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Auf Einladung von Nino Haratischwili und dem Goethe-Institut Georgien sind sechs deutsche und sechs georgische Autoren und Autorinnen durch Georgien gereist, in das kleine Land zwischen dem Schwarzen Meer, dem Großen und dem Kleinen Kaukasus, wo tiefe Schluchten, hohe Gletscher, lange Palmenküsten, historische Höhlen und kosmopolitische Metropolen zu finden sind. Prometheus, Medea, Rustaweli und Stalin, sie alle gehören zu Georgien wie die einzigartige gewundene, uralte Schrift, eine fünfzehn Jahrhunderte währende literarische Tradition, fünfhundert Rebsorten und die unermessliche Gastfreundschaft. Entstanden sind literarische Reiseberichte, poetische Reflexionen und humorvolle Betrachtungen. Was sieht der fremde, was der eigene Blick bei der Erkundung dieses faszinierenden Landes? Georgien. Eine literarische Reise ist eine Entdeckungstour durch ein widersprüchliches und wunderschönes Land, grafisch bibliophil gestaltet, und enthält überdies wunderbar humorvolle Weisheiten: "Als Paar zu reisen ist immer ein Risiko", "Ein geschickter Traktorist ist in den Bergen eine sehr wichtige Persönlichkeit" oder "Don't smoke on the horse". Kurz: eine Einladung an den Leser, auf der Stelle seine Koffer zu packen.
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Seitenzahl: 193
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Auf Einladung von Nino Haratischwili und dem Goethe-Institut Georgien sind sechs deutsche und sechs georgische Autorinnen und Autoren durch Georgien gereist, in das kleine Land zwischen dem Schwarzen Meer, dem Großen und dem Kleinen Kaukasus, wo tiefe Schluchten, hohe Gletscher, lange Palmenküsten, historische Höhlen und kosmopolitische Metropolen zu finden sind. Prometheus, Medea, Rustaweli und Stalin, sie alle gehören zu Georgien wie die einzigartige gewundene, uralte Schrift, eine fünfzehn Jahrhunderte währende literarische Tradition, fünfhundert Rebsorten und die unermessliche Gastfreundschaft. Entstanden sind literarische Reiseberichte, poetische Reflexionen und humorvolle Betrachtungen. Georgien. Eine literarische Reise ist eine Entdeckungstour durch ein widersprüchliches und wunderschönes Land, grafisch bibliophil gestaltet, mit überraschenden, amüsanten Weisheiten: »Als Paar zu reisen ist immer ein Risiko«, »Ein geschickter Traktorist ist in den Bergen eine sehr wichtige Persönlichkeit« oder »Don’t smoke on the horse«. Kurz: eine Einladung an den Leser, auf der Stelle seine Koffer zu packen.
»Die Texte zeugen von Erlebnissen, die man nur haben kann, wenn man sich dem Fremden gänzlich ausliefert und mit dem unschuldigen und unvoreingenommenen Blick eines Kindes staunt und beschreibt, anprangert und sich begeistern lässt.« Aus dem Vorwort von Nino Haratischwili
Herausgeber: Goethe-Institut Georgien, in Zusammenarbeit mit dem Georgian National Book Center, mit freundlicher Unterstützung des Auswärtigen Amtes.
