Getanzte Träume - Romy Berg - E-Book

Getanzte Träume E-Book

Romy Berg

4,8

Beschreibung

In den 60er Jahren kommt Estelle, ein einfaches Mädchen vom Lande und nicht gerade eine Schönheit, in die Stadt zu ihrem strengen Vater und ihrer herzenswarmen Stiefmutter. In der Tanzschule, die in dieser Zeit durchaus auch ein Heiratsmarkt war, findet sie schnell Anschluss an eine Gruppe lebenslustiger junger Leute, deren gesellschaftlicher Hintergrund unterschiedlicher nicht sein könnte – und Estelle trifft Alfredo, ihren Traummann, ein Tanzgott und Schwarm aller Mädchen. Er könnte jede haben, aber er hat nur Augen für Estelle. Was hat er vor? Wird er ihren Traum erfüllen, sie heiraten und mit ihr durchs Leben tanzen?

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Bei der hier erzählten Geschichte handelt es sich um eine Fiktion. Namen, Personen, Plätze und Ereignisse sind nur durch die Vorstellung der Autorin entstanden. Jede Ähnlichkeit mit wirklichen Personen, lebend oder tot, sowie mit tatsächlichen Ereignissen ist komplett zufällig.

Für meinen wundervollen Ehemann, der mich zum Schreiben ermutigt und dabei unterstützt hat, und für unsere beiden einzigartigen Kinder, die mich inspiriert haben.

Mit all meiner Liebe

R. B.

Danksagung

Es gibt so viele Leute, denen ich gerne danken möchte, vor allem dafür, dass sie mich inspiriert sowie ermutigt haben, zu schreiben, die an mich geglaubt haben, die Korrektur gelesen haben, die mein Buch veröffentlicht haben.

Ich möchte daher nochmals recht herzlich meinem Verleger BoD, meinem Ehemann, unseren beiden Kindern, meiner verstorbenen Großmutter, die mich mit jedem meiner Pläne unterstützt hat, egal wie verrückt sie auch gewesen sein mögen, danken.

Ohne euch alle wäre mein Traum niemals Wirklichkeit geworden.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Über die Autorin

Kapitel 1 - Landeskrankenhaus Graz – Geburtenstation, 1963

E ine Träne kullert die rechte Wange hinunter, ein trauriger Blick geht hinaus aus dem hohen Krankenhauszimmer, an dessen Wänden der Anstrich bereits abblättert, die Farbe ist lichtgrün, auf dem Boden dunkelgraues Linoleum. Alles sieht steril, nicht sehr einladend aus. Draußen schneit es und obwohl das Zimmer geheizt wird, spürt man, dass es außerhalb des Hauses kalt ist. Ihre Augen wandern im Zimmer umher, rechts im Bett liegt eine junge, blonde Frau mit strahlend blauen Augen, in ihren Armen ein Baby, welches sie gerade mit Begeisterung stillt. Links von ihr liegt eine Frau, etwa 35 Jahre alt, und schläft, in den Betten auf der gegenüberliegenden Seite ebenfalls drei Frauen, zwei davon schlafen und eine scheint Besuch von ihrem Mann zu haben, der ganz stolz auf das kleine Etwas in ihrem Arm blickt und gerade laut gesagt hat: »Mein Gott, ist unser Junge nicht schön, ich freue mich schon auf all die Fußballmatches, die wir haben werden! Ich liebe dich! Danke dir für das tolle Geschenk!«

Noch eine Träne läuft über ihr Gesicht, nein, eigentlich gleich mehrere. Alle scheinen glücklich darüber zu sein, ein Baby bekommen zu haben, nur Estelle nicht, denn niemand ist sie besuchen gekommen. Warum denn auch, sie ist ja eine Schande! Jetzt kann sie das Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Sie versucht dabei hinunterzuschauen, sodass niemand im Zimmer sieht, dass sie bitterlich weint. Die Tränen tropfen auf das kleine, zweieinhalb Kilo leichte Bündel in ihrem Arm. Befremdet schaut sie es an, ein Mädchen, so klein und zerbrechlich, aber irgendwie scheint keine Liebe für ihr Kind in ihr aufzukommen. Wie denn auch, ihr Leben ist vorbei, ihr Vater hat sie rausgeworfen, sie hat die letzten Monate ihrer Schwangerschaft bei ihrer Schwiegermutter in spe – so dachte sie zumindest bis vor kurzem – verbracht, aber jetzt will diese sie auch nicht mehr. Wohin soll sie jetzt mit der Kleinen gehen, fragt sie sich mit tränenerstickter Stimme. Wohin?

