Waffen und echten Toten. Es war der neueste Schrei einer perversen Generation, die sich aufgrund fehlender Perspektiven neue Kicks suchen musste.
All das waren Gründe genug für ihn und auch Jack und Muffin ihre Zeit Untertage zu fristen. Immer wieder gingen sie die Stadtpläne durch, schauten sich Satellitenaufnahmen des nördlichen Angeles Forest an, dem nördlichsten Punkt im Großraum L.A., an dem die Tomahawk die Strahlungsanomalien markiert hatte und aßen Sojaburger. Zwischendurch hatten sie noch mit einer kleinen Drohne die restlichen zwei Millionen Dollar in beglaubigten Kreditsticks abgeholt, um ihr Konto weiter anwachsen zu lassen. Man konnte Schmidt einiges vorwerfen, aber nicht, dass er sich nicht an seine Versprechen hielt. Er traute diesem Mann nicht weiter, als er aktuell sehen konnte, doch immerhin war er in seiner distanzierten, kühl-professionellen Art einschätzbar.
»CenterSec hat sich jetzt vollständig zurückgezogen«, verkündete Muffin am fünfzehnten Tag nach dem Absturz der Tomahawk. Er stand neben dem schäbigen Tisch aus recyceltem Holz und zog sich gerade seine VR-Brille vom Kopf. In dem hautengen Feedback-Anzug sah er noch dünner aus als ohnehin schon.
»Wurde aber auch Zeit, dass diese Wichser sich verziehen«, grollte Jack. Sie hatte sich seit Tagen nicht mehr gewaschen, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, in den Waschräumen der Schlachter durch Blutpfützen zu waten, die diese nicht entfernt hatten. Dementsprechend ungewaschen waren nun sowohl ihr Körper als auch ihre Manieren. Sie zog ihre schweren Stiefel vom Tisch, packte die Whiskyflasche und setzte sie sich direkt an den Mund. Sie musste wirklich schlecht drauf sein, wenn sie vor ihm trank.
»Wie sieht es mit den Einheiten der Kons aus?«, hakte Theodore nach. Sie zuckte kurz mit den Achseln und setzte die Flasche erneut an ihre Lippen.
»Schwer zu sagen. Die meisten offiziellen Einheiten Rhein Ruhrs befinden sich entweder in der Nähe des Cerberus, oder auf, über und vor der Ark. Alpha hat seine Truppen auf eigenem Gelände in der Nähe der Ark massiert, da die Stadtverwaltung ihnen aktuell keine Durchmarschrechte für US-Gebiet erteilt hat. Das wird noch böse enden«, erklärte Muffin, warf die VR-Brille auf den Tisch und setzte sich zu ihnen, als im selben Moment Ludwig schweigend hereinkam und an das kleine Waschbecken neben dem Matratzenlager trat.
»Was die Aufträge der HTR- und Merc-Teams angeht, habe ich keine Ahnung«, gab der Hacker zu und schürzte die Lippen. »Außerdem verhalten sich Hyun-Hakkamoto und die Noble Group verdächtig ruhig. HH wird einiges mit der Ganymed Expedition am Hut haben, das wundert mich also nicht. Was die Noble Group angeht – da bin ich überfragt. Vielleicht sitzen sie überall und warten nur auf die Gelegenheit, dass Rhein Ruhr und Alpha sich bei der Ark an die Gurgel gehen, vielleicht ist es aber auch etwas ganz anderes.«
»Wie schätzt du die Chancen ein, dass wir unbehelligt in den nördlichen Angeles National Forest gelangen?«, fragte Theodore.
»Wenn die Riesen da oben mitkommen? Kommt drauf an. Uns wird sicher niemand in die Quere kommen, wenn sie einen Sattelschlepper mit geisteskranken Übermenschen zu sehen bekommen. Allerdings wird das auch Kruger nicht unbemerkt bleiben. Am besten ist es wohl, wenn wir mit unserem Ferret fahren und die Jungs im LKW. Wenn wir abgewrackt aussehen, werden wir vielleicht von Schrottkids oder Gangern angegriffen, die sich leichte Opfer und einen schnellen Dollar versprechen. Aber das ist immer noch besser, als einen Medienhelikopter auf den Fersen zu haben, der im aktuellen Terrorismushype neue Bilder haben will.«
»Klingt vernünftig.«
»Wir sollten sofort loslegen«, meinte Jack und stellte den Whisky ab. Im selben Moment trat Ludwig an den Tisch.
»Ja.«
»Stimmt schon. Kruger wird sich sicherlich auch nicht zweimal bitten lassen«, stimmte Muffin zu.
»Gut. Ludwig, sag deinen Freunden Bescheid, wir brechen auf. Wenn unsere Theorie stimmt, dass Kruger zuerst den stadtnäheren Strahlungspunkt anfährt, dürften wir genügend Zeit haben, um einen Hinterhalt zu legen.« Theodore stand auf und ging zu seinem Seesack hinüber, der neben seinem Kopfkissen lag.