EINE LITERARISCHE REISE
Mit einem Vorwort von Nino Haratischwili,illustriert von Julia B. Nowikowa
Aus dem Georgischen vonRachel Gratzfeld und Sybilla Heinze
Geleitwort von Johannes Ebert,Generalsekretär des Goethe-Instituts
Vorwort von Nino Haratischwili
TUSCHETIEN
Lucy Fricke
Archil Kikodze
KACHETIEN
Ulla Lenze
Tamta Melaschwili
GORI/ADSCHARIEN
Volker Schmidt
Irma Tawelidse
TBILISSI
Fatma Aydemir
Nestan Nene Kwinikadse
SWANETIEN
Stephan Reich
Anna Kordsaia-Samadaschwili
KASBEK/GEORGISCHE HEERSTRAßE
Katja Petrowskaja
Abo Iaschaghaschwili
»Was man festhält, verliert man, was man verschenkt, behält man.«(Schota Rustaweli)
Liebe Leserinnen und Leser,
im Rahmen des Projektes »Perspektiven – Literatur im Dialog« wurden sechs deutsche und sechs georgische Autorinnen und Autoren vom Goethe-Institut Georgien eingeladen, als binationale Tandems durch die Regionen Georgiens zu reisen. Im Sommer 2017 begaben sich Katja Petrowskaja und Abo Iaschaghaschwili (Region Kasbek/Georgische Heerstraße), Ulla Lenze und Tamta Melaschwili (Region Kachetien), Volker Schmidt und Irma Tawelidse (Region Gori/Adscharien), Lucy Fricke und Archil Kikodze (Region Tuschetien), Stephan Reich und Anna Kordsaia-Samadaschwili (Region Swanetien), Fatma Aydemir und Nestan Nene Kwinikadse (Tbilissi) auf ihre Reisen durch Georgien.
Etwa eine Woche lang entdeckten die Autorenpaare das Land und seine Leute. Die georgische Öffentlichkeit reagierte mit großem Interesse auf die Autorinnen und Autoren, besonders gewürdigt wurde die Tatsache, dass auch vom Kulturbetrieb vernachlässigte Orte in das Projekt miteingebunden waren, fernab touristisch erschlossener Ziele.
Dieser Sammelband ist das Resultat der vielfältigen Begegnungen des Sommers 2017. Entstanden ist ein spannendes Panorama von Georgien. Neben den Tandem-Reisen nahmen Katja Petrowskaja, Ulla Lenze und Volker Schmidt an Lesungen und Diskussionen im Rahmen des Literaturfestivals 2017 in Tbilissi teil.
Das eingangs genannte Zitat des georgischen Dichters Schota Rustaweli, der zu den bedeutendsten Literaten des Mittelalters gehört, drückt die Offenheit, Großzügigkeit und Abenteuerlust des literarischen Austauschs zwischen Deutschland und Georgien aus – dies spiegelt sich auch in diesem Sammelband wider. Natürlich könnte man vorbringen, dass mit einer Publikation immer auch etwas »festgehalten« werde und nach der Logik des Zitats verloren zu gehen drohe. Mit einer solchen Momentaufnahme entsteht hier jedoch gleichzeitig eine Idee, die den geneigten Leser einlädt, sie weiterzuspinnen. Und so möchten wir Ihnen die literarischen Begegnungen der Autorinnen und Autoren mit den Regionen Georgiens nicht vorenthalten, die so reich an jenen Impressionen sind, die ihnen das am Großen Kaukasus gelegene Land »geschenkt« hat.
Was erwartet Sie also in diesem Sammelband? Die georgische Kultur wurde über die Jahrhunderte geprägt und bereichert von den Völkern, die das Land eroberten und besiedelten: Römer, Perser, Araber, Seldschuken, Mongolen, Timur Leng, Osmanen und schließlich die Russen hinterließen ihre Spuren in dem fruchtbaren Land. Die Legenden vom Halbgott Prometheus und vom Goldenen Vlies, aber auch Medeas grausames Schicksal hatten hier, auf dem Gebiet des heutigen Georgiens, ihren Schauplatz. Mit Gori als Geburtsort Stalins ist auch die sowjetische Vergangenheit dem Land tief eingeschrieben. Die turbulente Geschichte Georgiens hat beispielsweise Nino Haratischwili in ihrem eindrucksvollen Roman-Epos »Das achte Leben (Für Brilka)« (FVA 2014) literarisch bearbeitet und Lesern zugänglich gemacht. Die deutschen und georgischen Beiträge in dieser Sammlung der »literarischen Reise« sind allesamt sehr persönliche Porträts und Eindrücke von Städten, Landschaften und den Bewohnern dieses Landes. Es geht um Vergangenheit, Poetisches, die georgische Küche, um Mythisches oder Historisch-Skurriles.
