Genesen - Sascha Gersbeck - E-Book

Genesen E-Book

Sascha Gersbeck

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Beschreibung

Drei Leben im geteilten Nachkriegsdeutschland, keines von ihnen scheint wirklich außergewöhnlich und doch treiben sie irgendwann unmerklich als drei Schicksale aufeinander zu. Gefangen in eigenen Wahrheiten sucht jeder der Beteiligten andere, geheime Ziele, seinen ganz eigenen Weg und verstrickt sich dabei immer weiter in ein Spinnennetz aus Opportunitäten. Im Zentrum dieser Entwicklungen steht Josef Baumann, ein Westdeutscher, der sich schon früh dafür entscheidet, seinen ganz eigenen Weg zu gehen und feststellen muss, dass der nicht immer gradlinig verläuft. Ähnlich ergeht es dem Ostdeutschen Wolfgang Bacher in der DDR, der sich glücklich in seiner Ehe und in seinem Beruf als Grundschullehrer wähnt. Allerdings kommen ihm bald Zweifel, ob der vorgezeichnete Weg wirklich die Erfüllung all seiner Träume ist, ob das wirklich ausreicht; auch seine Frau Sophia leidet zunehmend unter Verunsicherung.

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Seitenzahl: 195

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-338-1

ISBN e-book: 978-3-99130-339-8

Lektorat: Lucas Drebenstedt

Umschlagfoto: Helgard Beiner

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Danksagung

Mit besonderem Dank an

Sonja Rudorf, ohne die dieses Buch nie geschrieben worden wäre,

und

Helle Beiner, für die großartige Kunst

Erster Block

1. Kapitel: Der Abschied, Teil 1

2000

Menschen, mit denen er sich seit langen Jahren und wahrhaft tief verbunden fühlte, hatte Josef Baumann schon vor ein paar Wochen zu sich eingeladen, zu einem letzten Beisammensein.

Alles sollte so sein wie immer und so, nur so wollte er es in seiner Erinnerung mitnehmen: Wie sie in seiner urgemütlichen Altbauwohnküche zusammensaßen, die er mit gesuchten Stücken aus der Welt der Fünfziger, geschickt und stilsicher kombiniert mit bayrischen Bauernmöbeln, eingerichtet hatte.

Gekocht wurde immer gemeinsam. Dabei ließ sich trefflich schwatzen, über Belangloses, über Politik, den letzten Theaterbesuch oder Fußball und natürlich all die anderen Geschichten aus dem wirklichen Leben.

Selten verließ jemand unmittelbar nach dem Essen die Runde. Man blieb sitzen und gab sich noch eine Weile dem Zusammensein und einem guten Wein hin. Einfach so. Es konnte aber auch sein, dass man sich an Diskussionen bis in die frühen Morgenstunden festbiss. Da konnte es schon mal lebhafter werden, richtig leidenschaftlich, aber immer offen.

Anders als in reinen Frauen- oder Männerrunden hatten Beziehungsgeschichten hier keinen hohen Stellenwert. Vielleicht wurde auch auf den Gastgeber Rücksicht genommen. Josef hatte sich nach einer gescheiterten Ehe in seinen viel zu jungen Zwanzigern auf solch eine Form der Beziehung nicht mehr einlassen wollen. „Ich habe mehr als genug damit zu tun, auf mich selbst aufzupassen! Kurze Beziehung oder Affären ja, aber was Festes kommt für mich nicht mehr infrage!“, war seine Antwort, sollte die Sprache doch einmal auf dieses Thema kommen.

Seine Freunde meinten, es lege ihm wohl daran, mit dieser Erklärung den Eindruck des Einzelgängers oder gar des Egomanen zu vermeiden. Schließlich sei er doch im Vorstand seines Tennisklubs, engagiere sich in der Ortsgruppe einer namhaften NGO für Umweltschutz und im Literaturforum für Gesellschaftspolitik. Er diskutiere gerne und ausführlich Themen, die die Welt bewegten. Für gewöhnlich kommentierte er das, was er als sein Innenleben bezeichnete, eher ungern; die meist holzschnittartigen Antworten, die er zu dieser Frage parat hatte, mussten – bitte schön – reichen!

