Gesund genug - Ursula Fricker - E-Book

Gesund genug E-Book

Ursula Fricker

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Beschreibung

Als bei Hanne in Berlin das Telefon klingelt, ahnt sie, was kommt. Ihr Vater liegt im Sterben. »Da kann man einmal sehen«, hat der Gesundheitsfanatiker immer mit Genugtuung gesagt, wenn es andere erwischte. Nun leidet er selbst an Darmkrebs im Endstadium. »Da kann man einmal sehen«, würde Hanne jetzt gern zu ihrem Vater sagen. Alle hat er mit seinem Bio-Wahn und Reinlichkeitsfimmel terrorisiert, die Familie zu einer Sekte gemacht - in einer Zeit, als Gemüseraffel und Demeter noch längst kein Mainstream waren. Aber soll Hanne es ihm jetzt wirklich heimzahlen?Am Sterbebett erinnert sie sich an ihr Erwachsenwerden jenseits des väterlichen Diktats, an ihren Sommer als Mother's Help in London, an das Erwachen und Auskosten einer wilden Freiheit. Als sie zufällig eine Mappe mit alten Zeichnungen entdeckt, leuchtet plötzlich eine völlig unbekannte Seite dieses pedantischen Vaters auf. Hatte auch er einmal einen Freiheitstraum? Wo ist der hin?Gesund genug ist ein Roman über eine »bio- dynamische« Radikalisierung und das Scheitern am eigenen Anspruch. Ursula Fricker erzählt berührend von den letzten Geheimnissen zwischen einer Tochter und ihrem Vater.

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Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ursula Fricker

Gesund genug

Roman

Kampa

Meiner Familie

GEHEN

Wo warst du denn?

Vater griff nach meiner Hand. Und bis heute habe ich nie eine hilflosere Geste gesehen als die Bewegung dieser Hand, die ins Leere griff. Ich trat näher und hockte mich neben das Sofa auf den Boden. Jetzt bin ich ja da, sagte ich. Nuna fuhr ihm mit der Schnauze ins plattgelegene Haar. Steif und schmal lag Vater auf dem schmalen Sofa. Nichts an ihm war noch zum Fürchten.

 

Wie dünn er ist, war mir bei meinem letzten Besuch aufgefallen, aber ich hatte mir weiter keine Gedanken gemacht. Weil Vater immer schon dünn war, vielleicht nicht ganz so ausgemergelt, aber dünn. Sehnig, sportlich, sein Schritt federnd, der Gang aufrecht, jugendlich wirkte er, kerngesund. Kurz vor der Diagnose hatte er noch einen Termin bei seiner Heilpraktikerin, und wie immer, nachdem er bei dieser Frau in Jestetten gewesen war, rief er mich an, stolz, als hätte er eben eine außergewöhnliche Leistung vollbracht; nichts als Licht habe sie in seiner Iris gesehen, gleißendes Licht, noch nicht einmal kleinste Verschattungen, nicht den Hauch einer Krankheit. Regelmäßig ließ Vater sich von dieser Frau seine tadellose Gesundheit beglaubigen, so auch im Dezember.

Drei Wochen später fehlte ihm die Kraft, am Morgen aufzustehen. Er hatte auch keine Kraft mehr, sich zu wehren, als Mutter ein Taxi bestellte und mit ihm ins Kantonsspital fuhr. Also weisch, erzählte sie, noch am selben Tag rief sie mich an, das ganze Bett ist voller Blut gewesen. Das Blut sei ihm einfach aus dem Darm gelaufen, und jetzt sei er schon verkrebst bis zum Hals, sie machten ihn nicht mehr auf, sie machten gar nichts mehr, zwei, drei Monate blieben ihm, oder nicht einmal.

 

Hatte nicht alles mit diesem Buch angefangen? Eines Tages lag auf dem Tisch ein neues Buch. Schreiend grün mit gelber Schrift, ein Kinderbuch? An den großen gelben Buchstaben übte ich lesen:

SONN-SEI-TIG-LE-BEN

Wie leben? Sonnseitig!

Immer schon hatte er wohl sonnseitig leben wollen, wer will das nicht, hatte aber nie gewusst, wie. Voilà. Gelb auf grün, schwarz auf weiß. So einfach. Alles, was man bisher gemocht und genossen hatte, war in Wahrheit Gift. Schinken und Weißbrot, Schokolade, Gipfeli, Sonntagsbraten, Spaghetti, weißer Reis, Kaffee, Kuchen. Alkohol und Tabak sowieso. Aber leider war nicht nur die landläufige Nahrung vergiftet, sondern auch die Luft. All die Wände und Teppiche mit ihren Ausdünstungen, ganz zu schweigen vom Zigarettenqualm, von den Abgasen der Autos und Fabriken. Alle Welt wollte Alwin Tobler vergiften, insbesondere die Fleischlobby, die Zuckerlobby, die Pharmalobby, die Autolobby. Lösung? Verzichten. Auf alles. Für die Umwelt, für die Gesundheit. Für ein ewig langes Leben. Aber nicht nur das. Wenn man verzichtet, bleibt man nicht nur gesund bis in alle Ewigkeit, nein, man fühlt sich auch besser als jene, die nicht verzichten, reiner, purer. Man zieht eine Grenze, man errichtet eine Mauer. Die dort, wir hier. Man fühlt sich haushoch überlegen.

Wo das Buch plötzlich herkam?

Wer hat es entdeckt, gekauft?

Ich, sagte Vater.

Ja du, sagte Mutter.

