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Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften E-Book

Oskar Ilja Fischer

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Beschreibung

Seit 2012 gibt es in Deutschland eine neue Generation von selbstorganisiertem Geflüchtetenprotest mit einer zentralen Forderung: das Recht auf Arbeit und gewerkschaftliche Organisation. Die Interaktionen geflüchteter Aktivist*innen mit Gewerkschaften reichen dabei von Besetzungen der Gewerkschaftsräume bis hin zu gemeinsamen Demonstrationen. Ein erster Erfolg kam 2015 mit dem Recht auf Mitgliedschaft bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Oskar Ilja Fischers ethnographische Untersuchung fragt nach den Interaktionsordnungen dieser Begegnungen von 2013 bis 2016, die von Verhandlungen der Repräsentation im deutschen Arbeits- und Migrationsregime gerahmt sind.

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WOSKAR ILJA FISCHER

Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften

Verhandlungen von Repräsentationim deutschen Arbeits- und Migrationsregime

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Oskar Ilja Fischer, geb. 1985, promovierte am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians- Universität München, an dem er lehrt und forscht. Seine Schwerpunkte sind Flucht und Migration sowie Soziale Bewegungen.

Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext:https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2020 im transcript Verlag, Bielefeld© Oskar Ilja Fischer

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-5011-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5011-6 EPUB-ISBN 978-3-7328-5011-2 https://doi.org/10.14361/9783839450116

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung
1.»Das ist schwer, in Deutschland Arbeiterbewegung und Flüchtlingsbewegung zusammen zu bringen«
2.Sensibilisierende Konzepte
2.1Politisches und Humanitäres
Autonomie der Migration
Die Refugee-Bewegung für Gleichheit
2.2Gewerkschaften, Migration und Streik
Gewerkschaften und das (Post-)Gastarbeiter-Regime
Politischer Streik und Migrant*innen als Arbeiter*innen
2.3Stigmata der Subalternen und Kolonisierten
Subalterne und kolonisierte Subjekte
Das Stigma
3.Methodologie und Methoden
3.1Rahmen-Analyse
Rahmen und ihre Transformationen
Metaphern und Begegnungen
3.2Erhebung und Auswertung
Zeitliche Übersicht
Feldzugänge
Interviews
Auswahl und Auswertung zentraler Medien
Transkription und Darstellung
3.3Forschungsethische Reflexionen
Umgang mit Daten aufgrund besonderer Vulnerabilität
Beforschung von Geflüchteten als subalterne Subjekte
Position des Forschers im Feld
4.Vom Refugee Congress zum DGB-Partykeller in München 2013
4.1Unerwartete Begegnungen: »Auf einmal waren sie in unserem Haus«
Wie lässt sich »die Nummer« lösen?
Besonderer Teil der Arbeiter*innenklasse
4.2Gemeinsame Veranstaltungsreihe: Eine gesichtswahrende Verhandlungslösung
Schutz vor Rechtsradikalen
(Nicht-)Anerkennung der Sprecher*innen
Bühnen für die Non-Citizens
4.3Schlussfolgerungen aus München 2013
5.Vom Berlin-Brandenburger DGB-Haus 2014 zur Mitgliedschaft bei ver.di 2015
5.1Die besetzte Lounge: »Nur ein Papier. Wo ist der Rest?«
Drei komische Momente in Folge
Eine Pressekonferenz ohne Ergebnis
5.2Gewaltsame Räumung und Gewerkschaftsmitgliedschaft
Entzug der Stimme: »Flüchtlingen helfen: Ja!/Unser Haus besetzen: Nein!«
Gewerkschaftliche Stimmen nach der Räumung
Von der Räumung zur Gewerkschaftsmitgliedschaft
5.3Schlussfolgerungen aus Berlin 2014
6.Wiedersehen zum Bayerischen Integrationsgesetz in München 2016
6.1Das Camp am Sendlinger Tor und die Zivilgesellschaft: »No more refugees in the boxes!«
Die Herstellung von Repräsentation: Eine Koalition im Namen der Geflüchteten
Kämpferische Vulnerabilität: Leben auf der Trambahninsel
Adressierungen der Gewerkschaften als Teil der Zivilgesellschaft
6.2»Wir als betroffenste Gruppe dieser Gesellschaft sind gegen diese Gesetze«
Ein besonderer Teil: »Unsere Kolleginnen und Kollegen, die Flüchtlinge sind«
Die Rede: Eine fragile Gemeinsamkeit mit Besonderheiten
Epilog: »Am Sendlinger Tor habe ich mich sehr integriert gefühlt«
6.3Schlussfolgerungen aus München 2016
7.Diskussion: Die Grenzen humanitärer und politischer Rahmen
7.1Dynamiken asymmetrischer und fragiler Begegnungen
7.2Möglichkeiten und Grenzen der Repräsentation
7.3Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften im deutschen Migrations- und Arbeitsregime
8.Literatur und Quellen
8.1Literatur
8.2Quellen
9.Anhang
9.1Daten-Übersicht
Interviews
Feldnotizen
Visuelle, audiovisuelle und Audio-Daten
Dokumente
9.2Ausgewählte Interview-Leitfäden
Albrecht Damm, Berliner Betriebsrat (14.3.2016)
Tansel Yilmaz, Refugee-Aktivist, zweites Interview (14.3.2016)
Mathias Ohm, Unterstützer von Geflüchteten (9.11.2016)
9.3Transkriptionslegende
9.4Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis

Danksagung

Ohne ständigen Dialog wäre diese Arbeit über Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften nicht möglich gewesen Ich möchte denen danken, die am Forschungsprozess teilgenommen, mich begleitet und unterstützt haben.

Ich danke zuallererst meiner Erstbetreuerin, Prof. Dr. Hella von Unger, Lehr- und Forschungsbereich für Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), für die engagierte und geduldige Begleitung. Außerdem danke ich meinem Zweitbetreuer, Prof. Dr. Stephan Lessenich, Lehrstuhl Soziale Entwicklungen und Strukturen am Institut für Soziologie der LMU, für seine Ratschläge und Kritiken.

Hervorzuheben ist auch die kontinuierliche und kollegiale Diskussion der Arbeit durch die Forschungswerkstatt am Lehr- und Forschungsbereich für Qualitative Methoden. Mit der Reflexion aller Phasen der Dissertation, vom Exposé über die ersten unfertigen Feldnotizen bis zur Theoretisierung, waren die Perspektiven und Expertisen der Teilnehmer*innen unersetzlich. Weiterhin danke ich den Teilnehmer*innen der Forschungswerkstatt Qualitative Fluchtforschung und den Promovierenden des Lehrstuhls für Politische Soziologie sozialer Ungleichheit, die wertvolle Kommentare zu Material und Entwürfen machten. Und ein Dank gilt den Studierenden in meinen Lehrveranstaltungen, deren neue Ideen eine ständige Motivation für mich sind.

Das Privileg, sich über drei Jahre hinweg mit einem Feld zu befassen, wurde mir ermöglicht durch ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung (HBS). Ich danke allen, die von Seiten der Stiftung die ausgezeichnete Betreuung während des Promotionsprozesses gewährleisteten. Die HBS förderte außerdem das Erscheinen der Dissertationsschrift mit einem Druckstipendium.

Ein besonderer Dank gilt schließlich meinen Eltern, Julian Lais und allen, die durch ihre persönliche Unterstützung die Fertigstellung dieser Arbeit mit ermöglicht haben.

1.»Das ist schwer, in Deutschland Arbeiterbewegung und Flüchtlingsbewegung zusammen zu bringen«

Tansel Yilmaz bilanziert seine Erfahrungen mit Gewerkschaften im Interview mit den Worten: »Das ist schwer, in Deutschland Arbeiterbewegung und Flüchtlingsbewegung zusammen zu bringen« (Interview mit Tansel Yilmaz 2016: Z. 61)1. Damit bringt Herr Yilmaz, ein Berliner Anführer des selbstorganisierten Geflüchtetenprotests für Bleibe- und Bürgerrechte Geflüchteter, eine Konflikthaftigkeit der Begegnungen von Geflüchteten- und Gewerkschaftsbewegung in den Vorjahren ebenso zum Ausdruck wie die hohen Erwartungen, die Geflüchtete an Gewerkschaften richteten. In dieser Beziehung spiegeln sich wichtige Verhandlungen der Zivilgesellschaft, die sie zu allgemein bedeutsamen Fragen machen: In welchem Zusammenhang stehen das deutsche Arbeits- und Migrationsregime, welcher Änderung ist diese Beziehung mit dem Zuzug von Geflüchteten unterworfen, welche Dynamiken bringt ihre Änderung hervor? Wie können Menschen, die von Bürgerrechten durch Definition ausgeschlossen sind, wie Geflüchtete ohne Aufenthaltstitel, überhaupt eine Vertretung in der Zivilgesellschaft haben? Darüber geben Begegnungen zwischen Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften Aufschluss.