Niemand will sie jetzt mehr und schon gar niemand will diesen Bastard in ihrem Arm. Sie legt das Baby zur Seite, schon dessen Berührung scheint sie zu schmerzen, denn dieses Ding da hat alles ruiniert. Jetzt will sie nicht einmal mehr Alfredo, der Vater des Kindes. Erst vor einer Woche hat er zu ihr gesagt, wenn er heiratet, dann nur eine anständige Frau, eine Jungfrau und nicht so eine, wie sie es jetzt ist. Beschmutzt, eine Schande für jedermann. Dabei hat sie sich redlich bemüht, ihm und seinen Eltern alles recht zu machen, hat den Haushalt geführt, alles geputzt, gebügelt, gekocht und sich sogar versteckt, wenn Gäste im Hause von Paulo und Roberta Wagner waren. Aber nichts, was sie gemacht hat, war gut genug. Tagsüber hat sie bis zum letzten Moment als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen gearbeitet, schwere Kisten geschleppt, immer in dem Glauben, dass sie vielleicht den Ballast verlieren könnte. Aber dem war nicht so, ihr Bauch ist gewachsen und das ungewollte Ding darin auch. Jetzt ist es endlich draußen und in ihr ist eine völlige Leere und gar kein Gefühl mehr – oder doch? Nicht einmal im Kreißsaal hat sie etwas empfunden. Aus den anderen Kabinen, die nur durch weiße Vorhänge getrennt waren, die wie Bettlaken aussahen, hat sie Schreien und Stöhnen gehört und das gute Zurufen der Hebammen und Ärzte. aber ihr hat niemand ein liebes Wort gesagt. Ihre Hebamme war eine alte, sehr altmodische Frau, die, als Estelle in den Saal geschoben wurde, nur meinte: »Schon wieder so ein leichtes Mädchen. Haben diese Dinger heutzutage denn überhaupt keinen Anstand mehr?« Estelle war geschockt, nahm die Wehen gar nicht richtig wahr, und nicht einmal, als sie unter örtlicher Betäubung genäht wurde, da ihr Damm eingerissen war, spürte sie etwas. Nur jetzt kullern die Tränen herunter und fallen auf die weißen Spitalsbettlaken. Sind es verspätete Tränen des Schmerzes beim Geburtsvorgang oder stammen sie noch von den Erniedrigungen, die sie die letzten Monaten hat erdulden müssen, oder sind es Tränen des Selbstmitleides und sie weint um ihre verlorenen Chancen?

Draußen wird der Schneefall dichter. Auf einmal öffnet sich die Tür und noch ein Mann kommt herein, gefolgt von einer älteren Dame. Beide gehen zu ihrer rechten Bettnachbarin, der hübschen Blonden mit den so glücklichen blauen Augen und dem Baby. Der Mann sagt: »Darling, das hast du super gemacht, wir sind so stolz auf dich, dass du die Schmerzen der Geburt so tapfer ertragen hast, und sieh nur, Barbara«, so scheinen sie das Baby nennen zu wollen, »ist so hübsch wie du.«

Estelle weiß noch gar nicht, auf welchen Namen sie ihr Kind taufen lassen soll eigentlich ist es ihr auch egal, am liebsten wäre es ihr, wenn es nie geboren worden wäre und jetzt nicht so belastend auf ihrer Bettkante läge. Nein, sie will es nicht berühren, warum auch? Es stört sie nur und ist schuld daran, dass sie all das erdulden muss. Auf einmal hört sie, wie der Mann einen dicken Kuss auf den Mund der blonden Frau drückt. Er ist keine Schönheit, dieser Mann, nicht wie Alfredo, aber er scheint gutherzig zu sein und das Schmatzen des Kusses war für das ganze Krankenhauszimmer unüberhörbar. Er umarmt die hübsche blonde Frau, strahlt über das ganze Gesicht und sagt: »Liebling, du hast mich zum glücklichsten Menschen auf der Welt gemacht, ist unser Engel nicht süß?« In Gedanken äfft Estelle nach: »Ist unser Engel nicht süß?« Dann beginnt sie laut zu schluchzen, so laut, dass alle Frauen und Besucher auf sie schauen und sich schnell wieder wegdrehen, nur die ältere Dame, die die Mutter einer ihrer Bettnachbarinnen zu sein scheint, fragt: »Kindchen, was ist denn los, warum weinst du denn?« Estelle antwortet nicht, stattdessen schluchzt sie noch viel lauter und kann einfach nicht aufhören. Die ältere Dame schaut voller Mitleid auf sie, bis ihre Tochter ihr etwas ins Ohr flüstert, da dreht sie sich weg und sagt leise: »Dann ist sie wohl selbst schuld, oder?« Alle anderen widmen sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten, schlafen weiter, reden weiter, stillen oder lesen ein Buch.