Diesmal war alles anders. Und alle fühlten es.

Treffen bei Jo waren bekannt für ihre Rituale. Es schien, als habe er sich diesmal außerordentlich viel Mühe gegeben, den Esstisch zu einer Tafel werden zu lassen: Die gefalteten Stoffservietten waren aufgelegt, eingesteckt in die silberfarbigen Serviettenringe, die ihm seine Freunde zum Fünfzigsten geschenkt hatten, ein jeder mit seinem eigenen eingravierten Namen. Das Familiensilber, das so manches Fünf-Gänge-Menü der letzten Jahre geadelt hatte, war blank geputzt, die edelsten Gläser aus seiner gut sortierten Vitrine blitzten im Schein der beiden Kerzenleuchter, die den Tisch in warmes, gelbliches Licht tauchten. Jo hatte sich für das weiße Geschirr entschieden, sein erklärtes Lieblingsservice aus dem Nachlass seiner so geschätzten, aber viel zu früh verstorbenen Großmutter.

Die Lautsprecher, versteckt in der abgehängten Decke, verströmten dezente Klaviermusik, Titel von den Beatles, gefühlvoll gecovert von einem Frankfurter Pianisten, mit dem Jo vor langen Jahren musiziert hatte.

Doch es nützte nichts. Die Stimmung war gedrückt. Alle wussten, dass Josef fest entschlossen war, und was das bedeuten würde. Nie mehr würde man in dieser Runde, hier an Josefs Küchentisch, so zusammensitzen.

Josef hatte eine ganze Weile beinahe regungslos vor sich hingeschaut, völlig gelöst von den Gesprächen, die seine Gäste am Tisch führten. Dann, als hätte ihm jemand im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter gelegt und ihn in die Wirklichkeit zurückgeholt, streckte er sich, stand auf, ging zwischen Tisch und Anrichte hin und her, kratzte sich am Kopf, fuhr sich mit der flachen Hand durchs Gesicht.

Wieder am Tisch angekommen, blieb er stehen, holte tief Luft, erhob sein Weinglas und klopfte ein paar Mal mit dem Messerrücken dagegen. Sein Blick wanderte von einem zum anderen, so, als könne er diesen Moment und einen jeden dieser Runde mit einem Kameraauge erfassen und festhalten. Die Musik hatte er ausgestellt. Was blieb, war die atemlose Stille der Gäste.

„Liebe Freunde“, seine Hand zitterte so sehr, dass er das Glas abstellen musste. „Ihr wisst alle, was mir vor ein paar Wochen zugestoßen ist, was mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hat. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich bin damit durch.“

Seine Stimme war nach den ersten Sätzen leiser geworden, hob sich jetzt aber wieder. „Keine Sorge, ich will keine Rede halten, aber“, er stockte, schluckte, sah in die fragenden Gesichter seiner Gäste, „eins möchte ich euch unbedingt noch sagen: Die Erinnerung an euch ist das Einzige, was ich wirklich von Herzen gern auch in mein neues Leben mitnehmen möchte. Ich danke euch! Jedem Einzelnen von euch.“ Er erhob mit immer noch zittriger Hand sein Glas und prostete seinen Gästen zu.

Im Minenspiel seines Gesichts war unübersehbar, wie sehr er sich zu diesen Worten hatte quälen müssen.

Betretene Stille füllte nach seinen Worten den Raum.

Josef hatte zugestehen müssen, dass das, was da ebenso unvermittelt wie unabänderlich über ihn hereingebrochen war, möglicherweise auch anderen Menschen zugestoßen sein mochte. Dass man sich in seinem Leben plötzlich und ohne Vorwarnung mit einer vollkommen anderen Wirklichkeit konfrontiert sehen konnte, aus der es kein Entrinnen gab.

