Garmischer Mordstage - Roland Krause - E-Book

Garmischer Mordstage E-Book

Roland Krause

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Beschreibung

Schräge Charaktere und ein dunkles Geheimnis... vor atemberaubender Alpenkulisse. Nach 20 Jahren kehrt Journalist Ben Wiesegger in seinen Heimatort Garmisch zurück und hat sofort jede Menge Ärger am Hals. Ein Gast der elterlichen Pension liegt tot auf der Weide eines Biobauern – der Mörder soll der gutmütige Stier Attila gewesen sein. Doch nicht nur Tierärztin Laura Schmerlinger hegt ihre Zweifel daran. Als seine Schwester ins Visier der Ermittler gerät, setzt Wiesegger alles daran, den Fall aufzuklären. Schon bald stellt sich heraus, dass der Tote alles andere als ein harmloser Wanderer war. Und dann ist da noch diese alte Schuld, die Wiesegger nun begleichen soll...

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Geboren und aufgewachsen ist Roland Krause in Lindau am Bodensee. Nach einigen Jahren in Nürnberg lebt und arbeitet er heute in München. Die düsteren Winkel der Großstadt bilden auch den Hintergrund seiner Krimis. Roland Krauses Romane und Erzählungen sind atmosphärisch dichte Milieustudien, in denen er das Dasein von Außenseitern und schrägen Charakteren beleuchtet.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Marek Kijevsky/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-924-2

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Medienagentur Gerald Drews, Augsburg.

So ordne für immer dein StrebenUnd du führst ein glückliches Leben

Auf einer Garmischer Häuserwand

1

Der Mann lag ausgestreckt auf dem Rücken, die Beine zum leichten V gespreizt, die Lider geschlossen. Laura ließ die morgenmüden Augen über die Gestalt neben ihr gleiten. Sehniger, braun gebrannter Leib, kein Härchen zu viel, keines zu wenig. An seiner Brust zeichneten sich, rund um den Christophorus-Anhänger, der an einer Silberkette hing, die geröteten Male ihrer Fingernägel ab. Selbst im Schlaf verkörperte er die Unbekümmertheit eines jungen Burschen, ohne die Verkrampfung und aufgeplusterte Selbstdarstellung, die manchen Mannsbildern das fortgeschrittene Alter aufzwingt. Wie Gott ihn geschaffen hatte, und es ward eins a, stellte Laura fest. Sie ertastete das Smartphone und seufzte auf. Fünf Uhr dreißig. Die Zeit hatte nie Erbarmen mit den Unvernünftigen.

Als sie sich am Bettrand aufsetzte, knurrte der Bursche neben ihr wie eine Raubkatze. Ja, die Nacht über waren sie beide durch den Dschungel getobt und bis zur Erschöpfung übereinander hergefallen. Seine Gesellschaft war befeuernd gewesen, Laura hatte sich, gegen ihre Gewohnheit, nicht dagegen gesträubt, als er bis zum Morgen bleiben wollte.

Er war mit dem Betonsockel ihres maroden Gartentürchens längst nicht fertig geworden. Seine Firma war in Murnau angesiedelt, und er hatte am Freitag den Auftrag mit »Inaugenscheinnahme« gestartet. Langatmig hatte er ihr auseinandergesetzt, dass »gescheite« Arbeit nicht hopplahopp vonstattenging. Eine Gartentür für die Ewigkeit. Von ihr aus musste sie keinen Atomkrieg überstehen, aber das schätzte sie an den Betrieben der Umgegend – die schluderten nicht, alles hatte Hand und Fuß. Bis dato hatte der Murnauer Bursch zu ihrer äußersten Zufriedenheit gehandwerkt.

Als sich dessen flinke Finger an ihren schmalen Schultern ans Werk machten, stand sie abrupt auf. Den Moment am Morgen beabsichtigte sie mit niemandem zu teilen. Es gehörte zu ihren Ritualen, mit einem Espresso den anstehenden Berg an Aufgaben zu durchdenken, um ihn erkraxeln zu können. Als Tierärztin für Nutztiere hatte ein Arbeitstag kaum Entspannungsmomente im Gepäck. Viecher erkundigten sich weder, wie die Nacht gewesen, noch, ob sie ausgeglichen und erfüllt war. Sie witterten es.

»Der Drachen ist erwacht«, brummte der Bursche in Anspielung auf den farbenfrohen chinesischen Drachen, der ihr linkes Schulterblatt zierte. Die Nacht über hatte er sich den Tribals, verschlungenen Mustern und Fantasyfragmenten, die ihre Haut bebilderten, ausführlich gewidmet. Jedes Tattoo war für sie bedeutungsschwer, sie standen für Ereignisse und Träume – die Laura für sich behielt. Sie betrachtete sie, wie das Muttermal über ihrem Schlüsselbein, den braunen Fleck in ihrer blauen Iris oder die gezackte Narbe auf dem Handrücken, als zu ihrem Körper gehörend. Ebenso den breiten Nasenrücken, für den der harte Schädel eines Ziegenbocks verantwortlich zeichnete, sowie die wuschelige blonde Mähne, durch die Laura gerade ihre Finger gleiten ließ.

Sie wandte dem Mannsbild den Kopf zu. »Ich muss gleich einige Bullen kastrieren.«

Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als hätte eine Zahnwurzel aufgemuckt. Zeichen männlicher Solidarität oder freudsche Kastrationsangst?

Laura schlappte in die Küche, um Espresso aufzusetzen. Er tigerte ihr schweigend hinterher. An den Türrahmen gelehnt, beobachtete er sie. Von ihm abgewandt, holte sie zwei Tassen aus dem Schränkchen und bückte sich nach der Milch aus dem Kühlschrank. Dass sie nichts als blanke Haut trug, war ihr gleich, er durfte seinen hungrigen Blick gerne an ihrem Leib brotzeiten lassen. Sie gönnte ihm jeden Anblick – letztlich hatte sie sich ihn auch gegönnt. Diese Formulierung war ihr am allerliebsten. Sie hatte sich ihn gegönnt, ohne Wenn und Aber, kein Zaudern, kein Gedanke an ein »Danach«.

Immerhin gab es »den üblichen Verdächtigen« aus der Gemeinde Futter für Tratsch, wenn morgens ein knuspriger Bursch aus ihrem Haus trat. Nicht zum ersten und hoffentlich nicht zum letzten Mal. Satt und zufrieden erlebst du Schwätzer eh nie. Falls der Tisch nicht gedeckt war, zerrissen sie sich das Maul und konnten sich etwas vorstellen, ausmalen oder vogelwild herumphantasieren. Wenn sich eine Frau um die vierzig mit jüngeren Kerlen vergnügte, waren schräge Blicke eh inkludiert wie die Hostie bei der Sonntagsmesse. Da sie sich für ihre Kundschaft in ihrem Job als gründlich und fähig erwiesen hatte, wurde aber jedwedes Getuschel von der Anerkennung übertönt.

»Macht dir das Freud?«, riss sie die Bassstimme des Burschen aus der Morgentrance.