Estelle weint leise vor sich hin. Auf einmal öffnet sich die Tür, eine Schwester kommt herein und sagt, dass die Besuchszeit zu Ende sei und die Besucher gehen müssten. Nachdem sie alle anderen Frauen bereits nach ihren Bedürfnissen befragt hat, wendet sie sich auch Estelle zu und teilte ihr mit, sie müsse ihr Kind stillen, damit sie es in das Säuglingszimmer bringen könne. Estelle ekelt es davor, ihre Tochter zu halten und noch dazu an ihren Nippeln saugen zu lassen, was soll sie denn noch alles für sie machen? Aber andererseits will sie auch nicht noch stärker negativ auffallen. So nimmt sie mit Todesverachtung dieses Ding von der Bettseite, streift ihr steriles weißes Krankenhausnachthemd über die Schulter, sodass es ihre Brust freigibt, und legt das Kind an. Es beginnt gierig zu trinken, aber Estelle stört dieses Zupfen und Ziehen, weshalb sie nur mit Verachtung hinabschaut. Gott sei Dank scheint das kleine Ding noch nicht so viel zu brauchen, denn schnell schläft es erschöpft ein und die Schwester nimmt es ihr endlich ab. Ah, denkt Estelle, vielleicht sollte ich aus dem Krankenhaus fliehen und das Kind einfach da lassen. Aber dann fällt ihr ein, dass sie gleich nach der Geburt, so gegen Mitternacht, als ihre Tochter auf die Welt kam, einen Fragebogen hat ausfüllen müssen, was die Hebamme für sie machte. Name des Vaters des Kindes? Sie hat den Namen genannt. Ihr Name? Ihr Nachname sei Bauer und nicht Wagner. Dazu das Stirnrunzeln der Hebamme. Nächste Frage: »Verheiratet?« »Nein, ledig.« »Wie alt sind Sie?« »17 Jahre alt.« Mein Gott, noch ein Kind, denkt die Hebamme. Die Arme! Aber Estelle interpretiert den Gesichtsausdruck der Hebamme ganz anders und glaubt, dass diese sie und ihren Bastard nun ebenfalls missachte. »Wie soll das Kind denn heißen?« »Weiß nicht!« »Na ja, einen Namen müssen Sie Ihrem Kind schon geben, das wissen Sie doch, oder? Überlegen Sie sich halt einen bis morgen, denn ein Name muss sein.« Estelle denkt: Das auch noch, habe keine Ahnung, wie ich die Kleine nennen soll, welchen Nachnamen sie überhaupt haben wird. »Das sind nur Formalitäten, die wir für Ihre Papiere wie Geburtsurkunde etc. benötigen, also eine reine Formsache.« Eine reine Formsache, denkt Estelle bitter, in meinem Fall ist das wohl eher eine Schandsache, falls es so etwas überhaupt gibt.

Irgendwann fallen Estelle die Augenlider zu, es waren anstrengende Tage, aber hier im Krankenhaus wird sie zumindest umsorgt, man hat ihr das Abendessen ans Bett gebracht und sie hat es mit Heißhunger verschlungen. Ja, eigentlich hat sie in der letzten Zeit andauernd gegessen. Das war ihr einziger Trost, der aber auch Nachwirkungen hatte, denn anstatt zehn hat sie 25 Kilo während der Schwangerschaft zugenommen, auch davor war sie nicht gerade die Schlankste gewesen, man hätte sie als vollschlank bezeichnen können, doch jetzt …