Aber jeder, so folgerte er dann, musste daraus für sein weiteres Leben seine eigenen Schlüsse ziehen und die fälligen Entscheidungen treffen.

Sein Entschluss stand fest. Es hatte keinen Sinn, sich den Verlauf seines Lebens in irgendeiner Form schönreden zu wollen. Er würde es hinter sich lassen müssen, in aller Konsequenz, und den Versuch wagen, sich weit, am besten ganz weit weg davon, irgendwie ein Neues aufzubauen.

Von seinen Gästen wusste jeder, dass er sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht hatte, aber auch, dass ihn keiner davon abbringen konnte.

Anfangs, so räumte er ein, hätten ihn noch Zweifel geplagt, jetzt nicht mehr.

Seine Freunde kannten ihn gut; manche von ihnen seit der gemeinsamen Kindheit oder Jugend. Und sie erinnerten sich an diese gemeinsame Zeit, und wie sie Jo damals erlebt hatten.

So richtig hatte damals wohl keiner damit gerechnet, dass Jo – so nannte er sich, seit er als Jugendlicher irgendwann deklaratorisch die Regie über sich und sein Leben übernommen hatte – eines Tages in der Führungsetage eines Großunternehmens sitzen würde. Gewiss, schon als junger Mensch war er in vieler Hinsicht ambitioniert gewesen. Die Freunde schoben das auf den kunstvoll und oft einfallsreich verdeckten, aber doch bisweilen durchscheinenden Familienhintergrund: zugehörig zu einer scheinbar gehobenen, allerdings meist eher klammen Gesellschaftsschicht. Die „beste“ seiner beiden Hosen glänzte an den viel zu häufig, aber immer messerscharf gedämpften Bügelfalten. Die modernen Kragen seiner Hemden waren aus ihrem eigenen unteren Rückenteil geschneidert; damit das nicht sichtbar wurde, wenn das Hemd mal ein Stück aus der Hose rutschte, trug er gerne ein Jackett. Und diese Art der Bekleidung hob ihn wieder aus der Gruppe seiner Altersgenossen heraus.

Machte ihn älter, aber auch reifer, gediegener?

Sein Engagement in der Schule war nach Ansicht der Lehrer eher selektiv; das zeigte sich im Ergebnis an den Zeugnisnoten. „Mit solch ungleichmäßigen Leistungen lässt sich keine Basis für eine solide berufliche Laufbahn schaffen“, waren sich die Lehrer einig.

Und damit hatten sie recht. Die Aussicht auf eine solche war nichts, was ihm besonders verlockend oder erstrebenswert schien. Er hatte beschlossen, das zu lernen, was ihn in der Entwicklung seiner Begabungen weiterbringen würde. Sein eher mäßiger Wissensdurst für die Naturwissenschaften würde mit dem auskommen müssen, was der Unterricht in diesen Fächern hergab. Sprachen und die musischen Fächer, das war es, wofür er sich interessierte, bisweilen sogar so etwas wie Begeisterung zeigte. Für das Mitsingen im Schulchor sowie Russisch und Italienisch als Wahlfächer opferte er sogar kostbare Freizeit. Richtig gut werden wollte er darin. Der Beste in der Klasse. Mit Sprachen, Musik und Kunst würde man glänzen können, sich herausheben, nicht nur in der Schule. Das war es, was er wollte: sein Leben in die Hand nehmen, etwas aus sich machen und den Weg finden, raus aus der heimlichen Ärmlichkeit und Not seiner jungen Jahre. Was sollte er da mit einer mittelmäßigen soliden Laufbahn?

Es war ihm bewusst, dass er mit dieser Einstellung ständig Gefahr lief, das Klassenziel nicht zu erreichen. Solange er nur irgendwie seine Schullaufbahn fortsetzen konnte, nahm er auch hin, dass er die eine oder andere Klasse wiederholen musste. War das nicht jedes Mal eine gute Gelegenheit, in „seinen“ Fächern noch besser zu werden und die ungeliebten Disziplinen durch Wiederkennung des Stoffplans zumindest in Strukturen oder Zusammenhängen zu begreifen?