»Kastrieren?«, fragte sie, indem sie das Wort dehnte und hart von der Zunge fallen ließ. Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich zu ihm. »Gehört dazu, nix Besonderes. Ich kann dabei über meinen Ex-Mann philosophieren.«

Sie reichte ihrem stirnrunzelnden Nachtabenteuer eine dampfende Kaffeetasse in Leopardendesign. Ihr abwesender Blick an ihm vorbei beantwortete jede seiner Fragen. Es hat Vergnügen bereitet, trink deinen Espresso und tummel dich mit meinem Gartenzaun, konnte der Bursche darin lesen. Missverständnisse und Erwartungen wurden abrasiert, ehe sie ihre zarten Köpfchen in die Höhe recken konnten. Nie mehr würde sie das willige Mäuschen spielen, nie mehr würde sie sich von anderen abhängig machen, dafür hatte sie in der Vergangenheit einen zu hohen Preis bezahlt. Einer Vergangenheit, von der sie hoffte und betete, dass diese sie nie mehr einholen würde.

Der bejahrte Allrad-Subaru parkte vor dem Haus auf der Straße; Laura machte sich so gut wie nie die Mühe, ihn in den Carport zu fahren. Kurz nachdem ihr Gspusi das Nest verlassen hatte, brach sie auf. Außer um zu duschen, hatte sie wenig Zeit aufgewandt, sich mit Äußerlichkeiten zu beschäftigen. Bei ihrer Tätigkeit standen die Tiere im Vordergrund. Attraktivität maß sich an glänzendem Fell plus klaren Augen. Keine Schminke, kein Schmuck.

Laura liebte den frühen Morgen im Werdenfelser Land. Wenn Garmisch-Partenkirchen allmählich aus dem Schlaf fand, die Straßen annähernd leer, die Luft klar und kühl. Sie fuhr an den eng stehenden Häusern vorbei, solide gebaut und gezimmert, mit eichenbeplankten Balkonen, die danach strebten, so lange zu bestehen wie die sie umringende Felslandschaft. Heraus aus dem Ort in Richtung Grainau kam ihr nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass sie noch nirgendwo so eine lebendige, die Sinne anregende Landschaft gefunden hatte wie hier. Ringsherum die Bergmassive, als beschützten sie gleich gewaltigen Trutzburgen das Land. Den Inuit wurde nachgesagt, unzählige Wörter für Schnee zu benutzen. Im Werdenfelser Land sollte es dieselbe Anzahl Wörter fürs Grün geben. Es zeigte sich in so vielen Facetten der Natur, dass es unbefriedigend schien, es nur mit »Moos«, »lind«, »dunkel« oder »hell« benennen zu können.

Der schmale, rumpelige Verkehrsweg, dem sie folgte, teilte die fetten Wiesen und Äcker, die gespickt waren mit Holzschobern und Bretterverschlägen, bis sie die ersten Kuhweiden erreichte.

Ihr war klar, dass diese Idylle eine Seite der Medaille war. Die Höfe waren nicht mehr so zahlreich wie früher. Viele Bauersleute betrieben die Viecherei im Nebenerwerb. Die Jungen verließen den Ort, um lukrativerer Arbeit nachzugehen. Manche zogen ab in die Großstädte, zum Studieren oder wie der Hans aus dem Märchen auf der Suche nach dem Glück.

Besänftigt durch die sonnenbeschienene Morgenstunde, ließ sie ein verklärtes Trugbild bäuerlicher Überlieferung ihr Hirn fluten, genoss den idyllischen Moment und …

Abrupt trat sie auf die Bremse. Hoffentlich war das, was sie aus den Augenwinkeln auf der Weide des Ökobauern Ferstl gesehen hatte, eine Illusion. Wenn, dann war es keine erbauliche.

Laura stieg stirnrunzelnd aus dem Wagen, umrundete die Motorhaube und stapfte auf die eingezäunte Wiese zu.

Die Werdenfelser Rinder rupften an Halmen oder lagen träge im Gras, Viehbusiness as usual – wenn da nicht jemand das lauschige Plätzchen mit ihnen teilen würde, der da nicht hingehörte.

Der Mann lag ausgestreckt auf dem Rücken, die Beine zum leichten V gespreizt. Laura verharrte und linste zu ihm hinüber. Außer der unverkrampften Haltung, die die Gestalt eingenommen hatte, besaß sie keinerlei Gemeinsamkeit mit ihrem Handwerksburschen. Sie trug einen schwarzen Anzug, der vor Dreck starrte, fesche Ledertreter und hatte höchstwahrscheinlich das Zeitliche gesegnet. Zumindest deuteten diverse Anzeichen darauf hin, dass die Gestalt nicht nur ein Nickerchen inmitten der Kuhherde hielt.

Laura wollte es nicht in den Kopf, dass sie hier zwischen den üppig begrünten Weiden und friedlich grasenden Tieren auf einen Toten gestoßen sein könnte. In ihr keimte Hoffnung, dass es sich um das esoterische Ritual eines exzentrischen Touristen handelte, um »eins mit der Natur zu werden«. An rituellem und spirituellem Firlefanz herrschte kein Mangel in der Region. Hexen, Schamanen und Heiler standen hab acht, um die Urlauber zu entertainen, zurück zu sich zu führen und seelische Schlaglöcher aufzufüllen. War der Kerl bekifft oder besoffen? Jedenfalls hatte sich sein Bewusstsein verabschiedet. Ein Heer munterer Fliegen umschwärmte ihn.

»Hallo«, rief sie. »Hey, Sie da!«

Es rührte sich nichts, bis auf ein paar neugierige Rindviecher, die ihre gehörnten Schädel in ihre Richtung drehten. Laura löste sich aus ihrer Erstarrung und schlängelte sich durch den zweireihigen Elektrozaun. Beim Näherkommen bemerkte sie die klaffende Wunde auf der Stirn des Liegenden. Er war von Kopf bis Fuß mit Dreck und dem Kot von Rindern bedeckt. Seine Augen starrten in den wolkenlosen Himmel, als wollte er ein letztes Geheimnis lösen, das dort zu finden wäre.

Großer Gott, sie stand vor einer Leiche! Nicht ihre erste, aber diese hier war weder aufgebrezelt noch aufgebahrt. Warum nicht ins Auto steigen und verschwinden? Sie biss sich auf die Lippen. Nein, das würde sie nicht. Es war zu spät. Durchschnaufen half. Wegschauen weniger.

Als sie sich bückte, stapfte Ferstls Stier Attila mit gesenktem Kopf heran. Er starrte sie an. Ihre Köpfe waren auf gleicher Höhe. Schnaubend streckte er ihr die feuchte Nase entgegen. Sabber mich nicht voll! Leiche und Stier hautnah waren einer zu viel. Bomm-bomm! Jemand schlug mit dem Hammer gegen eine Wand, es war ihr klopfendes Herz. Beruhig dich, Laura, als Nervenbündel bist du nicht zu gebrauchen. Sie wandte sich Attila zu.

»Schon gut, Alter«, murmelte sie. »Wir wollen beide keinen Stress, oder?«

Dass Bauer Ferstl den massigen Stier bei den Kühen weiden ließ, entsprach seiner ökologischen Philosophie. An sich war Attila ein bedächtiger Zeitgenosse. »An sich« war aber nicht das, was auf Laura jetzt beruhigend wirkte.

Die meisten Bullenzüchter konnten von einem friedvollen Tier berichten, das urplötzlich zum Berserker geworden war. Testosteron war in der Lage, männliche Wesen in unberechenbare Narren zu verwandeln. Bullen waren da keine Ausnahme.

Laura betrachtete die leblose Gestalt zu ihren Füßen. Die Fingernägel erschienen ihr manikürt, die Haut war gebräunt. Ein gepflegter Mittvierziger, trotz des Zustandes seines Anzugs.