Wie es zu den Begegnungen selbstorganisierter protestierender Geflüchteter mit Gewerkschaften in Deutschland zwischen 2013 und 2016 kam, worin darin die Interaktionen bestanden und auf welche Ordnungen sie sich bezogen, wird in der vorliegenden Arbeit ethnographisch untersucht. Insbesondere werden die Fälle der Besetzungsaktion im Münchner Gewerkschaftshaus 2013 (Kapitel 4) und im Haus des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Berlin-Brandenburg 2014 (Kapitel 5) sowie eines gemeinsamen Protests von Gewerkschaften und Geflüchteten gegen das Bayerische Integrationsgesetz (BayIntG 2016; siehe Kapitel 6) untersucht.

Die neue selbstorganisierte Geflüchtetenbewegung für Bleibe- und Bürgerrecht, auf die sich diese Arbeit anhand des Beispiels des Protestkomplexes Refugee Struggle for Freedom (auch: Refugee Struggle, RSFF) bezieht, gibt es in Deutschland seit dem Suizid eines Würzburger Geflüchteten im Januar 2012 (zuerst: Refugee Tent Action, RTA). Sie richtet sich seitdem in erster Linie gegen Abschiebungen, fordert aber auch Bewegungsfreiheit und Arbeitserlaubnisse sowie Verbesserungen in Einrichtungen wie finanzielle Mittel für Geflüchtete anstatt Essenspakete (vgl. From the Struggles Collective 2015; vgl. Wilcke/Lambert 2016). Der initiale Protest verschmolz bald mit anderen selbstorganisierten Geflüchteten zu einer deutschland- und europaweiten Bewegung, nachdem Geflüchtete im März 2012 einen Protestmarsch von Würzburg bis nach Berlin und andernorts eine Bustour zur Information und Organisierung in Geflüchteten-Einrichtungen organisiert hatten; seitdem suchten sich die Refugee-Aktivist*innen zunächst vor allem in Berlin Bühnen auf öffentlichen Plätzen, um ihre Forderungen nach dem Stopp von Abschiebungen, der Abschaffung der Pflicht in einer Einrichtung zu bleiben, sowie der Abschaffung der Sammelunterkünfte selbst und der Aufhebung isolativer Bedingungen aufzustellen (vgl. From the Struggles Collective 2015: 4ff.).

Hintergrund der neuen Geflüchteten-Protestbewegung in Deutschland sind weltweite Fluchtphänomene und das in Kapitel 2.1 und 2.2 besprochene deutsche Grenz- und Migrationsregime, das in Verschränkung mit dem Arbeitsregime steht. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) gab es weltweit seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so viele Geflüchtete wie im Jahr 2014 (UNHCR 2014). Seitdem 1993 das Asylrecht dahin gehend geändert wurde, dass im Regelfall nur noch Menschen antragsberechtigt sind, die nicht über einen sicheren Drittstaat – von denen Deutschland geographisch umgeben ist – eingereist sind, ging die Zahl an Anträgen auf Asyl bis 2007 fast kontinuierlich zurück (vgl. BAMF 2016: 92). Erst seit etwa 2014 erreicht sie wieder das Niveau der frühen 1990er. Im Jahr 2015 wurden knapp 480.000 Asylanträge erfasst und damit mehr als der vorherige Höchstwert von knapp 420.000 Anträgen im Jahr 1992; im Jahr 2014 noch waren es etwa über 170.000 Anträge gewesen (ebd.). Außerdem wurden im Jahr 2015 knapp 220.000 unerlaubt eingereiste Personen registriert, was ebenfalls einen Höchstwert darstellt, der die Vorjahre um das bis zu Zehnfache überschreitet (ebd.: 153). In den Jahren 2013, 2014 und 2015 waren jeweils 1,1, 1,8 und 0,7 Prozent der Antragstellenden grundgesetzlich asylberechtigt (ebd.: 95). Die Schutzquote durch Gerichtsentscheide bei abgelehnten Asylanträgen entwickelte sich von 13,2 % im Jahr 2012 über 12,9 % im Jahr 2013 und 10,1 % im Jahr 2014 bis nur noch 4,2 % im Jahr 2015 (BAMF/EMN 2016: 15). Daraus ergibt sich eine Lage, in der viele Geflüchtete in Deutschland keine realistische Option auf einen dauerhaften Aufenthalt für sich oder andere sehen. Bei nicht asylberechtigten Geflüchteten gab es besonders zwischen 2014 und 2016 eine Reihe von Abschiebehindernissen, wie »Verweigerung von Behörden beim Zielland«, verwaltungs- und verfahrenstechnische Probleme, aber auch »Widerstand der Drittstaatsangehörigen gegen die Rückkehr«, worunter das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) exemplarisch physische Gegenwehr oder Hungerstreiks der Abschiebe-Betroffenen nennt (ebd.: 16). Die »sicheren Herkunftsstaaten«, in die abgeschoben werden darf, wurden 2014 um Bosnien und Herzegowina, Serbien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien erweitert, 2015 um Albanien und Kosovo, im Jahr 2016 zusätzlich um Algerien, Marokko und Tunesien (ebd.: 26).

So änderte sich das deutsche Grenz- und Migrationsregime in Bezug auf Abschiebungen im Untersuchungszeitraum 2013 bis 2016 nicht nur quantitativ, sondern mehr Gruppen von Geflüchteten waren überhaupt betroffen. Außerdem beklagten nicht-abgeschobene Geflüchtete im Laufe ihres Aufenthalts in Deutschland fehlenden Einschluss in Bürgerrechte und die Zivilgesellschaft; diese Situation des relativen Ausschlusses wird in Kapitel 2.1 besonders anhand von Giorgio Agamben (2002), Hannah Arendt (1991) und Julia Schulze-Wessel (2017) besprochen, um eine theoretische Sensibilisierung für das Feld von Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften zu entwickeln, das ab Kapitel 4 ethnographisch erschlossen wird. Für die Untersuchungen wird dabei besonders berücksichtigt, dass es sich beim Akteur Refugee Struggle for Freedom als beobachteten Geflüchtetenprotest-Komplex um eine Gruppe handelt, die eigene Theoretisierungen vorlegt und sich auf philosophische, politikwissenschaftliche sowie soziologische Ansätze bezieht. Das gilt besonders für Bezüge zu Hannah Arendt (1991; 2016) und Giorgio Agamben (2002), die in Kapitel 2 besprochen werden. Bekannte Publikationen der Struktur bezogen sich auf die Position Asylsuchender in modernen Gesellschaften; im März 2013 organisierten sie einen Refugee Struggle Congress im Münchner Gewerkschaftshaus (vgl. From the Struggles Collective 2015: 12; Refugee Congress 2013).

Gewerkschaften spielen als zivilgesellschaftliche Akteure, die Teil des Arbeitsregimes sind, für die Forderungen Geflüchteter eine herausgehobene Rolle. Besonders seit im Sommer 2015 mehr Geflüchtete als in den Vorjahren nach Deutschland gekommen sind, von denen sich viele im erwerbstätigen Alter befinden oder als Minderjährige in Deutschland noch in dieses Alter kommen, tun sich Fragen nach der Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt und damit in die Interessenvertretungen der Lohnabhängigen auf. Wie in Kapitel 2.2 besonders anhand der Ausführungen von Serhat Karakayali und Manuela Bojadžijev (Bojadžijev/Karakayali 2007; Karakayali 2008; Bojadžijev/Karakayali 2010; Karakayali 2017) sowie Sandro Mezzadras (Mezzadra 2011; Mezzadra/Neilson 2013; Mezzadra/Konjikušić 2017) theoretisiert wird, sind das Arbeits- und das Migrationsregime eng miteinander verbunden – was eine zentrale Voraussetzung für die Bedeutung der Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Geflüchtetenprotest darstellt. Entsprechend werden in Kapitel 2.2 wissenschaftliche Fragen der Sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften gewürdigt (Rucht/Roth 2008; Beyer/Schnabel 2017), besonders bezogen auf die Geschichte der »Gastarbeiter« in Deutschland (Herbert 2017).