* * *
Bereits eine halbe Stunde später war alles gepackt und verladen. Ihre reparierten Rüstungen und alles, was sie an Waffen auf ihrer Tomahawk-Mission dabeigehabt hatten, stopften sie am Ende in den Laderaum ihres GMC Ferret. Theodore hätte erwartet, dass sie auf die Schlachter würden warten müssen, da diese sich nicht zwei Wochen lang auf genau diesen Augenblick vorbereitet hatten. Doch sie waren beinahe noch schneller fertig. Ungefähr die Hälfte von ihnen, also knapp zwanzig der riesigen Augmentzombies ließen einfach ihre blutverschmierten »Werkzeuge« fallen, kamen aus den Zelten getrottet und zogen sich die Plastikschürzen vom Leib. Da ihre schweren Waffen überall herumlagen, als handle es sich um Alltagsgegenstände, nahmen sie sich die erstbesten, die sie finden konnten und trotteten nach draußen.
Theodore startete seinen Ferret und folgte ihnen durch das große Rolltor. Draußen warteten ein wuchtiger, ziemlich heruntergekommener Mammut-Lastwagen mit rostiger Kabine und ein Sattelschlepper mit aufgeladenem Frachtcontainer.
Kurz bevor die Schlachter, teilweise mit freien Oberkörpern, in LKW und Container verschwunden waren, klopfte es an der Seitentür.
Es war Baker, der mit einer Zigarre im Mundwinkel durch das Fenster schaute. Theodore entriegelte die Tür und als der Anführer der Organhändler sie aufzog, drang sofort der Lärm der uralten Verbrennungsmotoren der großen Lastfahrzeuge an seine Ohren.
»Is‘ hier noch ein Platz frei?«, nuschelte Baker an seinem Zigarrenstummel vorbei und bevor Theodore antworten konnte, bedeutete er Jack, nach hinten zu gehen. Sie zuckte nur mit den Schultern und zwängte sich dann zwischen den Sitzen durch nach hinten zu Ludwig und Muffin.
»Was verschafft uns die Ehre?«, fragte Theodore und manövrierte seinen Wagen von dem ehemaligen Fabrikgelände auf den staubigen Weg in Richtung Norden. Die verrußte Ruinenlandschaft der zerstörten Industriebrache schien direkt aus einem Horrorfilm zu stammen – genau der richtige Ort für Menschen wie Baker. Zumal es mal wieder regnete und nicht richtig hell wurde.
»Geschäfte.« Baker nahm den Zigarrenstummel aus dem Mund und deutete damit durch die Frontscheibe in Richtung Norden, wo sich die gefällige Berglandschaft des ehemaligen Angeles National Forest vor ihnen auftat.
»So? Haben wir das nicht schon? Ihr helft uns dabei, Krugers Männer auszuschalten und dafür könnt ihr mit ihnen machen, was ihr eben so macht.«
»Jo. Aber meine Jungs sind Abrissbirnen. Überleg dir bei deinem Plan genau, wann du sie entfesseln willst. Am besten, ihr schafft es zuerst, diesen Krüger in die Finger zu bekommen, bevor sie alles zerlegen. Sie sind recht ...« Baker machte eine Pause, bevor er sich den Zigarrenstummel wieder in den Mundwinkel steckte. »... motiviert, könnte man sagen.«
»Ist mir schon aufgefallen«, gab Theodore lakonisch zurück und versuchte nicht an die Gelegenheiten zu denken, in denen er hatte hochgehen und die Schlachter bei ihrer Arbeit sehen müssen. Sie unterhielten sich, lachten und grölten die meiste Zeit, während sie die Leichen irgendwelcher Unglücksraben ausweiteten wie Vieh.
»Dann ist ja gut.«
»Wie alt sind die eigentlich? Ich habe immer gehört, dass Augmentzombies kaum älter als vierzig werden, bis sie an Entzündungen, Abstoßungsreaktionen, Krebs oder Autoimmunerkrankungen zugrunde gehen«, fragte Theodore und konnte sich einen bissigen Unterton nicht verkneifen, obwohl er Baker nicht für jemanden hielt, mit dem er es sich verscherzen wollte. Trotzdem konnte er nicht an sich halten, da er seinen wachsenden Unmut, mit solchen Menschen verkehren zu müssen, kaum noch im Zaum halten konnte.
»Unterschiedlich. Die Kunst liegt darin, immer genügend Pillen zu schlucken und sich von Zeit zu Zeit eine neue Leber auszusuchen und einzupflanzen, damit man noch mehr Pillen nehmen kann«, lachte Baker. Es war ein heiserer, irgendwie bedrohlicher Ton. »Wir haben gute ehemalige Ärzte in unserer Familie. George zum Beispiel hat große Teile seiner Haut durch Keramikplatten ersetzen lassen, die jetzt mit einer Diamantbeschichtung versehen sind. Da kommt so schnell keine Kugel durch, glaub mir. Dafür hat er jede Woche einen neuen Fall von Hautkrebs, den einer der Docs ihm rausschneiden muss – bald bestehen die zehn Prozent Resthaut, die er noch hat, nur noch aus Narben. Aber es geht.«
»Warum macht ihr das überhaupt?«, fragte Theodore mit echter Neugier, während er den Ferret um die Reste eines mehrstöckigen Wohnhauses lenkte, das quer über die ehemalige Straße gestürzt war.