»Gewesen«, definitiv tot, obendrein sah es nicht nach friedlichem Abschied von dieser Welt aus. Ein Fall für die Polizei. Sie überwand sich, griff hinunter zur rechten Hand der Leiche und versuchte die Finger zu bewegen. Wenn sie ihr anatomisches Wissen, bezogen auf die Tierwelt, nicht trog, war dieses Exemplar der Gattung Homo sapiens in der Nacht verblichen. Sie musste sich also nicht mit dem Gedanken herumschlagen, was gewesen wäre, falls sie den Kerl fünf Minuten früher entdeckt hätte. Auf weitere Erkenntnisse war sie nicht erpicht, dafür gab es Fachleute. An menschlichen Leichen herumzuschnippeln, bereitete nur einer Minderheit Vergnügen.

Sie richtete sich auf und fixierte Attila. Sollte der den Mann angegriffen haben? Er wäre in der Lage, einen Menschen zackig ins Jenseits zu befördern. Gegen eine Tonne rasenden Muskelfleisches bist du ein Blatt im Wind.

Das Tier schüttelte den Quadratschädel.

Langsam bewegte sich Laura rückwärts, Schritt für Schritt, ohne es aus den Augen zu lassen. Ihre Sneaker sanken in den matschigen Untergrund. Ihre Gummistiefel lagen im Kofferraum, tolle Aktion! Sie spürte Schweißtropfen ihre Schläfen hinunterrinnen. Nicht ausrutschen!

Mach dir nicht ins Hemd, dachte sie, hundertmal hast du einem Stier gegenübergestanden – immer war das Risiko kalkuliert. Doch diese Weide war sein Spielfeld, er bestimmte die Regeln.

»Tüchtiger Junge«, sagte sie, »bewachst sie gut, deine Madln.«

Er stand so dicht vor ihr, dass sie seine strengen Ausdünstungen wittern konnte. Der Elektrodraht war hinter ihrem Rücken. Sie war genötigt, sich umzudrehen. Wie würde Attila reagieren? In Zeitlupe bückte sie sich. Der Stier legte den Kopf schief. Zwei Schritte, dann hätte sie es geschafft.

»Was ist hier los?«, hörte sie eine Stimme. »Frau Schmerlinger? Was treiben Sie da?«

Das Geschrei ließ sie zusammenfahren. Sie drehte sich um, ein Schlag fuhr ihr in die Schulter. Scheißdreck! Der Zaun hatte ordentlich ausgeteilt. Jetzt war sie richtig wach und in Fahrt.

»Herrgott, Ferstl! Keine Augen im Kopf? Da liegt ein Toter auf Ihrem Weidegrund«, schnauzte sie den Mann an. »Verdammt noch mal!«

»Was hat der da zu suchen?«, stammelte der Bauer.

2

»Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.«

Die Lippen der alten Frau bewegten sich tonlos, doch Ben Wiesegger las von ihnen mühelos den Rosenkranztext ab. Gelernt war gelernt. Er stand vor dem Garmischer Bahnhofsgebäude, hatte den Rollkoffer abgestellt, die Basecap abgenommen und strich sich über den schütteren blonden Schopf. In Texas waren ihm Klapperschlangen mit glatterer Haut über den Weg gekrochen, dachte er beim Blick ins verknitterte Antlitz der Greisin. Die verharrte, keine zehn Meter von ihm entfernt, auf einen Knotenstock gestützt, vor dem plätschernden Brunnen. Ihre Augen sandten Blitze, dreimal bekreuzigte sie sich.

Ihn beschlich das Gefühl, die Alte wäre mit diesem Fleck verwurzelt. Vielleicht hatte sie vor zwanzig Jahren dort gestanden, als er mit dem Zug aus Garmisch entschwunden war. Jetzt war er zurückgekehrt und wurde offenbar für den Antichrist gehalten? Ging es nicht eine Nummer kleiner? Ben wandte den Kopf. Da stand niemand sonst, auf den die Alte es abgesehen haben könnte. Weder Pferdefuß noch Hörner, kein apokalyptischer Reiter, nur er, ein unscheinbarer, mittelgroßer Kerl um die vierzig, weich an den Rändern, in Jeans und einem verblichenen T-Shirt vom letzten Motörhead-Konzert. Kein Grund für Exorzismus oder die Anrufung der Heiligen Jungfrau.

Er beschloss, der gottesfürchtigen Fuchtl keine Beachtung mehr zu schenken, und schlenderte auf eins der wartenden Taxis zu. Es war nicht seine Erwartung, dass jemand aus der Familie ihn am Bahnhof empfangen würde. Der verlorene Sohn, dessen Ankunft herbeigesehnt wurde, war er nicht. Ja, was war er sonst? Von den Toten auferstanden, grob betrachtet. Zwanzig Jahre Abwesenheit müssten genügen, um die Erinnerung der Leute verblassen zu lassen, obgleich Ben ahnte, dass sein Auftauchen im Ort für böses Blut sorgen könnte. Es war kein Reboot, keine zweite Chance auf ein neues Leben. Er war der gleiche dickschädelige Kerl geblieben, der er vor seiner Odyssee gewesen war, ausgewandert nach Amerika wie einst die verzweifelten Habenichtse, in der Hoffnung auf ein zufriedeneres Dasein. Nur vor dir selbst kannst du nie davonrennen, dachte er, dich triffst du im letzten Loch, auch wenn’s keine freudige Begegnung ist. Trotzig begann er die Melodie von »My Way« zu summen.

Neben dem Taxi blieb er stehen und machte sich durch Winken bemerkbar.

Ein Rauschebart mit Nickelbrille, die auf einem gewaltigen Zinken thronte, schaute zu ihm auf. Er legte die angebissene Leberkässemmel auf die Ablage. Die Seitenscheibe glitt nach unten. »Grüß Gott, wohin soll’s denn gehen?«

Ben öffnete die Beifahrertür und ließ sich in den Sitz fallen. Er schob düstere Gedanken in eine entlegene Hirnkammer und beschrieb dem Taxler den Weg zum elterlichen Anwesen.

»Ah, zu den Wieseggers. Machen Sie Urlaub?«

»Schauen wir, wie es sich anfühlt.«

Im hybriden Toyota sog er die Düfte in die Nase. An seinen letzten Leberkäs hatte er keine Erinnerung mehr. Was für eine Verlockung! Von wegen Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Einen vernünftigen krustigen Schweinsbraten oder Leberkäs hatte er in den Staaten zwanzig Jahre lang nicht gesehen, geschweige denn zwischen den Lefzen gehabt. Dabei gab es da in jedem Winkel ein schenkelklatschendes »Bavarian Oktoberfest«. Beinahe hätte er zugeschnappt.

Der Bärtige schien seine Gier zu erspüren und kam ihm mit geschwindem Griff zuvor. Die Zähne rissen einen gewaltigen Brocken aus der Semmel und mahlten ihn genüsslich zu Brei.

»Waren Sie schon einmal in Garmisch-Partenkirchen?«, wollte er, mit vollen Backen kauend, wissen. Standardfrage Nummer eins bei der amtlichen Touristenkonversation.

Ben schüttelte den Kopf, überlegte es sich dann anders. »In einem früheren Leben«, meinte er, die vorbeistreichenden Fußgänger betrachtend.

»Die Berge lassen einen nie los, hm? Das hat was Gewaltiges.«

Ben blieb der Seitenblick auf sein Bäuchlein nicht verborgen. Er sah erbarmungswürdig nach Seilbahn aus.

»Je höher, je besser«, knurrte er.

