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Dick Francis

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Beschreibung

Schauplatz dieser Geschichte voller Dramatik und Intrigen ist ein Millionärsexpreß, der die spektakuläre Landschaft Kanadas durchquert. An Bord sind reiche Pferdebesitzer, die ihre Pferde in Toronto, Winnipeg und Vancouver an den Start begleiten wollen. Und ein eiskalter Erpresser...

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Seitenzahl: 524

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Dick Francis

Gegenzug

Roman

Aus dem Englischen von Malte Krutzsch

Diogenes

Meinen Dank an

SHANNON WRAY

ehemals Penguin Books, Kanada, der den Zug ins Rollen

gebracht hat

 

SHEILA BOWSLAUGH

und Sam Blyth von Blyth & Co, Reiseunternehmer

 

BILL COO

Leiter der VIA Rail-Zentralstelle Reiseverkehr und das

Personal der Union Station, Toronto

 

HOWARD SHRIER UND TED BISAILLION

Schauspieler/Autoren

 

und an

Col. Charles (Bud) Baker, Präsident des Ontario Jockey Club,

Krystina Schmidt, Gastronomielieferantin,

American Railtours Inc., Betreiber privater Eisenbahnwagen,

und John Jennings, der mit Pferden im Zug gereist ist.

{7}Die Bösen in dieser Geschichte sind frei erfunden.

Die Guten erkennen vielleicht ihre Tugenden wieder!

1

Ich folgte Derry Welfram in einem vorsichtigen Abstand von fünfzig Schritten, als er plötzlich stolperte, mit dem Gesicht auf das nasse Pflaster fiel und liegenblieb. Ich hielt an, beobachtete, wie Hände sich streckten, um ihm aufzuhelfen, und sah den Ausdruck des Zweifels, der Sorge, der Bestürzung in den sich öffnenden Mündern der Gesichter um ihn herum. Das Wort, das sich daraufhin in meinem Kopf formte, war grob, ordinär und blieb unausgesprochen.

Derry Welfram lag reglos auf seinem Gesicht, während die vierzehn Starter des 15-Uhr-30-Rennens in York dicht an ihm vorbeistaksten; die Jockeys in ihrer schon feuchten Kleidung blickten mit gedämpfter Neugier zu ihm runter und wieder hoch, konzentriert auf die bevorstehende Aufgabe, fröstelnd in der regendurchsetzten Kälte des frühen Oktober. Der Mann war betrunken. Man konnte ihre Gedanken lesen. Mitten am Nachmittag umkippende Trinker waren auf Rennbahnen nicht gerade unbekannt. Es war ein lausiger, ungemütlicher Nachmittag. Alles Gute dem Zecher.

Ich zog mich unauffällig ein paar Schritte zurück und sah weiter zu. Einige aus der Gruppe, die am dichtesten bei Welfram gewesen war, als er stürzte, rückten von ihm ab, schauten auf die entschwindenden Pferde, wollten fort, wollten das Rennen sehen. Einige traten von einem Fuß auf den anderen, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch zu gehen und ihrem Schamgefühl, und einer mit mehr sozialem Verantwortungsbewußtsein hastete davon, um Hilfe zu holen.

Ich wanderte zur offenen Tür der Bar am Führring hinüber, von wo etliche Besucher die Szene verfolgten. Im Innern war die Bar {8}voll von relativ trockenen Leuten, die sich die Live-Bilder auf dem Monitor anschauten, das Leben aus zweiter Hand.

Einer aus der Gruppe am Eingang sagte zu mir: »Was ist denn los mit dem?«

»Keine Ahnung.« Ich zuckte die Achseln. »Betrunken wahrscheinlich.«

Ich stand still dort, als Teil der Kulisse, drängte mich nicht in die Bar, sondern wartete vor der Tür, unter dem überhängenden Dach, und achtete darauf, daß mir die Tropfen, die vereinzelt herunterkamen, nicht in den Kragen fielen.

Der verantwortungsbewußte Mann kam im Laufschritt zurück, ihm folgte ein stämmiger Mensch in Johanniteruniform. Die Leute hatten Welfram inzwischen halb herumgedreht und seinen Schlips gelockert, schienen aber doch froh zu sein, daß amtliche Hilfe eintraf. Der Johanniter rollte Welfram ganz auf den Rücken und sprach kurz und bestimmt in ein Funkgerät. Dann bog er Welframs Kopf zurück und versuchte Mund-zu-Mund-Beatmung.

Ich konnte mir keine Situation vorstellen, die mich bewogen hätte, meinen Mund auf den von Welfram zu legen. Vielleicht war das zwischen völlig Unbekannten einfacher. Nicht mal, um ihm das Leben zu retten, dachte ich, obwohl ich ihn lieber lebend gehabt hätte.

Ein weiterer Mann kam herbeigeeilt, ein dünner Mann im Regenmantel; vom Sehen kannte ich ihn als den Rennbahnarzt. Er tippte dem Sanitäter auf die Schulter, hieß ihn aufhören und legte erst seine Finger an Welframs Hals, dann sein Stethoskop an die Brust unter dem geöffneten Hemd. Nach längerem Abhorchen, einer halben Minute vielleicht, richtete er sich auf und sagte etwas zu dem Sanitäter, während er das Stethoskop in der Tasche seines Regenmantels verstaute. Dann eilte er wieder fort, da das Rennen bevorstand und der Rennbahnarzt bei jedem Lauf an der Bahn sein mußte, um den Jockeys zu helfen.

{9}Der Sanitäter gab noch einen Funkspruch durch, versuchte aber nicht mehr, Luft in unempfängliche Lungen zu blasen, und bald trafen Kollegen von ihm mit einer Bahre und einer Decke ein und trugen die diskret verhüllte Last davon – das Silberhaar, den prallen marineblauen Anzug und das verstummte Herz eines herzlosen Mannes.

Die Gruppe, die bei ihm gestanden hatte, löste sich erleichtert auf; zwei oder drei von ihnen strebten geradewegs zur Bar.

Der Mann, der mich vorhin angesprochen hatte, stellte den Neuankömmlingen die gleiche Frage: »Was ist denn mit dem?«

»Er ist tot«, sagte einer von ihnen knapp, obwohl das kaum noch nötig war. »Gott, ich brauche was zu trinken.« Er drängte sich in die Schankstube, und die Zuschauer vom Eingang, darunter auch ich, folgten ihm, um mehr zu hören. »Der ist einfach umgefallen und gestorben.« Er schüttelte den Kopf. »Mensch, da kommt man ins Nachdenken.« Er versuchte die Aufmerksamkeit des Barmanns auf sich zu ziehen. »Man konnte ihn röcheln hören … dann hat er aufgehört zu atmen … er war schon tot, bevor der Johanniter hinkam … Barmann, einen doppelten Gin … nein, dreistöckig …«

»War Blut zu sehen?« fragte ich.

»Blut?« Er sah halb in meine Richtung. »’türlich nicht. Bei Herzanfällen gibt’s kein Blut … Barmann, einen Gin Tonic … wenig Tonic … nun machen Sie mal, ja?«

»Und wer war das?« sagte jemand.

»Keine Ahnung. Irgendein armer Hund.«

Auf dem Bildschirm begann das Rennen, und alle, mich eingeschlossen, drehten die Köpfe, um zuzusehen, obgleich ich hinterher nicht hätte sagen können, wer gewonnen hatte. Durch Derry Welframs Tod würde meine derzeitige Aufgabe viel schwieriger, wenn nicht vorläufig ganz unlösbar sein. Von daher war das 15-Uhr-30-Rennen belanglos.

Ich verließ die Bar im allgemeinen Aufbruch nach dem Rennen und wanderte unschlüssig ein wenig umher, hielt Ausschau nach {10}anderen Dingen, die nicht so waren, wie sie sein sollten, und wie an vielen Tagen fiel mir nichts auf. Vor allem wollte ich sehen, ob irgendwer vielleicht Derry Welfram suchte, und lungerte zu diesem Zweck vor der Sanitätswache herum, doch niemand erkundigte sich nach ihm. Schließlich kam ein Aufruf über die Lautsprecheranlage, der oder die Begleiter eines Mr. D. Welfram möchten sich beim Rennvereinssekretär melden, also lungerte ich auch vor dessen Büro eine Weile herum, doch niemand nahm die Einladung an.

Welfram die Leiche reiste in einem Krankenwagen von der Rennbahn zum Leichenschauhaus, und etwas später fuhr ich in meinem unscheinbaren Audi von York ab und rief um Punkt fünf, wie gewünscht, per Autotelefon meinen unmittelbaren Vorgesetzten John Millington an.

»Was heißt, er ist tot?« wollte er wissen. »Das kann doch nicht sein.«

»Sein Herz ist stehengeblieben«, sagte ich.

»Hat ihn jemand umgebracht?«

Keiner von uns wäre darüber erstaunt gewesen, doch ich sagte: »Nein, darauf deutet nichts hin. Ich bin ihm eine Ewigkeit gefolgt. Ich habe nicht gesehen, daß ihn jemand angerempelt hätte oder etwas dergleichen. Und es gab offenbar kein Blut. Nichts Verdächtiges. Er ist einfach gestorben.«

»Mist.« Sein ärgerlicher Tonfall klang, als sei es meine Schuld. John Millington, Polizeibeamter i.R. (Chefinspektor), gegenwärtig stellvertretender Leiter des Jockey-Club-Sicherheitsdienstes, hatte sich mit meiner heimlichen und formlosen Aufnahme in seine Abteilung anscheinend nie abfinden können, obwohl wir in den drei Jahren, seit ich für ihn tätig war, schon einige Halunken von der Rennbahn vertrieben hatten.

