Geschichten aus dem Lockdown - Katrin Hernandez - E-Book

Geschichten aus dem Lockdown E-Book

Katrin Hernandez

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Beschreibung

Februar 2021. Ein Haus. Fünf Menschen. Und fünf verschiedene Strategien mit dem verrückten Lockdown-Alltag fertig zu werden. Da ist Theresa, die ihre betagten Eltern pflegt und versucht, dabei nicht durchzudrehen. Und da sind Lena und Yasemin, die feststellen, dass es bei KiTa-Webinaren und Home Schooling ganz schön heftig zugeht. Auch bei Nachbar Marco steigt die Spannung. Der Student will heute sein erstes Tinder-Date empfangen, doch vorher muss er noch ein wichtiges Paket bei Georg abholen. Der arbeitslose Schreiner hat seinem Hund das Walzertanzen beigebracht und setzt alles daran, eine Wette mit seinen Stammtischkollegen zu gewinnen. Die Wege der fünf Alltagshelden kreuzen sich. Ihr gemeinsames Ziel: Heil durch den Tag!

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Lockdown, der: bezeichnet eine temporäre, staatlich angeordnete und durchgesetzte Quarantäne für die breite Bevölkerung mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Durch die zeitweilige Begrenzung oder vollständige Aufhebung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung soll eine räumliche Distanzierung durchgesetzt werden, um die weitere Ausbreitung einer Infektionskrankheit zu verhindern und damit eine Epidemie oder Pandemie einzudämmen. Als konkrete Maßnahmen können zum Beispiel die Schließung von Geschäften, öffentlichen Einrichtungen, Versammlungsverbote oder Ausgangssperren erfolgen, gegebenenfalls in Verbindung mit der Ausrufung des Katastrophenfalls beziehungsweise Ausnahmezustands.

zitiert nach: Wikipedia (23. März 2021)

Inhaltsverzeichnis

Dienstag, 9. Februar 2021

Tür Nr. 1: Lena

Tür Nr. 12: Theresa

Tür Nr. 23: Georg

Tür Nr. 37: Marco

Tür Nr. 41: Yasemin

Dienstag, 9. Februar 2021

Offenbachstraße 9 90489 Nürnberg

Tür Nr. 1

Lena

Tap, tap, tap. Ich höre nackte Kinderfüße durch den Flur laufen. Meine Augen öffnen sich einen Spalt breit. Im Zimmer ist es noch dunkel, nur durch die Ritzen der Jalousie dringt etwas Licht und lässt die Umrisse der Einrichtung erahnen. Ich seufze. Schlafen – eine Stunde noch zumindest! Die Füßchen laufen laut hörbar wieder zurück und sagen mir, daraus wird nichts. Ich taste nach dem Wecker, der unter meinem Kopfkissen begraben liegt, damit ich nachts die Uhrzeit besser prüfen kann. Die Ziffern zeigen in grünen LED-Strichen 06:11 Uhr an. Das übliche Programm also.

Ich drehe meinen Kopf zur Seite. Halb unter der Bettdecke liegt das Baby und schläft noch. Klar, Mama nachts schön hart rannehmen und am Morgen dann ausschlafen … Aber putzig, wie sie schläft und durch ihr kleines Näschen röchelt. Die Händchen sind über den Kopf gestreckt und sagen »Ich zahne, aber schau mal, wie süß ich bin!« Mutter Natur ist echt eine Nummer – wie soll man denn da noch sauer sein? Na gut, dann vergebe ich dir eben. Für heute Nacht und vorsichtshalber für morgen Nacht auch gleich.

Ich vergrabe mein Gesicht noch einmal kurz in dem warmen Kopfkissen, bevor ich mich durchringe, da rauszugehen und der Wahnsinn des Alltags uns allesamt packt. Hätte man mir vor einem Jahr gesagt, dass ich nach Weihnachten mit einem Kleinkind und einem Baby monatelang allein zu Hause bleiben würde, hätte ich wahrscheinlich gelacht. Dann hätte ich einen großen Koffer gepackt, den Adoptionsservice angerufen und ein One-Way-Ticket nach Maui gebucht. Vielleicht hätte ich auch noch ein Ticket für meinen Mann gekauft. Und das Baby mitgenommen. Wenn es nicht gerade zahnt und alles vollsabbert, ist es eigentlich recht niedlich. Am Strand von Maui hätte es mir sicher ein paar neidische Blicke eingebracht. Mit seiner rosaroten Schwimmwindel und seinen Speckröllchen sieht es ja echt zum Knutschen aus.

Bei mir ist das hingegen schon eine andere Nummer. Dreißig Jahre später will niemand mehr den Speck an deinem After-Baby-Body sehen. Und Rosa trägst du dann nur noch, wenn du farbenblind bist. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, kommt mir das ganz schön gemein vor.