Je nach rechtlichem Status – wie Asylberechtigung, subsidiärem Schutz, Abschiebeverbot oder irregulärem Aufenthalt – gibt es in Deutschland für Geflüchtete zum Zeitpunkt der empirischen Erhebungen dieser Arbeit von 2014 bis 2016 eine Vielzahl an Regulierungen im Arbeitsmarktzugang, die von keinem legalen bis zum vollständigen Zugang unter Bedingung des jeweiligen legalen Status reichen. Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ergaben, dass die befragten Geflüchteten mehr Integration in Arbeit suchen (vgl. IAB 2016a; vgl. IAB 2016b). Durch das Bekanntwerden eines unerlaubten Aufenthalts kann die Folge einer illegalen Beschäftigung in Deutschland für die Beschäftigten die Abschiebung sein (vgl. Tangermann/Grote 2017: 18). Der DGB setzt sich politisch für eine Eindämmung illegaler Beschäftigung ein (vgl. ebd.: 19). Bereits Ende 2012 forderte der DGB in einem gemeinsamen Papier mit der NGO Pro Asyl und dem Interkulturellen Rat in Deutschland zu den Bundestagswahlen die Änderung des Dublin-Verfahrens dahingehend, dass auch Geflüchtete, die über europäische Drittländer eingereist sind, in Deutschland antragsberechtigt sind, und machte sich damit eine Hauptforderung der Geflüchtetenbewegung zu eigen (vgl. DGB/Pro Asyl/Interkultureller Rat in Deutschland 2013: 15). Darüber hinaus forderte der DGB aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und einen frühzeitigen, gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt für Beschäftigte aus Drittstaaten sowie eine Reihe weiterer Verbesserungen für Geflüchtete und Migrant*innen (vgl. ebd.: 71). Ein generelles Bleiberecht, wie die selbstorganisierten Geflüchtetenbewegungen es forderten – und fordern –, wollen der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften nicht, sondern eine bessere Prüfung des Einzelfalls (vgl. ebd.: 44). Zum Stand 2014, als diese Forschungsarbeit begonnen wurde, forderte der DGB nach wie vor die Änderung des Dublin-Verfahrens (vgl. DGB 2015: 10), außerdem formulierte er als eines seiner zentralen Anliegen die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt (vgl. ebd.: 21ff.) und empfahl humanitäre Unterstützung sowie Beratung für Geflüchtete (vgl. ebd.: 33). Zum gleichen Zeitpunkt werden vom DGB bundesweit 16 gewerkschaftliche Anlaufstellen für Geflüchtete in Bezug auf Arbeit und Mobilität gelistet (vgl. ebd.: 40). Information und Beratung erfolgte für den Zeitraum der Erhebungen besonders durch das gewerkschaftliche Büro MigrAr in Hamburg und den Arbeitskreis AK Undokumentierte Arbeit in ver.di in Berlin (vgl. Tangermann/Grote 2017: 30).

Ein Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit wird in den im theoretischen Kapitel 2 auf Fragen des Humanitären und des Politischen (Rancière 2004) gelegt, die Kernkategorien in den Begegnungen von Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften bilden. Die theoretischen Ausführungen dienen als sensibilisierende Konzepte dem Verständnis des Felds, aber auch dazu, die Position des Forschers von denen des Felds zu differenzieren. Außerdem wird in Kapitel 2 eine theoretische Rahmung anhand der Diskussion subalterner (Spivak 1988; Gramsci 2012) und kolonisierter (Fanon 1969, 1981 und 2016) Subjekte vorgenommen, um die spezifischen Dynamiken der Interaktionen verstehen zu können. Daran anschließend wird Erving Goffmans Begriff des Stigmas (1975), das im Fall des Refugee-Protests besonders in der Zuschreibung von Machtlosigkeit besteht, diskutiert.

Die ethnographischen Methodologien und Methoden, auf die sich die empirischen Untersuchungen stützen, werden im dritten Kapitel dargestellt. In Abschnitt 3.1 wird die Theorie der Rahmen-Analyse Erving Goffmans (2018) in besprochen, mit einem Exkurs zur Analogie des Spiels diskutiert (1973), zumal für die Beantwortung der Forschungsfrage Analogien immer wieder eine Rolle spielen. Die Feldzugänge und die Auswertung der Daten mit Elementen der Grounded Theory Methodology konstruktivistischer Prägung (GTM; Strauss-Corbin 1996; Charmaz 2014) werden in Abschnitt 3.2 dargestellt, darunter eine Chronologie der Ereignisse, eine Übersicht der Interviews und des schriftlichen Materials sowie Ausführungen zu Transkription und Darstellung der Daten – eine tabellarische Übersicht der verwendeten Daten ist im Anhang unter 9.1 angegeben. Eine forschungsethische Reflexion beleuchtet in Abschnitt 3.3 Besonderheiten des Felds und reflektiert die Position des teilnehmend beobachtenden Forschers darin.

Kapitel 4 bis 6 der Arbeit stellen die Forschungsergebnisse dar, indem die Interaktionen der asymmetrischen Akteure nachvollzogen und ihre zugrundeliegenden Ordnungen unter Bezugnahme auf die in Kapitel 2 diskutierte Literatur besprochen werden. Die Darstellung und Interpretation der Ereignisse basiert auf Expert*inneninterviews mit Refugee-Aktivist*innen, Gewerkschaftsfunktionär*innen und Unterstützenden der Proteste, auf regelmäßigen Feldaufenthalten und der Sammlung von Dokumenten (siehe Abschnitt 3.2 und Kapitel 9). Während der Münchner Gewerkschaftshausbesetzung im September 2013 durch Geflüchtete der Gruppe Refugee Struggle for Freedom wurden grundlegende Fragen in der Beziehung von Refugee-Protest und Gewerkschaften im Alltag des Protests und in Verhandlungen der Akteure aufgeworfen (4.1). Zu einer Einigung kam es in der Organisierung einer Veranstaltungsreihe, an der Geflüchtete beteiligt wurden und damit eine Bühne erhielten (4.2). Kapitel 4 stellt dar, wie eine unerwartete und teilweise spontane Begegnung zu einer Frage der Repräsentation Geflüchteter in Gewerkschaften sowie zu einer Probe der Selbstdefinitionen von Gewerkschaftsakteuren und Geflüchteten wurde.

Als die Aktion einer Besetzung fast genau ein Jahr darauf in Berlin von Geflüchteten-Aktivist*innen wiederholt wurde, diesmal verbunden mit weitergehenden Forderungen besonders nach Gewerkschaftsmitgliedschaft (5.1), scheiterte die Begegnung und mündete in einer polizeilichen Räumung. Die Prozesse des Scheiterns werden empirisch nachvollzogen und besonders mit den Erfahrungen aus dem Münchner Fall im Jahr 2013 kontextualisiert. Dieser Räumung folgte besonders innerhalb der Gewerkschaften ein Diskussionsprozess, der wiederum ein Jahr darauf, im September 2015, in die Anerkennung einer Mitgliedschaft für Geflüchtete in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, auch wenn sie nicht arbeits- und aufenthaltsberechtigt sind, mündete (5.2). Die Gewerkschaftsmitgliedschaft Geflüchteter wurde unter anderem mit der Refugee-Gruppe Lampedusa in Hamburg bereits praktiziert, wie über die Kapitel hinweg dargestellt wird, allerdings nicht offiziell.

Nach einer Änderung der gesellschaftlich-politischen Lage ab Sommer 2015 und zahlreichen Verschärfungen im Grenz- und Migrationsregime (vgl. Kasparek/Speer 2015) kam es im Herbst 2016 in München erneut zu Begegnungen zwischen Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften, in diesem Fall ausgehend von einem Protestzelt am Sendlinger Tor (6.1). Der dortige Alltag wird als Voraussetzung der neuen Begegnungen besprochen, besonders mit seinen Adressierungen an zivilgesellschaftliche Akteure, unter besonderer Berücksichtigung der Gewerkschaften. In einer gemeinsamen Demonstration gegen das Bayerische Integrationsgesetz fand 2016 (BayIntG) die gewerkschaftliche Kooperation mit Geflüchteten ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt, ehe der Protest der Geflüchteten in einen Hungerstreik überging (6.2).