»Die Augmentierungen oder unsere Arbeit?«
»Beides.«
»Die Augmentierungen fangen im Kleinen an, du bist selbst augmentiert. Irgendwann willst du eben mehr, genießt das Gefühl übermenschlicher Stärke, die Tatsache, dass du Dinge tun kannst, die die meisten Menschen nicht tun können.« Baker zuckte mit den mächtigen Schultern und rieb sich über den kahlen Schädel. »Is‘ wie mit Koks. Entweder du bleibst dran hängen, oder eben nicht.«
»Und das Andere?«
»Die Arbeit? Bringt Kohle.«
»Ah ja«, schnaubte Theodore und schüttelte den Kopf. So einfach kann die Welt sein.
Die Fahrt durch Pasadena verlief bis auf zwei kleinere Zwischenfälle ruhig. Einmal wurden sie aus einem halb zerfallenen Haus beschossen, das einer von Bakers Leuten zum Einsturz brachte, indem er sich aus der Hecktür des LKW lehnte und eine Antifahrzeugrakete abfeuerte. Theodore hatte nicht einmal mehr mit dem Kopf geschüttelt. Der andere Vorfall ereignete sich kurz vor der Grenze des Angeles National Forest und wurde durch eine Motorradgang mit etwas zu forschem Auftreten verursacht. Über ihr unrühmliches Ende versuchte er nicht nachzudenken – ebenso wenig wie darüber, wann wohl Bakers Aufräumkommando kommen und die Reste einsammeln würde.
Der Angeles National Forest, einst eine blühende Berglandschaft am nördlichen Stadtrand, war heute nicht mehr als eine Kette schwarzer und kahler Hänge, die gerade im Regen bedrohlich und düster aussahen statt wie ein Nationalpark. Nach den großen Feuern Anfang der Vierziger war er komplett aufgegeben worden und hatte sich aufgrund des immer toxischer werdenden Regens auch nie wieder erholt. Heute wurde er von Menschenhändlern, Schmugglern und allerlei düsteren Gestalten aufgesucht, die dort Verstecke anlegten - oder teilweise ganze Ortschaften. Zu einer von ihnen waren sie gerade unterwegs. In den Schatten von Los Angeles wurde sie »Dust Town« genannt, weil es in dem Tal, das durch eine lange Schneise, die in Nord Pasadena begann, erreicht werden konnte, nichts als Staub und Asche gab. Theodore war erst einmal da gewesen, um seine servounterstützte Panzerung entgegenzunehmen. Militärische Hardware wurde in großen Mengen häufig nur bis dorthin geschmuggelt, um der enger werdenden Schlinge von CenterSec im Stadtgebiet zu entgehen. Die Behörden ignorierten Dust Town seit über einem Jahrzehnt, obwohl sie natürlich alle davon wussten. Man biss eben nicht die Hand, die einen nährte. Über Dust Town wurde die dekadente Oberschicht L.A.s mit allem versorgt, was ihre Sünden verlangten, seien es die neuesten DeepWeb-Snufffilme, minderjährige Prostituierte, illegale Augmente oder Organe. Kurz gesagt: Dust Town hielt die halbe Stadt am Leben.
Als sie die ersten Ausläufer der Berge erreichten, wurde Theodore nervös. Er konnte nicht benennen, woher das Gefühl rührte, außer, dass er jedes Mal so empfand, wenn er hier rausfuhr. Bei der Passstraße handelte es sich um einen ehemaligen Transportweg des Militärs, da die Straße weiter oben zerfallen und unbefahrbar war. Die Schotterpiste hier unten wurde jedoch regelmäßig geräumt und planiert. Links und rechts zogen die schwarzen Gerippe verbrannter Bäume vorbei, die großzügig auf die depressive, hoffnungslose Atmosphäre des einstmals lebendigen Nationalparks hinwiesen. Am Fuß der dunklen Hänge fühlte Theodore sich immer schutzlos und konnte nicht leugnen, dass er froh war, Monster wie die Schlachter bei sich zu haben. An Orten wie diesen war er lieber Teil des Wolfsrudels, als Teil der braven Wanderer.