Das Buch stand noch immer dort drüben im Regal, der grasgrüne Rücken leuchtete zwischen anderen Büchern; viele dieser Art waren im Lauf der Jahre hinzugekommen, ein Rudel, eine Herde, eine Horde. Ein Mob. Noch heute weiß ich die meisten Titel auswendig: Unterwertiges Dasein durch Halbwertkost, Mesotrophie, Die Ordnung unserer Nahrung, Willst du gesund sein – Vergiss den Kochtopf, Befreiung aus dem Hexenkessel der Krankheiten, Intensivkost, Die Vielzahl der Zivilisationskrankheiten, Der Schlüssel der Gesundheit liegt im Darm.

Nichts anderes hat er gelesen, so lange ich denken kann.

Und jetzt das.

Während andere neunzig werden.

Als Fleischfresser.

Als Kettenraucher.

 

 

Ein Zug setzt sich in Bewegung. Fort. Ich bin sechzehn und reise nach England, um Mother’s Help zu werden, den ganzen Sommer über werde ich in London leben und arbeiten, bevor im Herbst meine Schneiderlehre beginnt. Ich in London! Michael, mein großer Bruder, begleitet mich. Wir lehnen uns aus dem Fenster und winken, die beiden Menschen am Bahnsteig werden kleiner, immer kleiner, verschwinden, sind verschwunden, ein Mann, eine Frau, Vater und Mutter. Noch nie bin ich ohne meine Familie verreist. Noch nie bin ich im Ausland gewesen, noch nie am Meer.

Basel – Calais.

Wind schlägt mir ins Gesicht und Regen, der Zug seufzt über Weichen, schaukelt, schwankt, sucht sich seinen Weg durch dieses verworrene Gewirk aus Gleisen, bunte Lichter mischen sich mit kaltem Niesel, glänzen, glitzern, blinken durch die Nacht. Komm, ruft Michael aus dem Abteil, vor ihm auf dem Tischchen liegt eine Tafel Schokolade, Trüffelschokolade, er grinst. Geschwisterlich teilen wir uns die verbotene Speise. Und wenn es etwas wie Freiheit gibt, denke ich, dann beginnt sie genau: jetzt! Schokolade essen, wann immer man Lust auf Schokolade hat.

Als Erstes am frühen Morgen sehe ich Türme.

Wie großköpfige Wesen von einem anderen Planeten wachen sie über weites graues Regenland, der Zug fährt und fährt, ich stehe am Fenster. Kein Auge zugetan, keinen Moment verpassen will ich. Mir ist, als führe der Zug immerzu sacht abwärts, mir ist, als müssten wir doch gleich da sein, am Meer sein, gleich. Und ich weiß, wir werden nicht vor elf Uhr null sechs da sein, so sagt es der Fahrplan, nichts zu machen, nichts zu sehen, nur dieses platte Land und diese turmartigen Aliens.

Das sind Wassertürme, sagt mein Bruder.

Pa-tam Pa-ta-tam Pa-tam, machen die Räder, Pa-ta-tam.

Woher er das schon wieder weiß, er ist halt älter, denke ich, da weiß man so etwas, die Zeit vergeht viel zu langsam, es wird heller, ein bisschen, dann wieder dunkler, mehr Regen, stärkerer Regen, Schlagregen, es wird neun Uhr, zehn Uhr, elf Uhr, wie groß, staune ich, ein einziges Land sein kann.

Gare de Calais Ville, rufe ich, Michael, wir sind da.

Fast, winkt mein Bruder lässig ab und beginnt, die Sachen zusammenzupacken. Ich kann gar nicht aufhören, meinen Kopf zum Fenster hinauszustrecken, ob ich schon das Meer sehen kann, ich rieche es, rufe ich, Salz, ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen, der Regen hat aufgehört, die Wolken sind wie abgeschnitten über der Küste. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, zeitlupenlangsam schleifen die Waggons dem Endbahnhof zu, ein paar Minuten später sind wir da: Calais Maritime. MARITIME.

 

 

Schon fast gestorben lag Vater vor mir. Puppenhaft steif wirkte sein Körper, über Bauch und Hüfte beulte ein dickes Windelpack die beige Rohseidenhose aus. Die zerarbeiteten Hände lagen geballt auf der Brust. Die Lider vibrierten, der Mund stand halb offen. Mit einem hohlen Geräusch strömte der Atem ein und aus und ein und aus.

Besiegt. So könnte man es sehen.

 

Selten, immer seltener, hatten wir Mutters Eltern im Emmental besucht. Zehn Jahre alt war ich, der Großvater sterbenskrank, da musste man halt, da musste man hinfahren. Still und heimlich war ein Tumor gewachsen in Großvaters Leber. Kindskopfgroß sei er schon, sagte Großmutter. Wir standen an Großvaters Bett. Er habe nicht mehr lange, sagte Großmutter, vielleicht erlebe er nicht mal mehr seinen neunzigsten Geburtstag. Und er habe die ganze Zeit nichts gesagt, kein Wort, bis man den Krebs schon habe sehen können, was hast du denn da, habe sie gefragt und natürlich sofort gewusst, was er da hatte, was denn sonst. Ich legte meine Hand auf Opas Hand, die freundliche Müllerhand, klebte da etwa noch Mehl unter den Nägeln? Wie er erst noch stark gewesen war. Wie er mich genommen hatte und hochgehoben und ich auf seinen runden, mit einem schneeweißen Haarkranz geschmückten Kopf hinuntersah, auf die verschmitzt blitzenden Augen. Als hätte er nicht gewollt, sagte Großmutter, dass man ihm noch helfen kann. Das Rumpeln und Schleifen der Mühle war zu hören, nie stand die Dorfmühle still, Tag und Nacht wurde Korn zu feinem Weißmehl gemahlen, zu Tode gemahlen, sagte Vater immer, da kann man einmal sehen, begann er, mit schreiend lauter Stimme, um den Lärm zu übertönen, was passiert, wenn man ein Leben lang solchen Dreck frisst.