Am Ende der Kapitel 4, 5 und 6 zu den Fällen München 2013, Berlin 2014 und München 2016 findet sich jeweils eine Schlussfolgerung, die den Fall in die Forschungsarbeit einsortiert. In der Diskussion (Kapitel 7) werden die theoretisch informierten, in ihrer Konkretion aber empirisch verstandenen Kernkategorien des Politischen und des Humanitären synthetisch besprochen. Die Schlussfolgerungen aus der gesamten Forschungsarbeit beziehen sich besonders auf die Dynamik zueinander asymmetrischer und in sich fragiler Akteure (7.1) sowie auf die Möglichkeiten und Grenzen der Repräsentation geflüchteter Stimmen in Gewerkschaften (7.2). Ein Ausblick wird mit einer Reflexion der Begegnungen von Gewerkschaften und Geflüchtetenprotest im Hinblick auf die Stellung von Gewerkschaften innerhalb des verzahnten deutschen Arbeits- und Migrationsregimes gegeben (7.3).

Eine Übersicht der für die Forschungsarbeit verwendeten Daten und methodischen Werkzeuge findet sich im Anhang.

1 Alle Namen aus dem Feld, die in dieser Arbeit verwendet werden, sind Pseudonyme, wenn sie nicht zu öffentlich bekannten Personen gehören. Die Klarnamen liegen dem Verfasser vor. Die forschungsethischen Erwägungen dazu werden in Kapitel 3.3 besprochen.

2.Sensibilisierende Konzepte

In diesem Abschnitt wird wissenschaftliche Literatur zu Fragen der Fluchtforschung und Themenbereichen diskutiert, die die Erhebungen von 2013 bis 2016 zu Begegnungen von Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften informiert strukturieren. Die Diskussion findet also besonders auf ihre Bedeutung für das Forschungsfeld der Refugee-Bewegung in Interaktion mit Gewerkschaftsakteuren hin statt. Dabei wird besonders berücksichtigt, dass es sich mit Teilen der Refugee-Bewegung, wie den Non-Citizens und Refugee Struggle for Freedom, um Theorie-affine Akteure handelt, die wissenschaftliche Debatten kennen und zum Beispiel mit der Non-Citizens-Theorie beanspruchen, selbst theoretisierende Beiträge zu leisten. In den theoretischen Ausführungen dieses Kapitels werden zentrale Positionen, die auch von Akteuren des Geflüchtetenprotests und der Gewerkschaften vertreten werden, in die Diskussion einbezogen, aber nicht als eigene theoretische Perspektive des Forschers übernommen, sondern mit dem Forschungsstand ins Verhältnis gesetzt.

In den empirischen Kapiteln 4, 5 und 6 wird auf diese Theorien verwiesen, in Bezug auf die Relevanz in den jeweiligen Situationen. Die Bezüge wissenschaftlicher Literatur werden dabei im Sinne sensibilisierender Konzepte verstanden, sodass gegenstandsbezogene theoretische Vorannahmen nicht als Hypothesen forschungsleitend sind, sondern eine theoretische Sensibilität für die Relevanz im Feld generieren (vgl. Strübing 2013: 112f.), auch verstanden als »die Fähigkeit zu erkennen, was in den Daten wichtig ist« (Strauss/Corbin 1996: 30). Eine Deduktion aus der Theorie findet also nicht statt, sondern die Erkenntnisse der empirischen Abschnitte werden abduktiv in Verbindung mit der Literaturdiskussion generiert. Die sensibilisierenden Konzepte dienen auch dazu, eine Abgrenzung der Theoretisierung des Forschers zu den Selbst-Theoretisierungen des Felds vorzunehmen. Die drei hauptsächlichen theoretischen Komplexe dafür sind Fragen des Humanitarismus und der Politik in Bezug auf die Refugee-Bewegung, der Gewerkschaften in Hinblick auf Migration und politischen Streik sowie Theorien zu stigmatisierten Subjekten.

2.1Politisches und Humanitäres

Die Untersuchungen in dieser Arbeit befassen sich nicht mit Geflüchteten und Gewerkschaften im Allgemeinen, sondern mit (politischem) Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften. Das heißt, es sind die Momente interessant, in denen Geflüchtete (auch) als politisch Handelnde auftreten, in Begegnungen mit Gewerkschaften. Als solche befinden sie sich in einem Spannungsfeld aus den Kategorien Humanitarismus und Politik, das die kritische Flucht- und Migrationsforschung theoretisch bearbeitet und im Folgenden diskutiert wird. Jacques Rancière, der dabei besondere Beachtung findet, nimmt in seinem Werk »Das Unvernehmen« (2014) Definitionen des Politischen und des Humanitären vor, die für das untersuchte Feld aufgrund der empirisch als Kernkategorien vorgefundenen Ambivalenz zwischen diesen beiden Sphären von besonderer Bedeutung sind, zumal er eine systematische Definition des Politischen vorschlägt, die nicht an einen konkreten, absoluten Ausdruck wie eine politische Partei gebunden ist, sondern sich aus dem sozialen Verhältnis einer Handlung ergibt – wie es für die Begegnungen von Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften relevant ist. Daher werden im Folgenden wieder zu den theoretischen Konzepten Rancières Bezüge hergestellt, der das »Reich des Humanitären« definiert als

»da, wo die Menschenrechte von jeder Fähigkeit polemischer Vereinzelung ihrer Universalität abgeschnitten sind, wo der Gleichheitssatz aufhört, ausgesprochen zu werden, in der Argumentation eines Unrechts, das seine strittige Tatsächlichkeit sichtbar macht, gedeutet zu werden. Also wird die Menschlichkeit nicht mehr polemisch den Frauen oder Proletariern, den Schwarzen oder den Verdammten der Erde zugeschrieben« (Rancière 2014: 134).

Der Rechtsinhaber des Humanitären ist »das reine Opfer« und beliebige Arten des Leidens sind angesichts des Humanitären identisch miteinander (ebd.: 134). Rancières Definition betont die Abwesenheit eines besonderen Subjekts angesichts des Humanitären, das bei ihm keinen spezifischen sozialen Inhalt hat. Die Figur des Hilfsbedürftigen – und als solche kommen Geflüchtete zunächst nach Deutschland – kann hier als eine verstanden werden, der keine politische agency zugeschrieben wird. Dieses Bild steht in Kontrast zu einem zentralen Motiv der selbstorganisierten Geflüchtetenbewegung, das in einer Rede gefasst wird mit »wir bezeichnen uns nicht als Opfer, die Mitleid und Almosen brauchen« (Rede von RSFF am 22.10.2016: Z. 17) und das die Haltung kennzeichnet, mit der Geflüchtete auch Gewerkschaften ansprechen. Die gleiche Refugee-Gruppe beansprucht auch: »Wir, Menschen aus dem Globalen Süden, sind die Opfer und Sündenböcke aller Zeiten« (RSFF ab 2016: Z. 1125f.). Diese beiden Setzungen, zugleich als Nicht-Opfer und als Opfer, als gleichzeitige Subjekte von Politik und humanitäre Figuren, sind tiefer theoretisch zu besprechen. Rancière bestimmt kein Phänomen und keine Handlung an sich als politisch, sondern vertritt die Position, dass alles politisch werden kann, »wenn es die Begegnung der zwei Logiken stattfinden lässt« (Rancière 2014: 44), bezogen auf gesellschaftliche Beziehungen. Die Bedingung des Politischen sieht Rancière in einem Vorgang, der besonders bei den konflikthaften Begegnungen von Geflüchtetenprotest und Gewerkschaften in den Vordergrund tritt, nämlich in der Neuordnung von etwas »in seinem Verhältnis zur Gemeinschaft« (ebd.). Das ist eine Bestimmung, die das (ausschließlich) Humanitäre nicht einnehmen kann, das jedoch, wie zu zeigen sein wird, eine Ambivalenz in sich trägt und in Ausschließlichkeit kaum vorliegt. Diese Ambivalenz, das Nebeneinander und Ineinander von Macht und Machtlosigkeit, präft das Forschungsfeld des Geflüchtetenprotests.