»Der Junge ist doch ein reiner Amateur«, hatte er eingewandt, als ich ihm als vollendete Tatsache, nicht als Vorschlag präsentiert wurde. »Das Ganze ist lächerlich.«

{11}Inzwischen sagte er zwar nicht mehr, es sei lächerlich, aber wir waren keine engen Freunde geworden.

»Hat irgend jemand Wind gemacht? Nach ihm gefragt?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?« Wie immer zog er meine Fähigkeiten in Zweifel.

»Ganz sicher.« Ich erzählte ihm von meiner Wache vor den einzelnen Türen.

»Mit wem hat er sich denn getroffen? Ehe er abgekratzt ist?«

»Ich glaube nicht, daß er jemand getroffen hat, es sei denn ganz früh am Tag, bevor ich ihn entdeckt habe. Jedenfalls hat er niemand gesucht. Er hat ein paarmal am Totalisator gespielt, ein paar Biere getrunken, sich die Pferde angesehen und den Rennen zugeschaut. Er war nicht sehr beschäftigt heute.«

Millington stieß das grobe, ordinäre Wort aus, das ich zurückgehalten hatte. »Und wir sind wieder da, wo wir angefangen haben«, sagte er wütend.

»M-hm«, stimmte ich zu.

»Rufen Sie mich Montag morgen an«, sagte Millington, und ich sagte: »Gut«, und hängte ein. Heute war Samstag. Sonntags hatte ich üblicherweise frei und montags auch, außer in Notfällen. Ich sah meinen Montag rasch entschwinden.

Millington litt wie der ganze Sicherheitsdienst und die Stewards des Jockey Club noch immer darunter, daß die große Gelegenheit, den vielleicht übelsten Gesellen, der im Schatten des Rennsports sein Unwesen trieb, hinter Gitter zu bringen, vor Gericht geplatzt war. Julius Apollo Filmer war angeklagt worden, den Mord an einem Stallburschen angestiftet zu haben, der unvorsichtigerweise in einer Kneipe in Newmarket laut und betrunken verkündet hatte, er wisse Sachen über den dreckigen, verfluchten Mr. Filmer, da würde man besagtes Arschloch schneller aus dem Rennsport entfernen, als Shergar das Derby gewonnen habe.

Der bedauernswerte Stallbursche tauchte zwei Tage später mit {12}gebrochenem Genick in einem Straßengraben auf, und die Polizei trug (unterstützt von Millington) scheinbar unanfechtbare Beweise für ein Mordkomplott zusammen, um Julius Apollo Filmer als den Planer und Initiator dieses Verbrechens belangen zu können. Am Tag seines Prozesses passierten dann seltsame Dinge mit den vier Zeugen der Anklage. Eine Zeugin brach zusammen, bekam einen hysterischen Anfall und wurde in eine Nervenklinik eingewiesen, ein Zeuge verschwand völlig und wurde später in Spanien gesehen, und zwei äußerten sich merkwürdig unklar über Sachverhalte, an die sie sich vorher messerscharf hatten erinnern können. Die Verteidigung rief einen netten jungen Mann in den Zeugenstand, der unter Eid aussagte, Mr. Filmer sei überhaupt nicht in dem Hotel in Newmarket gewesen, in dem die Tat angeblich verabredet worden war, sondern habe den ganzen Abend in einem dreihundert Meilen entfernten Motel (Rechnung lag vor) mit ihm geschäftliche Angelegenheiten besprochen. Den Geschworenen wurde dabei vorenthalten, daß der wohlerzogene, gutgekleidete Jüngling mit den gefönten Haaren und der leisen Stimme bereits wegen Betrugs einsaß und in einer grünen Minna eingetroffen war.

Fast jeder andere im Gerichtssaal – Anwälte, Polizei, der Richter selbst – wußte, daß der nette junge Mann in der fraglichen Nacht gegen Kaution auf freiem Fuß gewesen war und daß Filmer, auch wenn der eigentliche Täter noch unbekannt war, ohne Zweifel die Ermordung des Stallburschen veranlaßt hatte.

Julius Apollo Filmer lächelte süffisant-zufrieden über das »Nicht schuldig«-Urteil und schloß seinen Anwalt heftig in die Arme. Die Gerechtigkeit war verhöhnt worden. Die Eltern des Stallburschen weinten bitterlich an seinem Grab, und der Jockey Club knirschte einhellig mit den Zähnen. Millington schwor, er werde Filmer auf jeden Fall noch irgendwie beim Wickel kriegen, und machte einen persönlichen Rachefeldzug daraus: Die Verfolgung dieses einen Schurken ließ ihn an fast nichts anderes mehr denken.

{13}Mit großem Zeitaufwand hatte er in den Kneipen von Newmarket noch einmal alles überprüft, was der regulären Polizei an Erkenntnissen vorlag, und herauszufinden versucht, was Paul Shacklebury, der tote Stallbursche, Nachteiliges über Filmer gewußt haben konnte. Niemand ahnte es – jedenfalls wollte es niemand zugeben. Und wem konnte man schon verübeln, daß er nicht riskieren wollte, in einem Straßengraben zu enden.

Mehr Glück hatte Millington bei der hysterischen Zeugin gehabt, die jetzt wieder daheim war, aber noch immer unter Angstzuständen litt. Sie, die Zeugin, war Zimmermädchen in dem Hotel, in dem Filmer das Komplott besiegelt hatte. Sie hatte gehört – und war ursprünglich auch bereit gewesen, dies zu beschwören –, wie Filmer zu einem nicht identifizierten Mann sagte: »Wenn er tot ist, gibt’s fünf Riesen für Sie und fünf für den Vollstrecker, also leiten Sie das in die Wege.«

Sie hatte gerade frische Handtücher ins Badezimmer gehängt, als die beiden Männer, die sich da unterhielten, aus dem Flur hereinkamen. Filmer war schroff geworden und hatte sie rausgeschmissen, und den anderen Mann hatte sie sich nicht angeschaut. Sie hatte die Worte genau behalten, ihre Bedeutung aber freilich erst später erkannt. Gerade wegen des Wortes »Vollstrecker« konnte sie sich so genau erinnern.

Einen Monat nach dem Prozeß gab sie Millington gegenüber halbwegs zu, daß sie bedroht worden war, damit sie nicht als Zeugin aussagte. Wer hatte sie bedroht? Ein Mann, den sie nicht kannte. Aber sie werde es leugnen. Sie werde alles abstreiten, werde noch einmal zusammenbrechen. Der Mann hatte gedroht, ihrer sechzehnjährigen Tochter etwas anzutun. Etwas anzutun … er hatte das ganze schauerliche Programm im einzelnen dargelegt.

Millington, der Süßholz raspeln konnte, wenn ihm danach war, hatte sie mit so manchem schönen Versprechen (das er nicht unbedingt halten würde) überredet, mehrere Tage lang zu den Rennen {14}zu kommen und dort, im Schutz verschiedener strategisch plazierter Sicherheitsbüros, aus dem Fenster zu sehen. Sie könne bequem im Verborgenen sitzen, unsichtbar, und er werde ihr ein paar Leute zeigen. Sie war nervös und erschien mit Perücke und dunkler Brille. Millington bewog sie, die Brille abzunehmen. Sie saß in einem geraden Lehnstuhl und drehte den Kopf, um über ihre Schulter auf mich zu blicken, denn ich stand schweigend hinter ihr.

»Stören Sie sich nicht an ihm«, sagte Millington. »Er gehört zur Firma.«

An Renntagen kam alle Welt an diesen Fenstern vorbei, und eben deshalb befanden sie sich dort. In drei langen Sitzungen während einer einzigen Woche auf drei verschiedenen Rennbahnen zeigte Millington ihr nahezu jeden bekannten Freund und Weggefährten Filmers, doch sie schüttelte bei allen den Kopf. Beim vierten Anlauf in der folgenden Woche schlenderte Filmer selbst vorbei, und ich dachte schon, wir würden einen neuerlichen hysterischen Anfall erleben. Nichts da; unser Zimmermädchen weinte zwar, schlotterte und wollte wiederholt versichert sein, er werde nie erfahren, daß sie ihn gesehen hatte, blieb aber auf dem Posten. Und kurz darauf erstaunte sie uns, indem sie auf eine Gruppe von Vorübergehenden wies, die wir noch nie mit Filmer in Verbindung gebracht hatten.

»Das ist er«, sagte sie keuchend. »O mein Gott … das ist er … den würde ich überall rauskennen.«

»Welchen?« sagte Millington eindringlich.

»Den in Blau … mit den gräulichen Haaren. O mein Gott … daß er bloß nichts erfährt …« Ihre Stimme hob sich vor Panik.

Ich hörte noch, wie Millington wieder anfing, sie zu beruhigen, als ich schnell aus dem Büro ins Freie rannte und mich dort augenblicklich dem viel langsameren Tempo der Leute anpaßte, die für das nächste Rennen vom Führring zur Tribüne strebten. Der blaue Anzug mit dem silbernen Haarschopf darüber hatte es nicht {15}eilig, er ließ sich vom Strom der Menge tragen. Ich folgte ihm heimlich für den Rest des Nachmittags, und nur einmal nahm er mit Filmer Kontakt auf, scheinbar ganz zufällig, wie unter Fremden.

Die Begegnung sah aus, als frage der blaue Anzug Filmer, wie spät es sei. Filmer blickte auf seine Armbanduhr und sagte etwas. Blauer Anzug nickte und ging weiter. Blauer Anzug war zwar Filmers Mann, sollte aber in der Öffentlichkeit nicht als solcher zu erkennen sein: das gleiche wie bei mir und Millington.

Ich folgte dem marineblauen Anzug von der Rennbahn in den Heimreiseverkehr und rief vom Auto aus Millington an.