Durch die Wand zum Wohnzimmer ist ein gedämpftes, schelmisches Kinderlachen zu hören und ich glaube, ich sollte jetzt langsam mal in die Gänge kommen. Ich schäle mich aus der Bettdecke und gehe zur Kommode, auf der meine Kleidung liegt. Unter einem Wust von gebrauchten Spucktüchern liegen frische Unterwäsche und meine rote Jogginghose. Das T-Shirt riecht nach den Fischstäbchen, die es gestern zum Abendessen gab, und weist ein paar Breiflecken auf. Für heute muss es allerdings noch reichen. Soweit ich mich erinnern kann, hat mein Kleiderschrank nicht mehr viele Reserven übrig.

Auf dem Weg ins Badezimmer geht das Nachtlicht an und wirft graue Schatten an die Wand. Autsch! Ein stechender Schmerz fährt hoch bis zu meinen Hüften. Im Halbdunkel hat sich etwas Spitzes in meine Fußsohle gebohrt. Ich massiere mir den Fuß mit beiden Händen und entdecke am Boden einen hässlichen Playmobil-Wikinger. Ich fluche leise, schiebe ihn mit den Zehen zur Seite und nehme mir vor, heute Abend vor dem Zubettgehen gründlicher aufzuräumen.

Am Waschbecken vollziehe ich meine tägliche Katzenwäsche. Gesicht reinigen, Haare bürsten und zu einem Zopf binden. Etwas Deo auftragen. Zitronenduft, mmh! Passt herrlich zum Fischstäbchen-Geruch meines Shirts. Auf der Ablage stehen vier bunte Zahnbürsten in Plastikbechern und ebenso viele Sorten Zahnpasta. Mit Fluorid. Ohne Fluorid. Eine mit Erdbeer- und eine mit Kräutergeschmack. Um den Wasserhahn hat sich ein dicker Kalkring gebildet, den ich wie immer erfolgreich ignoriere. Ich gehe aufs Klo. Alleine, aber das wird sich bald ändern.

Das Geräusch der Klospülung hallt durch die noch stille Wohnung und begleitet mich auf der Suche nach Koffein in die Küche. Auf dem Weg dorthin achte ich auf heimtückisch am Boden platziertes Spielzeug. Mein Mann Martin ist bereits da und sitzt am Esstisch bei einer Schale Müsli und einer Tasse Filterkaffee.

»Guten Morgen!«, sage ich und drücke ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund.

»Guten Morgen zurück! Na, wie war die Nacht?«, erkundigt er sich.

»Frag nicht. Sie ist nach Mitternacht jede Stunde aufgewacht. Mindestens«, gähne ich und nehme mir aus der Vitrine die größte Kaffeetasse, die ich finden kann. Auf der Vorderseite steht ein Spruch in schwarzer Farbe: »Wer bin ich und wieso so früh?« Meine Schwester hat mir diese Tasse mit einem fiesen Grinsen kurz vor der Geburt unseres ersten Kindes geschenkt. Ich nehme die Kanne aus der Kaffeemaschine und schenke mir die noch vorhandene Flüssigkeit ein. Sie reicht nicht mal für die Hälfte der Tasse.

Ich nippe an dem warmen Kaffee und schaue nach draußen. Durch das Fenster zum Innenhof hin zeigt sich ein Stück grauer Himmel. Es regnet ganz leicht und das Thermometer zeigt vier Grad an. Mir scheint, Februar war schon immer der depressivste Monat des Jahres. Jetzt, wo noch dazu alles geschlossen hat und Maui nicht nur physisch ganz weit weg ist, kommt er mir noch trostloser vor.

Aus dem Lebensmittelschrank hole ich eine Schachtel Trockenfutter und leere etwas davon in den Futternapf neben dem Mülleimer. Da kommt auch schon Whiskey herein und streicht mir mit erhobenem Schwanz um die Beine.

»Na, gut geschlafen?«, frage ich. Whiskey schnuppert kurz an dem Futter, scheint aber nicht daran interessiert zu sein. Wahrscheinlich wartet sie lieber darauf, beim Babybrei mitessen zu dürfen. Sie hüpft auf die Tischbank, auf der mein Mann sitzt und klettert über seinen Schoß in die Babyschale, wo sie sich zusammenrollt.

»Hey!«, protestiert Martin. Ein Löffel glutenfreie Cornflakes ist auf seinem IPhone gelandet. Neben der Spüle reiße ich ein Stück Kleenex ab und reiche es ihm.

Hm, wo ist eigentlich mein Handy? Ich entdecke es auf dem Fenstersims zwischen zwei angetrockneten Flamingoblumen. Offenbar habe ich gestern Abend vergessen, es auszumachen, denn das Display leuchtet mir bei der ersten Bewegung munter entgegen. Der Kalender meldet für heute zwei Einträge:

10:00 Uhr: Kindergarten – Morgenkreis16:30 Uhr: Skypen mit Großeltern

»Oh Mann, heute ist wieder Morgenkreis!«, stöhne ich. Kann man mit sauerstoffuntersättigtem Gehirn eigentlich hyperventilieren? Ich entscheide mich, das später mal zu googlen und nehme stattdessen noch einen großen Schluck vom Kaffee.