Die Besonderheiten des Humanitären – und seiner Zurückweisung – werden bei Hannah Arendt und Giorgio Agamben ähnlich Rancíères entfaltet. Hannah Arendts Erbe ist hier auf zwei Ebenen von besonderem Interesse: Zum einen theoretisiert Arendt die Figur des ›Flüchtlings‹ und das Humanitäre und prägt damit bis heute wissenschaftliche Debatten mit. Zum anderen wird sie im Feld selbst von organisierten Geflüchteten aufgegriffen, besonders im Verbund mit Agamben in der ab März 2013 von Geflüchteten vorgestellten Non-Citizens-Theorie (siehe auszugsweise im Anhang unter 9.2.1). Für die Diskussion um Hannah Arendt und Giorgio Agamben stützt sich diese Arbeit auch auf Julia Schulze-Wessels vergleichende theoretische Untersuchungen in ihrer Habilitationsschrift »zur politischen Theorie des Flüchtlings« anhand von undokumentierten Migrant*innen als »Grenzfiguren« (Schulze-Wessel 2017: 14f.), ein Ansatz, der in den folgenden Abschnitten mehrmals aufgegriffen wird. In einem ihrer Hauptwerke, »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (1991), stellt Hannah Arendt ihre These zur »Aporie der Menschenrechte« auf, die Paradoxien der Moderne untersucht, die sich im Zuge der Trennung von Menschen- und Bürgerrecht ergeben und bereits in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution angelegt sind. Dieses Thema führt Arendt auch in ihrer zuerst 1943 als »We Refugees« erschienenen Theoretisierung der Flüchtlingsfigur aus (Arendt 2016). Weil die geflüchteten Menschen systematisch verfolgt wurden, ohne einen Rechtsübertritt begangen oder auch nur politisch aktiv gewesen zu sein, habe die Bedeutung des Worts »Flüchtling« eine neue Bedeutung bekommen (vgl. ebd.: 9), die nämlich einer rechtlosen Figur, die auf die Widersprüche, Grenzen und blinde Flecken politischer Gemeinschaften verweist (vgl. Schulze-Wessel: 43). Die bürgerliche Rechtsordnung sieht Menschenrechte ohne Staatsbürgerschaft nicht vor, sondern ist auf die Staatsbürgerschaft als Trägerin des Rechts ausgerichtet. Die Staatenlosen sind nach Arendt entsprechend völlig Entrechtete, sie unterliegen einem Totalausschluss. Der Einschluss in Menschenrechte würde voraussetzen, dass sie nach der verloren gegangenen Staatsbürgerschaft, die ihnen Zugang zu Rechten verschafft, eine neue Staatsbürgerschaft erlangen, aber das bleibt ihnen verwehrt. Bei Arendt liegt »das entscheidende Kriterium in der absoluten Entrechtung von ehemaligen Mitgliedern der Gesellschaft, die der Stigmatisierung, Ghettoisierung und Vernichtung vorausging« (ebd.: 20). Das ist eine Situation, die sich den nach Deutschland kommenden Geflüchteten ohne Asylanspruch – und das umfasst die meisten Menschen in der Dublin-III-Ordnung – unter Anwendung der Arendt’schen Theoretisierung ähnlich darstellt. Die mit den europäischen Dublin-III-Verträgen geltende Drittstaatenregelung besagt, dass nur Asyl in Deutschland beantragen kann, wer nicht über ein sicheres Drittland einreist (Herbert 2017: 319); da Deutschland an allen Landgrenzen von sicheren Drittländern umgeben ist, bedeutet das, dass nur eine Einreise per Flugzeug überhaupt zu einem Asylantrag in Deutschland berechtigt. Davon gibt es Ausnahmeregelungen wie die subsidiäre Aufnahme von Geflüchteten oder die Kontingentflüchtlinge, doch der Regelfall für Geflüchtete ist, seit der Grundgesetzänderung 1993, in Deutschland nach Einreise auf dem Landweg keinen Asylantrag stellen zu dürfen. Auf diese Ordnung als Teil des deutschen Migrationsregimes wird in Abschnitt 2.2 näher eingegangen.

Es ist zunächst festzustellen, dass in Deutschland im Regelfall kein Bürgerrechtsanspruch für Geflüchtete besteht, der ein Bleiberecht oder die Rechte auf freie Wahl des Wohnorts und der Arbeit umfasst – was die Geflüchteten der untersuchten aktivistischen Gruppe Refugee Tent Action (RTA), später Non-Citizens (NC) und auch Refugee Struggle for Freedom (RSFF, Refugee Struggle), auf dem Refugee Congress 2013 vom deutschen Staat fordern (vgl. Refugee Congress 2013: Z. 484ff.). Geflüchtete in Deutschland sind nicht identisch mit der staatenlosen Figur der Totalausgeschlossenen bei Arendt, sondern wie im Weiteren dargestellt einer differenzierteren Ordnung unterworfen, die sich von den Selbsttheoretisierungen der Geflüchtetenbewegung differenzieren. Doch zunächst, ausschließlich nach Arendt gefasst, haben sie durch Ausschluss von Bürgerrechten keinen realen Zugang zu Menschenrechten, wie des Lebens in Sicherheit vor Abschiebung in eine Krisenregion. Wie Schulze-Wessel herausstellt, liegt in dieser Fassung Arendts das auf Geflüchtete bezogene Problem der Menschen- und Bürgerrechte nicht zuerst im Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, sondern ist bereits in der Konstituierung der bürgerlichen Menschenrechte angelegt, da nur der »Mensch als Bürger« ein Subjekt der Menschenrechte sein kann, nicht der bloße, allgemeine Mensch; er ist von einem Recht völlig ausgeschlossen, von dem er zuvor eingeschlossen war, ausgehend vom Konstrukt des Nationalstaats (Schulze-Wessel 2017: 28). Innerhalb dieses Ausschlusses greift also die bloße Forderung nach Einlösung der Menschenrechte zu kurz (ebd.: 43), zumal nur das Erlangen von Bürgerrechten die Stellung zum Menschenrechtssubjekt gewährleisten könnte. Entsprechend fragt Arendt, ob es überhaupt Rechte gibt, die »einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen« (Arendt 1991: 457). Genau hier steigt die Non-Citizens-Theorie der Bewegung ein, die Giorgio Agambens Essay »We Refugees« (Agamben 1995) als »A political and Theorized view about Non-Citizens’ position and the refugees« (Refugee Congress 2013) abdruckt, um ihn im März 2013 im Münchner Gewerkschaftshaus auf einem selbstorganisierten Refugee Congress zu diskutieren. In Agambens Text, der Arendts Aufsatz »We Refugees« über die jüdischen Geflüchteten im Zweiten Weltkrieg von 1943 bereits im Titel zitiert, ist in einer historischen Analyse, zunächst für die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, die Rede von »a decisive turning point in the life of the modern nation-state and its definitive emancipation from the naive notions of ›people‹ and ›citizen‹« (Agamben 1995: 115), bezogen besonders auf die Nürnberger Gesetze, die Menschen die Bürgerrechte entzogen. In seiner Genealogie geht dabei die Logik dieser Ereignisse über die einzelne nationalsozialistische Politik hinaus und ist ins Regime der Rechte insgesamt eingeschrieben. Nach dem Krieg sei die Frage der »refugees« völlig zu einer Frage humanitärer Organisationen gemacht worden (ebd.: 116). Im Zuge dieser Ausführungen zitieren die Non-Citizens-Autor*innen Hannah Arendt zum Niedergang der Nationalstaaten und dem Ende der Menschenrechte, einem Kapitelabschnitt ihres Werks über »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (Arendt 1991). Agambens Interpretation der Passage sei hier zitiert, da sie eine zentrale Rolle für die Weltsicht der Anführer*innen des Geflüchteten-Protests spielt:

»The paradox here is that precisely the figure that should have incarnated the rights of man par excellence, the refugee, constitutes instead the radical crisis of this concept. ›The concept of the Rights of man,‹ Arendt writes, ›based on the supposed existence of a human being as such, collapsed in ruins as soon as those who professed it found themselves for the first time before men who had truly lost every other specific quality and connection except for the mere fact of being humans.‹ In the nation-state system, the so-called sacred and inalienable rights of man prove to be completely unprotected at the very moment it is no longer possible to characterize them as rights of the citizens of a state. This is implicit, if one thinks about it, in the ambiguity of the very title of the Declaration of 1789, Declaration des droits de l’homme et du citoyen, in which it is unclear whether the two terms name two realities, or whether instead they form a hendiadys, in which the second term is, in reality, already contained in the first« (Agamben 1995: 116; Agambens Zitate im Zitat beziehen sich auf Hannah Arendt 1991; H.i.O.).