»Er fährt einen Jaguar«, sagte ich, »Kennzeichen A 576FDD. Er hat mit Filmer gesprochen. Es ist unser Mann.«

»Gut.«

»Wie geht’s der Dame?« fragte ich.

»Wem? Ach so. Der mußte ich Harrison bis nach Newmarket mitgeben. Sie war wieder halb ausgerastet. Haben Sie Ihren Mann noch im Visier?«

»Ja.«

»Ich rufe Sie zurück.«

Harrison war einer von Millingtons regulärer Truppe, ein Expolizist, dick, onkelhaft, kurz vor der Rente. Ich hatte noch nie mit ihm gesprochen, kannte ihn vom Sehen aber gut, wie alle anderen auch. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte, zu einer Mannschaft zu gehören, die nicht wußte, daß ich da war; fast so, als wäre ich ein Geist.

Ich fiel nie auf. Ich war neunundzwanzig, einsdreiundachtzig groß, hatte braune Haare, braune Augen, war 76 Kilo schwer und, wie man sagt, ohne besondere Kennzeichen. Stets ging ich in der Menge der Rennbahnbesucher auf, schaute in mein Programm, wanderte umher, sah mir Pferde an, schaute den Rennen zu, schloß die eine oder andere Wette ab. Es war einfach, weil es immer von Leuten wimmelte, die genau das gleiche machten. Ich war {16}ein Schaf, das mit der Herde zog. Ich änderte meine Kleidung und mein Erscheinungsbild von Tag zu Tag, schloß keine Bekanntschaften, und solch ein Leben war oft einsam, aber auch faszinierend.

Ich kannte sämtliche Jockeys und Trainer vom Sehen und sehr viele Besitzer, denn dazu brauchte man nur Augen und die Rennprogramme, aber ich wußte auch aus der Erinnerung viel über sie, da ich meine Kinder- und Jugendjahre weitgehend auf Rennplätzen zugebracht hatte, im Schlepptau einer rennbegeisterten älteren Tante, bei der ich aufgewachsen war. Durch ihre Kenntnisse und ihre Erzähllust war ich zu einer echten wandelnden Datenbank geworden; und mit achtzehn, nach ihrem Tod, war ich dann für sieben Jahre durch die Welt gereist. Als ich zurückkam, sah ich dem unreifen Jugendlichen, der ich gewesen war, nicht mehr ähnlich, und die Augen der Leute, die mich als Kind flüchtig gekannt hatten, glitten ahnungslos über mich hinweg.

Ich kehrte schließlich nach England zurück, weil ich mit fünfundzwanzig das Verfügungsrecht über die Erbschaft meiner Tante wie auch meines Vaters erhielt und meine Treuhänder Anweisungen haben wollten. Ich hatte mich hin und wieder bei ihnen gemeldet, und sie hatten des öfteren Geld an weitentfernte Stützpunkte geschickt, doch als ich das stille, von Büchern gesäumte Anwaltsbüro des Seniorchefs von Cornborough, Cross & George betrat, empfing der alte Clement Cornborough mich mit einem Stirnrunzeln und blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen.

»Sie sind doch nicht … ehm …?« Suchend blickte er mir über die Schulter, ob der von ihm Erwartete noch kam.

»Doch … ich bin’s. Tor Kelsey.«

»Guter Gott.« Er erhob sich langsam, beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Sie haben sich aber verändert. Sie … ehm …«

»Größer, schwerer und älter«, sagte ich nickend. Auch sonnengebräunt damals, von einem Aufenthalt in Mexiko.

{17}»Ich hatte … ehm … ein Mittagessen vorgesehen«, meinte er unsicher.

»Das wär ausgezeichnet«, sagte ich.

Er ging mit mir in ein stilles Restaurant, voll von anderen Rechtsanwälten, die ihm ernst zunickten. Beim Rinderbraten teilte er mir mit, ich würde niemals für meinen Lebensunterhalt arbeiten müssen (das wußte ich schon) und erkundigte sich im gleichen Atemzug, was ich mit meinem Leben anfangen wolle, eine Frage, die ich nicht beantworten konnte. Daß ich sieben Jahre hindurch leben gelernt hatte, war etwas anderes, aber ich besaß keinerlei formale Ausbildung. In Büros bekam ich Platzangst, und studiert hatte ich auch nicht. Ich kannte mich mit Maschinen aus und war flink mit den Händen. Ich hatte keinen überwältigenden Ehrgeiz. Ich war kein Unternehmer wie mein Vater, würde aber auch das Vermögen, das er mir hinterlassen hatte, nicht durchbringen.

»Was haben Sie denn so gemacht?« sagte der alte Cornborough, tapfer plaudernd. »Sie haben bestimmt ein paar interessante Gegenden gesehen, was?«

Reiseerzählungen waren ziemlich langweilig, fand ich. Das Erlebnis selbst war in jedem Fall besser. »Meistens habe ich mit Pferden gearbeitet«, sagte ich höflich. »Australien, Südamerika, in den Staaten, überall. Rennpferde, Poloponys, ziemlich viel in Rodeos. Einmal in einem Zirkus.«

»Gütiger Himmel.«

»Es ist aber nicht mehr so einfach heute, seine Überfahrt abzuarbeiten, und es wird immer schwieriger. Zu viele Länder verbieten es. Ich werde es auch nicht mehr machen. War lange genug. Ich bin da rausgewachsen.«

»Und was jetzt?«

»Weiß nicht.« Ich zuckte die Achseln. »Mich umsehen. Ich werde mich nicht bei der Familie meiner Mutter melden, sagen Sie ihnen also nicht, daß ich hier bin.«

»Wie Sie wünschen.«

{18}Meine Mutter stammte aus einer verarmten Jagdreiterfamilie, die schockiert war, als sie mit zwanzig einen sechsundfünfzig Jahre alten Hünen aus Yorkshire heiratete, der über ein Gebrauchtwagenimperium gebot und mit niemandem aus dem Adelskalender verwandt war. Sie hatten behauptet, es sei nur dazu gekommen, weil er ihr dauernd Pferde schenkte, doch für mich klang es immer, als habe sie sich wirklich zu ihm hingezogen gefühlt. Er jedenfalls war in sie vernarrt, wie seine Schwester, meine Tante, mir oft sagte, und hatte im Leben keinen Sinn mehr gesehen, nachdem sie, als ich zwei war, bei einem Jagdunfall den Tod gefunden hatte. Er lebte noch drei Jahre und starb an Krebs, und da die Familie meiner Mutter mich nicht haben wollte, hatte meine Tante Viv Kelsey mich unter ihre Fittiche genommen und mir mein junges Leben versüßt.

Für die unverheiratete Tante Viv war ich das langersehnte Kind, das sie nicht hatte bekommen können. Sie mußte sechzig gewesen sein, als sie mich aufnahm, doch war sie mir nie alt vorgekommen. Im Innern war sie immer jung, und ich vermißte sie entsetzlich, als sie starb.

Millingtons Stimme sagte: »Der Wagen, den Sie verfolgen … folgen Sie ihm noch?«

»In Sichtweite.«

»Er ist auf einen Derry Welfram registriert. Schon mal gehört von ihm?«

»Nein.«

Millington hatte noch Verbindungen zur Polizei und schien mühelos an nützliche Informationen aus ihrem Computer heranzukommen.

»Sein angegebener Wohnsitz ist Parkway Mansions, Maida Vale, London«, sagte er. »Falls Sie ihn verlieren, schauen Sie dort nach.«

»Gut.«

Derry Welfram fuhr entgegenkommenderweise direkt nach {19}Parkway Mansions, und andere Spürnasen von Millington identifizierten ihn später einwandfrei. Millington legte den beiden Zeugen mit dem unzuverlässigen Gedächtnis Welframs Foto vor und schilderte mir hinterher das Resultat: »Die haben sich beide vor Angst in die Hosen gemacht und gestammelt, sie hätten den Mann noch nie gesehen, nie-niemals.« Aber sie waren alle beide so wirkungsvoll eingeschüchtert worden, daß Millington überhaupt nichts aus ihnen herausbrachte.

Millington trug mir auf, Derry Welfram zu folgen, wenn ich ihn wieder bei den Rennen sah, um festzustellen, mit wem er sonst noch sprach, und an dem Tag, als der marineblaue Anzug auf seine Knöpfe fiel, hatte ich das gerade etwa einen Monat lang getan. Welfram hatte bis dahin mit etwa zehn Leuten eindringlich geredet und sich dabei als Unglücksbote erwiesen, der überall, wo er seine schlechten Neuigkeiten anbrachte, rief er Schrecken, Zittern, leere Blicke hervor. Und da ich eine raffinierte, in ein Fernglas eingebaute Kamera besaß (neben einer, die wie ein Feuerzeug aussah), hatten wir brauchbare Porträts von den meisten der erschütterten Kontaktpersonen Welframs, wenn auch bis jetzt erst die Hälfte davon identifiziert war. Millingtons Leute arbeiteten daran.

Millington war zu dem Schluß gekommen, daß Welfram ein Angstmacher war, der Schulden eintrieb: ein Knochenbrecher zum Mieten, nicht allein Filmers Mann. Ich hatte ihn nach dem ersten Mal nur einmal noch mit Filmer sprechen sehen, was nicht hieß, daß er es nicht öfter getan hatte. Gewöhnlich fanden jeden Tag auf mindestens drei verschiedenen Bahnen in England Rennveranstaltungen statt, und manchmal war es völlig offen, wohin unser Wild gehen würde. Außerdem besuchte Filmer die Rennen seltener als Welfram, höchstens zwei-, dreimal die Woche. Filmer besaß Anteile an zahlreichen Pferden und ging für gewöhnlich dorthin, wo sie starteten; und ich schaute jeden Morgen in der Rennpresse nach ihrem Bestimmungsort.