»Einer meiner Vorfahren war ja gut mit dem Johann Tauschl bekannt.«

»Da schau her.«

»Der war bei der Erstbesteigung der Zugspitze dabei. Bergführer – die vergisst man gern, wie den Sherpa vom Everest.«

Ben war sich sicher, dass sein Fahrer diese Geschichte nicht zum ersten Mal wiederkäute.

»Heutzutage zockelst du mit der Bahn ruckizucki zum Gipfel, aber damals war es eine haarige Sache.«

»Ja, früher war überhaupt mehr Haar.«

Der Taxler runzelte die Stirn. Sein Schädel ruckte zustimmend, und er gönnte sich den nächsten Bissen. Ungerührt kauend, plauderte er weiter.

»Wenn Sie schnuppern wollen an der Garmischer Geschichte, das Werdenfelser Museum ist sehenswert.«

Ben nickte ergeben. »Bestimmt interessant«, sagte er artig.

»Ich hab einmal den Österreicher gefahren, den mit dem Bart.«

»Für Adolf sind Sie aber zu jung.«

»Geh Schmarrn – den berühmten Bergsteiger.«

»Was wollt der hier? War noch eine Erstbesteigung zu ergattern?«

»Das war eine Tagung – es ging um die Verschandlung der Werdenfelser Natur.«

»Und wie ist es ausgegangen?«

»Unentschieden.«

»Na ja, wenn Geld mitspielt …«

»Sie sagen es. Den Profit sacken am Ende immer die Gleichen ein. Geld legt sich am liebsten zu noch mehr Geld. Hast du nix, wird’s nix.«

Was willst du da draufsetzen? Ben schwieg. Vom Nixhaben könnte er ein Gstanzl singen. Aber das war niemandem zuzumuten.

»Wissen Sie, wann ich zum letzten Mal einen Alpenbock gesehen hab?«, erkundigte sich der Fahrer.

»Sie reden vom Steinbock?«

»Na, den Käfer. Vor sieben Jahren! Wir pfuschen bloß rum in der Natur. Das wird kein gutes Ende nehmen.«

»Apropos Ende – da vorn links steig ich aus.«

Ben ließ sich nicht lumpen und drückte dem Taxler ein großzügiges Trinkgeld in die Pfote. Er fühlte, wie diese banale Unterhaltung mit dem Bärtigen die schwarze Wolke aus Vorahnungen auseinandergeblasen hatte.

»Eine schöne Zeit in Garmisch« wurde ihm gewünscht.

Kein Unheil war über ihn hereingebrochen, als er Garmischen Boden betreten hatte, niemand hatte mit dem Finger auf ihn gezeigt, abgesehen von der bibeltreuen Alten. Der Alpenbock war in misslicherer Lage.

Vielleicht nahm er sich und seine Befindlichkeiten zu wichtig. Garmisch hatte nicht den Atem angehalten bei seiner Rückkehr, er war ein Staubkorn, ein Niemand, zu unbedeutend, um bemerkt zu werden. Ben fühlte sich bereit, sich auf das Kommende einzulassen. Er sah dem Taxi nach, das langsam vom Hof rollte, und schnaufte tief durch. Showtime.

Die Morgensonne tauchte sein Geburtshaus in ein mildes, warmes Licht. Es war eines dieser typischen zweigeschossigen Bauernhäuser mit Schrägdach und lang gezogenem hölzernem Balkon, dessen gedrechseltes Geländer vom Urgroßvater stammte. Die Wände glänzten in frischem Weiß, als ob das Gebäude vor kurzer Zeit einen neuen Anstrich erfahren hätte. Linker Hand befand sich ein ausladender Anbau, an den Ben keine Erinnerung hatte. Zwei schwarzfleckige Katzen balgten sich auf der eichenen Bank neben der Eingangstür und stoben, als er näher kam, davon. Alles war ruhig, keine Menschenseele zu sehen.

Ben verspürte das Bedürfnis, sich geradewegs auf die Bank zu fläzen und abzuwarten. Friedlich schien es hier, so friedlich wie in seinen Kindertagen. Das Wort »Zuhause« tauchte in seinem Schädel auf. Es erschien ihm zu sperrig, stieß überall an und passte nirgendwohin. Er sortierte es in ein verstaubtes Regal, gleich neben »Heimat«.

Der »Einwanderer« musste sich zwingen, den grob gekiesten Weg bis zur massiven Eingangstür weiterzugehen. »Pension Wiesegger« stand auf dem blau emaillierten Klingelschild, »Willkommen« verhieß ein weiteres. Er läutete und räusperte sich zweimal. Das war kein Frosch im Hals, sondern eine rausgefressene Kröte.

Ben wusste nicht, was er erwartet hatte, vielleicht etwas mehr als dieses »Da bist du also«, das seine Schwester ihm hinwarf wie einen Brocken hartes Brot für den abgehalfterten Esel. Mehr als vier Worte hatte er sich wahrscheinlich nicht verdient.

Sie machte den Eingang frei und war wieder im Inneren verschwunden, als er eintrat.

»Ja, da bin ich«, bestätigte er und versuchte das Gefühl abzustreifen, ins Kindesalter einzutauchen.

Seine Schwester Lissy war drei Jahre älter als er. Als Kind hatte er die Empfindung gehabt, es wären dreißig. Während ihre Eltern den Spagat zwischen Bauernhof und Fremdenzimmer bewältigten, war es an Lissy gewesen, sich um ihren Bruder zu kümmern. Jede Super Nanny hätte sich eine Scheibe von ihren rigiden Erziehungsmethoden abschneiden können. Erst in der Pubertät hatte er sich gewehrt.

Lissys Statur hatte sich – im Gegensatz zu seiner – kaum verändert. Ihr dunkelblondes Haar, das sie früher lang getragen hatte, wies keine grauen Strähnen auf. Er schämte sich dafür, sich ausgemalt zu haben, wie ausgemergelt sie inzwischen aussähe. Überheblichkeit des »weit gereisten Journalisten«. Warum sollte man an diesem wunderschönen Flecken Erde nicht entspannt und kommod leben können? Was wusste er schon? Welchen Anteil an ihrem Leben hatte er nehmen wollen, die letzten zwanzig Jahre? Alles, was er wusste, war, dass er Verantwortung dafür trug, wenn das Schicksal nicht zimperlich mit den Wieseggers in Garmisch umgegangen war. Nein, nicht nur Verantwortung, mehr noch, es war Schuld. Er war bereit, sich dieser Schuld zu stellen.

»Hallo?«, wollte er rufen, es entfuhr ihm ein Krächzen. Wieder räusperte er sich. Er wollte nicht durch die Räume schleichen, gleich einem Gespenst.

»Seids da?«

Er machte sich auf den Weg zur »guten Stube« und fand dort seine Mutter auf der Eckbank sitzend.

Sie war damit beschäftigt, ein Kissen zu stopfen, und sah auf. Er sog den vertrauten Geruch nach getrockneten Wiesenkräutern und gestärkter Wäsche auf und seufzte.

Die Mutter sagte nichts, ihre Augen waren feucht. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. Plump kam er sich vor. Wie wäre es mit einer Umarmung? Würde sie es zulassen? Er suchte nach Übereinstimmung mit der Erinnerung, die er sich bewahrt hatte. Weich und ausladend wirkte ihr Körper, aus den vormals brünetten, langen Haaren war ein grauer Kurzhaarschnitt geworden. Eine rot geränderte Brille veränderte ihren Gesichtsausdruck, sodass er auf Ben fremdartig wirkte.

»Hast du eine gute Reise gehabt?«, fragte sie. Es war ihre vertraute Stimme, die ihn anrührte.

Er schluckte und nickte schweigend.