Pause.

Mutter weinte. Ich weinte nicht, ich hasste. Ihn, diesen Vater. Was kann man tun als Kind, wenn man den Hass nicht zeigen darf? Sich füllen lassen von diesem giftigen Gefühl? Aufhören zu empfinden, aufhören zu denken, weil man sonst vor Abscheu platzen muss? Woher wusste er eigentlich so genau, dass unser Essen gut und das Essen der anderen schlecht war? Wie konnte er so etwas einfach behaupten? Und warum schmeckte alles, was in seinen Augen richtig, gut und gesund war, so fürchterlich schrecklich? Und warum behauptete er, das fürchterliche Essen schmecke gar nicht fürchterlich, sondern fein, warum also log er die ganze Zeit? Und warum war er so geschwätzig, wie er sonst schweigsam war, wenn es um die Verkommenheit der Welt und um seinen eigenen eisernen Willen, allen Versuchungen zu widerstehen, ging? Und warum war er so böse zu Menschen, die gut und freundlich waren, die sich solche Mühe gaben, ihm alles recht zu machen, und ihm trotzdem nichts recht machen konnten?

Ich schämte mich.

Für Vater. Und gleichzeitig dafür, dass ich mich für meinen eigenen Vater schämte. Du spinnst doch, sagte da Großmutter, du bist doch … so etwas zu sagen, das ist doch …, und es war das erste Mal, dass ich Großmutter die Fassung verlieren sah. Ihr Kopf schüttelte sich, ihr ganzer weiter Leib schien noch weiter zu werden, zitterte, bebte, am liebsten hätte ich meine Kinderarme um ihre Fülle gelegt, aber das durfte ich nicht, das hätte bewiesen, dass ich statt auf Vaters auf Großmutters Seite stand.

Du spinnst doch.

Da fühlte er sich nicht beleidigt, sondern bestätigt. Da lächelte er. Immer schon sei das so gewesen, begann er an Großvaters Sterbebett zu dozieren, dass Menschen, die voranschritten, die unbequeme Wahrheiten verkündeten, als Spinner abgekanzelt wurden, und gleich, wusste ich, würde er mit dem Herrn Doktor Bircher-Benner oder dem Herrn Professor Kollath kommen; man denke nur einmal an den Herrn Professor Kollath, fuhr er dann auch wirklich fort, der gesagt habe: »Wer ungesund lebt und sich falsch ernährt, bereitet sich sein Leben lang auf den Krebs vor«, und der Herr Professor Kollath sei nicht einfach irgendwer, der Herr Professor Kollath sei ein Professor, ein Wissenschaftler, die Wahrheit höre halt niemand gern.

 

Vater. Zur Strecke gebracht.

Wenn Gesundbleiben eine Leistung ist, dann hatte er auf ganzer Linie versagt. In seinen eigenen Augen musste er versagt haben. Gib es zu, könnte ich fordern, entschuldige dich. Bei Großvater, bei allen anderen. Selber schuld, hatte er immer gesagt, wenn jemand krank wurde, selber schuld, geschieht dir recht. Kalt, mitleidlos – während er ohne die Krankheiten der anderen nicht hätte leben können, sie waren das Salz in seiner faden Suppe, eine so wundervolle Befriedigung und Bestätigung, dass er selbst es richtig machte und die anderen falsch und er das ja schon immer gewusst und gesagt hatte und niemand auf ihn hören wollte.

 

Wie sehr ich mir gewünscht hatte, mit ihm über alles reden zu können. Reden wie erwachsene Menschen. Vernünftige Menschen. Sind wir doch. Über restlos alles kann man doch reden, hatte ich damals, schon einige Jahre von zu Hause weg und unter Menschen, mit denen man tatsächlich über fast alles reden konnte, enthusiastisch geglaubt. Ein Dialog muss möglich sein. Vielleicht hat es bisher einfach noch niemand richtig versucht?

Ich versuchte es. Genau einmal.

Vati, das kann man aber auch anders sehen … versuch doch mal, ihre Sicht … stell dir mal vor … hatte ich gesäuselt, als er meinen Bruder und seine Frau Angela zum Teufel gewünscht und Mutter gleich noch den Umgang mit denen, mit solchen Leuten, verboten hatte – nur weil sie Tochter Sara gegen Kinderkrankheiten hatten impfen lassen. Die könnten ja machen, was sie wollten, aber nicht mit seiner Unterstützung.

Sanft, mit freundlicher Stimme, begann ich, sanft, mit bedrohlich freundlicher Stimme, antwortete Vater, kaum den Blick hebend, hör zu, Hanne, darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren, das verstehst du nicht. Doch, insistierte ich, noch immer freundlich, darüber möchte ich jetzt diskutieren. Da explodierte er. Griff Blumenvase, Stuhl, Buch, Fruchtschale und warf alles in meine Richtung, ich duckte mich, sprang zur Seite, dann bringe ich mich halt um, heulte er, rannte gegen die Wand, wich zurück, holte Anlauf und schmiss sich erneut gegen die Wand.

Irgendwann, mit blutiger Stirn, mit zerkratztem Gesicht, ließ er sich aufs Sofa sinken, der Spuk war vorbei, Mutter kam mit dem Verbandszeug, es tut mir leid, jammerte er, nun wieder bei sich, es tut mir so leid.