Das Problem bei Filmer war nicht, was er machte, sondern ihn {20}dabei zu erwischen. Auf den ersten, zweiten, dritten Blick tat er nichts Unrechtes. Er kaufte Rennpferde, ließ sie trainieren, sah sich ihre Rennen an, genoß all die Freuden eines Besitzers. Erst nach und nach in den zehn Jahren, seit Filmer auf der Bildfläche erschienen war, hatte es hochgezogene Brauen gegeben, ungläubiges Stirnrunzeln, verwundert geschürzte Lippen.

Filmer kaufte hin und wieder Pferde auf Auktionen, über einen Agenten oder Trainer, erstand sie meistens aber aus privater Hand, ein völlig korrektes Verfahren. Jeder Besitzer hatte jederzeit die Möglichkeit, seine Pferde an jemand anders zu verkaufen. Das Erstaunliche an einigen Erwerbungen Filmers war, daß niemand erwartet hätte, der frühere Besitzer würde das Pferd überhaupt verkaufen.

Millington hatte mich während meiner ersten Woche beim Sicherheitsdienst schon über ihn informiert, jedoch nur als jemand, auf den man allgemein achten sollte, nicht als vordringlichen Fall.

»Er setzt Leute unter Druck«, sagte Millington. »Da sind wir uns sicher, aber wir wissen nicht wie. Er ist viel zu gerissen, um was vor unserer Nase zu machen. Glauben Sie nur nicht, daß Sie ihn erwischen, wie er bündelweise Geld für Informationen verteilt oder irgend so etwas Plumpes. Halten Sie nach Leuten Ausschau, die nervös sind, wenn er in der Nähe ist, okay?«

»In Ordnung.«

Von denen hatte ich einige ausgemacht. Die beiden Trainer, die seine Pferde betreuten, nahmen sich vor ihm in acht, und die meisten Jockeys, die sie ritten, gaben ihm die Hand nur mit den Fingerspitzen. Die Presse, die wußte, daß er keine Fragen beantwortete, nahm sich kaum die Mühe, ihm welche zu stellen. Eine ehrerbietige, dekorative Freundin tanzte nach seiner Pfeife, und der männliche Begleiter, der häufig mit dabei war, parierte ebenfalls. Dennoch war an seinem allgemeinen Verhalten bei den Rennen nichts Rüdes. Er lächelte zur gegebenen Zeit, gratulierte {21}anderen Besitzern nickend auf dem Absattelplatz für den Sieger und tätschelte seine Pferde, wenn sie ihn zufriedenstellten.

Er war achtundvierzig, massig, knapp ein Meter achtzig groß. Millington sagte, die Masse bestehe vorwiegend aus Muskeln, da Filmer dreimal die Woche in ein Fitneßcenter rackern gehe. Über den Muskeln befand sich ein wohlgeformter Kopf mit großen anliegenden Ohren und vollem schwarzem, graumeliertem Haar. Ich war nicht nah genug an ihn herangekommen, um die Farbe seiner Augen zu sehen, doch laut Millington waren sie grünlichbraun.

Es ärgerte Millington ziemlich, daß ich mich weigerte, Filmer groß zu beschatten. Zum einen aber hätte der mich irgendwann sicher bemerkt, und zum anderen erübrigte es sich. Filmer war ein Gewohnheitstier, sein Weg führte in vorhersehbaren Abständen vom Auto zum Lunch, zum Buchmacher, zur Tribüne, zu den Pferden. Auf jeder Bahn hatte er einen Lieblingsplatz, von wo er den Rennen zuschaute, einen Lieblingsaussichtspunkt mit Blick auf den Führring und eine Lieblingsbar, wo er meistens Lager trank und der Freundin Wodka aufdrängte. Er hatte auf zwei Rennbahnen eine Loge gemietet und stand auf mehreren anderen auf der Warteliste, wobei es ihm eher um Ungestörtheit zu gehen schien als um die großzügige Bewirtung von Freunden.

Geboren war er auf der Insel Man, dieser felsigen, den Blicken Englands entzogenen Steueroase in der stürmischen Irischen See, und aufgewachsen in einem Hort von Millionären, die hier Zuflucht vor den schwindelerregend hohen Steuern des Festlands suchten. Sein Vater war als schlauer Fuchs bewundert worden, der es verstand, den Geflohenen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Der junge Julius Apollo Filmer (sein richtiger Name) hatte gut gelernt und den Vater mit seinen Fischzügen noch übertroffen, bis er zu ferneren Ufern aufgebrochen war; und an dem Punkt hatten sie, wie Millington düster sagte, seine Spur verloren. Etwa sechzehn Jahre später tauchte Filmer dann auf Rennbahnen auf, gab als {22}Beruf »Direktor« an und schwieg sich über die Herkunft seines stattlichen Einkommens aus.

Im Vorfeld des Komplottprozesses hatte die Polizei sich nach Kräften bemüht, Näheres über seine Verhältnisse ans Licht zu fördern, doch Julius Apollo wußte, wozu Firmen mit Auslandssitz gut waren, und hatte sie im Nebel stehenlassen. Offiziell lebte er noch immer auf der Insel Man, obgleich er nie lange dort war. Während der Flachsaison teilte er seine Zeit zwischen Hotels in Newmarket und Paris auf, und im Winter verschwand er, soweit es den Sicherheitsdienst betraf, ganz aus dem Blickfeld. Hindernisrennen, der Wintersport, lockten ihn nicht.

Während meines ersten Sommers beim Sicherheitsdienst hatte er zu jedermanns Überraschung einen der vielversprechendsten Zweijährigen im Land gekauft. Überraschung deshalb, weil der vorherige Besitzer, Ezra Gideon, einer der geborenen Aristokraten des Rennsports war, ein hochgeachteter und ungemein reicher älterer Mann, der für seine Pferde lebte und sich an ihren Erfolgen freute. Niemand hatte ihn dazu bewegen können zu sagen, weshalb er sich von seinem besten Tier getrennt hatte oder zu welchem Preis: Er ertrug den Höhenflug des Pferdes im darauffolgenden Herbst, seine glänzende Dreijährigen-Saison und schließlich seine Multi-Millionen-Pfund-Syndikatisierung für die Zucht mit gleichbleibend steinerner Miene.

Nach Filmers Freispruch hatte Ezra Gideon ihm erneut einen sehr aussichtsreichen Zweijährigen verkauft. Die hohen Herren des Jockey Club flehten Gideon praktisch auf Knien an, ihnen den Grund zu nennen. Er sagte lediglich, es sei eine private Vereinbarung – und seitdem hatte man ihn auf keiner Rennbahn mehr gesehen.

An dem Tag, als Derry Welfram starb, fuhr ich heim nach London und fragte mich einmal mehr und wie so viele Leute schon so oft, welches Druckmittel Filmer gegen Gideon eingesetzt haben mochte. Erpresser waren weitgehend arbeitslos geworden, seit {23}Ehebruch und Homosexualität durch alle Medien geisterten, und man konnte sich den altmodischen, aufrechten Ezra Gideon nicht als Missetäter einer neu in Mode gekommenen Spielart, etwa als Insider-Händler oder Kinderschänder vorstellen. Und doch hätte er Filmer ohne überaus zwingenden Grund niemals zwei solche Pferde verkauft und sich um das größte Vergnügen seines Lebens gebracht.

Armer alter Mann, dachte ich. Derry Welfram oder jemand ähnliches hatte ihm zugesetzt, so wie den Zeugen, wie dem toten Paul Shacklebury in seinem Graben. Armer alter Mann – zu viel Angst vor den Folgen, um sich helfen zu lassen.

Bevor ich zu Hause ankam, summte noch einmal das Telefon in meinem Wagen, und ich ergriff den Hörer und hörte Millingtons Stimme.

»Der Chef möchte Sie sehen«, sagte er. »Heute abend um acht, an gewohnter Stelle. Irgendwelche Einwände?«

»Nein«, sagte ich. »Ich werde dort sein. Wissen Sie … ehm … warum?«

»Ich nehme an«, sagte Millington, »weil Ezra Gideon sich erschossen hat.«

{24}2

Der Chef, Brigadier Valentine Catto, Sicherheitsdirektor des Jockey Club, war klein, mager und ein Kommandeur vom gelichteten blonden Scheitel bis zu den polierten Schuhspitzen. Er verfügte über all das Organisationstalent, das man brauchte, um in der Armee aufzusteigen, er war intelligent, ruhig und hörte einem aufmerksam zu.

Ich lernte ihn kennen, als der alte Clement Cornborough mich irgendwann erneut zum Lunch einlud, um, wie er sagte, eingehend die Auflösung der Treuhandschaft zu besprechen, die er vor zwanzig Jahren für mich übernommen hatte. Eine kleine Feier, sagte er. In seinem Club.

Sein Club war, wie sich zeigte, der Hobbs Sandwich Club nahe dem als Kennington-Oval bekannten Kricketplatz, ein viktorianisches Schlößchen mit üppiger dunkler Bar und üppigen dunklen Clubräumen; die eichengetäfelten Wände schmückten zahllose Porträts von Herren mit kleinen Kricketmützen, weiten Flanellhosen und (ziemlich oft) Backenbärten.

Hobbs Sandwich, sagte er, als er durch die Buntglastür voranging, war nach zwei großen Kricketspielern aus Surrey, aus den Zwischenkriegsjahren benannt – Sir Jack Hobbs, einer der wenigen jemals geadelten Kricketspieler, und Andrew Sandham, der einhundertsiebenmal 100 Runs im Spitzenkricket geschafft hatte. Lange bevor ich geboren war, sagte er.