»Ich …«, setzte er an.

Seine Mutter legte das Nähzeug zur Seite und erhob sich. Ihre Bewegungen wirkten bedachtsam. Das Knochengerüst schien nicht recht mitzuspielen.

Der schmerzliche Ausdruck ihres Gesichts war Beweis genug.

»Du wirst Hunger haben«, sagte sie, als sie stand.

So, als wär er erst heut Morgen aufgebrochen und just von einer Wanderung auf die Alpspitz zurückgekommen.

»Passt schon, setz dich nur hin«, murmelte er. »Habt ihr viele Gäste zurzeit?«

»Ach, weißt du, es geht wieder.« Die Mutter blieb neben ihm stehen und stützte sich an der Tischplatte ab. »Als wegen des depperten Coronavirus alles verboten war, da haben wir geschluckt. Bleibt ja nix übrig, und überleben musst du ja.«

»Viecher habt ihr keine mehr, oder?«

»Hennen und Gänse, zwecks der Eier. Unsere Gäste mögen es, wenn der Gockel plärrt. Den Gruber Hannes, den kennst du ja, der wurde von Zugezogenen verklagt, wegen des Geschreis. Den hat’s arg gewurmt, dass er, anstatt der Neubürger, seinen Hahn krageln musste.«

Seine Mutter faltete die Hände, als würde sie beten wollen, dann brach es aus ihr heraus. »Ich hab nie verstanden, warum du einfach weg bist. Du hast ja nix Böses getan, auch wenn manche das behaupten.«

»Nein, ich hab nix Böses getan. Und jetzt bin ich da.« Und ich bleib da, wollte er anfügen, die Worte blieben ihm im Schlund stecken. Konnte er sich sicher sein?

»Ich zeig dir, wo du deinen Koffer hinbringen kannst. Deine alten Sachen haben wir im Stadel, falls du was brauchst. Du kriegst ein Gästezimmer«, sagte seine Mutter.

»Und der Vater?«

»Kannst nachher zu ihm schauen.«

»Wie geht’s ihm?«

»Mei, er hat abgebaut, nach seinem Schlag. Mit dem Laufen ist es ungut. Wir haben ihm ein Zimmer im Dachgeschoss eingerichtet. Den Himmel hat er ja immer gern angeschaut, das macht ihm Freud.«

»Wo ist denn Lissy hin?«

»Lass ihr Zeit. Im Grunde genommen freut sie sich, dass du wieder da bist.«

Davon hat sie selbst keinen Schimmer, dachte Ben. Zeit hatte er mehr als genug mitgebracht. Was mit ihr anzufangen wäre, müsste er herausfinden.

Schweigend nickte er und griff nach seinem Rollkoffer. Ein Gästezimmer. Auf was hätte er sonst Anspruch?

Die Kammer war schlicht und heimelig. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle. Es roch nach Fichtenholz und dem Veilchenaroma der weich gespülten Bettwäsche. Das Fenster, das beidseitig von rot-weiß karierten Vorhängen gerahmt wurde, ließ den Blick frei auf den altersschwachen Stadel, der einst den beiden Fendt-Traktoren und diversen Gerätschaften Platz geboten hatte. Ein Pflug stand davor, um den gefleckte Sperberhühner staksten, die nach Würmern pickten. Ein rostiges Relikt aus verstrichenen Zeiten, Reminiszenz an den Wunsch der Pensionsgäste, bäuerliches Ambiente zu inhalieren.

Ben ließ sich probehalber aufs Bett plumpsen und war zufrieden. Nachdem er seinen Rollkoffer in einem Winkel verstaut hatte, machte er sich auf den Weg zum Vater. Die Stiege zum Dachgeschoss knarzte wie eh und je. Als Kinder waren sie an den Wochenenden nachts nach oben gestiegen, um mit dem alten Fünfziger-Jahre-Teleskop die Sternbilder zu betrachten.

Ben klopfte an die Kammertür. Als keine Reaktion erfolgte, trat er ein.

Sein Vater saß in einem Lehnstuhl, eingehüllt in eine Decke, und ließ sich von Bayern 1 beschallen. In seiner Erinnerung war er ein stattlicher Kerl mit vollem dunkelblondem Schopf und Muskeln, die es gewohnt waren, anzupacken. Davon schien nichts mehr übrig zu sein. Er kannte die Diagnosen nicht, vor ihm saß ein hohlwangiger Greis mit Bartstoppeln, rissigen Mundwinkeln und pergamentener Haut. Er trug eine Lesebrille und hielt in der linken Hand einen Kugelschreiber. Die Finger zitterten leicht.

»Grüß dich, Vater«, sagte er.

Der Kopf des Angesprochenen bewegte sich langsam in seine Richtung. Wässrig blaue Augen wurden auf ihn gerichtet.

»Das ist zu früh dran«, knurrte der Mann. »Kommst später wieder, da kannst du den Ochsentreiber sehen, der ist im Frühlingssternbild.«

»Brauchst du was? Papier für einen Brief?«

»Ich brauch nix. Hab’s dir gesagt, wenn’s dunkel ist, kommst du wieder hoch, und dann schauen wir zwei.«

»Ist recht.« Ben schloss von außen die Tür hinter sich.

»Jetzt hast du ihn gesehen«, hörte er eine Stimme und wandte sich um. Lissy sah ihm direkt in die Augen.

»Was hat er genau?«

»Er baut halt ab, nach seinem Schlag. Ich glaub, das Schlimmste ist, er fühlt sich nutzlos, das grämt ihn arg. Aber er hat auch gute Tage.«

»Nimmt er Medikamente, da kann man doch …«

Lissy unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Du kommst nach zwanzig Jahren daher und erzählst uns, was für den Vater gut ist? Ja genau – darauf haben wir gewartet.«

Ben setzte an zu sprechen, schwieg dann lieber. Was hatte er für ein Recht, überhaupt etwas in Frage zu stellen?

»Du kannst dich nützlich machen«, sagte Lissy.

»Wieso?«

»Die Mutter muss morgen in die Klinik. Hüft-OP. Da kannst du mit anpacken. Wenn du hierbleiben willst, hilfst du mit, sonst kannst du dich wieder zupfen.«

»Lissy, ich … tut mir leid.«

»Nein, mir tut’s leid. Weißt du, wie das war hier? Als du abgehauen bist? Wie die Leut mit den Fingern auf uns gezeigt haben? Am Anfang, ja, da haben wir uns zerrissen für dich und jedem die Meinung gesagt, der dich verurteilt hat. Irgendwann wird dir das gleichgültig. Du hast dich verzupft, und ich musst hier leben, mit den Leuten. Mit dem Vater, den nix mehr interessiert hat außer dem Sternenhimmel, und der schwermütigen Mutter. Verstehst du, so schaut mein Leben aus! Nein, das begreifst du nicht.«

»Warum bist du nicht …«

»Weg? Und ich lass die beiden im Stich, wie du?«

»Du hast ein Recht darauf, ein eigenes Leben zu führen.«

»Hab ich das? Hörst du dir selbst eigentlich zu? Zeig du erst einmal, dass du was anderes kannst als Schmarrn verzapfen, Herr Journalist.«

Ben seufzte und schüttelte den Kopf.