Nach etwa einer Stunde tauchte plötzlich Dust Town vor ihnen auf. Direkt hinter einer Biegung der Passstraße, auf der immer mal wieder Transporter und LKW aufgetaucht waren, öffnete sich das kleine Tal zwischen drei Gipfeln. Wellblechhallen, zusammengeschusterte Gebäude aus Backstein, einige modernere Kompositbauten und jede Menge kleiner Fertighäuser, die über die Straße hergebracht worden waren, dominierten das Bild. Ein Straßennetz mit erkennbarem Muster gab es nicht. Daran hatten Schmuggler und all die dunklen Gestalten, die hier verkehrten, natürlich auch kein Interesse. Ordnung war der Feind des Chaos und das Chaos der Freund von Dust Town. Darum kam es den Ansässigen auch gelegen, dass ein steter Wind durch das Tal brauste, der diesem Ort seinen Namen gab – denn er war voller Asche und Staub, die von der Wüste, direkt nordöstlich des National Forest, durch die Schluchten in Richtung Meer getragen wurden.
»Muffin? Jetzt bist du an der Reihe«, rief Theodore nach hinten und lenkte den Ferret zwischen die ersten Häuser und Hütten. Er hoffte, dass LKW und Sattelschlepper hinter ihm problemlos folgen konnten, denn das gesamte Gebiet war mit hunderten Tunneln und unterirdischen Lagern ausgehöhlt. Da nie eine Bauaufsicht jemals einen Fuß auf dieses Gelände gesetzt hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis etwas schief ging.
»Geradeaus halten«, sagte Muffin, dessen grauhaariger Kopf plötzlich in der Fahrerkabine auftauchte. Er schaute kurz auf ein Datenpad, das er vor sich hielt und fügte dann hinzu: »Bei der nächsten T-Kreuzung nach links.«
Theodore lenkte den Ferret an gelegentlichen Ansammlungen zurückgelassener Transportkisten und Müllhaufen vorbei und sah durch die Rückspiegel, wie LKW und Sattelschlepper sie einfach überrollten. Auf den Straßen befand sich kaum eine Menschenseele. Ab und zu überquerte jemand mit heruntergezogener Kapuze die verregneten Matschwege, hier und da kreuzte ein Fahrzeug vor ihnen, doch im Großen und Ganzen hätte man denken können, dass es sich um eine Geisterstadt handelte. Nirgendwo sah man Licht hinter den Fenstern, da sie von innen zugeklebt oder mit Stahlplatten und Brettern verrammelt waren.
»Ich liebe diesen Ort«, brummte Baker zufrieden, drückte den Stummelrest der Zigarre in seiner Hand aus und stopfte ihn sich in den Mund, um darauf herumzukauen.
Das kann ich mir gut vorstellen, dachte Theodore und bog nach links ab, als sie die T-Kreuzung erreichten.
»Wir müssten gleich auf einen kleinen Platz kommen. Genau in der Mitte befindet sich die Strahlenquelle, beziehungsweise der Punkt, an dem die Sensoren der Tomahawk die Strahlenquelle aufgezeichnet haben«, erklärte Muffin und streckte eine Hand aus, als sie an einem zweistöckigen Wellblechverschlag vorbei auf ein matschiges Areal von der Größe zweier Tennisplätze rollten.
»Genau in der Mitte?«, fragte Theodore zweifelnd und zoomte mit seinen Augmentaugen heran, um den Boden abzusuchen. Bis auf braunen Matsch, Spritzwasser in Pfützen und allerlei Plastikmüll konnte er jedoch nichts erkennen.
»Das sagen die Sensoraufnahmen.« Muffin zuckte mit den Schultern.
»Also gut. Du kannst deine Drohne abziehen. Postier sie über der Passstraße, damit wir mitbekommen, falls Kruger aus Los Angeles herkommt«, sagte Theodore und fuhr am Rande des Platzes an einem alten Reihenhaus entlang, das zu besseren Zeiten einmal der Forstverwaltung gehört hatte, bis er schließlich anhielt. Muffin verschwand wieder hinter ihm und das metallische Durchladen schwerer Waffen war zu hören.
»Wir sollten ...«
»Meine Jungs und ich werden erstmal die umgebenden Gebäude freiräumen, damit wir diesen Ort in Ruhe vorbereiten können«, rief Baker nuschelnd dazwischen und kaute gut gelaunt auf seinem Tabak herum. Kurz bevor er die Beifahrertür öffnete und ausstieg, grinste er Theodore noch halb provozierend, halb belustigt an und entblößte dabei eine Reihe schwarz gewordener Zähne.
»Dieser Kerl«, seufzte Jack, die ihn an der Schulter fasste und nach hinten deutete. »Echt schräg. Komm, wir rödeln uns besser an. Anders als diese Seelenlosen würde ich nämlich nicht schutzlos in diesen verfluchten Regen rausgehen.«
»Vielleicht ist es keine gute Idee, direkt in militärischer Hardware hier auszusteigen. Du kennst diesen Ort. Seine Bewohner halten nicht viel von Stress, oder allem, was danach aussieht«, gab Theodore zu bedenken. Sie drückte erneut seine Schulter und lächelte schief.