»Dasch wird sischer luschtig! Mer ischt dieschmal dran?«, fragt Martin mit einem Mundvoll Müsli.

»Äh … ich glaube Imke«, sage ich nach kurzem Überlegen. Martin macht ein planloses Gesicht und ich füge hinzu: »Steffis Mama.«

»Weischt du, wasch die vorhat?«, fragt er und wischt wie verrückt mit dem Kleenex auf seinem Display rum.

Noch ein Schluck Kaffee. Mist, die Tasse ist leer. »Nein, ich lass mich mal überraschen.«

Seit ein paar Wochen findet jeden Dienstag um 10 Uhr ein Online-Morgenkreis für die Kinder statt, die nicht in die Notbetreuung gehen. Angefangen hat alles mit Birgit, einer Mutter aus unserer Kindergartengruppe. »In großer Sorge« – wie sie schrieb – hat sie eine E-Mail an alle Eltern geschickt, die ihre Kiddies zu Hause betreuen. Der Betreff: Einladung zur Mütter-Konferenz via Zoom. Die Agenda: Erstellung eines Online-Betreuungsangebotes für den Nachwuchs. Bereits da hätte ich Lunte riechen müssen und behaupten sollen, die Einladung nie erhalten zu haben.

Stattdessen habe ich zum besagten Termin pflichtschuldig meinen freien Abend dem Treffen mit den anderen Kindergarten-Mamas über Zoom geopfert. Bei Milka-Schokolade und Rotwein durfte ich Zeugin werden, wie sich die Muttis über den »Ernst der pädagogischen Lage« unterhielten. Schnell war festzustellen, dass die meisten Eltern um den Geisteszustand ihrer Kinder besorgt waren und vor allem den förderlichen Input der Erzieherinnen vermissten. Andere hingegen waren schlichtweg verzweifelt, weil sie die Kernfusion aus Arbeit und Kinderbetreuung zu Hause kurzerhand in den Wahnsinn trieb.

Birgit etwa, die bei einem Versicherungsunternehmen im Home Office arbeitet, hat mit klagenden Worten von ihrer Misere erzählt. Während Birgit tagsüber an ihrer Online-Abteilungsbesprechung teilnimmt, darf ihre Tochter Josefa auf Netflix Tierdokus gucken. Präpandemisch ein undenkbares Szenario, denn Birgit hasst es, wenn Kinder fernsehen. Was zuerst richtig gut lief, hat nach sechs Wochen schließlich seine Kehrseite gezeigt. Nachdem Josefa sich eine Löwen-Doku reingezogen hatte, hat sie ihre Mutter während der Abteilungsbesprechung laut brüllend angesprungen, in der Vorstellung, Birgit wäre eine Antilope, die sie erlegen muss. Nun Birgits Tonus: Hochwertige Kinderbetreuung muss her und zwar dalli!

Interessant und etwas furchteinflößend habe ich die Situation von Christine gefunden, die sich nach Birgit zu Wort gemeldet hat. Die Alleinerziehende muss sich zusätzlich zu ihrer Arbeit »so ganz nebenbei« um ihren Sohn Jakob kümmern, der außer Christine seit Wochen niemanden mehr gesehen hat. Deshalb hat sich Jakob aus Langeweile alle Kissen und Decken in der Wohnung geschnappt und eine Höhle in seinem Kinderzimmer gebaut. Dort hortet er nun Küchenutensilien, denen er Namen gibt und die er wie seine Freunde behandelt. Dummerweise darf Christine Jakobs Freunde nicht mehr zum Kochen verwenden und muss nun jeden Tag über den Lieferservice Essen bestellen.

So haben die Mamas reihum ihr Leid geklagt und einen eklatanten Bedarf an sinnvollem Beschäftigungsmaterial und Kindergartenfreunden festgestellt. Mit einem großen Seufzer hat Birgit dann begonnen vom Morgenkreis im Kindergarten zu schwärmen wie von einem Medium gebratenen Filetsteak und dann in die Runde gefragt, ob sowas nicht auch digital ginge? Der Rest der Runde ist sofort aufgesprungen und in einem Anfall von Euphorie wurde festgelegt, von nun an selbst jede Woche einen Morgenkreis abzuhalten. Online. Mit Programm von den Eltern.

Birgit und die anderen Mamas haben sich zu ihrem tollen Einfall gratuliert. Als geplant werden sollte, wer den Anfang macht, wurde es aber plötzlich ganz leise. Nach einer gefühlt sehr langen Stille – ich wollte gerade den Mund öffnen, um den Baby-Jocker zu ziehen und mich vom Acker zu machen – hat plötzlich Emils Mutter in die Kamera geflötet: »Lena, du bist doch jetzt daheim. Da hast du doch sicher gaaanz viel Zeit, etwas vorzubereiten?«

Verdammt. Ich hab darauf gewartet, dass mir etwas Schlagfertiges einfällt, aber wie üblich hat sich mein Gehirn lieber totgestellt. Die anderen Mamas waren hin und weg von dem Vorschlag und so ist mir nichts anderes übriggeblieben, als den ersten Morgenkreis zu halten. Seither habe ich mir fest vorgenommen, Zoom-Meetings gründlichst zu meiden und bei der nächsten Anfrage einfach den Stecker zu ziehen. Ups, Verbindungsprobleme!