»Und weißt du, was das Krasseste ist?«, setzte seine Schwester fort. »Du rackerst dich ab, und deine Eltern entschuldigen den grandiosen Sohn auch noch. Der wär ein gefeierter Journalist in Amerika und hat viel Arbeit und trallala – und deshalb keine Zeit, sich zu melden, außer mit der beschissenen Weihnachtskarte, die immer erst im Januar kommt. Und immer der gleiche beschissene Text. Frohe Scheißweihnachten!«

Lissy holte tief Luft. »Ehrlich, es ist mir so was von egal, warum du grad jetzt aufgetaucht bist. Du bist eh ein Problem auf zwei Beinen. Und hier in Garmisch leben Leut, die wünschen dir Pest und Cholera, mach dir nix vor. Das wirst du spüren.«

Sie drehte sich um und stapfte die Stiegen wieder hinunter.

Ben wartete einen Moment, dann trollte er sich in sein Zimmer. Aus dem Rollkoffer zog er eine Flasche Jack Daniel’s und gönnte sich einen gewaltigen Schluck aus dem Zahnputzglas. Wenn du keine Freunde hast, auf Jack war Verlass. Er hatte nicht nur eine Weihnachtskarte verschickt, sondern ein Bild, das ihn gemeinsam mit einem US-Präsidenten zeigte. Unten in der Stube hing es im Goldrahmen. Um die Scham und die Traurigkeit hinunterzuspülen, die ihn drosselten wie eine Würgeschlange, würde die Flasche nicht ausreichen.

3

»Ferstl, hör auf damit!«

Der Bauer war für Ratschläge nicht empfänglich. Er hatte die Leiche an den Sakkoschultern gepackt und Richtung Zaun geschleift. Sein rasselnder Atem war bestimmt in ganz Grainau zu hören. Er zerrte, zog und fluchte. Seine Stiefel schmatzten im Matsch. Attila glotzte ihn an und käute wieder.

»Den leg ich drüben in den Graben und gut«, ächzte Ferstl. »Dann kann die Polizei treiben, was sie mag. Meine Tiere sind unschuldig.«

»Was soll er im Graben, Ferstl, so wird das nix«, versuchte Laura auf ihn einzuwirken. Ihr Puls beschleunigte auf Highspeed, als sie sich wieder zwischen den Drähten hindurch auf die Weide lavierte.

»Schalt dein Hirn ein. Die Schleifspuren, die Spuren am Toten, jetzt noch deine DNA. Die Leut sind nicht verblödet! Du bringst die auf die Idee, du hast den auf dem Gewissen.«

Ferstl sah auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war jenseits von Gut und Böse, ausgewandert ins Wahnwitz-Tal.

Laura stapfte in Reichweite. Sie bekam ihn bei der Schulter zu fassen.

Er riss sich los, und ein Arm der Leiche schlenkerte gegen ihren Schenkel, als würde sie sich festklammern wollen. Ohne nachzudenken, griff sie zu. Sie zerrten beide am Toten. Es erinnerte sie an den Kampf mit ihrer Schwester um die heiß geliebte Puppe, wobei ein Arm abgerissen wurde. Größtmögliches Drama, während das Aufziehpupperl im Stakkato »Mama, ich hab dich lieb« quäkte. Hier sollte sie sich nicht mit Gliedmaßen zufriedengeben, und lieb hatte die Mama den Bauern Ferstl schon gar nicht!

»Lass los!«, schrie der. Seine Stimme überschlug sich. Er versprühte Speicheltropfen auf ihren Wangen.

»Leg ihn hin«, fauchte Laura zurück. Ein beherzter Griff ans Bein, ein Ruck, und Ferstl verlor mit seiner Last das Gleichgewicht.

Er stürzte rücklings in den Schnodder – und der Tote auf ihn. Ein Geräusch, das an einen herzhaften Rülpser erinnerte, war zu vernehmen.

Grundgütiger! Laura erschauerte.

Mit einem Gurgeln stieß der Bauer den Körper beidhändig von sich und rollte zur Seite.

Laura stemmte, vornübergebeugt, die Arme in die Hüften und schnappte nach Luft. Ob tierärztliche Geduld eine Schneise der Vernunft durch Ferstls unkrautigen Schädel pflügen könnte? Was immer dort heranwuchs, Verstand war es nicht.

»Also was?«, knarzte er, den Blick nicht vom Toten nehmend. Er hechelte wie ein übergewichtiger Mops. Das Aufstoßen des Toten musste er mitbekommen haben. Sein linkes Lid zwinkerte nervös. Lauras Verstand bot zwar eine wissenschaftliche Erklärung für das Geräusch an, die half aber nicht gegen ihr Erschaudern.

»Bessere Idee? Soll ich ihn eingraben?«, wollte Ferstl wissen.

Laura versuchte, ihren Atem fließen zu lassen. Spür ihm nach, und Ruhe überkommt dich.

»Leg ihn wieder genauso hin, wie er vorhin lag – und zwar hopphopp«, befahl sie rau. Ruhe wurde überschätzt.

»Scheißdreck! Was soll das bringen?«

»Vielleicht kann man die Geschichte dann besser rekonstruieren. Capice?« Harter Mann, weicher Keks.

Ferstl kapitulierte. Er zog den Toten am Schlafittchen zu seinem ursprünglichen Liegeplatz. Das Hemd hing aus der Hose, Knöpfe waren abgerissen, einen Schuh hatte er verloren. Er zeigte ihnen seine flockig behaarte, fleckenübersäte Brust, über die sich ein dünnes goldenes Kettchen zog.

»Auf den Rücken, die Beine breiter, die Arme nach oben«, wies Laura den Bauern an, »und zieh ihm den Schuh an.«

»Soll ich den Kerl noch rasieren und kämmen?«

Es wirkte lieblos und grobkörnig, wie Ferstl den Mann in die richtige Position zerrte. Sein Mitgefühl galt den Rindern. Situativ verständlich. Er schien überzeugt davon, auf seine Schutzbefohlenen wartete ein Erschießungskommando.

Der Bauer richtete sich auf und hob die dreckverkrusteten Pranken gen Himmel. Beistand kam von dort nicht.

»Zufrieden? Und jetzt?«

»Polizei natürlich.«

»Hast du Attilas Reaktion beobachtet? Er ist die Ruhe selbst. Meine Kinder würd ich mit ihm spielen lassen.«

»Du hast keine Kinder, Ferstl.«

Laura hatte den Stier über die Aktion »Tanz mit der Leiche« ganz vergessen und machte, dass sie auf die sichere Seite kam.

Der Bauer dagegen kletterte gemächlich durch den Drahtzaun. Nahe vor ihr baute er sich auf. Sein brackiger Morgenatem, gemischt mit einer Prise schweißigem Hemd und zünftiger Stallarbeit, zog ihr in die Nase. Knallrotes Gesicht unter dem schwarzen Lockenkranz, der hagere Leib zitterte vor Erregung.

»Das kann man doch rausfinden, wenn keines meiner Rinder beteiligt war?«, fragte er, wobei er sie mit schräg gelegtem Kopf beäugte wie ein Bartgeier das Aas.

Laura wich einen Schritt zurück. Weder für Attila noch für Ferstl würde sie die Hand ins Feuer legen.

»Du kannst das, als Tierärztin.«

»Ich wüsste nicht, wie ich …«

»Spuren, Fell, Schweiß?«

»Das macht die Polizei, die haben Spezialisten.«

Ferstl ballte die Fäuste. »Schmarrn, Polizei. Glaubst du, die sind gründlich? Ist ein klarer Fall. Aggressiver Stier zertrampelt Wanderer. Und Punkt.«

»Wenn das ein gewöhnlicher Wanderer war, fress ich zwei Wochen aus dem Schweinetrog. Jedenfalls ruf ich sie, dann sehen wir weiter.«

»Du hast mir empfohlen, Attila auf die Weide zu lassen. Das war ein Rat der Tierärztin. Sehr fahrlässig.«

Laura sah ihr Smartphone unschlüssig an, ihre Hand verkrampfte sich. Sie steckte es in die Tasche und beobachtete einen aufsteigenden Habicht, der am wolkenlosen Himmel Spiralen flog. Er war ein entfernter Punkt, als sie die Sprache wiederfand.