Auf diese Passage der Interpretation Arendts bei Agamben kommen Geflüchtete aus der Tradition des Refugee Congress (2013), später Refugee Struggle for Freedom, immer wieder zurück. Sie sehen einen »Antagonismus« (auch: Dualismus) zwischen Citizens und Non-Citizens (vgl. RSFF ab 2013: Z. 251ff.), der ein Ausgangspunkt für ihren Protest ist, der auch – nicht nur – einen Protest um das Recht auf Rechte darstellt. Eben die Nicht-Gewährung des Rechts erschafft bei Arendt eine Figur jenseits von Politik und Recht, etwas prinzipiell Anderes (vgl. Schulze-Wessel 2017: 49). Die Ablehnung des Worts ›Flüchtling‹ hat für sie entsprechend nicht ausschließlich mit negativen Konnotationen des Worts zu tun, sondern auch mit einer Auffassung des ›Flüchtlings‹ als rein humanitär. In ihrem Text »I rebel, therefore I exist«, einer existenzialistischen Anspielung mit besonderer Betonung der eigenen agency (Refugee Congress 2013: Z. 481ff.), formulieren Anführer*innen der Geflüchteten-Gruppe anschließend an Agamben und Arendt dann selbst:

»We, non-citizens, are deprived of these fundamental rights, and hollow claims to upholding ›human rights‹ and slogans by the so-called ›democratic‹ governments of Europe don’t hold true for us. They are non-existent for us because we are not citizens who fit into the ridiculous ›human rights‹ discourse, as fellow people who ›belong‹. In order to transform our survival into actual living, in order to become ›human‹ and have the same rights as other humans, we must move from the position of non-citizens and become citizens« (Refugee Congress 2013: 488ff.).

Kurzum wird die Aufhebung der Grenze zwischen Staatsbürger*innen und Nicht-Staatsbürger*innen gefordert, um die Menschenrechte einzulösen, also die Aufhebung einer, seit Erklärung der Menschenrechte bestehenden, Trennung zwischen Menschen- und Bürgerrechten schlechthin. Indem sie die Neuordnung ihrer Rechte im Verhältnis zur Gemeinschaft fordern, treten sie als politisch im Sinne Rancières auf (vgl. Rancière 2014: 44). Die argumentative Figur ist hier die Agambens, die über sein Essay hinaus besonders in seinem Werk »homo sacer« eine hervorgehobene Rolle spielt (vgl. Agamben 2002: 141). Agamben entwickelt darin eine vor allem juridische Genealogie von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, angelegt als größeres Forschungsprogramm über Themen der Biopolitik im Sinne Michel Foucaults. Dabei geht er nochmal ein Stück weiter in der Interpretation der Flüchtlings-Figur als Arendt: Nicht trotz, sondern wegen der Menschenrechte findet der Totalausschluss Geflüchteter statt, »paradigmatisch für das nackte Leben der Moderne« (Schulze-Wessel 2017: 71).

Diese Figur ist verbunden mit dem Ort des Lagers, den Agamben (2002; 2004) in »homo sacer« und »Ausnahmezustand« auch abstrahiert von einem konkreten Lager meint, und dessen theoretische Ausarbeitung aussagekräftig für das Verständnis von Aus- und Einschluss bei Agamben ist. Für ihn ist der Ort des Lagers derjenige, an dem Recht und Faktizität sich vermischen und der Mensch in seiner Form als nacktes Leben gänzlich depolitisiert wird, nach Rancière (2014) also kein Bezug mehr zur Gemeinschaft hergestellt werden kann und es keinen Bezug mehr zur Gleichheit gibt, also ein Mensch kein*e Bürger*in mehr ist und man ihm*ihr daher auch kein Unrecht mehr zufügen kann (vgl. Agamben 2002: 179f.). Agamben bezieht sich explizit auf Aufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete (vgl. ebd.: 183), wenn er von diesem Ort des Ausnahmezustands spricht. Die Souveränität des »Lebenden über sich selbst« bezeichnet Agamben als Schwelle von Innen und Außen, die nicht wirksam verboten werden könne (ebd.: 145f.). Das Lager verweist einerseits auf den Flüchtling als Ausnahmefigur, andererseits drückt es einen Souveränitätsverlust des Nationalstaats aus (vgl. Schulze-Wessel 2017: 53). Anders als bei Arendt ist das Lager für Agamben kein konkreter und umgrenzter Raum mehr, sondern es wird verwendet zur Beschreibung einer bestimmten Struktur (vgl. ebd.: 77). Die Schranke Agambens bestehe, so Schulze-Wessel, darin, dass er »die Einschreibung des nackten Lebens in die Ordnung Menschenrechte und die Souveränität des Nationalstaates unmittelbar miteinander« verbindet, sie »unlösbar aufeinander verweisen«, sodass es keine Differenzierung und keine positiven Bezüge zu den Menschenrechten im Nationalstaat geben könne (ebd.: 79). Diese Bezüge werden von den Non-Citizens und Refugee Struggle For Freedom durchaus hergestellt, was bereits darauf hindeutet, dass diese Figuren nicht identisch mit im Feld vorgefundenen Subjekten sind. Die Diversität, die undokumentierte Migrant*innen in der Realität in Deutschland haben – rechtlich, politisch, sozial und anhand weiterer Achsen, die nicht alle nur mit der Figur des ›Flüchtlings‹ und der Totalexklusion oder des nackten Lebens gegriffen werden können –, nimmt Schulze-Wessel mit einem Weiterdenken des Grenz-Begriffs in Abgrenzung zu Arendts Totalausschluss und Agambens Lager als einen unbestimmten Ort auf, der durchlässig sein kann (vgl. ebd.: 200f.). Den für die Geflüchteten ohne festen Aufenthalt in Deutschland treffenderen Ort des ›undokumentierten Migranten‹ kennzeichnet die Autorin daher »Weder-drinnen-noch-draußen« denn als totalen Ausschluss, als einen Grenzraum, eine »brüchige, fragmentierte, widersprüchliche und ambivalente Welt« (ebd.: 95). Die Undokumentierten haben zwar nicht unbedingt das Recht auf Unversehrtheit (Schutz vor Abschiebung), aber sie haben die Möglichkeit, »die Klage, die öffentliche Kritik, das Gehörtwerden, de[n] Protest, de[n] politische[n] Zusammenschluss« (ebd.: 202), kurzum auf bestimmte grundgesetzliche Rechte. Und das

»eröffnet die Möglichkeit, den Flüchtling als Grenzfigur zu beschreiben, der einer fremden Macht nicht einfach nur ausgeliefert ist, sondern sich dieser auch entgegensetzen kann. Und das macht den Grenzraum im entscheidenden Gegensatz zum Lager zu einem Raum permanenter Aushandlungskämpfe« (Schulze-Wessel 2017: 202).

Ein Beispiel sind Geflüchtete aus Syrien 2015, die aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekamen, eine andere Option ist die Änderung des Asylrechts. Die Aushandlungsprozesse undokumentierter Migrant*innen mit der besonderen Forderung nach dem »Recht auf Rechte« (Schwenken 2006: 309ff.), die hier als Geflüchtete, Refugees, Non-Citizens oder mit weiteren Bezeichnungen auftreten, denen politisches Handeln eben nicht per se verwehrt bleibt (ebd.: 204), gilt es nun mit dem Begriff der Autonomie der Migration näher zu betrachten. Dafür werden dem bisher vorgestellten Begriffspaar des Politischen und des Humanitären weitere Dimensionen spezifisch für die Fragen der Migration hinzugefügt.