Ich stelle die leere Tasse kopfüber in die Geschirrspülmaschine. Im Schlafzimmer ist inzwischen das Baby aufgewacht. Man kann es laut vor sich hinbrabbeln hören. Auch aus dem Wohnzimmer kommen quietschende und grölende Geräusche und ich vermute mal stark, dass unser Sohn Noah auf dem Sofa herumhüpft.

Martin steht auf und räumt seine leere Müslischale ebenfalls in die Spülmaschine.

»So, muss jetzt los!«, sagt er und gibt mir noch ein Küsschen, das nach Milch und kleinen Schokostücken schmeckt. Er geht ins Wohnzimmer, um sich von unserem Großen zu verabschieden und ich kann hören, wie ihm Noah vom Sofa aus in die Arme springt.

»Uff … nicht so wild! Und jetzt tschüss, bis heute Nachmittag!«

Ich höre, wie Martin von nackten Kinderfüßen bis zur Haustür verfolgt wird und noch auf zwei Küsse und eine Umarmung runtergehandelt wird. Danach schließt sich die Tür mit einem leisen Klick.

Martin arbeitet in einer kleinen Apotheke in unserem Stadtteil. Seit gut einem Jahr sammelt er zum ersten Mal in seinem Leben richtig Überstunden an, weshalb er früh raus muss und leider oft spät nach Hause kommt. Ich muss zugeben, dass es äußerst praktisch ist, einen Apotheker im Haus zu haben, weil dann stets genug Windelcreme da ist. Und ein Jahresvorrat von diesem Anti-Erkältungs-Shot von Wick, der einen nachts total wegbeamt.

Dummerweise habe ich dank Martins Beruf neuerdings eine Allergie gegen den Begriff »systemrelevant« entwickelt. Bist du nicht systemrelevant, sitzt du zu Hause und langweilst dich zu Tode. Bist du es schon, arbeitest du von früh bis spät und träumst nachts von Datenrückverfolgung und FFP2-Masken. Heute bekommt man nicht einmal mehr ein Froschhaar Anerkennung dafür. Zu Beginn der Pandemie wurde medizinisches Personal noch beklatscht, ein Nachbar aus dem Haus gegenüber hat Martin sogar mal ein Ständchen auf seiner Ukulele gespielt. Das ist jetzt vorbei. Gefühlt seit einer Ewigkeit.

Als wir noch jünger waren, haben wir uns abends oft mit Freunden nach der Arbeit auf einen Absacker getroffen und über Martins Geschichten aus der Apotheke gelacht. Über inkontinente Frauen und schwerhörige alte Männer. Heute wünscht sich Martin eine Gefahrenzulage für seine Arbeit.

»Mein Problem ist ja nicht das mutierende Virus, sondern die mutierenden Menschen!«, hat er erst kürzlich abends über einem Stück Salamipizza philosophiert.

Anfang letzten Jahres als das Desinfektionsmittel sehr schnell knapp geworden ist und die Fläschchen rationiert werden mussten, konnte es in der Apotheke schon mal richtig unangenehm werden. So haben sich einmal zwei Frauen mittleren Alters mit ihren Handtaschen über eine Flasche Desinfektionsmittel geprügelt. Martin konnte sie nur mit einem selbstgebrannten Schnaps, sechs Probe-Päckchen einer Aloe-Vera-Gesichtslotion sowie einer Broschüre »Gesundheitstipps für Best-Ager« beruhigen. Seither zuckt er jedes Mal zusammen, wenn Frauen mit Handtaschen die Apotheke betreten.

Ich hole das Baby, das langsam zu quengeln begonnen hat und gehe mit ihm in das Wohnzimmer. Noah hat aufgehört auf dem Sofa zu hüpfen und sortiert Legosteine.

»Komm, gehen wir uns anziehen!«, sage ich und Noah folgt mir in das Kinderzimmer. Auf der Wickelkommode wechsle ich dem Baby die Windel, während Noah sein Shirt für heute aussucht.

»Das mit den Spinnen ist voll cool!«, meint er und hält ein knalloranges Hemd mit flauschigen Insekten-Applikationen in die Höhe.

»Das ist eigentlich für Halloween. Nimm doch das blaue mit dem Schiff!«, schlage ich vor. Aber nein, Noah will das megacoole Spinnen-Shirt anziehen. Ist mir recht, sieht ja eh keiner. Ich helfe ihm aus seinem Paw Patrol-Pyjama und warte, bis er sich fertig angezogen hat.