»Was willst du damit sagen?«, fragte sie in arglosem Ton, innerlich vibrierten ihre Nerven. Mit schmalen Augen fixierte sie seine stoppelige, von roten Äderchen durchzogene Visage. Sein Kiefer mahlte, der Adamsapfel hüpfte ein-, zweimal.

»Ich – ich werd erzählen, dass ich tierärztlichen Rat befolgt habe. Und dass Attila auf der Weide ist, weil …«

»Der steht hier, weil du künstliche Besamung ablehnst. Ich hab dir nur bestätigt, dass du den Stier auf der Weide brauchst, zum Natursprung.«

»Ja, aber wenn auf deine Einschätzung hin jemand zertrampelt wird? Das spricht sich rum, und was ist mit der Haftung? Ich will, dass du meinen Rindern hilfst – scheißegal, wie du das machst, Frau Schmerlinger.«

Laura nickte in Zeitlupe.

»Ferstl, du bist ein Vollidiot. Na gut, ich schau mir den Toten an. Danach such dir jemand anderen, der deine Viecher behandelt. Mich kannst du vergessen.«

Nachsehen, was der Anzug des Toten an tierischen Spuren hergab, war leicht. Falls etwas zu finden wäre, nachdem sie mit dem Leichnam einen Walzer über die verschlammte Viehkoppel hingelegt hatten.

Der Bauer trat von einem Bein aufs andere und rieb die Handflächen aneinander.

»So hab ich es nicht gemeint«, murmelte er.

»Aber gesagt, Ferstl.« Laura wandte sich von ihm ab.

»Und falls sich herausstellt, dass Attila … ich meine, könnte Maca was damit zu tun haben?«, schnurrte er.

»Du meinst die Pflanze?«, versicherte sich Laura und lachte spöttisch auf.

»Ich hab ihm das Pulver regelmäßig gegeben, damit er mehr Lust entwickelt. Er ist nicht in Form gekommen diesen Frühling. Die Kühe hab ich gemessen und beobachtet. Da wäre alles klar, die sind bereit.«

»Macapulver. Für Attila? Aha. Und – hat dir das auch jemand empfohlen, dem du die Schuld geben kannst? Nein, damit wird der nicht zur Kanone. Frag meine Kollegen nach Stierpotenzmittel, da wird Attila seine Damen bespringen, als gäb es kein Morgen.«

»Nein, nein. Maca ist pflanzlich, für meine Tiere gibt es keine Chemie. Und jetzt sei so gut, untersuch bittschön die Leiche, Frau Doktor, bevor noch wer auftaucht.«

»Das heißt ›Doktorin‹«, zischte Laura ihn an. »Und du bezahlst mir jede Minute, die ich mich hier abtue mit dem Schmarrn.«

Sie wusste nicht, ob Ferstl Manns genug war, sie an die Wand zu nageln, falls sie sich weigerte, hier herumzuschnüffeln wie die Sau nach Trüffeln. Attilas Besitzer hatte keinen Schimmer davon, wie Laura kämpfen konnte. Da reichte es nicht, sich warm anzuziehen, sondern er könnte gleich in der Sauna einziehen.

»Pass auf, dass mir dein Bulle vom Leib bleibt, Maca hin oder her«, rief sie ihm zu. »Und ich versprech dir nix.«

Sie holte Probenröhrchen nebst Tupfern, Wattestäbchen und Latexhandschuhen aus dem Wagen und machte sich an die ungewohnte Arbeit an einer menschlichen Spezies. Letztendlich waren sie alle Viecher auf zwei Beinen. Sie hätte ja auch kein Problem damit, einem verendeten Schafbock das Gedärm zu durchwühlen.

»Was ist das?«, wollte Ben wissen. Er stand vor einem schwarzen Gefährt »Made in Germany«, das unmöglich als Fahrrad durchging.

»E-Bike vom Vater. Es fährt tadellos. Dahinten ist die Luftpumpe.« Seine Schwester zeigte in einen finstern Winkel der windschiefen Scheune. »Der Akku ist aufgeladen«, sagte sie beiläufig.

Aha, immerhin ein Zeichen, dass sich Lissy mit seiner Ankunft beschäftigt hatte, dachte Ben.

»›O’Connor‹«, entzifferte er. »Hat da Edison mitgebastelt?«, wollte er wissen.

»Was erwartest du? Einen Rolls-Royce?« Seine Schwester versteifte ihre Schultern und machte sich davon. Er blieb allein mit dem schwarzen Ungetüm.

»Na gut«, er nickte ihm zu, »wir freunden uns schon an, wir zwei, hm, was meinst du?«

Sie waren beide nicht das neueste Modell. Das Rad schwieg, als er es probehalber hin- und herrollte. Das stimmte ihn positiver. Kein protestierendes Quietschen, kein Knarren, einzig Spinnweben umhüllten Rahmen und Lenker. Seine Begrüßungsgirlanden – schön, dass du wieder da bist, Benjamin Wiesegger. Er setzte sich auf den Sattel und wippte. Die Höhe schien zu passen.

Als Nächstes umschlich er die schwarze Holztruhe, die seine Sachen enthielt. Er betrachtete sie eine Weile mit zusammengekniffenen Augen, öffnete den Deckel. Das war alles, was von ihm in Garmisch zurückgeblieben war. Obenauf lag seine Bergausrüstung, oder was vor zwanzig Jahren dafür gehalten wurde. Der zerkratzte rote Helm, der modrig riechende Rucksack, ein Konvolut aus Haken, Karabinern und Seilen, ineinander verschlungen, rostig und schundig. Reif fürs Werdenfelser Museum, der Plunder. Er zögerte einen Moment, bevor er zugriff, um das ganze Geraffel zur Seite zu legen. Damit war es vorbei – auf ewig. Immer wenn einer der zackigen Felsgrate vor seinem inneren Auge auftauchte, sah er den Seelenschnitter höhnisch winken. »Komm, du bist mir schon begegnet.«

Ben griff nach dem Truhendeckel. Er strich über das lasierte Holz, spürte gedankenverloren der Maserung mit den Fingern nach und beruhigte seinen Atem. Piano, alter Mann. Sein Blick sog sich erneut am Inneren der Truhe fest.

Bücher, deren Inhalt er spärlich rekapitulieren konnte. Stephen King hatte er gemocht, daneben seine Lieblinge Bukowski, Miller, Kerouac, Selby. Sie hatten ihm die USA der Ausgespuckten und Loser gezeigt, und er hatte ihre Texte fasziniert verschlungen. Nie hätte er sich vorstellen können, dem Schicksal ihrer Figuren nahe zu kommen, wie sie zu empfinden und wie sie an der Verzweiflung zu schnuppern. Neben dem Bücherstapel zog er die Hirschlederne aus der Truhe. Die Flecken darauf bildeten eine Landkarte seiner Erinnerungen, falls die nicht vom Weißbier getrübt waren. Drei Nummern zu klein mittlerweile, ebenso der verschlissene moosgrüne Janker. Lissy hätte die Klamotten weggeben sollen – er würde sie verschenken, falls die Caritas dafür Verwendung hatte. Er klappte den Deckel wieder zu. Genug Vergangenheitssouvenirs für heute. Mit einem Kopfschütteln richtete er sich auf und tappte blinzelnd aus der Scheune. Es musste das plötzliche Sonnenlicht sein, das seinen Blick mit Tränen verschleierte, er rieb sich die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln.