Das Projekt führte in allen Landesteilen zu zahlreichen deutsch-georgischen Begegnungen. Die deutschen und georgischen Autorinnen und Autoren konnten sich voneinander und von dem, was das Ziel ihrer Reise zu bieten hatte, überraschen lassen, sodass ihre Reiseerfahrung ein differenzierteres Bild Georgiens und der georgischen Gesellschaft hat entstehen lassen. Gleichzeitig zeugt dieser Band in seiner eigenen Dynamik einmal mehr davon, wie kreativ und lebendig die heutige Kulturszene Georgiens ist.
Das Feld der Literatur- und Übersetzungsförderung nimmt in der Arbeit des Goethe-Instituts einen besonderen Stellenwert ein – an dieser Stelle möchte ich deshalb den mitwirkenden Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Georgien sowie den Partnern des Projekts, dem Georgian National Book Center, der Frankfurter Verlagsanstalt und meinen Kolleginnen und Kollegen vom Goethe-Institut Georgien herzlich für ihre Beiträge, ihren Einsatz und ihre Unterstützung bei der Realisierung dieses Sammelbands danken. Ich bin überzeugt davon, dass uns mit diesem Zeugnis eines deutsch-georgischen Kulturaustauschs gerade in dem Jahr, in dem Georgien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist, ein besonderes Geschenk gemacht wurde, dessen Eindrücke wir noch lange mit uns tragen werden.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre mit spannenden und berührenden Einblicken in die Kultur Georgiens.
Johannes EbertGeneralsekretär des Goethe-Instituts
VON NINO HARATISCHWILI
Vor vielen Jahren lief ich mit einer Freundin aus Deutschland durch die Tbilisser Altstadt. Es war das erste Mal, dass mich jemand aus Deutschland in meiner Heimatstadt besuchte, die Grenzen waren noch nicht so lange offen und die Nachwirkungen der Nachperestroika-Zeit noch deutlich zu spüren, andererseits lag aber auch eine gewisse Aufbruchsstimmung in der Luft, der Wille zum Neuanfang. Ich selbst hatte mich an das westliche Leben noch nicht ganz gewöhnt, war zwischen Heimweh und den Herausforderungen der Integration hin- und hergerissen, auf einer intensiven Suche nach dem richtigen Ort, den richtigen Worten, nach der richtigen Sprache, um die Geschichten zu erzählen, die mir erzählenswert schienen und für die ich noch keine Heimat gefunden hatte.
Vor der gemeinsamen Reise war ich aufgeregt gewesen, ich fragte mich unentwegt, wie meine Freundin, mit der ich bereits etliche Reisen unternommen hatte, mich in diesem für sie fremden Kontext sehen würde. Was würde sie entdecken, was würde sie begreifen? Ich fühlte mich wie jemand, der gerade dabei ist, ein Geheimnis preiszugeben.
Und während der Reise machte ich eine absurde Feststellung: Ich wollte unbedingt, dass sie alles um sich herum aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete, ich wollte, dass sie durch meine Augen blickte und alles als das erkannte, was ich darin sah.
Ich, die ich mich unablässig mit Freunden über unser Land stritt und mich immerzu kritisch mit ihm auseinandersetzte, wollte auf einmal, dass sie das Land, die Stadt, die Menschen, die mir teuer waren, von der besten Seite kennenlernte. Ich begriff selbst nicht recht, woher dieser dringende Wunsch kam und warum es mir auf einmal so viel bedeutete, dass sie alles, was mir wichtig war und von dem ich glaubte, dass es mich geprägt hatte, in einem versöhnlichen und verständnisvollen Licht sah. Vielleicht war ich einfach ermüdet von den schier endlosen Diskussionen und Erklärungsversuchen, zu denen ich mich in Deutschland gezwungen sah, sobald die Sprache auf Georgien kam. Ich wollte keine Exotisierung und keine Verklärung, ich wollte aber auch nicht jemanden an meiner Seite wissen, der stets nur Zeichen der Verwahrlosung und des Ruins in der fremden Kultur sucht, um sich am Ende in einer Art rechthaberischen Überlegenheit bestätigt zu finden. Trotzdem war mir diese Sehnsucht nach einer milden, liebevollen Sichtweise fremd.