Seine Freunde bekamen Taschengeld von ihren Eltern. Jo nicht. Er musste, um sich seine kleinen Wünsche erfüllen zu können, selbst Geld verdienen. Zeitungen austragen am Sonntag, Schneeräumen auf den Gehsteigen um vier Uhr morgens, unter der Woche mit dem Fahrrad Blumen ausfahren und beim Lebensmittelladen um die Ecke Obst- und Gemüsekisten raus- und bei Geschäftsschluss wieder reintragen.

Jo wuchs schnell heran, im Alter von dreizehn hatte er seine drei Jahre ältere Schwester und nicht lange danach seinen vier Jahre älteren Bruder bereits an Körpergröße überholt. Nicht, dass das etwas zu bedeuten gehabt hätte, außer der Tatsache, dass er künftig dessen abgetragene Oberbekleidung und Schuhe nicht mehr übernehmen musste, sondern sich endlich auf neue, nur für ihn gekaufte freuen durfte!

Ging er wirklich so weit, auch daran seinen Durchsetzungswillen festzumachen? Er war sich sicher, dass zu einem überzeugenden Auftreten ebenso eine stattliche Statur gehörte. Es würde zu dem passen, was er sich schon in jungen Jahren auf seine Fahnen geschrieben hatte. So wenig wie möglich von seinem Leben mochte er dem Zufall oder dem Schicksal überlassen, und schon gar nicht sollte seine Herkunft dem Leben seinen Stempel aufdrücken.

2. Kapitel: Der Abschied, Teil 2

Jo war frühzeitig zum Flughafen gekommen, um in aller Ruhe die unvermeidlichen Formalitäten hinter sich bringen zu können. Er reihte sich in die Schlange der Wartenden ein und hing seinen Gedanken nach. Um ihn herum das ganz normale, hektische Treiben in einem Flughafen zur Urlaubszeit. Die einen bugsierten ihren Kabinen-Rollenkoffer leichtfüßig und geschickt durch die wabernden Reisegruppen und schwer beladenen Gepäckwagenschieber, die anderen ließen mit der Unsicherheit des selten Fliegenden ihrer Verzweiflung schiebend, stoßend, rempelnd und fluchend freien Lauf.

Das alles war ihm vertraut von vielen seiner Reisen, die hier ihren Ausgangspunkt gehabt hatten. Wie ein Teil seines alten Lebens, das er nun tatsächlich gleich hinter sich lassen würde. Noch fand er sich in seinen Gedanken nicht vertraut mit dieser Wirklichkeit, straffte aber im gleichen Moment beinahe trotzig den Oberkörper, entschlossen, diesen Weg konsequent weiterzugehen.

Viele solcher Gedanken und Gefühle hatten seine letzten Wochen beherrscht. Es war wie der Versuch, sich selbst zu versöhnen mit seinem Entschluss, seine Vergangenheit abzustreifen, die Unvermeidlichkeit dieses Aufbruchs als folgerichtige Entscheidung zu belegen.

Wie automatisch rückte er in den Leitwegen der Absperrung seinem Vordermann nach und dem Check-in-Schalter entgegen.

Er hatte sich vorgenommen, heute entspannt zu sein, locker, die Nase nach vorne in den frischen neuen Wind gerichtet.

Tatsächlich aber fühlte er sich elend, nestelte an seiner Krawatte und am Hemdkragen herum, öffnete den obersten Knopf, zog schließlich sein Jackett aus und hängte es über den Arm. Er holte Ticket und Pass aus der Innentasche, warf einen kurzen Blick darauf und steckte beides, für den Moment beruhigt, zurück. Seinen Bordkoffer hatte er vor sich abgestellt und schob ihn mit dem Knie bei jedem Ruck wieder ein Stück weiter auf dem Boden aus polierten Granitplatten. Leichte Zornesfalten zeigten sich auf seiner Stirn, als ihm sein Hintermann, dem es wohl nicht schnell genug ging, seinen Koffer in die Kniekehlen rempelte. „Können Sie nicht aufpassen?“, raunzte er ihn an und wusste doch im gleichen Moment, wie unsinnig diese Frage war.