Zeit, der Stadt einen Besuch abzustatten. Worauf sollte er warten? Früher oder später musste er sich sehen lassen, er konnte es gleich hinter sich bringen. Immerhin konnte er auf einen Sattel unter dem Hintern vertrauen, made in Germany. Bereit für den Ausritt, Cowboy?

4

Wenn jemand den Archetypus eines polizeilichen Ermittlers darbot, war es Poschinger. Die schwarze Lederjacke gab sich alle Mühe, seinen Leib zu umspannen, während ein unverwüstlicher grauer Filzhut seine gerötete Stirn beschattete. Dazu eine Prise Unergründlichkeit, die ihm eine Ray-Ban-Sonnenbrille verlieh. Wohlmeinende nannten solch eine Statur »stattlich«, Laura tendierte eher zu »adipös«. Der Ermittler hatte die Unterlippe vorgeschoben, und sein Oberlippenbärtchen zitterte vor Anspannung.

Dass Leichen nicht gerade seinen Weg pflasterten, war offensichtlich. Aber einen Unfall mit Kuh betrachtete er bestimmt als ermittlungstechnische Lappalie. Routine. Allerdings machte so eine Geschichte die Leute nervös. »Bad News« aus der Region waren Gift fürs Geschäft.

Laura stand, die Arme verschränkt, etwas abseits und beobachtete, wie Poschinger einen Untergebenen herbeipfiff. In Poschingers Rücken trat sie näher heran. Wenn sie sich schon für Attila ins Zeug legen sollte, könnte es nicht schaden, zuzuhören.

»Scheiß Montagmorgen. Also, was haben wir?«, kam es von Poschinger.

Klassische Ermittlerfrage. Erst vorgestern hatte Laura denselben Wortlaut in einem Lokalkrimi gelesen.

»Männliche Leiche, um die vierzig, stark, äh, in Mitleidenschaft gezogen, sieht nach Unfall mit Rinderbeteiligung aus«, leierte der Polizist seinen Text herunter. Seine Hände umklammerten ein Diktiergerät. Breitbeinig, fest verankert, stand der schlaksige Sheriff im Matsch, als wäre er um Halt bemüht wie auf einem schwankenden Segler. Seine Stirn unter dem blonden Schopf war in äußerster Konzentration gefaltet.

Der Bursche tat Laura leid. Poschingers Blick war der eines alten Leitbullen, der seine Herde unter der Knute hielt.

»Rinderbeteiligung?«, knurrte er. »Was ist denn das für ein Wort? Ich möcht nicht wissen, was du bei einem Ertrunkenen sagst. Kruzifix, Hehnle!«

»Entschuldigung.«

»Deine Phantasie lässt du dir einpacken, zum Mitnehmen. Die Spusi wird rausfinden, wer und was beteiligt war. Papiere, Handy?«

»Ja und nein.«

»Geht’s auch genauer?«

»Der Mann heißt Georgius Urban. Kein Smartphone, aber Brieftasche.«

»Komisch, oder? Wo kommt der her, der George?«

»Wohnort München.«

»Sonst was?«

»Führerschein, Gold Card, Payback-Karte, Zehnerstempelkarte vom Friseur ›Querschnitt‹ und von der Bäckerei Ohlmeier in München. Ich würde sagen, das Übliche. Keine Familienbilder, keine Quittungen. Ein Kärtchen der Pension Wiesegger. Vielleicht hat er in Garmisch geurlaubt.«

»Aha. Vielleicht – vielleicht nicht. Da fühlen wir nachher den Wieseggers gründlich auf den Zahn. Wer hat uns verständigt?«

»Die Frau Schmerlinger.«

Hehnle deutete an seinem Vorgesetzten vorbei. Poschinger fuhr herum. Er sah sich Aug in Aug mit Laura.

Eine Stirnfurche verdüsterte sein Gesicht.

»Meinst du nicht, Hehnle, die Zivilisten sollten Abstand halten? Wozu spannen wir die bunten Bändchen? Cocktailparty?«

Diese Frage könnte er auch Ferstl stellen, der just mit einem entrüsteten »Was ist jetzt, Herr Hauptkommissar?« über den Weg auf sie zumarschierte.

Er war Kopf einer Polonaise, Wandertouristen hatten sich ihm angehängt, in der Hoffnung, ausgefallene Urlaubsvideos zu ergattern. Handys wurden in die Höhe gereckt. In der Masse fielen die Hemmungen.

Ein hupender Leichenwagen rumpelte über den Weg, trieb sie auseinander.

Laura winkte Poschinger beidhändig und knipste ein ermunterndes Lächeln an.

Der drehte sich mit aufgerissenem Mund um die eigene Achse. Mit tiefem Körperschwerpunkt eine einfache Übung. Seiner wutverzerrten Visage sah man an, dass es ihm wohl am liebsten gewesen wäre, die »Goaslschnalzer« vom Garmischer Volkstrachtenverein würden mit den Peitschen unters Volk fahren.

»Raus mit den Leuten, Kruzifix!«, tobte er los. »Wer den polizeilichen Anweisungen nicht Folge leistet, wird unter körperlichem Zwang abgeführt! Keine Handys!«

Sein ausgestreckter Zeigefinger stoppte Ferstl, als wär’s die Dienstpistole.

»Sie Kasperl als Allererster!«, brüllte er ihn an.

Uniformierte stürmten umher und jagten das filmende Völkchen durch die Pampa. Laura dachte an Hütehunde, die mit Schafherden komplexe Manöver vollführten. Bei Schaulustigen würde sie auf Border Collies setzen. Gewiefter und schneller als ein tumber Gaffer und zur Not mit überzeugendem Gebiss. Sie wunderte sich, wo die am frühen Morgen alle hergekommen waren. Sag noch einer, Wandern wäre öde.

Poschinger wandte sich seinem Befehlsempfänger zu. Seine Stimme war gefährlich leise.

»Du nimmst von Frau Schmerlinger, unserer geschätzten Zeugin, hinter der Absperrung ihre Aussage entgegen, verstanden? Und jemand soll dem Bauern klarmachen, dass die Rinderbeteiligung ein End hat. Der soll die Viecher im Stall wegsperren, nicht dass sie die Spusileute zertrampeln. Sie sind potenziell gefährlich, sonst müssten wir sie …«

»Erschießen?«

Poschinger seufzte. »Na, Hehnle. Zuvor nimmst du ihre Fingerabdrücke. Vielleicht ist eine vorbestraft.«

Sein Hemdkragen schien ihm die pochenden Halsvenen abzuschnüren. Laura war versucht, ihm den Knopf zu öffnen. Erste Diagnose: zu hoher Blutdruck.

Seinem jungen Untergebenen färbten sich die Wangen zartrosa. Über der Schulter seines Chefs verlor sich sein Blick in der Weite der Werdenfelser Wiesengründe.

»Schleich dich!«, bekam er von Poschinger mit auf den Weg.

Der Angesprochene drehte eine halbe Pirouette und wandte sich der wartenden Tierärztin zu.

»Er kommt aus Stuttgart«, raunte Poschinger Laura zu und zuckte mit den Schultern. »Schwabe«, ergänzte er.

Sie nahm die Information zur Kenntnis, ohne ihre Bedeutung zu eruieren.