»Denkst du wirklich, dass noch jemand über unsere Rüstungen nachdenken wird, sobald zwanzig augmentsüchtige Riesen mit Sturmkanonen und Kaliber .50 Maschinengewehren aussteigen und die umliegenden Gebäude für sich beanspruchen?«
»Guter Punkt«, seufzte er und folgte ihr in den Laderaum, wo Muffin und Ludwig sich bereits gegenseitig beim Ankleiden halfen. Als sie fertig waren, luden sie ihre Sturmgewehre durch und öffneten die Hecktüren.
Das Prasseln des unnachgiebigen Regens übertönte beinahe das Röhren der Motoren von LKW und Sattelschlepper und setzte sich auf seinem Helm fort, sobald Theodore in den knöcheltiefen Matsch gesprungen war. Am Rande nahm er wahr, wie die Schlachter in kleinen Gruppen die wenigen Gebäude stürmten, doch er beachtete sie nicht. Stattdessen winkte er Muffin herbei, der vorweg lief und in etwa in der Mitte des Platzes, der von tiefen Reifenspuren durchzogen war, anhielt. Das blau leuchtende Augenpaar seines Helms schien vorwurfsvoll dreinzublicken, als er sich umdrehte und die Handflächen nach oben drehte.
»Keine Ahnung, Teddy«, funkte er und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger direkt auf seine Füße. »Genau hier ist die Markierung.«
Theodore besah den Boden, konnte aber nichts als Matsch und platzende Regentropfen erkennen. Prüfend stampfte er mit einem Stiefel auf, konnte jedoch selbst mit Audioverstärkern nichts hören.
»Seltsam«, meinte Jack, hob ihr Sturmgewehr und sah sich durch das Zielfernrohr um.
»Wahrscheinlich befindet es sich in einem der Schmugglertunnel oder unterirdischen Verstecke.«
»Wo ist der Zugang?«, fragte Ludwig, der vor ihm aufragte wie ein Insekt vor seiner Beute.
»Wenn ich das wüsste.«
»Hey, Teddy«, funkte Muffin. »Meine Drohne ist gerade auf dem Weg über den Pass und hat einen Helikopter auf den Sensoren.«
»Wie? Der Nationalpark ist eine Flugverbotszone und alles was kommt, wird heruntergeholt.«
»Ja, wie es scheint, landet er direkt vor dem Eingang des Tals in Pasadena. Wenn das nicht unser Mann ist, weiß ich auch nicht.«
»Wenn er es ist, haben wir noch etwa eine Stunde, um den Zugang zu finden, sonst ist er schneller wieder weg, als wir Kruger sagen können«, sagte Theodore nervös und biss wütend die Zähne zusammen, während er sich hastig umschaute.
»Wir kriegen den Arsch und dann holen wir deine Tochter, versprochen«, versuchte Jack, ihn zu beruhigen. »Am besten teilen wir uns auf.«
Theodore nickte, schluckte seine Anspannung herunter und atmete tief durch, bevor er in die Dunkelheit lief.
Vor zwei Tagen hatte Sam die Ganymed Explorer gewendet und den Bremsschub eingeleitet. An der Richtung der winzigen G-Kräfte hatte sich daher gefühlt an Bord nichts verändert und die Reise ging weiter vonstatten wie bisher. Noch immer suchten sie nach dem mysteriösen blinden Passagier, der zwei von ihnen auf dem Gewissen hatte. Noch immer gab es eine gewisse Kluft zwischen Soldaten und Wissenschaftlern, die Rachel für eine Art natürliche gegenseitige Empfindung hielt. Und noch immer waren sie dabei, die Kameras zu reparieren. Der überwachte Bereich umfasste mittlerweile siebzig Prozent des Schiffes. Das klang viel, war es aber nicht, wenn man bedachte, dass Patrick bereits seit mehreren Wochen daran arbeitete. Der mangelnde Fortschritt lag daran, dass das gesamte wissenschaftliche Team Überstunden schob, um sich mit den Daten des Satelliten über Ganymed zu befassen und mehr über den Monolithen herauszufinden. Es handelte sich um die womöglich größte Entdeckung seit ... nun ja, seit Menschen ihr Wissen über Schriftzeichen weitergaben. Da wollte natürlich auch Patrick nicht fehlen und niemand machte ihm einen Vorwurf, zumal seine Expertisen als einem der besten Ingenieure Europas regelmäßig angefordert wurden.
Es war ein Balanceakt zwischen zwei offenen Wunden, die zeitgleich verarztet werden mussten. Die eine wurde von der Neugier geschlagen und die andere von einem Mörder. Beides war für Wissenschaftler in gleichem Maße problematisch. Das eine zog sie an wie das Licht die Motten und das andere machte ihnen Angst.