Hätte er selbst in seinem Leben etwas besser aufgepasst, würde er jetzt nicht hier stehen. Je mehr er begriff, dass dies nun wirklich und unabänderlich der letzte Akt seines bisherigen Lebens sein würde, desto stärker schien sich ein unbestimmtes Gefühl gegen diese Erkenntnis aufzulehnen. Er versuchte, sich abzulenken, schaute sich wieder in der Halle um, ohne wirklich etwas Bestimmtes zu suchen oder wahrzunehmen. Dann fiel sein Blick auf die große Anzeigetafel in der Mitte der Halle, wo er am unteren Ende schließlich „seine“ Flugnummer fand: QF 1001 von Frankfurt nach Sydney, Abflug um 22:30 Uhr, Gate B45, der letzte Abflug dieses Tages.

Am Check-in-Schalter angekommen, reichte er der jungen Uniformierten Ticket und Pass und bemühte sich um ein freundliches Lächeln, als er seine Bordkarte entgegennahm. Er verstaute seinen Pass wieder im Jackett und ging ohne Eile die langen Gänge entlang zum Abfluggate B45.

Dort suchte er sich einen Platz am Fenster, um das Treiben auf dem Vorfeld zu beobachten. Die Choreografie, das Zusammenspiel der Menschen mit einer wahren Armada von Gerätschaften und Maschinen rund um das Flugzeug hatten ihn schon immer fasziniert, obwohl es ihm bisher nicht gelungen war, herauszufinden, wer dabei tatsächlich die Regie führte.

Auch heute nicht.

3. Kapitel: Der junge Josef Baumann

Um herauszufinden, was für ein Mensch Jo war, musste man Paule fragen. „Der Typ hat wirklich eine recht eigenwillige Vorstellung von dem, was er in seinem Leben erreichen will“, war seine erste Kurzbeschreibung und weiter: „Wie er da hinkommt, entscheidet er dann am liebsten unterwegs, nach Lage der Dinge also.“ Er habe, so betonte Paule, auch keine andere Wahl gehabt als drittes Kind von Eltern, die ihn in einer Mischung aus pragmatischer Abwesenheit (Vater) und stabsfeldwebelhafter Dominanz (Mutter) geprägt hätten. Auf etwas wenigstens habe Jo sich verlassen können: Seine Eltern würden ihm auf seinem Weg durch die Kinder-und Jugendzeit keine brauchbare Unterstützung oder Orientierung geben. Dabei war es für ihn unerheblich, ob sie das nicht wollten oder nicht konnten.

Paule, sein engster Freund und Vertrauter in der gemeinsamen Jugendzeit, kannte Jos ganze Familiengeschichte. Er erinnerte sich daran, dass die Ehe seiner Eltern nach Jahren der schleichenden Entfremdung und Trennung schließlich geschieden wurde. Von da an habe der Kontakt des Vaters zu Jo und dessen Geschwistern kaum noch stattgefunden.

„Als jüngstes Kind fühlte sich Jo vom Verlust des Vaters besonders hart getroffen. Er beneidete seine Geschwister, ihnen wurde von der Mutter viel mehr erlaubt als ihm, ihnen gestand sie immer mehr Freiheiten zu. Und ja, es sah so aus, als ob die schon genau wüssten, wo es hingehen sollte in ihrem Leben! Beide verließen diese restliche Familie in sehr jungen Jahren, um ihre eigenen Nester zu bauen, selbst Familien zu gründen, Kinder zu haben, es irgendwie besser, auf jeden Fall anders zu machen.“

Und er, Jo?