Danach gehen wir in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Ich setze das Baby auf den Boden und lege ihm eines dieser lustigen Knistertücher vor die Füße. Noah studiert die Lego-Zeitschrift, die er mir gestern in einem frühkindlichen Heulanfall im Supermarkt abgerungen hat. Ich kippe Müsli und Milch in zwei Schalen und rühre dem Baby einen Grießbrei mit Fertigpulver an. Whiskey ist inzwischen aus der Babyschale gesprungen und interessiert sich für das Knistertuch.

Ein leises Knuspern kommt aus der Ecke. Ich drehe mich um und sehe, wie das Baby Trockenfutter aus dem Katzennapf isst.

»Himmel, nein!«, entfährt es mir laut und Whiskey lässt vor Schreck das Knistertuch fallen. Ich nehme das Baby auf den Arm und versuche in seinem Mund das Katzenfutter rauszupulen. An der oberen Zahnleiste ist etwas Hartes zu spüren. Zwischen braunen Brösel kann ich ein paar winzig kleine Spitzen erkennen. Ein Zahn. Du hast mich heute Nacht wachgehalten, du Sack!

Bevor das Baby auf die Idee kommt, mich zu beißen, setze ich es in den Hochstuhl, stelle Noah sein Müsli hin und nehme auf der anderen Seite des Tisches Platz. Whiskey gesellt sich dazu und will mit dem Baby Grießbrei essen. Nachdem ich im Internet gelesen habe, dass auch Haustiere unter Eifersucht leiden können, bin ich dazu übergegangen, die Katze mitessen zu lassen. Ob es normal ist, dass Whiskey ebenfalls mit dem Löffel gefüttert werden will, konnte ich leider nicht rausfinden.

Der Vormittag vergeht ohne weitere Vorkommnisse. Ich lasse Noah dreimal im Memory gewinnen und verzichte heute auf eine Partie mit pädagogischem Verlieren-Lassen, denn zum Morgenkreis brauche ich ihn bei guter Laune. Danach zählen wir seine Paw Patrol-Hörspiel-CDs und ich bestaune seinen Muskeln und versichere ihm, dass sie die größten sind, die ich je gesehen habe. Ein Blick auf die Uhr im Wohnzimmer besagt, dass es noch fünfzig Minuten sind bis zum Morgenkreis. Wir ziehen Noahs Playmobil-Ritter an und bauen ein supermegaschnelles Düsenraketenflugzeug aus Lego.

Eine Viertelstunde vor dem Morgenkreis fahre ich den Laptop auf unserem Sofa hoch und gehe mit dem Baby ins Badezimmer, um mir ein frisches T-Shirt anzuziehen und etwas unauffälliges Make-up aufzulegen. Ich binde mir meinen Zopf neu und wische die Breiflecken mit einem feuchten Waschlappen von Babys Einteiler. Ein Blick in den Spiegel überzeugt mich nicht, aber leider ist jetzt keine Zeit mehr ein umfangreiches Vorher-Nachher-Umstyling. Ich schnappe mir das Baby, das begonnen hat, die Kloschüssel zu inspizieren und haste aus dem Bad.

Zurück im Wohnzimmer logge ich mich in den Laptop ein und suche in meinem E-Mail-Account nach dem Zoom-Link. Noah hat sich inzwischen seinen Truck zurechtgelegt, den er seinem besten Kindergarten-Kumpel über die Webcam zeigen möchte.

Heute ist Imke, Stefanies Mutter, mit Bespaßung an der Reihe. Sie arbeitet im Frauenbüro auf der Uni, wo sie um die Gleichstellung der Uni-Mitarbeiterinnen mit ihren männlichen Kollegen kämpft und sich auch um die Anliegen von Menschen mit Behinderung und diversem Geschlecht kümmert. Imke ist das personifizierte Gender-Sternchen – alles, was die weibliche Emanzipation behindert, ist ihr ein Dorn im Auge. Dummerweise ist das ihrer Tochter Stefanie ziemlich egal. So hat sich Imke beim letzten Elternnachmittag beschwert, ihre Tochter wolle seit dem Kindergarteneintritt nur noch in rosa Bettwäsche schlafen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen fragte sie die Erzieherinnen, ob sie Steffi nicht dazu anhalten könnten, tagsüber mehr in der Werkzeugecke zu spielen und ihr Glitzer-Tütü zu ignorieren, anstatt es auch noch mit lauten Worten zu loben. Ich bin gespannt, was Imke sich für heute ausgedacht hat, wette aber, dass Regenbogeneinhörner wahrscheinlich keine Rolle spielen werden.

Ich kann mich noch lebhaft an meinen eigenen Morgenkreis erinnern. Obwohl Noah zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren in den Kindergarten ging, hatte ich tatsächlich keine Vorstellung davon, wie so ein Morgenkreis eigentlich aussieht. Ich habe meiner Freundin Nina geschrieben, die als Erzieherin arbeitet und sie um Ideen gebeten. Nachdem mir Nina allerlei Vorschläge gemacht hat, bin ich schnell zu dem Schluss gekommen, dass ich definitiv nichts vorsingen und noch weniger eine Tanzeinlage gestalten würde. Schließlich habe ich mich für ein Suchspiel entschieden, bei dem die Kinder in ihrer Wohnung nach bestimmten Gegenständen suchen mussten. Nach etwas Essbarem, zum Beispiel. Oder nach etwas, das Krach macht.