Im Endeffekt lief dieses Dilemma darauf hinaus, dass Matthes sich häufig mit Captain Boyd stritt. Der eine wollte die ganze Angelegenheit mit dem Saboteur auf die Soldaten abwälzen, während der andere argumentierte, dafür die Kameras - und Patrick – zu benötigen. Da im Zweifelsfall Matthes das Kommando innehatte, musste Boyd sich letztendlich damit begnügen, jetzt nur noch dreißig Prozent des Schiffes absuchen zu müssen. Doch seine Männer fanden einfach nichts und das machte Rachel immer nervöser. Jeden Abend ging sie mit der Sorge ins Bett, dass ein Alarm sie aufwecken könnte und Sams Stimme einen Eindringling im Sicherheitsbereich verkündete. Sie träumte von einem gesichtslosen Mörder, der sich wie ein Schatten durch die Gänge bewegte.
Da sie jedoch nicht wusste, was sie dagegen tun konnte, tat sie, was jeder Wissenschaftler an Bord auch tat: Sie stürzte sich auf die Sensordaten des Satelliten, starrte den Monolithen zwischen den Eisverwerfungen nahe der ehemaligen Taeja-Station an und versuchte, ihm mit purer Willenskraft seine Geheimnisse zu entlocken. Zwar fanden sie immer mehr über das fremdartige Objekt heraus, doch jede neue Erkenntnis warf nur noch mehr Fragen auf. Beispielsweise waren sie mittlerweile sicher, dass es sich um einen Sender handelte. Er hatte ein Signal zur Erde gesandt, und zwar im Mikrowellenbereich. Danach hatte er im gesamten elektromagnetischen Spektrum an sämtliche anderen Himmelskörper des Sonnensystems gesendet, die einen Durchmesser von mehr als exakt eintausend Kilometern besaßen.
Doch warum? Suchte es nach etwas? Wartete es auf eine Antwort? Was war es überhaupt? Steckte eine KI in dem fünf Meter hohen Turm vom Durchmesser eines Menschen? Die elektromagnetische Signatur des Gebildes legte zumindest nahe, dass sich eine Art Computersystem darin befinden musste. Aber wie hatte es sich selbst geschaffen? War das weiße Zeug, aus dem der Ring und die Adern bestanden, der Schlüssel? Handelte es sich tatsächlich um Naniten, wie Patrick vorgeschlagen hatte? Oder waren es Mikroorganismen, die einem bestimmten Bauplan nachgingen? Vielleicht lag die Antwort aber auch weit außerhalb ihres Erklärungshorizonts als Forscher, die lediglich in den Grenzen des Spektrums evidenzbasierter Informationen dachten.
Als noch zwanzig Tage bis zum Einschwenken in eine Umlaufbahn um Ganymed auf der Uhr standen, wurde Rachel nachts geweckt. Für einen Moment dachte sie, es handle sich um einen Alarm und riss erschrocken die Augen auf, doch sie sah nur Marias rundes Gesicht.
»Was ist los?«, stammelte sie und rieb sich gähnend den Schlaf aus den Augen.
»Wir haben was Neues«, flüsterte die Portugiesin und legte Rachel einen Finger auf den Mund, als sie antworten wollte.
»Pssst. Ich will Patrick nicht wecken, sonst setzt er sich wieder an die Kameras und dann macht er einen Fehler, weil der Kerl einfach nicht akzeptiert, dass sein Körper Schlaf braucht!«
»Okay«, versprach Rachel, als Maria ihren Finger wieder fortgenommen hatte und löste die Haltegurte, die sie bei einem plötzlichen Verlust der Zentripetalkraft in ihrer Koje festhalten sollten.
Gemeinsam mit ihrer Freundin lief sie schließlich durch die Korridore in Richtung Konferenzraum und fühlte sich an ihre gemeinsamen Studienjahre erinnert, wenn sie nachts heimlich durch das Wohnheim geschlichen waren. Sie kletterten hoch zur Zentralachse und wechselten in die zweite der drei Speichen des rotierenden Wohnmoduls. Dort ließen sie sich erst in der Beinahe-Schwerelosigkeit nach unten gleiten, bis die Zentripetalkraft immer stärker an ihnen zog und sie die Sprossen hinabklettern mussten.
Im Konferenzraum befanden sich Wayne Chai, Julie und natürlich Matthes, der immer und überall zugleich zu sein schien. Schlaf kannte er offenbar nicht.
»Ah, Rachel, schön, dass Sie da sind«, begrüßte sie der Kommandant und nickte auch Maria knapp zu.
»Was ist denn los?«
»Wir haben ein weiteres Signal entdeckt«, verkündete Julie, ohne aufzublicken. Die Kryptografin saß an einem Kopfende des schlichten Konferenztisches aus glänzendem Aluminium und starrte auf ein Datenpad.
»Wie schnell?«, fragte Rachel und setzte sich auf einen der freien Plätze, direkt neben Matthes.
»Dreimal zehn hoch acht Meter pro Sekunde.«
»Ich meinte nicht die Geschwindigkeit des Signals, sondern, wie schnell wir es entdeckt haben.«
»Ach so. Vor einer halben Stunde. Unser Satellit hat automatisch seine Position gewechselt, um einem Schauer von Mikrometeoriten auszuweichen. Dabei hat er ...«
»... ein Lasersignal entdeckt?«, fragte Rachel verwirrt.