Sie hört weiter den Gesprächen der anderen Frauen zu, denn sie kann ja nichts lesen, niemand hat ihr ein Buch oder sonst etwas gebracht und davor war alles so schnell gegangen. Sie war gerade dabei gewesen, den Boden zu schrubben, als auf einmal Wasser an ihren Beinen entlangzurinnen begann, nein, eigentlich war es eher so, als ob ein Wassersturz aus ihrem Bauch herausbräche. Dann verspürte sie so ein Ziehen, worauf sie sich zur Straßenbahn geschleppt hat und mit ihrer letzten Kraft ins Krankenhaus fuhr, denn Roberta und Paulo waren nicht zu Hause und Alfredo war sowieso jeden Abend aus. Er hat immer gesagt, neben seinem schweren Beruf als Chauffeur bräuchte er etwas Abwechslung und Unterhaltung mit seinen Kumpeln. Von seinem früheren Charme hat sie in den letzten Monaten, als sie bei seinen Eltern wohnte, leider nichts mehr gespürt. Er hat sie nur permanent kritisiert und kein gutes Haar an ihr gelassen.

In der Straßenbahn hatte sie dann doch Schmerzen, der Wagon war überfüllt und sie musste trotz geplatzter Fruchtblase stehen, aber irgendwann kam die Bahn vor dem Krankenhaus an und sie begab sich mit schleppenden Schritten zur Säuglingsstation, wo man sie sofort auf ein Rollbett legte und in den Kreißsaal schob. Als sie dort ankam, war der Muttermund bereits vier Zentimeter weit geöffnet und es ging los. Die Wehen und Schmerzen setzten ein, aber sie hat sich die Schmerzen verbissen, denn als die Krankenhausangestellten erfuhren, dass sie ledig und auch niemand mit ihr gekommen war, hat sich auch die Serviceleistung ihr gegenüber verändert. Kein nettes Wort, nur kalte, nüchterne Befehle: »Pressen Sie doch endlich, Atmen nicht vergessen! Und jetzt nur hecheln und nicht pressen, und jetzt wieder pressen!« Dann sind andere Mütter gebracht worden, um die man sich wirklich reizend gekümmert hat, aber ihre Hebamme, eine ältere, sehr konservativ wirkende Frau, war alles andere als fürsorglich, eher nüchtern und sachlich, nein, eigentlich war sie kalt. Diese ledigen Dinger, alles Nutten, hat sie wohl gedacht. Wie dem auch sei, die Schmerzen hat Estelle gar nicht wahrgenommen, sondern war nur froh und erleichtert, als sie endlich diese Schande aus ihrem Körper herauspressen konnte. Man hat ihr das Baby auf den Bauch gelegt, aber sie hat sich weggedreht und ihre Tochter gar nicht angesehen.

Endlich schläft sie ein, sogar mit einem Lächeln auf ihren Lippen, denn sie träumt vom Anfang ihrer Zeit mit Alfredo …

Sie war gerade 16 Jahre alt und lebte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr bei ihrem Vater und dessen zweiter Frau Rosalinde in der Stadt. Aufgewachsen war sie auf dem Land bei ihrer Mutter in einem winzig kleinen Holzhäuschen mit einem einzigen großen Zimmer und einer Küche ohne Strom, nur mit Kerzenlicht. Mit 14 schickte ihre Mutter sie in die Stadt zu ihrem Vater, der sie zu Beginn gar nicht aufnehmen wollte, wäre da nicht seine Frau Rosalinde gewesen, die wirklich nett zu ihr war. Blonder Engel, so wurde ihre Stiefmutter, die auch Krankenschwester war, auf der Station genannt. Sie redete ihrem Vater wie einem kranken Kind zu, dass er Estelle doch aufnehmen solle. Diese könne für das Verhalten ihrer Mutter schließlich nichts. Zu guter Letzt hat er sie doch zu sich und Rosalinde genommen und sie bekam sogar ein eigenes Zimmer mit elektrischer Beleuchtung, auch eine Lampe für die Nacht, was für sie, die bis dahin so etwas nicht gekannt hatte, etwas Besonderes war. Dann hat sie als Lehrling in einem kleinen Lebensmittelladen angefangen. Obwohl sie dort sehr hart arbeiten musste, war sie sehr froh darüber, einen Job gefunden zu haben.