Ich bin mir nicht sicher, ob meine Idee mit dem Suchspiel allen Eltern so gut gefallen hat wie mir selbst. Immerhin kommen erstaunliche Dinge zu Tage, wenn man die Kinder bittet, Sachen aus ihrem zu Hause herzuzeigen. Als ich die Kiddies zum Beispiel dazu aufgefordert habe, etwas Raschelndes zu bringen, zerrte Theo eine XXL-Packung Inkontinenzunterlagen für Erwachsene herbei. Auch die Suche nach etwas Essbarem erwies sich als tückisch. Ich bin überzeugt, dass Leos Mama nicht begeistert war, als der kleine Leo mitten im Morgenkreis eine halbe Packung Paprikachips verdrückt und die andere Hälfte auf dem Boden verteilt hat. Mein persönliches Highlight aber war, als die Kinder etwas Rotes auftreiben sollten und Clara den bordeauxfarbenen String-Tanga ihrer Mutter in die Kamera hielt. Zumindest glaube ich, dass er der Mutter gehört – heutzutage weiß man ja nie.

Leider habe ich unterschätzt, dass auch die Kinder verdammt gute Beobachter sind. So hat Finn-Sebastian mit einem scharfen Blick in die Kamera zwischen unseren Sofapolstern eine halbleere Tüte Schaumgummi-Mäuse von Haribo gefunden. Das Gör hat das natürlich sofort seiner Mutter erzählt und einen Tag später bekam ich von ihr eine harsche E-Mail mit der Behauptung, ich beeinträchtigte mit meiner Laxheit den mühsam aufgebauten, gesunden Ernährungsstil ihrer Kinder.

Ich habe die Nachricht Martin gezeigt, der vor Lachen fast vom Stuhl gefallen ist. Schließlich habe ich ihr zurückgeschrieben und behauptet, dass nach neuen Studien der Inhaltsstoff Natriumcarbontriglycerid in Schaumgummimäusen den kindlichen Hirnstoffwechsel dauerhaft anrege. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört, räume nun aber vor jedem Morgenkreis peinlich genau das Sofa auf.

Ich starte Zoom und wähle mich mit dem Namen »Lena (Noahs Mama)« in das Treffen ein. In der Galerie-Ansicht ist zu sehen, dass die meisten der anderen Teilnehmer bereits da sind. Ich erkenne Steffi, die mit großen blauen Augen in die Kamera glotzt sowie die linke Gesichtshälfte von Imke.

In der Kachel mit der Selbstansicht sieht unser Sofa harmlos und nicht gesundheitsgefährdend aus. Zur Sicherheit habe ich den Laptop zur Wand hingedreht, damit man das Chaos in der Spielecke nicht sehen kann. Und wo ist eigentlich das Kind?

»Noah, komm! Es fängt gleich an!«, rufe ich Noah zu, der sich während meiner Abwesenheit wahrscheinlich in die Küche geschlichen hat, um Kekse zu futtern. Ich höre lautes Trampeln und Noah erscheint im Wohnzimmer.

»Hallöööchen, liebe Kinder!«, flötet Imke in die Kamera. »Wie geht es euch? Heute machen wir was ganz Tolles und werden gaaanz viel Spaß haben! Lasst mich mal erklären, was ich mit euch heute vorhabe!«

Während Imke ihr Programm erläutert, habe ich Zeit, die anderen Kinder zu beobachten. Da ist Clara, die offenbar allein in ihrem Kinderzimmer zoomt. Sie hockt im Schneidersitz auf einem rosaroten Sofa mit Blumenmuster. Rechts und links von ihr befindet sich eine beachtliche Anzahl an Stoffponys und Puppen mit Glitzerschleifchen im Haar. An der Wand prangt ein XXL-Poster mit einem Foto von Clara und ihren Eltern, die mit fröhlicher Miene in die Kamera grinsen.

Eine Kachel weiter ist Theo zu sehen, der wieder sein Tablet in der Hand hält. Er hat die Angewohnheit, damit durch die Wohnung zu rennen und es auch aufs Klo mitzunehmen, wo die Klobrille mit einem blauen flauschigen Bezug ausgestattet ist und seine Mutter eine große Kollektion an Duschgels hortet.

Imke strahlt und trägt in fröhlichem Ton vor. Sie klingt ein bisschen wie Heidi Klum bei einem Fotoshooting in Germany’s Next Topmodel. Zusammen mit ihrer Tochter steht sie in einem riesigen Wohnzimmer mit einer weißen Ledercouch und einem Perserteppich. Ganz im Hintergrund kann man einen Flachbildfernseher ausmachen. In meinem Kopf kann ich Martins Stimme hören: »Mindestens 55 Zoll! Nicht schlecht, Herr Specht!«

Steffi will das »Lied über mich« singen, das die Kinder angeblich schon aus dem Kindergarten kennen. Dazu schaltet sie im Hintergrund einen CD-Player ein und fängt an, mit ihrer Tochter zu singen und zu tanzen. Imkes Stimme wirkt brüchig und seltsam hoch, was sie jedoch nicht davon abhält, mit großem Pathos vorzusingen. Clara wackelt in ihrem Kinderzimmer mit, gibt aber keinen Ton von sich. Finn-Sebastian starrt in die Kamera und verfolgt mit misstrauischem Blick die hüpfende Steffi. Noah springt auf der Couch herum und singt den Intro-Song von Paw Patrol.