Dann bringe ich mich halt um.

Dieser Satz führte zu einem finsteren Gebiet im hintersten Winkel meines Kopfes. Ich war von der Schule nach Hause gekommen, im Flur standen zwei Regenschirme aufgespannt, Pfützen hatten sich darunter gebildet. Vaters Schirm war schwarz und größer als Mutters Schirm. Sie saßen am Tisch im Wohnzimmer, die Uhr an der Wand tickte, von draußen hörte man leise das Rauschen, seit zwei Wochen regnete es ununterbrochen. Dann bringe ich mich halt um, sagte Vater ganz ruhig. Es klang, als wäre das eine gut durchdachte, beschlossene Sache. So etwas darfst du nicht sagen, sagte Mutter, so etwas darf man noch nicht einmal denken.

In jener Nacht lag ich wach. Die Tür war wie immer bloß angelehnt. So etwas darf man noch nicht einmal denken, dachte ich. Jemand kam herein. Obwohl Vater nie nachts in mein Zimmer kam und es stockfinster war, wusste ich, dass er es war. Alles in mir knotete sich zusammen, ich schwitzte und fror zur selben Zeit, ich fühlte mich preisgegeben, ich hatte eine panische Angst vor meinem Vater, der jetzt direkt neben dem Bett stand. Starr lag ich da und hörte ihn atmen. Nicht schnell, nicht langsam. Eine halbe Ewigkeit, so kam es mir vor, stand er, scheinbar ruhig, einfach nur da. Ich hatte noch keinen klaren Begriff von Gefahr, aber ich wusste, etwas stand auf Messers Schneide. Und dann hörte ich Mutter an der Tür, Alwin, zischte sie, Alwin! Vater entfernte sich von meinem Bett, ich hörte die Schwelle knarren, als er aus dem Zimmer ging.

 

Wann aber, wenn nicht jetzt? Letzte Gelegenheit. Nicht mehr sanft und vorsichtig. Tacheles reden. Da kann man einmal sehen, würde ich am liebsten sagen, ihm seine Selbstgerechtigkeit um die Ohren hauen. Wie viele Jahre hast du nun so gesund gegessen, keine Spur von Dreck, nur das Aller-reinste-beste, könnte ich sagen, nicht nur, dass es nicht geholfen hat. Nein. Weißt du eigentlich, dass dein Birchermus-Benner, dein Bruker und vor allem dein Kollath Nazis gewesen sind, Leute, die nicht nur Nahrung, sondern Menschen in vollwertig und minderwertig eingeteilt haben, könnte ich sagen. Auf dieses Kollath-Buch der anderen Art war ich vor einiger Zeit in einem Antiquariat gestoßen, Grundlagen, Methoden und Ziele der Hygiene von 1937, kotzübel war mir geworden von der Vorstellung, dass ein derartiges Monster unser Leben bestimmt hat, nur in Etappen hatte ich es lesen können, aber ich hatte es gelesen. Sag, flüsterte ich, hast du wirklich geglaubt, nur vollwertige Kost ergebe vollwertige Menschen?

Da holte er seinen Blick aus der Ecke über den blaugrünen Vorhängen, unendlich viel Kraft kostete ihn die kleine Bewegung des Kopfes, ich sah, wie sich die Sehne an seinem Hals spannte, wie sich sein dürrer Adamsapfel hochschob, als er zu schlucken versuchte und stattdessen husten musste. Er sah mir in die Augen, er tastete nach meiner Hand, fand sie, drückte sie. Über den Sommer war es ihm besser gegangen, er hatte sogar ein paar Kilo zugenommen, was, wenn er nun diese Krankheit überlebt … wenn das gesunde Essen doch … hatte ich erwogen – bis Mutter mich vorgestern in Berlin angerufen hat, Vinz und ich saßen gerade beim Abendessen, ob ich nicht doch kommen könne, Hanne, hörte ich gleich darauf Vaters Stimme, Hanne, bitte …

 

 

Samstag, 1. Mai 1982, Sonnenuntergang: 20:23GMT. Erst eine Stunde nach Sonnenuntergang, erst wenn es so dunkel sei, dass drei Sterne am Himmel sichtbar sind, und vor allem erst, wenn die Hawdala vorbei sei, hat Missis Walsh geschrieben, könne Mister Walsh losfahren, um mich abzuholen. Ich habe keine Ahnung, was die Hawdala ist. Ich stehe vor dem Plaza Hotel in London, mitten in London, und blicke in den Himmel, wie soll man da Sterne sehen, wie lange werde ich warten müssen? Um halb zwölf ist es soweit, Mister Walshs schwarzes Taxi rollt vor die speckigen Säulen des Hotels, hält mit quietschenden Bremsen, die Fahrertür öffnet sich, ein langer, schlaksiger Mann mit Hut und Bart steigt aus, die Augen kaum sichtbar im Schatten der Krempe. Aennie, fragt er freundlich und will meinen Rucksack nehmen, um ihn samt Koffer hinten ins Auto zu legen, ich aber möchte meinen Rucksack lieber behalten.

Michael bleibt im Hotel zurück.