„Tatsächlich nahm die Mutter immer weniger Anteil an seinem Tagesablauf. Ich glaube, Jo fühlte sich damals wie ein Fremdkörper, jedenfalls wirkte er manchmal sehr einsam. Irgendwie orientierungslos. Es war offensichtlich, dass seine Mutter einfach nur noch ihr Leben leben wollte. Und er störte eben manchmal dabei, einfach nur, weil er da war und ein bisschen Aufmerksamkeit wollte. Jo fand sich verloren im Niemandsland zwischen seiner Mutter und einer neuen Erfahrung: Da war kein Vater mehr, aber Männer, die seine Mutter offenbar gut kannte, er jedoch überhaupt nicht …“, erklärte Paule und weiter: „Für ihn war klar, dass ihm die Mutter den Vater genommen hatte. Und die Mutter konnte und wollte ihn nicht ersetzen.“

1966

Jo war zu einem jungen Mann herangewachsen. Er sah gut aus, schlanke Statur, leichter, federnder Gang, das pure, aber nicht aufdringliche Selbstbewusstsein.

Bei genauerem Hinsehen und -hören erschien er manchem etwas frühreif, und er wurde von seiner Umgebung gelegentlich als altklug beschrieben.

Tatsächlich war er ständig auf der Suche nach Anerkennung und Harmonie. Diesen Widerspruch wusste er geschickt hinter einer Kulisse aus gepflegtem Aussehen und guter, gemäßigt modischer Kleidung zu verbergen. Schon früh und ganz bewusst pflegte er die Kunst der Eloquenz, immer bemüht, an seinem Wortschatz zu feilen, den Eindruck der guten Umgangsformen und der dezenten, aber wirkungsvollen Erscheinung abzurunden. Er las gerne und viel, nichts Bestimmtes, eher alles, was er so zu fassen kriegte. Egal, ob es „Deutsche Volks-und Heldensagen“ waren oder „Minna von Barnhelm“, sein Lieblingswerk von Lessing. Wenn andere seines Alters sich zum Fußballspielen trafen oder zum Rumhängen im Park, zog er meist ein Buch aus seiner Tasche, das er günstig in einem Antiquariat erstanden hatte. Unter einem Baum, auf einer Bank am See oder in seinem Zimmer wurde seine Wirklichkeit eine andere. Dass er dabei leicht nicht nur die Zeit vergaß, sondern auch seine Hausaufgaben, beunruhigte ihn nur, wenn für den nächsten Tag Klausuren anstanden.

Seine Freunde waren meist jünger als er, seine Freundinnen hingegen oft deutlich älter. Der Altersunterschied zu seinen Freunden ergab sich aus der holprigen Schulkarriere, die ihn zwangsläufig irgendwann zum Klassenältesten hatte werden lassen. Was es mit dem mitunter deutlichen Altersunterschied zu seinen Freundinnen auf sich hatte, erklärte Jo nie, genoss aber das Ansehen, das ihm seine „Jagderfolge“ bei seinen Freunden einbrachten. Mit zickigen Sechzehnjährigen Händchen haltend auf der Parkbank zu sitzen, konnte schließlich jeder; Zwanzigjährige hatten unbegrenzten Ausgang, vielleicht schon ein Auto oder eine eigene Wohnung. Mit ihnen konnte man reden und sich zeigen. Paule erinnerte sich: „Er wollte raus da, wo er sich lange Zeit versteckt hatte, wollte etwas erreichen, was darstellen, möglichst vorne dabei sein, irgendwie.“

Nach einer erfolglosen zweiten „Ehrenrunde“ in der Oberstufe des Gymnasiums geriet dieses erklärte Ziel heftig ins Wanken, und es galt, auf pragmatische Art und Weise Alternativen zu entwickeln.