»Laser?«, fragte Maria verwirrt.
»Dreimal zehn hoch acht Meter pro Sekunde, das ist die Geschwindigkeit von Licht im Vakuum«, erklärte sie ihrer Freundin.
»Und von Mikrowellen«, ergänzte Matthes und drückte ihr ein Datenpad in die Hand. Darauf war ein Punkt auf Ganymed markiert, der rot blinkte.
»Moment mal«, sagte sie abwesend und zoomte so weit heran, wie sie konnte. Es war kein Echtbild von den Teleskopen, sondern eine Aufnahme des Strahlungsdetektors, der eine elektromagnetische Strahlenquelle ausgemacht und für die Interpretation auf eine topografische Karte übertragen hatte. Trotzdem erkannte sie den Ort sofort.
»Das Signal stammt von der Rhein Ruhr Forschungsstation, meiner alten Forschungsstation«, hauchte sie, senkte das Datenpad und starrte Matthes an.
»Ja. Deswegen habe ich Maria gebeten, Sie dazuzuholen.« Matthes sah auf sein Handgelenkterminal. »In einer Stunde ist die Terminatorlinie weit genug heran, dass wir mit den Teleskopen etwas erkennen können. Die Signalquelle liegt in einer Vertiefung, in der es nicht genügend Restlicht gibt, um ein stimmiges Bild zu erkennen. Aktuell gehen wir davon aus, dass sich dort ähnliche Ringstrukturen gebildet haben könnten wie bei der Taeja.«
»Wohin war das Signal gerichtet?«, fragte sie.
»Hier.« Matthes drückte mit einem Finger ihr Datenpad wieder hoch, sodass sie es anschauen musste, und tippte mit einem Finger auf das Signal. Das Bild zoomte heran, bis eine Darstellung des Sonnensystems die Anzeige ausfüllte und eine gestrichelte Linie vom Jupiter an Saturn, Uranus und Neptun vorbei in den Kuipergürtel bis zum Transpluto verlief. Planet Neun.
»Das Signal ist auf dem Weg zu Planet Neun?« Rachel ließ das Pad sinken und sah Matthes entgeistert an.
»Ja«, gab er zurück und seine tiefen Krähenfüße an den Augen schienen noch tiefer geworden zu sein. »In etwas mehr als acht Stunden wird es dort eintreffen.«
»Aber dort ist nichts«, erwiderte sie irritiert und starrte erneut auf den Weg des Mikrowellensignals in die Tiefen des Sonnensystems. Als niemand etwas sagte, sah sie zuerst Matthes, dann Maria, Wayne und Julie an, die alle sie anschauten.
»Was?«
»Dort ist nichts laut den Aufzeichnungen, die im Schiffscomputer verzeichnet sind«, korrigierte Maria sie vielsagend und ihre Lippen wurden schmal.
Als Rachel dämmerte, worum es ging, sah sie zu Julie, die bereits wieder über ihrem eigenen Datenpad brütete.
»Julie ist nicht nur deshalb hier, weil sie das Signal entschlüsseln soll«, vermutete sie schließlich und Matthes nickte.
»Die Daten im Schiffscomputer sind unvollständig. Als wir das Signal aufgefangen haben, wussten wir, dass es an irgendetwas gerichtet sein muss. Wieso sollte ein Sender ein Signal an einen toten Felsen abschicken, wenn es dort keinen Empfänger gibt? Was auch immer dieses Zeug auf Ganymed ist oder kann, es ist weit jenseits jeder Technologie, die wir uns auf der Erde vorstellen können. Also habe ich Julie gebeten, den Datensatz über Planet Neun im Schiffscomputer zu überprüfen.«
»Er war nicht leicht zu finden, die haben auf der Erde wirklich gute Arbeit geleistet, aber nicht gut genug«, mischte sich Julie ein und sah zu ihnen auf. Ihre tiefen Augenringe sahen aus wie Hämatome.
»Der Datensatz ist modifiziert worden.« Matthes schüttelte den Kopf. »Was auch immer die Robotersonden noch dort draußen entdeckt haben, Hyun-Hakkamoto hält es offenbar für etwas, das selbst wir nicht wissen sollen.«
»Diese verfluchten Schweine schicken uns hier raus, ohne dass sie uns das gesamte Bild anvertrauen. Was sollen wir ihrer Meinung nach denn in diesem sündhaft teuren Ding machen, wenn man uns die Hände zusammenbindet?« Maria schnaubte wie ein Stier und ballte die Hände zu Fäusten, die vor dem kalten Grau des Aluminiumtisches knallrot wirkten.
»Was machen wir damit?«, fragte Rachel ruhig.