Wir fahren durch die Nacht, nur Mister Walsh und ich, wegen der vier Kinder habe er ein altes Taxi gekauft, Bigcar, erklärt er in einfachem Englisch, streicht mit der linken Hand über das Lenkrad, wendet kurz den Kopf und sieht mich an. Es riecht nach Diesel und etwas säuerlich, wie nach vergorenen Lebensmitteln oder Schweiß. Engländerschweiß riecht genau wie Schweizerschweiß, konstatiere ich. Etwas ganz Natürliches sei Schweiß, habe ich gelernt, nur Fleischfresserschweiß stinke, das komme von den vielen Giftstoffen im Blut. Ich halte mich an meinem Rucksack fest. Wir fahren. Erst durch die belebten Straßen der Innenstadt, dann dünnt der Verkehr aus, die Gegend wird einsamer. Was, schießt mir plötzlich durch den Kopf, wenn Mister Walsh gar nicht jüdisch ist und auch keine Familie hat? Wenn er ein Mörder ist, ein Taximörder? Wenn alles von Anfang an erlogen war? In der Reformzeitung hatte ich die Anzeige entdeckt, Jewish Vegetarian Family looks for Mother’s Help, in eine normale Familie hätte Vater mich niemals gehen lassen. Dann schreib, hatte Mutter gesagt. Nur gute Menschen annoncieren in einer Reformzeitung, darauf hatten wir uns verlassen. Aber wie hätte jemand kontrollieren können, ob diese Familie Walsh überhaupt existiert. Ich denke an meinen Bruder im Hotel. Er hätte mitkommen sollen. Warum ist er nicht mitgekommen? Warum lassen sie mich mit einem fremden Mann nachts allein durch eine fremde Stadt fahren? Vater, Mutter, Bruder? Mister Walsh schweigt. Ich bin mir jetzt ganz sicher. Warum sonst hätte er mich abends, nachts, abholen wollen? Shabbat? Hawdala? Vorwand. Täuschung. In die Falle getappt. Wie habe ich so blöd sein können. Nur noch vereinzelt sind jetzt draußen Lichter zu sehen, tauchen auf, sind vorbei, dann saugen uns die Scheinwerfer in die Finsternis, und jeden Moment rechne ich damit, dass Mister Walsh bremst, in eine noch dunklere Seitenstraße abbiegt, in unwegsames Gelände vorstößt, die Scheinwerfer ausschaltet. So wie ich es bei einer Klassenkameradin einmal in XY… ungelöst gesehen habe. Pech gehabt, höre ich meinen Bruder feixen, dumm gelaufen. Ich sehe nach links unten, taste nach einem Hebel, nach etwas, womit ich zur Not die Tür öffnen, die Scheibe einschlagen, mich wehren könnte. Dann wird es wieder hell, Straßenlaternen, Häuser, Läden. Das Zeichen der Londoner Untergrundbahn. Eben blickt Mister Walsh mich an. So höflich, so ganz und gar harmlos, der Bart zittert etwas. Worauf kann man sich in der Fremde verlassen? Instinkt? Erfahrung? Welche Erfahrung? Ein Kreisel, Mister Walsh nimmt die dritte Ausfahrt, beidseits der Straße Reihenhäuser, jedes versehen mit einem Erkerchen, das in einen winzigen Vorgarten ragt. Das Taxi hält vor einem der Häuser, direkt unter einer Straßenlampe. Der Vorgarten ist mit Betonplatten versiegelt. Zwei blecherne Mülltonnen stehen am Zaun, werfen Schatten. Zerbrochenes Spielzeug liegt herum.

Bevor Mister Walsh durch die Haustür tritt, legt er zwei Finger an ein schmales weißes, schräg angebrachtes Kästchen am Türrahmen und küsst dann die zwei Finger, die das Kästchen berührt haben. Brav folge ich ihm ins Haus. Psst, macht er. Ich nicke. Er führt mich eine steile Treppe hinauf, öffnet eine Tür, Toilet, sagt er. Dann öffnet er die Tür direkt daneben, dreht das Licht an. Your room, see you tomorrow. Er lächelt zum ersten Mal. Im hellen Licht der nackten Glühbirne sehe ich die Stummel seiner Zähne zwischen Lippen, die fast vollständig von dichtem Bartgestrüpp verdeckt sind. Er dreht sich um, geht hinaus und schließt sanft die Tür.

 

 

Er will nicht im Spital sterben und schon gar nicht in Schaffhausen, wo ihn jeder kennt, sagte Mutter. Aber wenn es zu einem Darmverschluss kommt, muss er ins Kantonsspital, dann muss er halt. Sie ging auf den Balkon, um Kräuter zu holen. Auf dem Brett hackte sie sie klein. In der Glasschüssel wartete grüner Salat. Auf dem Herd dampfte eine Suppe. Ich dachte an Vinz, der Suppen aller Art liebte, ich ging zum Telefon, um ihn anzurufen. Nuna, sah ich, lag lang ausgestreckt an Vaters Seite, er hatte die Hand in ihrem Pelz vergraben. Vinz war nicht zu Hause, ich bin angekommen, sprach ich auf den Anrufbeantworter, ich bin …, ich legte auf.

Muetteli, sagte Vater leise, für mich nichts. Du musst essen, sagte Mutter entschieden, wenn du nichts isst, geht’s noch schneller. Er schüttelte den Kopf. Dein Wille geschehe.

Ob er sie hören konnte? Ein Leben lang hatte in dieser Familie nur eine Rolle gespielt, was Vater wollte. Wir haben nichts gewollt oder nicht mehr gewusst, was wir wollten, oder wir wussten, dass alles, was wir wollten, gar nicht infrage kam. Jetzt hatte Mutter das Sagen. Sie nahm den Suppentopf vom Feuer und stellte ihn beiseite, wir setzten uns an den Tisch im Wohnzimmer. Er will anonym bestattet werden, sagte Mutter und rührte den Salat um. Er wolle kein Geld ausgeben für ein Grab und für Blumen, und diese Plastiklichter hasse er sowieso. Und jemand müsse so ein Grab ja auch pflegen, und zu den anderen wolle er auf gar keinen Fall, zu seiner Mutter und seinem Vater und seinen beiden Schwestern, die im Familiengrab, alle aufeinandergestapelt, schon lägen. Und es stimme ja, sagte sie, es bleibe dann doch alles wieder an ihr hängen.