Wir liefen durch die Straßen und ich fand mich plötzlich in einer fremden Stadt wieder. Denn ich versuchte unentwegt mir vorzustellen, was sie sah, ich versuchte mir ihren in dem Fall fremden Blick auszuleihen.
Was würde ich wahrnehmen, was würde mir auffallen, was würde mir missfallen, worüber würde ich mich aufregen, wenn ich zum ersten Mal hier wäre? Und es gelang mir tatsächlich, alles Vertraute in ein neues Licht zu rücken. Ich identifizierte mich so sehr mit dem Blick des Fremden, bis mein eigener auf einmal gänzlich verschwand. Gleich beim ersten Spaziergang durch das Sololaki-Viertel entdeckte ich etwas, das mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht und das für mich mittlerweile zu einer Art Sinnbild geworden ist für meine Wanderung zwischen zwei Welten, zwei Sprachen, zwei Kulturen, sich irgendwo in einem Spalt befindend, der mal übermäßig breit und mal unsichtbar schmal wird. Wir erkundeten die typischen Höfe jenes Stadtteils, die bunten Pawlatschen mit den hölzernen Laubengängen und den schiefen, verschnörkelten Balkonen, mit den spielenden Kindern und der flatternden Wäsche, eingehüllt in diverse Essensgerüche und lautes Stimmenwirrwarr.
In der Mitte eines solchen Innenhofs blieb meine Freundin stehen und fixierte etwas mit ihrem Blick. Dann zückte sie die Kamera und begann zu fotografieren. Von ihrem Gesicht konnte ich Begeisterung ablesen. Ich wusste nicht genau, was sie so in Verzückung versetzt hatte, denn ich sah dort nichts Besonderes. Ich suchte mit den Augen nach einem möglichen Motiv, das sie fasziniert haben könnte, aber erfolglos. Irgendwann steckte sie die Kamera zurück in die Tasche und blieb mit einem seligen Gesichtsausdruck vor mir stehen. Ich wollte sofort wissen, was sie da fotografiert hatte, und dann streckte sie ihren Finger aus und lachte. Erst da erkannte ich den Grund ihrer Begeisterung: Dort war ein Holzstuhl ohne Sitzfläche, der an einer der Hauswände befestigt war. Unter ihm lag ein Ball. Ich verstand immer noch nicht so ganz, was an diesem improvisierten Gegenstand so besonders sein sollte. Die Irritation stand mir ins Gesicht geschrieben, und sie erklärte: »Das ist doch zauberhaft! Auf den Gedanken würde in Deutschland keiner kommen. Das ist so erfinderisch! Sie nutzen den Stuhl als Basketballkorb!«
Ich wusste zwar, dass der Stuhl zu diesem Zweck diente, aber mir war die Besonderheit dieser Tatsache keineswegs klar. Für mich war das normal und selbstverständlich – gerade als Kind der Neunzigerjahre, ein Jahrzehnt voller Entbehrungen und geprägt von existenziellen sozialen und ökonomischen Umbrüchen –, dass man improvisieren musste, wo die äußeren Mittel nicht vorhanden waren oder versagten. Aber erst durch ihren Blick, durch die Außenperspektive, gelang es mir, die Besonderheit jenes Gegenstandes und somit seinen Wert zu schätzen.