Ein Megakonzern ist ein Megakonzern und wird immer ein Megakonzern sein, rief sie sich in Erinnerung. Lug, Betrug und Täuschung sind ihr Motor. Du solltest nicht verwundert darüber sein, dass nichts von dem, was sie dir gesagt haben, der Wahrheit entsprechen muss. Schließlich haben sie dich gewaltsam aus einem bewaffneten Konvoi entführt, um dich hier hochzuschießen. Aber warum?
»Aktuell versucht Julie, das Signal zu entschlüsseln«, erklärte Matthes und unterdrückte ein Gähnen, was zur Folge hatte, dass sich seine Augen mit Tränenflüssigkeit füllten. »Entschuldigung.«
Rachel winkte ab und deutete auf ihr Datenpad. Sie holte die Darstellung Ganymeds und des Ursprungs der elektromagnetischen Strahlungsquelle zurück. »Wir haben zwei Lander, richtig?«
»Ja. Daran habe ich auch schon gedacht.« Der Amerikaner nickte. »Das würde allerdings vom Missionsprotokoll abweichen.«
Rachel hob eine Braue in seine Richtung. Sie konnte nicht glauben, dass er nach der Lüge ihres Konzerns noch an einem Missionsprotokoll festhalten wollte. Immerhin konnte sie hier draußen ohnehin niemand kontrollieren und da der direkte Kontakt mit dem Kontrollzentrum in Seoul gestört wurde, war es ohnehin unmöglich, sich abzustimmen.
»Okay, okay«, sagte Matthes und hob abwehrend seine wuchtigen Hände. »Ich habe Ihren Blick verstanden. Sie haben schon recht. Ich werde fürs Protokoll eine Anfrage für die Befehlserlaubnis abschicken und es dann so machen. Da wir ohnehin keine Antwort kriegen werden, dürfen wir sicher improvisieren.«
»Gut.«
»Das ist seltsam«, meldete sich plötzlich Julie zu Wort und nahm ihre Hände vom Pad.
»Was?«, fragten sie alle gleichzeitig.
»Die Verschlüsselung.« Julie blickte auf und runzelte die Stirn. »Sie ist gar keine Verschlüsselung. Ich dachte erst, dass es sich um projektive Geometrie als kryptografisches System handelt. Das war aber falsch. Ich glaube, dass die Übertragung gar nicht verschlüsselt ist.«
»Wie meinst du das? Nicht verschlüsselt?«, fragte Rachel überrascht.
»Genau so.« Julie stand auf, ging zu dem großen Fenster, durch das die winzigen Punkte ferner Sterne zu sehen waren. »Sam. Abdunkeln. Displayfunktion.«
Das Fenster verlor seine Transparenz und wurde schwarz, dann erwachte es als Display zum Leben und zeigte das weiße »HH« von Hyun-Hakkamoto auf einer roten Scheibe.
»Bildschirmkopie meines persönlichen Datenpads. Julie Tregét. Eins-Acht-Vier-Zwei.«
Auf dem Display erschien eine Reihe bunter Kugeln, die aus zigtausenden komplexer Fäden und Linien zu bestehen schien. Sie sahen aus wie chinesische Schriftzeichen, die zu Kugeln angeordnet waren, nur deutlich komplexer daherkamen. Die Kugeln rotierten in verschiedene Richtungen.
»In diesem Gebilde gibt es sich wiederholende Formen und Variationen«, erklärte Julie und einige Fragmente aus den Bildern wurden ausgeschnitten und als zweidimensionale Darstellung nach vorne geholt. »Diese vierzig Elemente konnten Sam und ich bereits als Wiederholungen identifizieren. Ähnliche haben wir auch in den Übertragungen gesehen, die der erste Sender bei der Taeja in Richtung Erde gesendet hat. Lediglich bei den Sendungen zu den anderen Himmelskörpern handelte es sich offenbar um Ping-Abfragen.«
»Und was macht dich so sicher, dass es sich nicht um eine Verschlüsselung handelt?«, fragte Rachel.
»Weil ich von zwei Formen bereits weiß, was sie bedeuten.«
»Nun haben Sie meine Aufmerksamkeit, Julie«, meinte Matthes und beugte sich ein wenig vor, bis er sich mit den Fäusten auf der Tischplatte abstützen konnte. Wie gebannt sah er auf das riesige Display.
»Diese beiden hier sind geometrische Darstellungen reeller Zahlen in einem eindeutigen Bezugssystem. Nehmen wir diese hier.« Julie machte eine Geste und eine der beiden Kugelformen erschien allein auf weißem Hintergrund, bevor sie sich zu einer zweidimensionalen Darstellung auffächerte. Bestimmte Bereiche blinkten auf, wurden ausgeschnitten und lösten sich dann in einfache Zahlen auf, die am unteren Displayrand erschienen.
»30,070«, las Rachel ab. »29,812 – 30,328. 0,00859. 1,769. 164,79. 367,49. 5,43. Okay, Julie, du hast mich offiziell verloren. Was sind das für Zahlen und was gibt es an ihnen zu verstehen?«
»Sam hat einen Datenbankabgleich gemacht.