Autonomie der Migration

Die Autonomie der Migration lässt sich kurz definieren durch den Satz: »migration has been and continues to be a constituent force in the formation of sovereignty« (Papadopoulous/Stephenson/Tianos 2008: 202). Das heißt, die Migration – im weiten Wortsinn, der Flucht als erzwungene Migration umfasst – enthält als solche bereits eine mächtige Komponente, nicht erst wenn Migrant*innen politisch in einer Protestform oder mit einer entsprechenden Organisation auftreten, sondern schon durch den historischen Fakt der Migration als eine Bewegung von Menschen über staatliche Grenzen hinweg. Insofern ist die Migration, folgt man der noch zu differenzierenden These der Autonomie der Migration, anders als die bei Arendt und Agamben ausgeschlossene ›Flüchtling‹-Figur, souverän. Im Kontext der Stellung undokumentierter Migrant*innen als Grenzgänger-Figuren, die auch für Geflüchtete ohne Aufenthaltserlaubnis herangezogen werden kann, hilft das Konzept der Autonomie der Migration den politischen Charakter von Migration zu verstehen, welche nicht ausschließlich durch Pull- und Push-Faktoren bestimmbar ist (vgl. Bojadžijev/Karakayali 2007: 204). Eine Differenzierung, wie die des Grenzgängers nach Schulze-Wessel, die der von Agamben zugespitzten Arendt’schen These des Totalausschlusses widerspricht oder die vorhandenen Ausschlüsse in zusätzliche Kontexte stellt, wird von Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayali im Zuge der Debatte um die Autonomie der Migration auch zur »Festung Europa« als Teil des Grenzregimes aufgestellt, dem Geflüchtete in Deutschland unterworfen sind: »Die Grenzen werden nicht einfach gesperrt, Europa schottet sich nicht ab, es entsteht vielmehr ein komplexes System der Limitierung, Differenzierung, Hierarchisierung und partiellen Inklusion von Migrantengruppen« (ebd.: 204). Dieses System ist hier komplexer als das des Lagers als verallgemeinertem Ort des humanitaristischen Totalausschlusses nackten Lebens, und kann auch die Handlungsspielräume innerhalb eines bestehenden Grenz- und Migrationsregimes betonen. Das Konzept der Autonomie der Migration wird in diesem Sinne zugleich als eine politische Intervention, als ein »Akt der Befreiung« und als ein Forschungsprogramm betrachtet:

»the idea was to contribute to the construction of new connections within the social struggles concerned with migration, in order to gather the different layers of subjectivity (as men and women, as workers and employees, as citizens and the illegalized) to form a foundation with which to accelerate these struggles in emancipatory ways« (Bojadžijev/Karakayali 2010: 1).

Die in der Transit Migration Forschungsgruppe (2007) von Bojadžijev und Karakayali vorgestellten »Thesen zur Autonomie der Migration« (Bojadžijev/Karakayali 2007: 203ff.) haben eine entsprechend große Bedeutung für die Diskussion um migrantische und geflüchtete Subjekte. Dabei werden Migrant*innen – im weitesten Wortsinn der Konstruktion des Migrantischen, nicht in einem engen rechtlichen Sinne – nicht ausschließlich als Opfer, sondern als Subjekte mit einer eigenen agency betrachtet. Entsprechend stützt sich das Forschungsprogramm nicht ausschließlich auf Regierungspolitiken, sondern besonders auf bewegungsförmige soziale Phänomene in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Die Themen und Termini der Forschung verlaufen dabei teilweise parallel zu denen sozialer Bewegungen, »struggles of migration«, wie die Kritik an der »Festung Europa« als Metapher eines restriktiven Grenzregimes (Transit Migration Forschungsgruppe 2007: 2f.). In dieser Betrachtung wird das scheinbare Dilemma eines im hegemonialen EU-Grenzregime-Diskurs viktimisierten Subjekts besprochen, das sich zum Teil taktisch selbst als Opfer darstellt und mit Push- und Pull-Faktoren einer passiv verstandenen Migration argumentiert, um mit bestehenden Herrschaftsordnungen umzugehen (vgl. ebd.: 5). Diese Konstellation wird in der Interpretation der Felddaten mehrmals aufgegriffen, zumal es bei den beobachteten Refugee-Protesten regelmäßig Wechselspiele und Gleichzeitigkeiten in der Darstellung von Macht und Machtlosigkeit des eigenen Subjekts gibt.

Die Autonomie der Migration wird in der vorliegenden Arbeit insgesamt nicht als eine absolute Autonomie gelesen, in der strukturelle Komponenten und weitere Handlungsperspektiven angesichts der Autonomie migrantischer oder kolonisierter Subjekte keine Rolle mehr spielen. Vielmehr soll die Autonomie der Migration als eine von mehreren Ebenen verstanden werden, die zum Verständnis der Interaktionsordnungen der untersuchten Begegnungen von Geflüchteten und Gewerkschaften beiträgt, indem sie den wissenschaftlichen Blick für die Handlungspotentiale subalterner oder unterdrückter Subjekte sensibilisiert – der Begriff der Subalternität wird in Kapitelabschnitt 2.3 theoretisch nach Spivak und Gramsci definiert. Der dabei verwendete Subjekt-Begriff erkennt die Doppeldeutigkeit der Unterwerfung des Subjekts und der Handlungsmöglichkeit in Selbsttechniken an (vgl. Foucault 1996: 246f.; vgl. Hardt/Negri 2003: 338). Das heißt, die migrantischen oder kolonisierten Subjekte, die gelegentlich auch andere Selbstdefinitionen annehmen, wie ein besonderer Teil der lohnabhängigen Klasse zu sein, besitzen eine agency, in die Machtbeziehungen eingeschrieben sind, was sie nicht etwa objektiviert, sondern einen Teil ihrer Subjektivität darstellt. Ebenso wenig wie eine absolute Autonomie der Migration ist in dieser Lesart eine absolute Unterwerfung möglich – stattdessen tritt die Verhandlung des Subjekts in konkreten Protestpraxen in den Vordergrund, die den Forschungsgegenstand bilden, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird. Asylsuchende fordern, folgt man der Autonomie der Migration, in einem nach Rancière politischen Sinne eines nicht mehr »reine[n] Opfer[s]«, das ausschließlich humanitär betrachtet werden kann (Rancière: 134), das System der nationalstaatlichen Einwanderungskontrolle heraus, zumal sie bis zu einem Bescheid im Land bleiben dürfen, in dem sie protestieren können (vgl. Ataç 2013). Die Verhandlungen, die auf dieser potentiellen Widerständigkeit der Autonomie der Migration beruhen, werden in ihrer sichtbaren Form unter anderem in sozialem Protest ausgetragen. Dabei greifen sie auch auf humanitäre Argumentationen zurück: Die im Refugee Congress 2013 noch »lächerlich« genannten Menschenrechte tauchen in den Erklärungen von Refugee Struggle for Freedom, die die Non-Citizens-Theorie nicht verworfen haben, in den Folgejahren dutzende Male auf (im Material in RSFF ab 2013 und RSFF ab 2016, auf die in den Untersuchungen vielfach verwiesen wird). Im Material gibt es regelmäßig ein Wechselspiel zwischen Adressierungen, unter anderem von Gewerkschaften, aus einer Position als Machtlose und einer Rhetorik, die die eigene Autonomie und Souveränität als Akteur betont. Analoges stellt Stephan Scheel fest, der für eine Differenzierung der Autonomie der Migration als ein relatives, situiertes und verhandelbares Konzept, nicht eine fest stehende soziale Tatsache, plädiert (vgl. Scheel 2018: 10f.). Bedingungen und Schranken dieser Autonomie werden anhand der Diskussion subalterner und kolonisiert Subjekte unter Kapitel 2.3 spezifiziert.

Die Refugee-Bewegung für Gleichheit

Mit Termen wie »nicht als Opfer« (Rede von RSFF am 22.10.2016: Z. 17) oder »Subjekte unseres eigenen Kampfes« (RSFF ab 2013: Z. 960) artikulieren die Aktivist*innen der Gruppe Refugee Struggle for Freedom, die für die vorliegende Arbeit ethnographisch begleitet wurde, ein eigenes Konzept der Autonomie der Migration, das Elemente der Forschung enthält und sie spezifisch für einen Protest im Zuge einer Sozialen Bewegung zum Ausdruck bringt. Die bisherigen Erwägungen zu den Fragen des nicht totalen Ausschlusses Geflüchteter, der agency als politischem Akteur und als Grenzgänger zwischen Totalausschluss und Souveränität sowie zur relativen Autonomie der Migration, im Sinne einer nicht nur humanitären Bestimmung, werden nun im Hinblick auf Geflüchtetenprotest als (Teil einer) soziale(n) Bewegung konkretisiert, während die bisherigen Erwägungen mehr Geflüchtete im Allgemeinen betrafen. Diese Praktiken können als »sichtbare Politiken« bezeichnet werden, »jene kollektiven Aktionen, die auf nationale und transnationale Öffentlichkeiten und auf die Sichtbarwerdung als politische Subjekte zielen« (Ataç et al. 2015: 6), wobei Ilker Ataç und Kolleg*innen bereits anschließend an diese Definition anmerken, dass ein fließender Übergang unsichtbarer zu sichtbaren Politiken existiert. Geflüchtete als sichtbare Akteure sozialer Bewegungen treten als vereinigende Hauptforderung für Gleichheit (vor dem Rechte gegenüber Citizens) ein, besonders in Bezug auf die Arbeiter*innenbewegung und ihre hauptsächlichen Institutionen, die Gewerkschaften. Die Gleichheit wird bei Rancière in Bezugnahme auf das Politische folgendermaßen gefasst:

»Nichts ist an sich politisch, denn die Politik existiert nur durch ein Prinzip, das ihr nicht eigen ist, die Gleichheit. Der Status dieses ›Prinzips‹ muss genauer gefasst werden. Die Gleichheit ist kein Gegebenes, das die Politik einer Anwendung zuführt« (Rancière 2014: 44f.).