Weißt du, sagte sie nach einer Pause, was er im Spital gesagt hat? Eben wegen dieser Dinge, die man nicht habe verhindern können, sei er jetzt krank.

 

Alle paar Jahre waren wir umgezogen.

Einmal, weil zwei Stockwerke unter unserer Wohnung jemand geraucht hatte. Durch Wände und Decken diffundiere der Rauch, war Vater überzeugt gewesen, er rieche es, er rieche es doch ganz genau, er lasse sich doch nicht vergiften von diesem asozialen Pack. In einer anderen Wohnung wuchs angeblich Schimmel unter der Tapete. Obwohl nirgends Schimmel gefunden wurde, wusste Vater, dass er recht hatte. Es feuchtelt. Das feuchtelt doch. In der Wohnung, die danach kam, konnte er nicht schlafen. Keine Nacht schlief er durch, höllische Kopfschmerzen trieben ihn beinah in den Wahnsinn. Bis man eine Wasserader unter dem Schlafzimmer entdeckte, ein ganzer Wasseraderknoten direkt unter dem Bett, nichts zu machen, auch der tolle Harmonisierungsapparat half nicht. Umziehen. Bei der aktuellen Wohnung hatten sie einen Wünschelrutenmann kommen lassen, bevor sie den Mietvertrag unterschrieben.

Aber ich bin auch nicht krank, habe sie ihm geantwortet. Dabei habe sie doch in denselben Wohnungen gewohnt, dieselbe Luft geatmet und sich nicht einmal strikt an die Essensvorschriften gehalten, sie habe sogar zwischendurch ein Täfeli Schokolade oder eine Crèmeschnitte gegessen. Sie nehme jetzt kein Blatt mehr vor den Mund, hart stellte sie die leere Schüssel auf den Tisch, jetzt nicht mehr.

Kommt nicht infrage, sagte ich so laut, als wäre Vater plötzlich auch noch schwerhörig geworden, dass du dich anonym bestatten lässt. Ich konnte mir, trotz allem, überhaupt nicht vorstellen, nicht zu wissen, wo Vater sein würde. Wo sollen wir denn hin, sagte ich, wo soll Mutter hin, wenn sie dich besuchen will?

Aber nicht zu den andern, sagte er.

Siehst du, sagte Mutter.

Nein, sagte ich, als hätte Mutter meinem Plan schon zugestimmt, nicht zu den andern, du bekommst ein eigenes Urnengrab und ein Schild mit deinem Namen. Meinst du, sagte er leise. Ja, sagte ich. Er lächelte, und mir war, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen.

 

 

Ich verdiene 29 Pfund die Woche, plus Kost und Logis. Wir können dir leider keinen Batzen mitgeben, hat Mutter gesagt; kurz vor meiner Abreise mussten sie einen Apparat kaufen, der lebensbedrohliche Strahlung harmonisiert und Wasseradern neutralisiert. Ich nehme mir vor, jede Woche zehn Pfund in meinen Geldgürtel zu legen, das müsste reichen für die Fahrkarte zurück in die Schweiz, der Preis der Rückkehr, ein Drittel meines Lohnes. Dann überlege ich, zusätzlich etwas zu sparen für einen Sprachkurs im Sommer. Ich arbeite sechs Tage die Woche an die zwölf Stunden, an Shabbat habe ich frei. Jeden Morgen, früh um halb sieben, schmiere ich als Allererstes die Schulsandwiches für die Kinder. Ich kontrolliere, ob Lawrence und Jeremy ihre Kippot unter den Basecaps nicht vergessen haben. Tanja, Lawrence und Sharon bringt Mister Walsh vor der Arbeit zur Jewish Primary School nach Ilford, Jeremy wird etwas später von einem grauen Auto abgeholt. Jeremy ist lustig und klein, geistig zurückgeblieben, sagt Missis Walsh, wir lernen neue Wörter gemeinsam, naughty boy, sage ich, good boy, kichert Jeremy.

Kartoffeln schälen, Kohl schnippeln.

Ein mächtiger Aluminiumdampfgarer steht auf dem Herd. Alle Tage gibt es Kohl und Kartoffeln zum Abendessen, stundenlang köchelt das Gemüse auf kleiner Flamme. Von Missis Walsh höre ich nichts und sehe ich nichts, bis ich um halb zwölf das Bügelbrett aufstelle. Das Gesicht bleich und aufgeschwemmt, erscheint sie in der Küche, ihr Haar ist hellbraun und sehr dünn. Verlässt sie das Haus, setzt sie sich volles dunkelbraunes Haar auf. Wie froh sie sei, mich zu haben, sagt sie. Neben dem Bügelbrett türmt sich Frischgewaschenes; Blusen und Hemden und Hosen und Laken. Missis Walsh erzählt mir von dem Autounfall, den sie, schwanger mit Jeremy, gehabt hat. Deswegen seien sie und Jeremy jetzt behindert, all die Knochenbrüche und der Kopf und die Lunge. Und deswegen sei ich überhaupt erst hier, Mother’s Help, bezahlt vom Health Council, dafür sei sie wirklich dankbar, jetzt aber müsse sie los, Jeremy und Lawrence bräuchten neue Schuluniformen.