Nach dem Lied leitet Imke einen Ausflug ans Meer an. Die Kinder sollen sich Kissen und eine Decke holen und so tun, als würden sie darauf durchs Wasser schwimmen. Leo, der jüngste Zuwachs in der Gruppe, fällt dabei vom Sofa. Sein Mikro ist ausgeschalten, doch ich erkenne ein paar muskelbesetzte, tätowierte Männerarme, die den heulenden Leo wieder auf das Sofa hieven. Clara hat sich unter ihrer Bettdecke vergraben und sucht nach imaginären Muscheln. Der Bildschirm wird kurz schwarz als sie gegen den Laptop stößt und sich in dem Gewirr aus Kissen und Stofftieren versehentlich auf die Tastatur setzt.

Theo war wieder mal am Klo und hat sein Tablet auf dem Fußboden vergessen. Man sieht jetzt die Unterseite eines Waschbeckens und die Überreste einer leeren Kondomverpackung. Noah fährt mit seinem Truck durch den Kissenberg, den wir vor dem Laptop aufgetürmt haben. Allein das Baby, das auf meinem Schoß sitzt, verfolgt das Programm mit großem Interesse. Es hüpft vor Freude auf und ab und sabbert mit viel Elan.

Als der »Ausflug« vorbei ist und sich bei den Kindern erste Zeichen von Langeweile bemerkbar machen, singt Imke noch ein Abschiedslied und wackelt mit dem Hintern vor der Kamera. Ihre Tochter Steffi liegt seit einer Weile auf dem Sofa und malt mit dem Zeigefinger imaginäre Herzen auf das weiße Leder. Imke dreht sich noch einmal im Kreis und ringt um Atem.

»Sooo, liebe Kinder, das habt ihr aber gut gemacht! Ich danke euch fürs Mitmachen und wünsche euch noch eine tolle Woche! Den Mamis wünsche ich: Bleibt gesund! Tschü-hüüs, bis zum nächsten Mal!«, keucht Imke sichtlich fertig ins Mikrofon und winkt zum Abschied mit der Hand. Danach schließt sich das Zoom-Fenster und es kehrt schlagartig Ruhe in unserem Wohnzimmer ein.

Ich fahre den Laptop runter und atme aus. Puh, das wäre jetzt erstmal geschafft. Ich setze das Baby auf das Sofa, wo Noah es mit einem Kissen abschießt und das Baby lachend nach hinten fällt. Den Laptop räume ich nicht weg, sondern lege ihn unter den Sofatisch, denn heute Nachmittag werden wir ihn noch einmal brauchen.

Damit die Zeit bis zum Mittagessen vergeht, gehen wir wie jeden Tag einkaufen. Oft weiß ich zwar nicht mehr, was ich noch einkaufen soll, aber da alle anderen Geschäfte geschlossen sind und es für den Spielplatz noch zu kalt ist, bleibt mir nichts anderes übrig, wenn wir daheim nicht total versauern wollen. Ich wickle das Baby und stecke es in seinen blauen Winteranzug. Noah zieht seine grüne Regenjacke mit den Krokodilen an und setzt sich eine Mütze auf. Fast geschafft! Der erste Nervenzusammenbruch des Tages jedoch kündigt sich an, als Noah sich weigert, seine Gummistiefel anzuziehen. Lieber will er seine Paw Patrol-Sandalen tragen. Ich selbst schlüpfe in meine Jeans und verspreche Noah ein Überraschungsei, wenn er jetzt bitte sofort seine Gummistiefel anzieht.

»Die sind von Feuerwehrmann Sam! Die sind blöd!!«, brüllt Noah.

Er nimmt den rechten Gummistiefel und schleudert ihn quer durch die Garderobe. Das Baby beginnt in seinem dicken Winteranzug zu quengeln. Ich merke, wie mir langsam der Schweiß ausbricht und nehme mir fest vor, das nächste Mal Stiefel ohne Branding zu kaufen. Und diese verfluchten Sandalen in den Schuhschrank zu räumen. Als Noah sich schließlich zehn Minuten lang unter Tränen am Boden gewunden und das Baby auf meine Jacke gekotzt hat, gebe ich nach und lasse Noah seine Sandalen anziehen. Mit einem Ächzen hebe ich die Gummistiefel vom Boden und räume sie zurück in den Schuhschrank. Noah schnappt sich sein Laufrad und ich den Kinderwagen und los geht’s.