Dafür geht Rancière historisch davon aus, dass jede gesellschaftliche Ordnung auf einer Gleichheit beruht, damit sie Souveränität verkörpern kann. Denn um einen Befehl zu erteilen, müsse der Befehl einerseits verstanden werden, andererseits müsse aber auch verstanden werden, dass dem Befehl zu gehorchen sei, was es notwendig mache, dass der*die Gehorchende in dieser Hinsicht bereits in einem Gleichheitsverhältnis mit der befehlenden Gewalt stehen muss: »Dies ist die Gleichheit, die jede natürliche Ordnung aushöhlt« (ebd.: 29). Selbst wenn die meisten gehorchen, bleibt damit auf eine Kontingenz verwiesen. In Bezug auf das Migrations- und Grenzregime in Europa und Deutschland kann das bedeuten, dass die Kontrolle der Migration auch auf Gleichheiten beruht, zum Beispiel dem Recht auf ein Verfahren, das Gegenstand von Forderungen sein kann – wie der Annahme aller Asylanträge als Forderung protestierender Geflüchteter (z.B. RSFF ab 2013: Z. 1035). Diese politische Forderung, deren Konsequenz die Möglichkeit der Infragestellung der kontrollierenden Autorität beinhaltet, könnte ganz ohne Gleichheitsverhältnis, also einer Migrationsordnung, nicht gestellt werden. Gleichheit als grundlegende Bedingung einer gesellschaftlichen Ordnung bedeutet allerdings nicht Gleichheit in einer konkreten Bestimmung innerhalb dieser Ordnung; so gibt es weiterhin eine Ungleichheit zwischen Citizens und Non-Citizens, die allerdings politisch zum Thema gemacht werden kann. Darin besteht wiederum die Relativität der Autonomie der Migration, die auch als Wechselspiel zwischen Politik und »Polizei« verstanden werden kann. Die »Polizei« ist hier in Rancières Verständnis des Wortes als »Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes andere als Lärm« zu verstehen (Rancière 2014: 41). Es geht also um eine hegemoniale Ordnung, die bestimmt, was eine hörbare Position sein kann, beispielsweise indem Geflüchtete nicht als Gesprächspartner*innen für Politik betrachtet werden, sondern als Objekte einer Diskussion – was allerdings wiederum eine verhandelbare Praxis ist, wie Treffen der Non-Citizens im Münchner Gewerkschaftshaus mit Parlamentarier*innen illustrieren (RSFF ab 2013: Z. 915ff.). Für die Verhandlung des Politischen gegenüber dem Polizeilichen ist es auch von Belang, dass es kein festes Protestsubjekt ›der Illegalisierten‹ gibt, sondern ein Kontinuum von migrantischen Protestsubjekten, worauf zum Beispiel Sandro Mezzadra in Hinblick auf Rancières Ausführungen zur Grenze von Innen und Außen in der modernen Bürgerschaft verweist (vgl. Mezzadra 2010).

Diesen Übergang vor Augen, in dem es nicht nur eine kleine Gruppe ganz Ausgeschlossener gibt, sondern eine Bewegung selbstorganisierter Geflüchteter, an der auch legal in Deutschland lebende Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen teilnehmen, wird im Folgenden der jüngste Refugee-Protest als Teil einer Bürgerrechtsbewegung für Bleiberecht und demokratische Freiheiten betrachtet. Also einer Bewegung für Gleichheit und zur Aufhebung der konkreten Politik der Trennung von Citizens und Non-Citizens in Innen und Außen, bezogen auf Rechte, oder, wie Helge Schwiertz es formuliert »für einen auch materiellen ›Anteil der Anteillosen‹ […] [mit Migrant*innen] als politische Subjekte – und damit als Bürger_innen und demos im Sinne einer radikalen Demokratie« (Schwiertz 2016: 240), womit er sich auf die Forderung nach dem Anteil der Anteillosen bezieht, die Rancière beispielsweise für die Subjekte der französischen Revolution formuliert (Rancière 2014: 41). Helge Schwiertz (2016) stützt sich theoretisch besonders auf Jacques Rancière und Étienne Balibar sowie empirisch auf Erklärungen von Refugee Tent Action. Seine These ist, Ansätze der radikalen Demokratie ermöglichten »eine politische Perspektive auf Bevölkerungsbewegungen, die das Recht auf Bewegungsfreiheit mit Demokratie verbindet« (Schwiertz 2016: 230). Dabei greift der Autor das Konzept der activist citizenship auf, die über die Forderung nach Einbürgerung hinausgeht, und die Staatsbürgerschaft selbst »transformieren« möchte. (ebd.: 236). Diese Komponente, auf die sich auch Agambens auf dem Refugee Congress 2013 verwendetes Essay mit dem Begriff »denizen« (Agamben 1995: 117) bezieht, taucht in den Daten auf, zumal es auch in Verhandlungen mit Gewerkschaften immer wieder darum geht, nicht nur für die Protestierenden ein Aufenthaltsrecht zu erreichen. Dem denizen, einer Art passivem Anti-Citizen, setzen die Sprecher*innen des Non-Citizens-Protests ein politisch aktives Protestsubjekt gegenüber, das die Dualität von Citizens und Non-Citizens überwinden soll, so zum Beispiel nach einem Hungerstreik am Münchner Rindermarkt 2013, zwischen Refugee Congress und der ersten Gewerkschaftshausbesetzung in München: »Um soziale Gleichberechtigung zu erlangen und als Menschen zu gelten, müssen wir die Citizen- und Non-Citizen-Dualität überwinden, ein Umgang ohne rassistische, soziale oder klassenzugehörigkeitsbedingte Diskriminierung« (RSFF ab 2013: Z. 251ff.). Damit gehen die Autor*innen unter dem Schirm der Gleichheit über die Forderung nach bloßem Aufenthalt hinaus, und fordern eine radikal demokratische Grundlage der (Staats-)Bürgerschaft schlechthin. Im Zentrum bleiben die Forderungen nach Bleiberecht und Abschaffung aller Abschiebungen, Bewegungsfreiheit und Abschaffung der Residenzpflicht, Abschaffung der »Lager« (Aufnahmeeinrichtungen mit Restriktionen); darüber hinaus setzen sie sich als Teil des »›Volkes der Ungleichheit‹ und gleichzeitig als […] Teil eines idealen ›Volkes der Gleichheit‹ […] und subjektivieren sich durch die Darstellung des Abstandes zwischen beiden als ein ›politisches Volk‹, als demos« (Schwiertz 2016: 246). Ziel der Proteste waren in der Selbstdarstellung, während es in der Protestpraxis vielschichtige Motivationen gibt, nicht Einzelfall-, sondern politische Lösungen, wie im ähnlichen Protest der Geflüchteten in Wien ab November 2012 (vgl. Messinger 2013) formuliert wurde, indem sich die Protestierenden nicht als Bittstellende, sondern als Träger*innen von Lösungen präsentieren: »In fact, we do not have demands, we have solutions for the flaws of the Austrian asylum system« (ebd.: 57). Das ist ein politischer Bewegungsanspruch, der mit dem Satz »We are entitled to our future« (ebd.: 56) auf den Punkt gebracht wird. Darunter fällt insbesondere die Forderung nach Abschaffung des Dublin-Systems, die von bestehenden NGOs und Refugee-Organisationen übernommen wird (vgl. Ataç 2013).