Die Kinder tragen jedes Kleidungsstück nur einmal, danach wird es gewaschen und gebügelt. Wenn ich nicht aufpasse, schmilzt das Polyamid der grauen Schuluniformhose unter der Hitze des Bügeleisens. Die losen Knöpfe an den Hemden nähe ich wieder an. Ich räume kaputtes Spielzeug, zerrissene Bücher, zerknüllte Prospekte für das Chanukka-Fest im Chabad-Lubavitch-Center, Kleider, Schuhe weg. Ich schrubbe den klebrigen Linoleumfußboden in der Küche. Hinter Heizkörpern finde ich angebissene Bananen und verschimmelte Sandwiches, dichter, graugrüner Flor füllt den Spalt zwischen Wand und Heizung. Den Teppich im Wohnzimmer tränke ich mit Wasser und hoffe, so die hartbröcklige Kartoffelstärke später besser ausbürsten zu können. Mutter wäre stolz auf mich, und Vater erst, denke ich und räume weiter und bügle und spüle und scheuere. Mutter, die mir vergeblich Ordnung beizubringen versucht hat, du bist ein Mädchen, tönt es in meinem Ohr. Und Vater, der samstags, während Mutter auf dem Markt ist, mit Handfeger und Schaufel bewaffnet, akribisch alle Ecken unserer Küche auskehrt. Was machst du eigentlich den ganzen Tag, keift er, kaum ist sie zur Tür herein, und hält ihr den Dreckhaufen unter die Nase, wenn man etwas finden will, findet man auch etwas, wehrt sich Mutter, und das, das hätte sie nicht sagen sollen, ohrenbetäubend ist der Krach, als die Metallschaufel auf die Küchenfliesen scheppert.

Hier! Das sollte Vater mal sehen.

Nach zwei Stunden ist Missis Walsh zurück mit Tüten voller Kinderkleidung aus dem Oxfam-Shop und anderen Charityläden, stolz zeigt sie mir, was sie wo für wie wenig erstanden hat; Schuluniformen, je drei Sommerkleider für die Mädchen, zwei eingelaufene wollene Pullover. Dann stopft sie alles in die Waschmaschine und verschwindet wieder im Schlafzimmer.

 

Bevor ich kam, haben die Kinder allein gegessen, jetzt essen sie mit mir. Dass sie heute einem Jungen ein Lineal überm Kopf zerbrochen habe, erzählt Tanja am zweiten Abend, ihre prächtigen roten Locken hüpfen lustig auf und ab, während sie zeigt, wie sie dem Jungen das Lineal auf den Kopf gehauen hat, weil der sie an den Haaren gezogen habe. Vor Tanjas Launen hat Missis Walsh mich schon gewarnt, ginger hair, bad temper, hat sie schmunzelnd gesagt, mit drei Fingern nimmt Tanja etwas Kohl und schiebt ihn sich in den Mund. Auf Lawrences Handfläche liegt ein Stück Kartoffel, mit gerunzelter Stirn betrachtet er es eingehend von allen Seiten, schließt dann die Hand, die Faust verschwindet unter dem Tisch, und bevor ich reagieren kann, drückt er die Kartoffel mit dem Schuh schon in den Teppich. Jeremy juchzt hell auf, schmeißt seine Kartoffel auch auf den Boden und schaut mich grinsend an.

That’s not funny, sage ich.

Ich hoffe auf Sharon, zwölf Jahre alt, sie müsste doch …, aber auch Sharon isst mit den Fingern, ganz ungeniert. Ob sie denn nicht gelernt hätten, mit Messer und Gabel, zumindest mit der Gabel …? Sie schauen mich an, alle vier, mit großen Augen, ernsten Gesichtern, Lawrence wackelt mit den Ohren, ich muss lachen.

In unserem Häuschen gibt es weder Dusche noch Badewanne. Nachdem ich Jeremy an einem winzigen hellblauen Waschbecken direkt neben der Kloschüssel gewaschen habe, höre ich die Bremsen von Mister Walshs Taxi, höre den Motor ausgehen und die Wagentür zufallen. Mister Walsh arbeitet in einer Textilfärberei in Plaistow, er sieht müde aus, als er zur Tür hereinkommt, wie eine Hausfrau nehme ich ihm Hut und Mantel ab, ich sehe, dass der Hut fleckig und der Mantel an Ärmeln und Kragen dünngescheuert ist. Allein sitzt er dann im Wohnzimmer am Tisch und isst lauwarmen Kohl mit Kartoffeln. Thank you, sagt er und schiebt sich eine Gabel Kohl in den Mund, kaut kaum, schluckt. Sieht er die ORDNUNG? Mehr als alles will ich, dass er mit mir zufrieden ist. Als hätte er meine Gedanken erraten, nickt er, trotz der Müdigkeit lächeln seine Augen, ich kenne niemanden, der mit ernstem Gesicht so gut und freundlich aussehen kann, wie Mister Walsh. Good night, sage ich leise und steige hinauf, die Treppe hinauf zu meinem winzigen, aber eigenen Zimmer.

 

 

Auf dem Tisch lagen Bücher. Bis vor drei Wochen habe er sie noch gelesen, sagte Mutter. Eins pro Tag. Keine Gesundheitsbücher. Abenteuerschinken. Er habe gelesen und gelesen. Wie er auch sonst alles gemacht habe, kannst dir vorstellen, übertrieben, hundertfünfzigprozentig. Ständig habe sie in die Bibliothek rennen müssen. Inzwischen aber sei er zu schwach, ein Buch überhaupt noch zu halten.