Denn für die Bewohner jenes Hofes war es vielmehr ein Notbehelf: Die Kinder hätten viel lieber einen nigelnagelneuen Basketballkorb gehabt, sie hätten ganz sicher keine Einwände gegen jegliche kapitalistische Konsumgüter erhoben, im Gegenteil – sie hätten große Freude daran. Aber darum ging es nicht. In dem Moment begriff ich etwas, das, so simpel es auch erscheinen mag, für mich einer existenziellen Erkenntnis gleichkam: Die gleichen Dinge, die gleichen Gegenstände, gar die gleichen Verhaltensweisen haben je nach Kontext eine vollkommen verschiedene Bedeutung. Nichts ist absolut und demnach immer eine Frage der Perspektive. Geschehnisse, Erfahrungen, Ereignisse – all das formt sich ausschließlich durch unseren Blick darauf.
Das Vertraute und das Normale kann unter bestimmten Umständen zu etwas Außergewöhnlichem werden. Etwas, von dem man annimmt, es sei so, kann im nächsten Augenblick etwas ganz anderes sein, wenn man bereit ist, den eigenen Fokus zu verschieben.
In dieser einen Woche, in der wir durch die Tbilisser Straßen schlenderten, setzte ich mich unentwegt mit meiner Freundin auseinander und doch ging es dabei um mich. Um Dinge, die ich vorher nicht hinterfragt hatte, Dinge, die ich einfach so hingenommen, Meinungen und Ansichten, die ich in irgendeiner Form für »gegeben« gehalten hatte.
Ich stritt und diskutierte mit ihr über die westliche Sehnsucht nach dem Zerfall, die Begeisterung der Europäer über die vermeintlich »ostalgischen« Gegenstände und Möbel, das Leben, das sich so viele alte Menschen gezwungen sahen zum Verkauf anzubieten und das von den westlichen Besuchern so hingebungsvoll gekauft wurde. Ich verliebte mich aber auch in den georgischen Gesang neu – so spontan entfacht und zu einem rauschhaften Fest auf einer Restaurantterrasse ausartend –, weil ich ihn in dem Augenblick durch ihre Ohren hörte, die Emotionen spürte, die die Musik in ihr auslöste. Ich habe mich in den endlosen Gesprächen, in denen es um die Vereinbarkeit verschiedener Welten und deren Verschmelzung zu einer Identität, um Gemeinsamkeiten und Differenzen ging, verloren.
Indem ich versuchte, ihren Blick zu formen, veränderte sich meiner. Ich begriff etwas von dem Eigenen erst durch die Perspektive des Fremden.
Ich habe seitdem viele Besucherinnen und Besucher in Georgien empfangen. Und doch ist dieser erste Eindruck, als mich meine Freundin in einer klapprigen Aeroflot-Maschine gen Süden begleitete, die prägendste Erfahrung geblieben.
Meine Versuche, ihren Blickwinkel zu beeinflussen, waren vollkommen absurd, denn erst durch ihre Augen habe ich etwas Gewöhnliches zum Außergewöhnlichen machen können.
Damals wusste ich nicht, wie stark diese Entdeckung meine gesamte Zukunft und viele wichtige Lebensentscheidungen prägen sollte. Aber Jahre später, als ich mich daran machte, einen Roman über mein Land zu schreiben, stellte ich fest, dass ich selbst erst durch die Einnahme einer Außenperspektive, durch den Umzug in ein anderes Land, durch das Wechseln der Sprache dazu befähigt worden war, über das Vertraute zu schreiben.
Aus diesem Grund habe ich mich sofort in die Idee von Medea Metreveli, der Leiterin des Georgian National Book Center in Tbilissi, verliebt, die vorschlug, Tandems aus jeweils einem deutschen und einem georgischen Autor zu bilden und sie auf eine Reise durch die verschiedenen Regionen Georgiens zu schicken. Das Goethe-Institut Georgien fand die Idee auch großartig und realisierte, mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes, das ehrgeizige Vorhaben in einem aufwendigen zweijährigen Projekt mit mir als Kuratorin. Während der ganzen Planungszeit, während ich mir Gedanken über das Reisebuch machte und mir vorzustellen versuchte, welche Texte dabei entstehen würden, hatte ich unentwegt das Bild mit dem zweckentfremdeten Stuhl vor Augen.