Am 8. April 1962 war es endlich so weit, es war ihr 16. Geburtstag und ihr Vater und Rosalinde waren der Meinung, dass sie einen Tanzkurs besuchen müsse, denn alle Mädchen gingen in die Tanzschule. Sie riefen eine befreundete Familie an, die einen Sohn etwa im Alter wie Estelle hatten, und fragten, ob Peter sie zum Tanzkurs begleiten würde. Denn in den 60er Jahren war es nicht möglich, dass ein Mädchen aus anständigem Hause einfach alleine bei einem Tanzkurs erschien.

Estelle war so aufgeregt. Rosalinde nähte ihr aus einem weich fließenden schimmernden Stoff ein schönes Kleid, ein dunkelgrünes, nicht zu tief ausgeschnitten, aber doch so, dass man ihre prallen Brüste erahnen konnte, und welches sehr vorteilhaft für ihre volle Figur war. Die Farbe des Kleides unterstrich das satte Dunkelgrün ihrer Augen und bildete einen wunderbaren Kontrast zu ihren rabenschwarzen, dichten und fast wie bei Schneewittchen glänzenden, langen Haaren, die bis zum Popo reichten. Rosalinde hatte das Kleid in der Nacht nach ihrer Arbeit als Krankenschwester genäht und Estelle hatte davor noch nie so etwas Schönes besessen. Ihr Vater durfte nicht wissen, dass Rosalinde so viel Geld für das Kleid ausgegeben hatte, denn er war sehr sparsam und für seine Tochter wäre ihm das als Verschwendung erschienen. Rosalinde war oft netter zu Estelle als ihre eigene Mutter, vielleicht deshalb, weil sie keine eigenen Kinder bekommen konnte. Wie dem auch sei, Estelle fühlte sich an ihrem ersten Abend vor dem Tanzkurs wie eine Prinzessin, so schön und elegant, und dann borgte ihr Rosalinde auch noch ihr einziges Abendtäschchen. Ganz aufgeregt wartete sie im Wohnzimmer, bis sie abgeholt wurde. Endlich läutete die Glocke. Bis dahin war Estelle unruhig auf ihrem Sitz hin und her gerutscht, sodass ihr Vater sagte: »Estelle, was machst du denn, du benimmst dich ja wie ein aufgescheuchtes Hendl.« Seine Bemerkungen waren wie immer so richtig aufmunternd. Aber an diesem Abend ließ sich Estelle die gute Laune nicht verderben.

Sie hörte, wie Rosalinde die Türe öffnete und Peter hereinbat. Er hatte einen Anzug an und sah so männlich aus. Was so ein Anzug doch ausmachte. Noch am Vortag, als er sich in aller Form bei ihrem Vater und dessen Frau vorgestellt und dann ein Vieraugengespräch mit ihrem Vater geführt hatte – wahrscheinlich um noch mal alles durchzugehen und ihm einzupauken, dass er sie nie alleine lassen dürfe und gut auf sie aufpassen müsse –, hatte er viel jünger gewirkt.

Aber heute, am Samstagabend, war es so weit, sie waren »ausgehfertig«, »geschniegelt und gestriegelt«, wie ihr Vater wohl gesagt hätte. Estelle blickte in Richtung ihres Vaters und registrierte erstaunt, dass er ein Lächeln auf seinen Lippen trug. Herr Robert Hofer betrachtete seine Tochter wohl heute das erste Mal mit Wohlwollen und Rosalinde sowieso – von wegen Mythos einer bösen Stiefmutter, sie war so gutherzig, immer gut aufgelegt und so optimistisch. Auch jetzt strahlte sie und sagte: »Na, heute werdet ihr beide wohl die ganze Welt verunsichern.« Das war’s dann, sie wurden entlassen und durften gehen, nachdem Peter Estelle noch in den Persianermantel von Rosalinde geholfen hatte. Dieser Mantel machte Estelle viel älter. Wohl hätte ihr ein einfacher Mantel viel besser gepasst, aber sie selbst hatte nur dicke Strickwesten. Sie war Rosalinde sehr dankbar dafür, dass sie ihr diesen Mantel borgte, und stolz zog sie ihn enger zu, denn es war zwar kühl draußen, aber eigentlich nicht zu kalt, der Wind wehte leicht und die Sterne leuchteten. Gedankenverloren schaute Estelle zu ihnen hinauf, als Peter sie aus ihren Gedanken riss: »Estelle, du siehst heute so bezaubernd aus.« Verlegen lächelte Estelle. Peter hielt ihr die Autotür auf und sie stieg ein. Peter war bereits 18 Jahre alt und hatte seit einem halben Jahr den Führerschein. Es war kein besonders großes Auto, aber an diesem Abend war es für Estelle eine Märchenkutsche, die sie ins große Ungewisse, in eine spannende, geheimnisvolle neue Welt entführte. Sie fanden gleich einen Parkplatz – in dieser kleinen Stadt – direkt vor der Tanzschule Kummer, die sich am anderen Ende der Stadt Graz, in einem alten, stilvollen Gebäude mit großen Räumen direkt an einem künstlich angelegten See befand.