Ich kann ihm ja vorlesen, sagte ich.

Hoch am Wind. Freiheit auf Zeit. Letzte Fahrt. Bücher, in denen gesegelt wurde. Expeditionsberichte, Sachbücher und Romane, historisch und zeitgenössisch, kreuz und quer. Nie vorher hatte Vater sich für so etwas interessiert. Der goldgerahmte Kunstdruck an der Wand gegenüber, hatte ich geglaubt, sei bloß einfallslose Dekoration; das Gemälde einer schweren See ohne Schiff. Hohe Wellen, graugrün zerrupft, wild, trostlos, es hing immer schon da, mit der Zeit waren wohl die Farben etwas ausgeblichen, und das Gold des pompösen Rahmens war matt geworden.

Lies, sagte er.

Ich schlug Scotts Letzte Fahrt auf. Mit Scott fuhren wir über die unteren Meere. Holten die Segel ein bei Sturm, brachen durchs Eis. Vaters Gesicht entspannte sich, ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Während Scott am Kap Evans in der Antarktis seine Ponys antrieb, schlief er ein.

Am späten Nachmittag katapultierte ihn der Schmerz zurück in unser Wohnzimmer. Nimm eine Tablette, Liebevatteli, sagte Mutter. Seit ich denken kann, nannte sie ihn Liebevatteli, schon lange meinte sie es wohl nicht mehr so. Wimmernd wälzte er sich auf dem schmalen Sofa hin und her, willst nicht ein Tablettchen nehmen, fragte Mutter wieder, schon etwas ungeduldig. Ein Bild tauchte auf vor meinem inneren Auge – Vaters Rücken, eine einzige große Wunde. Wahrscheinlich hatte er in irgendeinem Buch oder Reformblatt gelesen, dass gegen Rückenschmerzen heiße Kartoffeln helfen, dass heiße Kartoffeln auf natürliche Weise den Schmerz aus dem Rücken ziehen, so heiß wie möglich, viel hilft viel. Mit offenem Mund stand ich an der Tür, sechs oder sieben Jahre alt, Mutter hatte ihm zerdrückte heiße Pellkartoffeln auf den Rücken gebunden; zwischen Rücken und Kartoffeln nur ein Geschirrtuch, lag er auf dem Bauch und wimmerte, jaulte, heulte vor Schmerz. Die Tage und Wochen danach war Vaters Rücken voller riesiger, eklig eitriger Brandblasen, eine um die andere platzte, zurück blieb ein zerklüftetes Schmerzgebiet, das einfach nicht verheilen wollte. Alles, was der Vater mache, sei richtig, wollte das Kind glauben. Warum, wozu, fragte es sich, fügte dieser Vater sich selber solche Qualen zu?

 

Und Mutter?

Wäre Mutter nur nicht so biegsam gewesen. So flink im vorauseilenden Gehorsam, so bereit, jeden Wahn mitzumachen. So naiv zu glauben, wenn wir nur vorsichtig und rücksichtsvoll genug wären, wenn wir ihn nur nicht provozierten. Wäre sie stattdessen störrisch gewesen, aufsässig – vielleicht hätte er dann gelernt, Widerspruch auszuhalten, statt immer noch empfindlicher zu werden. Früher, als junge Frau, hatte Mutter in aller Freiheit Kühe gehütet, oben auf den Alpweiden über Grindelwald; immer wieder kehrte sie zu den hellen Sommertagen zurück, zum vielstimmigen Geläut der Treicheln, zum majestätischen Blick aufs Wetterhorn. Voller Stolz erzählte sie auch, wie wichtig es ihr war, als Säuglingsschwester eigenes Geld zu verdienen, die Fahrstunden selber zu bezahlen, sich von niemandem in ihr Leben funken zu lassen.

Wann und warum hatte sie begonnen, sich dienstbar zu machen? Die Dinge aussehen zu lassen, wie sie nicht waren. Vaters Exzesse zu übersehen oder phantasievoll zu entschuldigen; nicht er sei verantwortlich für seine Wut, es sei nicht seine Entscheidung, sich wegen jedem Mist derart maßlos aufzuregen, nein, er kann doch nichts dafür. Immer schon war er ein Opfer. Ein Opfer seiner Arbeitskollegen, die ihm das Leben schwermachten, ein Opfer der Verwandtschaft, die ihn nie akzeptiert habe, ein Opfer der Nachbarn, die ihn bei jeder Gelegenheit provozierten, und vor allem ein Opfer des Alkohols. Nicht etwa des Alkohols, den er selber trank, selbstverständlich trank Vater keinen Tropfen, nein, vom Schnaps, den sein Großvater literweise getrunken habe, oben in Thun, der Großvater habe sich zu Tode gesoffen, und unser Vater, Liebevatteli, habe leider das Alkoholikergen und die dünnen Nerven geerbt, deswegen stemme er sich gegen die Sucht, habe sich immer dagegen gestemmt, mit aller Kraft dagegen, und überhaupt gegen alle Süchte.

Während er selber, dachte ich, tagaus, tagein an nichts anderes denken konnte als an die Gesundheit, ans Essen, an den Zeitplan, an die äußerst komplexen Regeln, die festlegten, wann welche Lebensmittel in welcher Kombination zu sich genommen werden durften. Nichts und niemand rechtfertigte einen Bruch oder auch nur eine Beugung der Regeln. Wenn zum Beispiel die biologisch-dynamische Banane, die sein Plan für den Abend zwingend vorsah, in Schaffhausen nicht zu bekommen war, fuhr er extra mit dem Zug nach Zürich.