Die Texte, die auf den Reisen entstanden sind, bestätigen meine Hoffnungen, denn sie zeugen genau von solchen Erlebnissen, die man nur haben kann, wenn man sich dem Fremden gänzlich ausliefert und mit dem unschuldigen und unvoreingenommenen Blick eines Kindes staunt und beschreibt, anprangert und sich begeistern lässt. Es ist ein großes Glück, all jene Kolleginnen und Kollegen an der Seite zu haben, die sich bereit erklärt haben, sich nicht nur auf ein fremdes Land einzulassen, sondern auch auf fremde Menschen, mit denen sie tagelang, auf engstem Raum, unterwegs sein würden.
Genauso aber gilt es, die Offenheit der georgischen Autorinnen und Autoren zu betonen, die anders als ich nicht den sinnlosen Versuch unternommen haben, die Perspektiven ihrer Tandempartnerinnen und -partner formen zu wollen, sondern im Gegenteil – bereit waren, all ihre Kenntnisse und Erfahrungen, das Vertraute so generös zu teilen.
Von einer tiefen melancholischen Hingebung, der Begeisterung für die Natur und alles Verlorengegangene ist für mich der Text von Katja Petrowskaja nahezu ein Gedicht über die Schönheit und Erhabenheit, aber auch die Grausamkeit des Kaukasus, während ihr Reisebegleiter Abo Iaschaghaschwili uns mit einer historischen Akribie und Detailverliebtheit in die Geschichte Georgiens einführt und tiefe Einblicke ermöglicht, wo man sie nicht einmal ahnt.
Witzige und zugleich sinnliche Fragmente seiner Reise hält Stephan Reich in seinen Gedichten fest und stellt sein Staunen offen zur Schau – über alles Erlebte und alles Andersartige, und das mit so viel Faszination, dass es einem warm ums Herz wird. Seine Tandempartnerin Anna Kordsaia-Samadaschwili wiederum erzählt eine sehr persönliche, nachdenkliche Geschichte über ihren Großvater und ihre Erinnerungen an eine der sagenumwobensten Regionen Georgiens – Swanetien. Mit all den urigen Bräuchen und teils verloren geglaubten Traditionen. Und das tut sie mit so viel für sie typischen Charme und Humor, dass man sich wünscht, ihre Erzählung möge ewig weitergehen.
Einen wunderschönen, persönlichen Bericht legt Ulla Lenze über Kachetien vor, mit ihrer lustvollen, zauberhaften Sprache, als wolle sie den Leser einladen, sich ihrer Reiseroute anzuschließen und alles Beschriebene noch einmal zu erleben. Ihre Kollegin und Reisebegleiterin Tamta Melaschwili wiederum schreibt voller Leichtigkeit und sichtlichem Spaß an der Reise von ihren Entdeckungen der architektonischen Schätze, der wundersamen Natur der Region und des Nationalparks, als wäre sie selbst ein Gast in einem fremden Land.
Von mitreißendem Humor und von bedingungsloser Offenheit ist Lucy Frickes Bericht über Tuschetien durchdrungen. Man möchte sofort mit auf das Pferd springen, mit dem sie die bergige Landschaft durchstreift, und mit den grimmigen Männern Schnaps trinken, man möchte den Sternenhimmel bestaunen und dabei genau solchen Mut aufbringen wie sie – sich so kopfüber in das Abenteuer zu stürzen. Ihr Tandempartner Archil Kikodze, ein fantastischer Kenner jener Region, erzählt melancholisch und bildhaft von jenem abgelegenen Ort der Welt, seinen fremd anmutenden Traditionen und von der einmaligen Natur, und seine Worte sind von einer tiefen Liebe und großem Respekt für diesen besonderen Fleck Erde erfüllt.