Ich hatte seit der fernen Schulzeit kein Kricket gespielt und es auch damals nicht sonderlich gemocht: Clement Cornborough erwies sich als lebenslanger Fan.

In der Bar stellte er mich einem ebenso fanatischen Anhänger {25}vor, seinem Freund Val Catto, der dann mit uns zusammen aß. Über mein Treuhandvermögen fiel kein Wort. Die beiden redeten fünfzehn Minuten lang ausschließlich über Kricket, dann begann der Freund Catto mich über mein Leben zu befragen. Unbehaglich dämmerte mir nach einiger Zeit, daß ich verhört wurde, auch wenn ich nicht wußte, wozu. Hinterher erfuhr ich, daß Catto eines Tages, in der Teepause während eines Kricketspiels, Cornborough geklagt hatte, was er wirklich brauche, sei jemand, der die Rennsportszene genau kenne, den aber umgekehrt die Szene nicht kenne. Einen Mann, der Augen und Ohren offenhalte. Einen stillen, unbekannten Ermittler. Eine Fliege an der Wand des Rennsports, die keiner bemerke. So jemand, hatten sie gemeinsam geseufzt, sei wohl kaum zu finden. Und ein paar Wochen später, als ich in Cornboroughs Büro trat (zumindest aber, als ich es verließ), war dem Anwalt ein Geistesblitz gekommen, von dem er seinem Freund Val erzählte.

Das Essen im Hobbs Sandwich (bestehend aus allem anderen als Sandwiches) hatte bis weit in den Nachmittag hinein gedauert, und als es vorüber war, hatte ich einen Job. Groß dazu überredet werden mußte ich nicht, da er mir von Anfang an interessant erschien. Ein Monat Probezeit für beide Seiten, sagte Brigadier Catto und nannte ein Gehalt, bei dem Cornborough breit lächelte.

»Was ist denn daran so komisch?« fragte der Brigadier. »Es ist normal. Das zahlen wir den meisten unserer Leute am Anfang.«

»Ich vergaß es zu sagen. Tor ist … ehm …« Er zögerte, vielleicht weil er sich fragte, ob die Beendigung des Satzes unter Verletzung der Schweigepflicht fiel, denn nach einer Weile fuhr er fort: »Am besten sagt er’s Ihnen selbst.«

»Ich akzeptiere das Gehalt«, sagte ich.

»Was haben Sie mir verschwiegen?« fragte Catto, plötzlich ganz der Chef, mit nicht direkt argwöhnischem, aber ernstem Augenausdruck: und ich begriff, daß ich mich nicht einem etwas kauzigen, freundlichen Kricketnarren verdingte, sondern dem {26}zielbewußten, energischen Mann, der eine Brigade befehligt hatte und jetzt den Rennsport sauberhielt. Was ich tun sollte, war kein Spiel, gab er mir zu verstehen, und wenn ich es dafür hielt, erübrigte sich alles Weitere.

Ich sagte trocken: »Ich habe ein Privateinkommen, das nach Steuerabzug rund zwanzigmal so hoch ist wie das von Ihnen angebotene Gehalt, aber ich nehme Ihr Geld trotzdem, Sir, und ich werde dafür arbeiten.«

Er hörte das Engagement, das zugrundeliegende Versprechen heraus, und nach einer langen Pause lächelte er kurz und nickte.

»In Ordnung«, sagte er. »Wann können Sie anfangen?«

Ich hatte am nächsten Tag bei den Rennen in Epsom angefangen, hatte mir die Typen neu eingeprägt, schlafende Erinnerungen aufgeweckt, Tante Vivs muntere Stimme fast so deutlich im Kopf gehört, als ob sie noch lebte. »Da ist Paddy Fredericks. Hab ich dir erzählt, daß er mal mit Betsy verheiratet war, die jetzt Mrs. Glovebinder ist? Brad Glovebinder hatte Pferde bei Paddy Fredericks, aber als er Betsy stibitzte, hat er seine Pferde auch mitgenommen … Unrecht regiert die Welt. Tag, Paddy, wie geht’s? Dies ist mein Neffe Torquil, aber das wissen Sie wohl, Sie sind ihm ja schon öfter begegnet. Glückwunsch zu Ihrem Sieg, Paddy …«, und Paddy war etwas mit uns trinken gegangen und hatte mir eine Cola spendiert.

Ich traf an jenem ersten Tag in Epsom unverhofft mit dem Trainer Paddy Fredericks zusammen, und er hatte mich nicht erkannt. Da war kein Zögern oder Stutzen. Tante Viv war schon fast acht Jahre tot, und ich hatte mich zu sehr verändert; und von diesem frühen Zeitpunkt an war ich beruhigt, daß meine sonderbare neue Nicht-Identität funktionieren würde.

Da Rennsportschurken es sich zur Aufgabe machten, den gesamten Sicherheitsdienst vom Sehen her zu kennen, sagte Brigadier Catto, wenn er mich jemals persönlich sprechen wolle, werde das nicht auf der Rennbahn sein, sondern stets in der Bar des {27}Hobbs Sandwich, und so war es in den letzten drei Jahren auch gewesen. Er und Clement Cornborough hatten sich dafür eingesetzt, daß ich Vollmitglied des Clubs wurde, und mich ermuntert, hin und wieder allein hinzugehen, und obwohl mir die Geheimnistuerei des Brigadiers ein wenig überspannt vorkam, hatte ich mich seinen Wünschen nicht nur gefügt, sondern sogar Gefallen daran gefunden, auch wenn ich dabei viel mehr über Kricket erfuhr, als ich eigentlich wollte.

Am Abend von Derry Welframs Tod trat ich um zehn vor acht in die Bar und bestellte ein Glas Burgunder und zwei Bratensandwiches; sie kamen sofort, weil jetzt in der Nachkricketsaison hundert Getreue weniger zur Stelle waren, die lauthals über Beinbrüche und Vereinspolitik palaverten. Es gab zwar noch eine ganze Reihe Gäste, aber von Ende September bis Mitte April konnte man den Abend über reden, ohne am nächsten Tag heiser zu sein, und als der Brigadier erschien, begrüßte er mich hörbar und vergnügt als alten Clubgefährten und begann mir auseinanderzusetzen, was er von dem soeben für die Wintertournee aufgestellten Länderspielteam hielt.

»Die haben Withers nicht reingeholt«, meckerte er. »Wie wollen sie jemals Balping aus der Mannschaft kriegen, wenn sie unseren besten Werfer daheim vertrocknen lassen?«

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, und er wußte es. Mit einem winzigen Lächeln bestellte er einen doppelten Scotch, verdünnt mit einem großen Glas Wasser, und führte mich zu einem der kleinen Tische weiter hinten im Raum, wobei er immer noch über das Warum und Weshalb der Mannschaftsaufstellung plauderte.

»Also«, sagte er, ohne Tempo oder Lautstärke zu ändern. »Welfram ist tot, Shacklebury ist tot, Gideon ist tot, und das Problem ist, was tun wir jetzt?«

Die Frage konnte nur rhetorisch sein. Er rief mich nie ins Hobbs Sandwich, um sich beraten zu lassen, sondern stets, um mich zu neuen Maßnahmen anzuleiten, obgleich er zuhörte und seine {28}Pläne änderte, wenn ich schwerwiegende Einwände vorbrachte, was nicht oft geschah. Er wartete aber einen Moment, als wünsche er eine Antwort, und trank bedächtig einen Schluck dünnen Whisky.

»Hat Mr. Gideon irgendeine Nachricht hinterlassen?« fragte ich schließlich.

»Unseres Wissens nicht. Keine nützliche Erklärung, der wir entnehmen könnten, warum er Filmer die Pferde verkauft hat, falls Sie das meinen. Es sei denn, sie kommt nächste Woche mit der Post, aber das bezweifle ich stark.«

Gideon hatte das Weiterleben mehr gefürchtet als den Tod, dachte ich. Die Drohung mußte den Lebenden gegolten haben: eine anhaltende, ständige Bedrohung.

»Mr. Gideon hat Töchter«, sagte ich.

Der Brigadier nickte. »Drei. Und fünf Enkel. Seine Frau starb vor zwei Jahren, wie Ihnen wohl bekannt ist. Verstehe ich Sie richtig?«

»Daß die Töchter und Enkelkinder Geiseln waren? Ja. Meinen Sie, die könnten das wissen?«

»Bestimmt nicht«, sagte der Brigadier. »Ich habe heute mit seiner ältesten Tochter gesprochen. Nette, vernünftige Frau um die Fünfzig. Gideon erschoß sich gestern abend gegen fünf, nehmen sie an, aber gefunden wurde er erst Stunden später, da er es im Wald getan hat. Ich war heute im Haus. Seine Tochter Sarah sagte, er sei in letzter Zeit äußerst deprimiert gewesen, jeden Tag schlimmer, doch sie habe nicht gewußt, woran es lag. Er habe nicht darüber sprechen wollen. Natürlich weinte Sarah, und natürlich fühlte sie sich schuldig, weil sie es nicht verhindert hat, dabei hätte sie das gar nicht gekonnt. Es ist so gut wie unmöglich, einen beschlossenen Selbstmord zu verhindern, der Mensch läßt sich nicht zum Weiterleben zwingen. Außer in Gefangenschaft natürlich. Jedenfalls, wenn sie irgendeine Art von Geisel war, hat sie nichts davon gewußt. So ein Schuldbewußtsein war das nicht.«

{29}Ich bot ihm eins von meinen noch unangerührten Sandwiches an. Geistesabwesend griff er zu und begann zu kauen, und ich selber aß auch eins. Das Problem, wie man gegen Filmer vorgehen könnte, spiegelte sich in verdrießlichen Falten auf seiner Stirn, und ich hatte gehört, daß er das Scheitern des Komplottprozesses als persönliches Versagen ansah.