„Paule“, sagte Jo, „ich muss jetzt meine eigene Entscheidung treffen! Ich schmeiß nach diesem katastrophalen Halbjahreszeugnis die Schule hin. Ich krieg das einfach nicht mehr geregelt. Stell dir vor, zum Beispiel in Mathe: Ich hab’ überhaupt keine Ahnung mehr von dem, was ich da bei Ingo abschreibe! Ich hab’ komplett den Anschluss verloren. Und in Physik bin ich auch nicht mehr am Stoff dran. Das Thema ist durch für mich, egal, was meine Mutter dazu sagt.“

Paule war in einer ähnlichen Situation, hatte für sich selbst aber schon eine praktikable Lösung gefunden.

„Und wenn du mit mir auf dieses Internat gehst, da im Odenwald? Die sagen, dass selbst die faulsten Pennäler wie ich dort locker noch das Abi schaffen!“

„Auch die aus Bayern?“

„Gerade die. Denk mal an den Numerus clausus, den die anderen schaffen müssen, um an bayerischen Unis studieren zu können!“

Jo war klar, dass Paule recht hatte, aus seiner Sicht. Aber das war keine Lösung für ihn, Jo Baumann.

„Vergiss es, das können wir uns niemals leisten.“

„Und wenn du hier auf eine Privatschule gehst?“

„Auch zu teuer. Außerdem wär ich dann da auch nicht schlauer als auf der Staatlichen, oder? Nee, Paule, ich muss mir da schon was anderes einfallen lassen.“

„So ein Mist!“

„Kannst du wohl sagen.“

„Und jetzt? Was machst du jetzt?“

„So richtig weiß ich das auch noch nicht. Ich glaube, ich muss mich jetzt um eine Berufsausbildung kümmern!“

Natürlich eine, und da gab es keine Zweifel für Jo, in der er seine erkannten, bewährten und nachgewiesenen Begabungen optimal einsetzen konnte. Seine besten Zeugnisnoten hatte er, neben Musik und Kunst, in den Fremdsprachen. Englisch und Französisch.

Dolmetscher, Übersetzer werden, vielleicht wie Werner Riekert, der Vater der mit der Familie befreundeten Nachbarskinder: 15 Tage selbstständiger Arbeit im Monat sicherten diesem augenscheinlich nicht nur einen auskömmlichen, sondern durchaus gepflegten Lebensstil, und zwar für die gesamte vierköpfige Familie.

Keine schlechte Perspektive, fand Jo.

4. Kapitel: Erste Berufsausbildung, und dann?

1966–1968

Das Projekt „Berufsausbildung“ lief gut an. Jo hatte sich durch eine erfolgreiche Einstufungsprüfung in der Städtischen Sprachenschule eines von vier Semestern Englisch gespart. Der angebotene Lernstoff war bis auf wenige Ausnahmen im Rahmen der Unterrichtszeit zu bewältigen.

Drei Häuser neben der Schule war ein Café, wo sich Sprachschüler nach dem Unterricht gerne trafen. Wenn Jo im Unterricht doch einmal etwas entgangen war, setzte er sich dazu und fragte sich so lange durch, bis er seine Wissenslücken zu seiner Zufriedenheit geschlossen hatte.

So blieb ihm ausreichend Zeit für die Dinge, die er selbst für wichtig hielt. Zum Beispiel mit seinen Freunden Musik zu hören und selbst Musik zu machen. Mit dem Klavier war er groß geworden, mit der Gitarre hatte er sich bei den Pfadfindern angefreundet, und jetzt war das Schlagzeug drauf und dran, in der kleinen Band sein Lieblingsinstrument zu werden.

Und natürlich den Führerschein zu machen, so bald als möglich mit einem eigenen Auto unabhängiger werden, seinen Aktionsradius erweitern.