Als ein sehr genauer Beobachter präsentiert sich Volker Schmidt, der den Lesern mit seinen detailreichen Beobachtungen, die alles beschreiben, ohne zu beschönigen, und doch nichts werten, über nichts urteilen, sofort in seinen Bann zieht. Er fasziniert mit seinen Erkenntnissen und Sinneseindrücken, die gemessen an der Kürze des Aufenthalts bemerkenswert sind, und nimmt den Leser sofort mit auf die Reise. Irma Tawelidse aber, die mit Volker Schmidt gereist ist, begeistert durch ihre poetische Sprache und die persönlichen Erinnerungen und teils inneren Landschaften, in die sie den Leser mit ihrer traumwandlerischen Sprache lockt.
Nestan Nene Kwinikadse bietet uns eine Kurzgeschichte über ihre Heimatstadt an und ermöglicht somit einen Einblick in einen spannenden, brutalen und zugleich intensiven Abschnitt georgischer Geschichte. Ihre Sprache ist lakonisch und stets nah an ihrer Protagonistin, sie spielt bewusst mit dem Leser und die Grenze zwischen Fiktion und Realität scheint immer wieder zu verschwimmen. Fatma Aydemir, ihre Tandempartnerin, lässt sich voller Freude auf die fremde Stadt ein und macht sich auf die Suche nach dem Vertrauten in der Fremde, nach Gemeinsamkeiten und Überschneidungen, ohne dabei den kritischen Blick zu verlieren.
Reisen und Schreiben haben für mich etwas Wesentliches gemeinsam: die Verschiebung der Perspektive, etwas Neues zu erkennen. Und darum geht es letztlich beim Reisen wie auch in der Literatur: das scheinbar Selbstverständliche und das Offensichtliche zu hinterfragen und einen tiefen Einblick zu erhalten, indem man etwas unter die Lupe nimmt, indem man eine Außenperspektive einnimmt. Der Effekt, der sich dabei einstellt, ist oftmals ähnlich: Man ist plötzlich fähig, Dinge, Geschehnisse, Erlebnisse in ein ganz anderes Licht zu rücken und dadurch etwas zu begreifen. Über sich und vielleicht auch über die Welt.
LUCY FRICKE
Sie werden seltener, aber es gibt sie noch, die Einladungen, zu denen ich nicht Nein sagen will. Je abwegiger, desto besser. Und wenn jemand fragt, ob ich Lust habe, nach Tuschetien zu reisen, und ich denke: Tuschetien? Nie gehört, dann sage ich sofort zu. Eine ferne Bergregion im Nordosten Georgiens, in die man ausschließlich in den Sommermonaten reisen kann, da in der übrigen Zeit des Jahres der Pass nicht befahrbar ist, heißt es in der Einladung. Vom Gebirge verstehe ich nichts, vom Wandern erst recht nicht und in Georgien bin ich nie gewesen. Das alles spricht dafür.
Der besagte Pass ist unter dem Namen Abano-Pass durchaus bekannt, er gilt als eine der gefährlichsten Straßen der Welt. Kein anderer Weg führt nach Tuschetien, dorthin gelangt man nur mit Allrad, Pferd oder Helikopter. Ich schaue mir Videos an und kichere vor Freude. Diese Strecke ist mörderisch, es ist genau die milde Form von Todesangst, die mir gefällt. Bei einer nahenden Depression unternehme ich gern einen Tandemsprung aus einem Flugzeug, jetzt also ein Pass in Georgien. Man verspricht mir, dass es einen Fahrer geben wird, der in der Region aufgewachsen ist. Eine andere Angst ist die vor dem Wandern. Ich hasse Wandern. Ich kann überhaupt nicht wandern. Dieser Körper hat das letzte Jahr an einem Schreibtisch gesessen und kaum noch Muskeln in den Beinen.
Dieser Körper ist ein Sack, und der wird jetzt ausgerechnet in den Großen Kaukasus verschickt.