»Ich habe Ezra Gideon besucht, nachdem Sie und John Millington Welfram aufgestöbert hatten«, sagte er. »Ich zeigte Ezra Ihr Foto von Welfram. Ich dachte, er fällt in Ohnmacht, so blaß wurde er, aber geredet hat er dennoch nicht. Und jetzt, verdammt noch mal, haben wir an einem Tag beide Kontakte verloren. Wir wissen nicht, wen Filmer sich als nächstes vornimmt oder ob er schon wieder zugange ist, und es wird teuflisch schwer sein, noch so einen Angstmacher aufzuspüren.«

»Wahrscheinlich hat er selbst noch keinen gefunden«, sagte ich. »Bestimmt keinen gleichwertigen. So verbreitet sind die doch nicht, oder?«

»Die Polizei sagt, sie werden jünger.«

Er schaute ungewöhnlich mutlos drein für jemand, dessen Erfolgsquote sonst rundum beeindruckend war. Die verlorene Schlacht wurmte ihn; die Siege waren abgetan. Ich trank Wein und wartete darauf, daß der Kommandeur in dem besorgten Mann zum Vorschein kam, wartete darauf, daß er den Aktionsplan darlegte.

Er überraschte mich jedoch, indem er sagte: »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie bei dem Job so lange bleiben.«

»Wieso nicht?«

»Das wissen Sie doch ganz genau. Sie sind ja nicht dumm. Clement sagte mir, der Haufen Geld, den Ihr Vater Ihnen hinterließ, hat sich zwanzig Jahre lang nichts als vermehrt und ist gewachsen wie ein Pilz. Wächst immer noch. Wie ein ganzes Feld von Pilzen. Warum gehen Sie nicht hin und pflücken sie?«

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und fragte mich, was {30}ich sagen sollte. Ich wußte sehr gut, warum ich sie nicht pflückte, war mir aber nicht sicher, ob es auch vernünftig klang.

»Kommen Sie«, sagte er. »Ich muß das wissen.«

Ich sah in seine gespannten Augen und spürte seine Konzentration, und plötzlich wurde mir klar, daß er, ohne es auszusprechen, meine Antwort offenbar als Grundlage für den Einsatzplan nehmen wollte.

»Es ist gar nicht so einfach«, sagte ich langsam, »und lachen Sie jetzt nicht, es ist wirklich nicht so einfach, sich alles leisten zu können, was man will. Abgesehen von den Kronjuwelen und derlei Kleinigkeiten. Na ja … mir fällt es nicht leicht. Ich bin wie ein Kind, das auf einen Süßwarenladen losgelassen wird. Ich könnte essen und essen … mich krank futtern … und nur immer noch mehr wollen … und hoffnungslos abschlaffen. Also lasse ich die Finger von den Bonbons und beschäftige mich damit, daß ich Gauner verfolge. Wäre das eine Antwort?«

Er brummte unverbindlich. »Wie stark ist die Versuchung?«

»An eiskalten Tagen bei Wind und Schneeregen, auf einer Bahn wie Doncaster, wirklich sehr stark. In Ascot bei Sonnenschein spüre ich sie nicht.«

»Im Ernst«, sagte er. »Drücken wir es mal anders aus. Wie stark ist Ihr Engagement für den Sicherheitsdienst?«

»Das sind an sich zwei verschiedene Dinge«, sagte ich. »Ich pflücke nicht allzu viele Pilze, weil ich Ordnung halten will … festen Boden unter den Füßen haben möchte. Pilze können schließlich halluzinogen sein. Ich arbeite für Sie, für den Sicherheitsdienst, statt im Bankgeschäft oder als Landwirt und so weiter, weil es mir gefällt und mir eigentlich gar nicht so schlecht von der Hand geht; außerdem ist es nützlich, und im Däumchendrehen bin ich nicht besonders gut. Ob ich mein Leben für Sie opfern würde, weiß ich nicht. Wollten Sie das hören?«

Seine Mundwinkel zuckten. Er sagte: »Also gut. Wie stehen {31}Sie denn heute so zur Gefahr? Ich weiß, daß Sie auf Ihren Reisen ziemlich waghalsige Sachen gemacht haben.«

Nach kurzem Zögern sagte ich: »Welche Art von Gefahr?«

»Körperliche.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken und sah mich mit ruhigem Blick an. »Möglicherweise.«

»Was soll ich denn tun?«

Wir waren beim Zweck der Zusammenkunft angelangt, aber er zauderte immer noch.

Ich wußte irgendwie, daß er sich wegen der von ihm so genannten Pilze angewöhnt hatte, mit mir so zu sprechen, wie er es tat, wohl Vorschläge zu machen, selten aber ausdrückliche Befehle zu erteilen. Hätte ich ihm als Offizier in der Armee unterstanden, wäre er direkter gewesen. Millington, der von den Pilzen nichts wußte, konnte mich hemmungslos herumkommandieren wie ein Hauptfeldwebel und tat es in Streßsituationen knallhart.

Millington sagte meistens Kelsey zu mir und nur an guten Tagen auch mal Tor. (»Tor? Was ist denn das für ein Name?« hatte er am Anfang zu wissen verlangt. »Die Kurzform von Torquil«, sagte ich. »Torquil? Haha. Ich kann es Ihnen nicht verdenken.«) Sich selbst nannte er stets Millington (»Hier Millington«, wenn er anrief), und so dachte ich auch an ihn – er hatte mich nie aufgefordert, John zu ihm zu sagen. Ich nahm an, daß ein Mann, der lange in einer streng hierarchischen Organisation gedient hatte, Nachnamen ganz natürlich fand.

Die Aufmerksamkeit des Brigadiers schien weiterhin auf das Glas gerichtet, das er langsam in seinen Händen drehte, doch schließlich setzte er es exakt auf die Mitte eines Bierfilzes, als sei er zu einem ebenso exakten Schluß gelangt.

»Ich habe gestern einen Anruf von meinem Kollegen beim kanadischen Jockey Club bekommen.« Wieder hielt er inne. »Waren Sie schon mal in Kanada?«

»Ja«, sagte ich. »Eine Zeitlang, so ungefähr drei Monate, {32}hauptsächlich im Westen. Calgary … Vancouver … von dort bin ich mit dem Schiff nach Alaska rauf.«

»Waren Sie in Kanada beim Pferderennen?«

»Ein paarmal, ja, aber das muß so sechs Jahre her sein … und ich kenne da niemand –«, verwirrt brach ich ab, da ich nicht wußte, um was es ihm ging.

»Sind Sie über diesen Zug informiert?« fragte er. »Den Transkontinentalen Erlebnis- und Rennexpress? Schon mal gehört davon?«

»Hm«, sagte ich nachdenklich. »Ich habe neulich was darüber gelesen. Lauter große kanadische Besitzer, die mit ihren Pferden auf Vergnügungstour gehen und sie auf Rennbahnen entlang der Strecke laufen lassen. Meinen Sie den?«

»Den meine ich. Aber die Besitzer sind nicht alles Kanadier. Es sind auch Amerikaner dabei, einige Australier und ein paar Briten. Einer der britischen Passagiere ist Julius Filmer.«

»Oh«, sagte ich.

»O ja. Der Jockey Club von Kanada hat der ganzen Geschichte seinen Segen gegeben, weil sie weltweite Publicity bringt und sie sich Rekordbesucherzahlen erhoffen, neuen Auftrieb für den gesamten kanadischen Rennsport. Mein Kollege Bill Baudelaire sagte mir gestern, er habe mit der Firma gesprochen, die das alles arrangiert – anscheinend gibt’s da regelmäßige Informationsrunden –, und habe festgestellt, daß jemand nachträglich in die Passagierliste aufgenommen worden ist, nämlich Julius Filmer. Bill Baudelaire weiß natürlich Bescheid über das Fiasko mit dem Prozeß. Er fragte, ob es uns nicht möglich wäre, den unerwünschten Mr. Filmer von diesem renommierten Zug fernzuhalten. Ob wir ihn nicht zur Persona non grata auf allen Rennplätzen erklären könnten, auch und insbesondere den kanadischen? Hören Sie, sagte ich ihm, wenn wir irgendwelche Gründe hätten, Filmer Rennbahnverbot zu erteilen, hätten wir es schon getan, aber der Mann ist freigesprochen worden. Wir dürfen ihn nicht ächten, {33}nachdem man ihn für unschuldig erklärt hat, sonst bekommen wir alle möglichen Scherereien. Daß er Gideon zwei Pferde abgekauft hat, reicht nicht aus, um ihn von der Rennbahn zu verweisen. Heutzutage können wir ihn nicht ausschließen, bloß weil wir das gerne möchten, er kann nur Bahnverbot bekommen, wenn er gegen die Rennordnung verstößt.«

Die ganze Wut und Enttäuschung des Jockey Club schwang in seiner Stimme. Er war kein Mann, der Ohnmacht leichtnahm.

»Bill Baudelaire weiß das natürlich alles«, fuhr er fort. »Er sagte, wenn wir Filmer nicht aus dem Zug rausholen könnten, möchten wir bitte einen unserer Würdenträger mit hineinsetzen. Das ganze Ding ist zwar ausgebucht, aber er hat die Veranstalter gedrängt, ihm noch eine Fahrkarte auszustellen, und er wollte, daß einer unserer Stewards oder ein Ressortleiter des Jockey Club oder ich selbst deutlich sichtbar mitfährt, damit Filmer sich scharf beobachtet weiß und von allen Sünden abläßt, die er vielleicht im Sinn hat.«

»Fahren Sie denn?« fragte ich fasziniert.