Er fand es an der Zeit und für sein Selbstverständnis geboten, dass Schluss sein musste mit der peinlichen Bus-und Straßenbahnfahrerei. Frei und unabhängig von irgendwelchen Fahrplänen wollte er sich nach eigener Regie fortbewegen können. Für zwei- oder dreihundert Mark konnte man beim Gebrauchtwagenhändler am Stadtrand sicherlich ein Schnäppchen finden. Aber auch dafür musste er sich das Geld selbst verdienen. Durch das Austragen von Zeitungen in den frühen Morgenstunden der Wochenenden und abends, stundenweise an der Zugangskasse oder Garderobe seiner Stammdisco. Da blieb nicht viel Zeit für das systematische Nacharbeiten des Unterrichtsstoffs. Wo die Note mal auf der Kippe stand, konnte er durch sein eifriges Engagement in der „Arbeitsgruppe Theater“ Boden gut machen.

Nach zwei Semestern war der Abschluss in Englisch geschafft.

Nun sollte es, so der Plan, mit der Qualifizierung in der nächsten Sprache weitergehen, um sich im Wettbewerb für gute Positionen in der Wirtschaft möglichst mehrsprachig aufstellen zu können. Jo hatte sich für Französisch eingeschrieben; auch hier war er sich sicher, bis zum Abschluss nicht mehr als drei Semester einsetzen zu müssen.

Werner Riekert, der dolmetschende Nachbar, freute sich mit Jo über den bestandenen Abschluss und gratulierte dem frisch gebackenen, jungen Kollegen mit einem großartigen Geschenk: sein ganz persönliches, lange Zeit unbenutzt gehütetes Englisch-Deutsch-Wörterbuch, das Standardwerk schlechthin, von Cassell, Baujahr 1912.

Und mehr noch. Er vermittelte ihm erste lukrative Aufträge. Genau sein Ding: Für ein Konsortium von Wertpapierhändlern (oder -schiebern? Egal!) galt es, in unregelmäßigen Abständen die Verhandlungen zwischen den Geschäftspartnern zu dolmetschen. Man traf sich zu dritt oder zu fünft diskret in Räumen eines Münchner Nobelhotels, saß zwischen sechs und acht Stunden zusammen, verhandelte, und dann gab’s für den Dolmetscher einhundertfünfundzwanzig Deutsche Mark für jede angefangene Stunde streng vertraulicher Sitzungen bar auf die Hand!

War Jo damit am Ziel seiner beruflichen Wünsche angekommen?

Eigentlich ja. Aber es kam anders.

Ganz anders.

1969

Seine Mutter hatte ihm den Brief vom Kreiswehrersatzamt auf den Tisch gelegt. Keiner wollte ihn so recht anfassen, gar öffnen, weder Jo selbst noch seine Mutter. Gerade hatte es das Schicksal richtig gut gemeint mit ihm, sein neuer Beruf war die Chance nach der eher mäßig erfolgreichen Schulzeit.

Wenn schon nicht Akademiker, dann wenigstens tüchtiger, einkommensstarker Dolmetscher! Und Jo wollte nicht glauben, dass auch sein zweiter Einspruch gegen seine Einberufung abgewiesen werden könnte. Was er konnte, hatte er ins Feld geführt: den mit 13 Jahren erlittenen Bandscheibenschaden und die noch nicht gänzlich beendete, aber unverzichtbare Anschlussausbildung zum Dolmetscher und Übersetzer in Französisch.

Der Plan wäre so richtig gut gewesen.

Außerdem wollte er, schon aus grundsätzlichen Erwägungen, überhaupt nicht zur Bundeswehr. Seine Kindheit hatte er in Ruinen des eben beendeten 2. Weltkriegs verbracht; sein Spielplatz war auf der Straße gewesen, in den Überresten zerschossener und zerbombter Häuser. Menschen, die auf Krücken und in notdürftig zusammengezimmerten Rollstühlen scheinbar ziellos durch die Stadt zogen, auf der Suche nach ihrer heilen Vergangenheit oder einer gestaltbaren Zukunft, hatten sein Weltbild geprägt. Jo war sich sicher, dass die Menschheit angesichts dieser erlebten Katastrophe nicht mehr versuchen würde, ihre künftigen Konflikte mit der Waffe zu lösen.