Ich halte es für möglich, auf 3000 Metern einfach zu kollabieren. Freunde leihen mir Wanderschuhe und eine Multifunktionsjacke, denn zum Anziehen hat dieser Körper auch nichts. Ich lese die Biografie über den jungen Stalin, packe die Sachen und fliege nach Tbilissi. Sehr schnell werde ich verstehen, dass ich, wenn ich auch nicht wandern kann, so doch über gewisse Fähigkeiten verfüge, mit denen man in Georgien offenbar ziemlich weit kommt: essen, rauchen, trinken und über das Unglück lachen. (Worüber man besser schweigt: Stalin und Religion).
Wir starten an einem warmen Morgen um acht Uhr. Der Fahrer G. wartet mit seinem alten Landrover vor dem Hotel, und mein georgischer Schriftstellerkollege A. liegt bereits auf der Rückbank, nachdem er die letzten drei Nächte seinen Geburtstag gefeiert hat.
Heute müssen wir nur die Fahrt überleben, und dieses Überleben liegt nicht in unseren Händen, sondern einzig und allein in der Hand unseres Fahrers G. Es scheint mir eine gute Hand zu sein, wahrscheinlich die beste.
Acht Stunden wird die Fahrt dauern, und bald wird mir klar, warum. Wir haben es nicht eilig. Wir haben Zeit. Zeit für ein Frühstück um zehn Uhr, das aus den traditionellen Chinkali, den gefüllten Teigtaschen, und einem frisch gezapften Bier besteht. Zeit, um die Tante von G. zu besuchen und in den Weinkeller hinabzusteigen. Zeit, um riesige Plastikgallonen mit selbst angebautem Wein zu füllen, Zeit, um von jedem Jahrgang ein Glas zu probieren. Nicht zu vergessen der Tschatscha, dieser grundehrliche Trester, der gegen alles hilft, von der Tante persönlich gebrannt. Ein Dutzend kleine, gefüllte Plastikflaschen laden wir in den Wagen. Wer das alles trinken soll, ist die Frage. Wir sind zu dritt und haben nur sechs Tage. Geschenke, sagt G. Die freuen sich da oben über alles. Wir fahren also in die Berge und verschenken Schnaps.
Als wir uns dem berüchtigten Pass nähern, soll ich mich abschnallen. Von jetzt an werde ich nur noch durchgeschüttelt, und wenn was passiert, sagt G., müssen wir eh schnell aus dem Wagen raus. Auto-Rodeo!, ruft A. begeistert von der Rückbank. Das ist sie also, eine der gefährlichsten Straßen der Welt, und G. fährt sie mit der linken Hand. Nicht eine Sekunde Angst, nicht einmal Übelkeit, das ist fast eine Enttäuschung. Als wir nach neunzig Minuten die Spitze erreichen, steigen wir auf 2800 Metern aus, holen aus dem Kofferraum eine der kleinen Plastikflaschen, dazu drei Gläser und trinken auf Georgien. Gaumardschos!
Ich taumle zurück auf den Beifahrersitz, Tuschetien liegt vor uns wie ein Versprechen. Ein unermessliches Staunen über die Schönheit, die sich hinter jeder Kurve aufs Neue ausbreitet, da taucht tatsächlich ein verborgenes Land auf. Wir fahren vorbei an den ersten Dörfern. Nie mehr als zehn Häuser, verfallene Wehrtürme, vor Jahrzehnten verlassene Winterquartiere. Fast niemand bleibt in den kalten Monaten noch hier, sie alle ziehen auf die andere Seite des Passes und wer bleibt, ist abgeschnitten von dem, was wir Welt nennen. Sobald es anfängt zu schneien, führt in diese Täler kein Weg mehr. In den harten Jahren schneit es bis in den April hinein. Die Einsamkeit hier ist länger und kälter als anderswo. Es gibt keinen Strom, keinen Empfang, kein Internet, keinen Fernseher.
Unser erstes Quartier, Dartlo, das manche das schönste Dorf Tuschetiens nennen, sieht aus wie ein Gemälde. Fluss, Berge, Sonnenuntergang, Wehrturm, Schieferhäuser, alles da, alles unwirklich. Nur schweigen und bewundern.