Fünf Minuten später stehen wir wieder in der Wohnung. Noah hat nasse und eiskalte Füße und möchte nun doch lieber die Gummistiefel anziehen. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass es irgendwann – irgendwann! – bitte einfach nur leichter wird.

Inzwischen hat es aufgehört zu regnen und Pfützen bedecken den Gehsteig. Noah rennt mit seinem Laufrad durch einen besonders großen Pfützensee und hebt dabei die Beine seitlich an. Im Kinderwagen ist das Baby eingeschlafen. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Kinn hoch, denn es ist noch empfindlich kalt.

Die Edeka-Filiale ist circa einen Kilometer zu Fuß von uns entfernt. Früher waren es genau 1772 Schritte bis dahin, heute sind es mit Noahs Schlangenlinien mindestens 2000 geworden. Ich sauge die frische Winterluft ein und stelle mir vor, ich wäre auf einem schneebedeckten Vulkan auf Island unterwegs. Mit ein bisschen Fantasie sehen die Häuser, an denen wir vorbeigehen, wie Hügel in einem Bergpanorama aus und die Zapfsäule der benachbarten Tankstelle könnte ein Geysir sein. Viel zu schnell wird meine Tagträumerei von Noah unterbrochen, der mit seinem Laufrad einen Laternenpfosten streift und zu weinen beginnt. Ich richte Noah wieder gerade und puste auf seine Wange. Kurz vor dem Geschäft kreuzen wir die Straße an einer Fußgängerampel. Das grüne Männchen erscheint und Noah schreit: »Grün heißt loooos!«

Am Rand des Parkplatzes bleibe ich kurz stehen und wühle in der Wickeltasche nach meiner FFP2-Maske. Ich finde sie schließlich zwischen zwei Ersatzwindeln, wische ein paar Brotbrösel von ihr ab und klemme mir die Gummibänder hinter die Ohren. Vor dem Geschäft hat sich bereits eine kleine Schlange aus Menschen und Einkaufswägen gebildet. Ein Blick auf die Werbeplakate verrät den Grund für den Andrang: heute gibt es Toilettenpapier im Angebot.

Ein Security-Typ bewacht den Eingang und lässt die Leute nur einzeln mit Wagen hinein. Mir ist es recht, die Zeit kann sich ruhig mal selbst totschlagen. Während ich den Kinderwagen mit einer Hand hin und her schiebe, damit das Baby nicht aufwacht, erzählt Noah den Leuten in der Warteschlagen wie er heißt, wo er wohnt und wie alt er ist. Verflixt! Gestern hatte ich mir noch vorgenommen, ihm einzuschärfen, er möge bitte unsere Personaldaten für sich behalten. Hinter den Masken der Leute erkennt man keine Gefühlsregung, aber die meisten nicken leicht und nehmen alles ohne Kommentar auf. So geht das etwa zehn Minuten, dann werden wir eingelassen.

Wir betreten das Geschäft über die Obst- und Gemüseabteilung. Ich suche nach einem möglichst reifen Bündel Bio-Bananen, während Noah mit hängendem Mund einem jungen Mann zusieht, der sich frischen Orangensaft an einer Selbstbedienungsmaschine auspresst. Nachdem ich auch ein Päckchen Cocktailtomaten und eine Salatgurke eingesammelt habe, ziehe ich Noah an seiner Jacke, damit wir weitergehen können. Als wir in die Regalreihe mit dem Toastbrot laufen, rammt Noah mit seinem Laufrad den Einkaufswagen einer alten Frau. Sie dreht sich um und sucht mit hektischen Blicken nach dem Übeltäter.

»Ja, was soll denn das?«, keift sie. Ich kann sehen, wie sie in ihrem Gehirn eine stets parat liegende Standpauke abruft. Sie macht den Mund auf, sieht aber in diesem Moment den Kinderwagen. Ihre nach unten hängenden Mundwinkel gehen plötzlich steil nach oben.

»Ach, wie süüüß!«, ruft sie mit Quietschstimme und watschelt zu uns. Sie beugt sich vor und blickt tief in das Innere des Wagens. »Wie alt ist er denn?«

»Zehn Monate«, sage ich und erwähne lieber nicht, dass das ganz in Blau gekleidete Kind ein Mädchen ist. Normalerweise wimmle ich solche ungefragten Charme-Attacken schnell ab und mache mich vom Acker, aber als Wiedergutmachung für Noahs Tollpatschigkeit gehe ich diesmal darauf ein. Noah hat den Vorfall bereits wieder vergessen und zerrt mehrere Tüten Brotchips aus dem Regal. Die Alte macht komisch schmatzende Geräusche und ich nehme an, dass sie hinter ihrer Maske dem Baby Luftküsschen zupustet.

»Genießen Sie diese Zeit! Die Kleinen werden ja sooo schnell groß!«, schmachtet sie und zieht mit ihrem Einkaufswagen von dannen. Ich lege Noahs Chipstüten wieder ins Regal zurück und überlege, was genau man an der Zeit voller schlafloser Nächte und vollgekotzten T-Shirts genießen soll.