»Ich nicht. Sie fahren mit.«

»Ehm …« sagte ich etwas verdattert. »Ich entspreche wohl kaum den Anforderungen.«

»Ich habe Bill Baudelaire gesagt«, erklärte der Brigadier knapp, »ich würde ihm einen Fahrgast schicken, den Filmer nicht kennt. Einen meiner Männer. Sollte Filmer dann irgend etwas versuchen, und das ist immerhin sehr fraglich, hätten wir vielleicht eine reelle Chance, dahinterzukommen und ihn in flagranti zu ertappen.«

Mein Gott, dachte ich. So einfach in Worten. So unglaublich schwierig in der Durchführung.

Ich schluckte. »Was meinte Mr. Baudelaire dazu?«

»Ich habe ihn überredet. Er erwartet Sie.«

Ich blickte erstaunt.

»Nun ja«, sagte der Brigadier, »nicht namentlich Sie. Irgend jemanden. Ziemlich jung, sagte ich, aber erfahren. Jemand, der {34}nicht fehl am Platz wirkt …«, seine Zähne blitzten kurz auf, »… im Millionärsexpreß.«

»Aber –«, sagte ich und brach ab, den Kopf voll schwerer Bedenken und Zweifel, ob ich für solch eine Aufgabe gut genug war. Andererseits, was für ein Ding.

»Werden Sie fahren?« fragte er.

»Ja«, sagte ich.

Er lächelte. »Das habe ich gehofft.«

 

Brigadier Catto, der neunzig Meilen von London in Newmarket wohnte, übernachtete, wie er es öfter tat, in einem komfortablen oberen Zimmer des Clubs. Ich verabschiedete mich nach einiger Zeit in der Bar von ihm und fuhr die restliche halbe Meile nach Hause, zu meiner Wohnung in einer ruhigen Straße in Kennington.

Ich hatte mir eine Bleibe in diesem Viertel gesucht, weil ich mir sagte, daß es mich sicher nicht oft in den Club ziehen würde, wenn ich auf der anderen Seite Londons lebte. Kennington, südlich der Themse, benachbart dem grimmigen Lambeth und Brixton, war keine Gegend, in der sich Pferdesport-Liebhaber unbedingt zeigen wollten, und tatsächlich hatte ich dort nie jemand entdeckt, den ich vom Sehen auf der Rennbahn kannte.

Ich war auf eine Anzeige gestoßen: »Hausanteil für präsentablen ledigen Yuppie zu haben. 2 Zimmer, Bad, gemeinschaftliche Küche, Hypothek und Instandhaltung. Abends anrufen«, und obwohl ich eher an eine Wohnung für mich allein gedacht hatte, schien eine Hausgemeinschaft mir plötzlich reizvoll, besonders nach der Einsamkeit der Arbeit. Ich hatte mich nach Vereinbarung vorgestellt, war von den vier anderen Bewohnern inspiziert und zur Probe aufgenommen worden, und alles hatte sich gut angelassen.

Die vier anderen waren derzeit zwei im Verlagswesen arbeitende Schwestern (ihr Vater hatte ursprünglich das Haus gekauft und das Schema mit der gleitenden Hypothek eingeführt), ein {35}Anwaltsassessor, der zum Stottern neigte, und ein Schauspieler mit einer Nebenrolle in einer Fernsehserie. Die Hausordnung war einfach: Pünktlich zahlen, immer gut benehmen, sich nicht in die Angelegenheiten der anderen mischen und nicht zulassen, daß über Nacht bleibende Freunde/Freundinnen morgens stundenlang eines der drei Badezimmer besetzt halten.

Es gab ziemlich viel Gelächter und Kumpanei, doch neigten wir eher dazu, Kaffee, Bier, Wein und Kochgeschirr zu teilen, als einander Geheimnisse anzuvertrauen. Ich sagte ihnen, ich sei ein engagierter Rennbahnbesucher, und keiner fragte, ob ich beim Wetten gewann oder verlor.

Der Schauspieler Robbie im obersten Stock war mir enorm nützlich gewesen, obwohl ich bezweifle, daß er sich dessen bewußt war. Früh eines Abends, wenige Tage nach meinem Einzug, hatte er mich eingeladen, bei ihm ein Bier zu trinken, und als ich hochkam, saß er vor einem hell beleuchteten Schminktisch und sagte, er entwerfe gerade die Maske für eine Bühnenrolle, die er angenommen habe. Ich war verblüfft, wie sehr die anders gekämmten Haare, ein dicker falscher Schnurrbart und stärkere Augenbrauen ihn verändert hatten.

»Handwerkszeug«, meinte er, auf die Schminken und falschen Haare deutend, die übersichtlich in Dosen und Schachteln vor ihm lagen. »Sechstagebart, Engelslocken – wie hättest du’s gern?«

»Locken«, sagte ich langsam.

»Dann setz dich mal hin«, sagte er vergnügt, stand auf, um mir seinen Platz zu überlassen, und holte einen Butan-Frisierstab hervor. Strähne für Strähne rollte er mein nahezu glattes Haar damit auf, und innerhalb von Minuten sah ich aus wie ein brauner Pudel, verwuschelt, strubbelig, völlig anders.

»Wie findest du’s?« sagte er und beugte sich vor, um mit mir in den Spiegel zu schauen.

»Erstaunlich.« Und einfach, dachte ich. Das konnte ich jederzeit im Auto machen.

{36}»Es steht dir«, sagte Robbie. Er kniete sich neben mich, legte mir seinen Arm um die Schultern, drückte mich ein wenig und lächelte unmißverständlich einladend.

»Nein«, sagte ich sachlich. »Ich mag Mädchen.«

Er war nicht gekränkt. »Hast du es anders nie probiert?«

»Das ist einfach nicht mein Stil, Schatz«, sagte ich, »wenn du verstehst.«

Er lachte und nahm seinen Arm weg. »Dann lassen wir das. Ein Versuch schadet ja nichts.«

Wir tranken das Bier, und er zeigte mir, wie man einen verwegenen Macho-Schnurrbart zurechtbiegt und anklebt; dazu hielt er mir noch ein dickes Brillengestell hin. Ich betrachtete den Fremden, der mich aus dem Spiegel ansah, und sagte, ich sei mir nie darüber klar gewesen, wie leicht man Augen täuschen könne.

»Sicher. Es braucht lediglich ein bißchen Mut.«

Und damit hatte er recht. Ich kaufte mir selbst einen Butan-Frisierstab, aber ich schleppte ihn eine Woche lang im Wagen mit herum, ehe ich mir auf dem Weg zur Rennbahn von Newbury einen Ruck gab, auf einem Parkplatz anhielt und ihn auch wirklich benutzte. In den drei Jahren seither hatte ich das ohne nachzudenken zigmal getan und das Resultat auf der Heimfahrt feucht wieder herausgekämmt.

Sonntags faulenzte ich meistens in meinen zwei großen hellen Räumen im ersten Stock (der Assessor wohnte eins drüber, die Schwestern eins drunter), schlief, las oder werkelte herum. Etwa ein Jahr lang hatte ich meine Sonntage mit der Tochter eines Hobbs-Sandwich-Mitgliedes verbracht, aber das war für uns beide eher ein vorübergehendes gemeinsames Vergnügen gewesen als die große Leidenschaft, und schließlich war sie fortgedriftet und hatte jemand anders geheiratet. Ich nahm an, ich würde eines Tages auch heiraten; wußte, ich hatte Lust dazu; fand, daß es nicht eilte, bevor ich dreißig war.

{37}Am Sonntag morgen nach der Besprechung mit dem Brigadier im Club überlegte ich schon einmal, was ich für Kanada packen sollte. Er hatte mir aufgetragen, das zu sein, was ich sonst so ausgiebig zu sein vermied – ein reicher junger Müßiggänger, der sich ganz dem schönen Leben widmen konnte. »Sie brauchen nur mit den anderen Passagieren über Pferde zu reden und die Augen offenzuhalten, weiter nichts.«

»Ja«, sagte ich.

»Spielen Sie die Rolle glaubhaft.«

»In Ordnung.«

»Ich habe Sie manchmal beim Pferderennen zu Gesicht bekommen, wissen Sie, da sahen Sie aus wie ein Börsenmakler und am nächsten Tag dann wie ein Hinterwäldler. Millington sagt, er sieht Sie oft gar nicht, obwohl er weiß, daß Sie da sind.«

»Ich werde inzwischen schon Übung haben, aber viel tue ich eigentlich nie. Andere Frisur, andere Kleidung, etwas latschiger Gang.«

»Es funktioniert«, sagte er. »Seien Sie das, was Filmer vermutlich erwartet.«

Die Frage war nicht so sehr, was Filmer vermutlich erwartete, dachte ich beim Anblick der großen Jackenauswahl in meinem Kleiderschrank, sondern was konnte ich für die geplante Dauer von zehn Tagen durchhalten, bis die Gesellschaft sich auflöste?

Locken beispielsweise kamen nicht in Frage, denn sie verschwanden im Regen. Klebebärte schieden aus, da sie vielleicht abgingen. Eine Brille schied aus, da man vergessen konnte, sie aufzusetzen. Ich würde im wesentlichen so aussehen müssen, wie die Natur mich geschaffen hatte, und ich mußte so nichtssagend, so unauffällig sein wie möglich.

Ich suchte meine teuersten und am wenigsten getragenen Sachen heraus und entschied, daß es besser wäre, mir noch neue Hemden, neue Schuhe und einen Kaschmirpullover zu kaufen, ehe ich fuhr.

