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Der Band umfasst die beiden längeren Erzählungen "Gespenster" und "Von Tau und Tag". "Gespenster" erzählt die hochemotionale Liebesgeschichte zwischen Maria und ihrem Cousin Fritz von Schöller – eine Liebe bis auf den Tod, die aber doch nicht durch den Tod getrennt werden sollte. Aber das Schicksal ist unbestechlich ... "Vor Tau und Tag" berichtet von der Begegnung zwischen Privatdozent Doktor Dorn und der jungen Schriftstellerin Irene Lang. Er entbrennt in heftiger Liebe zu ihr. Doch es ist eine Liebe, die nicht sein darf ... Clara Viebig erzählt mit naturalistischer Kraft und mit viel Einfühlsamkeit zwei ergreifende Geschichten von Schicksal, Leid und Liebe.-
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Seitenzahl: 202
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Bücherei moderner autoren band 10
Saga
Vom Waldrand her kommt Vogelgezwitscher, und in den Hecken am Weg regt sich’s auch; es hüpft, es schlüpft, es piept, es jagt und erhascht und schnäbelt sich — Frühling! Die Schlehen blüh’n, der Himmel ist lichtblau; um die Zweige, die, zitternd vor Glück, die ersten grünen Blättchen tragen, fächelt der laue Wind.
Aus dem Wald treten zwei Gestalten, ein Mädchen und ein Mann; nun wandern sie langsam den schmalen Grasrain entlang. Rechts und links die Hecken sind hoch, die beiden gehen dahinter wie von einem Schirm gedeckt, die Welt sieht sie nicht; aber sie küssen sich doch nicht.
Nun gehn sie auch nicht mehr nebeneinander; das Mädchen schlendert voran, hebt das Gesicht zum Himmel auf und versucht gleichgültig auszusehen. Sie ist sehr schlank, jung, sehr hübsch, und sind ihre Wangen auch nur schwach rötlich angehaucht, wie die Blätter der Dijon-Rose, es pulst doch gesundes warmes Blut in ihnen. Sie ist ganz frisch, ganz unberührt.
„Maria“, sagte der Mann leise. Er hielt die Blicke unverwandt auf die schlank vor ihm Herwandelnde geheftet, und das Blut stieg ihm heiß in die Stirn. Der Hut drückte ihn wie im heißen Sommer, er nahm ihn ab und fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. „Maria —!“
Sie drehte sich nicht um, sie hielt immer das Gesicht geradauf zum Himmel gerichtet.
„Maria,“ sagte er wieder, „Maria, sei doch nicht so stumm! Was hab’ ich dir getan? Eben warst du noch so fröhlich, und nun ist alles wie fortgeweht. Was hast du?“
Ihre zartgefärbten Lippen drückten sich mit leisem Zucken aufeinander, ihre Augen zwinkerten.
„Maria,“ fragte er, „bin ich dir denn zuwider? Das habe ich nicht gedacht!“ Er machte einen raschen Schritt, um neben sie zu treten; sie machte noch einen rascheren und war ihm wieder voraus. Noch immer keine Antwort.
Zwei, drei Minuten vergingen. Der Wind strich lau durch die Hecken und zupfte der Schlehe ein paar weiße Blüten aus der schimmernden Brautkrone; ein Vogelpärchen verkroch sich, lockend, tiefer ins lauschige Versteck.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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