 

{38}Montag früh rief ich wie angewiesen Millington an und erlebte ihn wie gewohnt verdrießlich. Er hatte von dem Zug gehört. Er hielt nichts davon, daß ich da mitfuhr. Der Sicherheitsdienst (gemeint war der Brigadier) hätte einen ausgebildeten Fachmann schicken sollen, vorzugsweise einen Expolizisten. Wie ihn, zum Beispiel. Jemanden, der sich in Kriminaltechnik und -taktik auskannte und bei dem man sich darauf verlassen konnte, daß er wichtiges Beweismaterial nicht aus Unkenntnis und Ungeschick zerstörte. Ich ließ ihn so lange ohne Unterbrechung reden, daß er schließlich scharf fragte: »Sind Sie noch da?«

»Ja«, sagte ich.

»Ich möchte Sie sehen, möglichst heute morgen noch. Ich bringe Ihre Flugkarte mit. Einen gültigen Paß haben Sie doch wohl?«

Wir verabredeten uns wie schon öfter in einem recht guten Schnellimbiß an der Victoria Station, günstig gelegen für Millington, der ein paar Meilen südlich auf der anderen Seite der Battersea Bridge wohnte, und für mich nur wenige Stationen mit der Südlinie.

Ich traf zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit ein und sah Millington bereits an einem Tisch vor einem Becher mit brauner Flüssigkeit und mehreren Wurstbrötchen sitzen. Ich schnappte mir ein Tablett, schob es die Ablage vor der Vitrine entlang und nahm ein Stück Käsekuchen aus einem der aufklappbaren Türchen. Eigentlich fand ich das Glastürensystem ganz gut: Wenn man Glück hatte, dann hatte einem nicht die breite Öffentlichkeit auf den Käsekuchen geniest, sondern nur ein, zwei Köche und die Bedienung.

Millington betrachtete mein teilhygienisches Gebäck und sagte, er selber ziehe die Zitronensahne vor.

»Die schmeckt mir auch«, sagte ich.

Millington war ein dicker Mann mit einem Faible für Bier und jede Art Kuchen, der es dankbar aufgegeben haben mußte, auf sein {39}Gewicht zu achten, seit er bei der Polizei weggegangen war. Jetzt sah er nach satten hundertzehn Kilo aus, und wenngleich nicht fett, so war er doch eine ausgesprochen kompakte Masse, dabei aber von einer Beweglichkeit, die er im Rahmen seiner Arbeit gut einsetzte. Viele kleine Rennbahngauner hatten schon irrtümlich angenommen, Millington könne im Gedränge nicht wie ein Wiesel hinter ihnen herjagen, bis sie die strafende Hand dann schwer auf ihren Kragen fallen spürten. Ich hatte Millington einmal einen ausgebüxten Taschendieb fangen sehen: ein packender Anblick.

Das große Imbißlokal, blitzblank und sauber, war immer schrecklich laut, da pausenlos Popmusik dröhnte, begleitet von über den Fußboden scharrenden Stühlen und dem Geklapper im Galopp eingenommener Mahlzeiten. Die Kunden waren zumeist Reisende, die mit Zügen ohne Büfettwagen angekommen waren oder weiterwollten, ausgehungert oder vorsorgend; sie sahen auf ihre Armbanduhr, schütteten den zu heißen Kaffee hinunter, scherten sich nicht um andere, brachen hastig auf. Keiner achtete je auf Millington oder mich, und keiner konnte je gehört haben, was wir sagten.

Wir trafen uns hier nie, wenn an Orten wie Plumpton, Brighton, Lingfield und Folkestone Rennen abgehalten wurden; dann nämlich konnte der ganze Rennzirkus durch Victoria Station rauschen. Auch trafen wir uns nie in der Nähe der Sicherheitsdienstzentrale des Jockey Club am Portman Square. Schon seltsam, dachte ich zuweilen, daß ich noch kein einziges Mal die Residenz meiner Arbeitgeber von innen gesehen hatte.

Millington sagte: »Ich bin nicht damit einverstanden, daß Sie mit Filmer reisen.«

»Das habe ich mitgekriegt«, erwiderte ich. »Sie sagten es schon.«

»Der Mann ist ein Mörder.«

Er war natürlich nicht um meine Sicherheit besorgt, sondern meinte, ich sei dem Gegner nicht gewachsen.

{40}»Er muß in dem Zug ja nicht unbedingt jemand ermorden«, sagte ich ironisch.

»Das ist kein Scherz«, versetzte er streng. »Und danach wird er Sie kennen, und Sie werden uns, was ihn betrifft, auf der Rennbahn nicht mehr von Nutzen sein.«

»Der Brigadier sagte, rund fünfzig Personen nehmen an dieser Reise teil. Ich werde Filmers Augenmerk nicht groß auf mich lenken. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß er sich hinterher an mich erinnert.«

»Sie sind zu nah bei ihm«, beharrte Millington.

»Nun ja«, sagte ich nachdenklich, »es ist unsere erste und einzige Chance bisher, überhaupt mal richtig nah an ihn heranzukommen. Selbst wenn er nur einen harmlosen Urlaub macht, dürften wir dadurch eine Menge mehr über ihn erfahren.«

»Mir liegt nichts daran, Sie zu verheizen«, sagte Millington und schüttelte den Kopf.

Ich sah ihn echt überrascht an. »Das ist neu.«

»Ich wollte zuerst nicht, daß Sie für uns arbeiten«, meinte er achselzuckend. »Hab mir nichts davon versprochen, fand es blödsinnig. Jetzt sind Sie mein Augenlicht. Die Augen in meinem Hinterkopf, über die sich die Schurken beklagen, seit Sie angefangen haben. Und wenn Sie’s unbedingt wissen wollen, ich möchte Sie nicht verlieren. Ich sagte dem Brigadier, wir würden unsere Trumpfkarte vergeuden, wenn wir Sie in den Zug setzen. Er meinte, wir würden den Trumpf vielleicht ausspielen, und wenn wir Filmer dadurch loswerden könnten, lohne sich das auch.«

Ich blickte in Millingtons besorgtes Gesicht. Ich sagte langsam: »Wissen Sie, oder weiß der Brigadier irgend etwas über Filmers Reisepläne, was Sie mir verschwiegen haben?«

»Als er das sagte«, Millington sah auf seine Wurstbrötchen nieder, »stellte ich ihm die gleiche Frage. Er gab keine Antwort. Ich selber weiß nichts. Sonst würde ich es Ihnen sagen.«

Vielleicht würde er das, dachte ich. Vielleicht auch nicht. {41}Am nächsten Tag, Dienstag, fuhr ich in den Norden, nach Nottingham, um wie immer mein hartes Tagwerk zu verrichten, indem ich beim Pferderennen herumhing und weiter gar nichts tat.

Ich hatte die neuen Kleider und einen neuen Koffer gekauft und schon mehr oder minder fertig gepackt für meine Abreise am nächsten Morgen, und das alte Fernweh, das mich schon einmal sieben Jahre umgetrieben hatte, war aus seinem jüngsten Schlummer erwacht und hatte mir einen kräftigen Rippenstoß versetzt. Millington, dachte ich, hätte weniger Angst haben sollen, mich an Filmer zu verlieren als an den alten verführerischen Reiz des Wanderns, Weiterziehens – immer gespannt auf das, was hinter der nächsten Ecke kam.

Jetzt konnte ich wohl in Fünf-Sterne-Manier reisen statt mit einem Rucksack; in Limousinen statt Bussen; Haute Cuisine essen statt Bockwurst; in Palm Beach wohnen statt in staubschluckenden Nestern. Wahrscheinlich würde mir der Luxus eine Zeitlang gefallen, vielleicht auch längere Zeit, aber um im Lot zu bleiben, würde ich mich schließlich doch von dem Süßwarenladen losreißen müssen und irgend etwas arbeiten; das durfte ich nicht hinausschieben, bis mir der Sinn für die einfachen Dinge des Lebens verlorenging.

Ich trug, vielleicht als Huldigung an die einfachen Dinge, eine abgewetzte Lederjacke und eine flache Stoffmütze, die Fernglaskamera um den Hals, ein Rennprogramm in der Hand. Ich stand irgendwo vor dem Waageraum, beobachtete, wer kam und wer ging, wer mit wem sprach, wer bekümmert, wer glücklich, wer boshaft aussah.

Ein junger Nachwuchsreiter von wachsendem Ansehen kam in Straßenkleidung, nicht im Reitdreß aus dem Waageraum, blieb stehen und blickte sich um, als suche er jemanden. Seine Augen hörten auf zu wandern und konzentrierten sich, und ich war neugierig, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er sah auf den bezahlten Steward des Jockey Club, der bei dem Meeting als die {42}Autorität in Menschengestalt fungierte. Der Steward unterhielt sich mit zwei Leuten, die an diesem Tag ein Pferd laufen ließen, und nach einer Weile zog er den Hut vor der Dame und ging zum Führring hinüber.

Der Nachwuchsreiter schaute ruhig hinter seinem entschwindenden Rücken her, dann noch einmal prüfend auf die Leute, die in der Nähe waren. Als er nichts Beunruhigendes sah, machte er sich auf den Weg zu dem Teil der Tribüne, von dem aus die Jockeys den Rennen zuschauten, und stieß zu einem jungen Mann, mit dem er ein Stück ging und redete. Sie trennten sich nahe der Haupttribüne, und ich, auf ihren Fersen, zog meine Aufmerksamkeit von dem Lehrling ab und folgte statt dessen dem anderen Mann. Er ging geradewegs zum Buchmacherplatz vor der Tribüne und an den Reihen der Buchmacher entlang zum Herrschaftsbereich von Collie Goodboy, der seine Offerten von einer kleinen Plattform im Bierkastenformat herunterschrie.