Es war ein lauer Abend, gar nicht so, wie normalerweise das Aprilwetter ist, eine leichte Brise wehte und ließ das Kleid von Estelle flattern, um so ihrer Figur zu schmeicheln. Gleich beim Eingang saß an der Rezeption ein junges Mädchen, das nach ihren Namen fragte und auf einer Liste nachschaute, ob die beiden auch angemeldet waren. Estelle Bauer, ja, hier war sie, und dann suchte sie nach Peter Maier, ja, auch ihn fand sie. Dann erklärte sie ihnen, wo sie sich umziehen und die Schuhe und Stiefel gegen Tanzschuhe wechseln könnten. Estelle ging in die Frauengarderobe und beobachtete, wie die anderen jungen Damen sich entweder ganz umzogen oder nur die Schuhe wechselten, so wie sie. Sie nahm aus einer Tasche ihre erst kürzlich erworbenen Silbertanzschuhe, welche ein Geburtstagsgeschenk von ihrem Vater und ihrer Stiefmutter Rosalinde waren. Die Absätze waren für Estelle ungewohnt hoch und als sie in der Garderobe zu gehen versuchte, knickte sie gleich einmal um. Noch sehr ungewohnt. Sie beobachtete die anderen jungen Damen, die sehr elegant und selbstsicher wirkten, sie waren relativ stark geschminkt, manche von ihnen hatten sogar lange Kunstwimpern, wie sie in den Sixties modern waren.

Auch wenn Estelle heute wunderschön aussah, so konnte man doch nicht verleugnen, dass sie etwas gröbere Züge hatte, ein wenig mollig und irgendwie etwas tollpatschig wirkte. Aber wie könnte es auch anders sein, war sie doch bei ihrer Mutter auf dem Land aufgewachsen, da ihr Vater, bevor er ihre Mutter heiraten konnte, zum Militärdienst einberufen wurde und dann auch noch in russische Gefangenschaft geriet. Als er zurückkam, fand er statt einer trauernden Freundin mit Kind eine Frau vor, die bereits wieder von einem anderen Mann schwanger war, einem Tunichtgut, der sie bereits vor der Geburt verließ. Auch wenn ihre Mutter noch so nett zu ihrem heimgekehrten Vater war, war dieser zu stolz und auch zu sehr verletzt und hatte sie sofort verlassen. Somit wuchs Estelle mit ihrer Halbschwester Anna bei ihrer Mutter in einer kleinen Holzhütte auf, gemieden von allen Leuten, denn eine Frau mit zwei unehelichen Kindern, noch dazu von verschiedenen Vätern, wurde damals als Aussätzige betrachtet. Sie lebten von den Alimenten der Väter und diversen Gelegenheitsjobs der Mutter in sehr ärmlichen Verhältnissen in dieser Holzhütte, wo es nicht einmal elektrischen Strom gab.

Und jetzt war Estelle in der Stadt, in einer sehr bekannten Tanzschule mit hervorragendem Ruf. Na ja, diese wurde in diesen Zeiten als eine Art Heiratsmarkt gesehen, vielleicht könnte man ja dort seinen zukünftigen Ehemann treffen. Estelle kam somit aus einfachem Hause, während man das Gefühl hatte, dass die meisten anderen eher gehobeneren Schichten entstammten. Aber sie war so dankbar, dass sie dort sein durfte und ihr Rosalinde geholfen hatte, ihren Vater davon zu überzeugen. Ganz langsam kam sie aus der Damengarderobe und hielt nach ihrer Begleitung Ausschau. Peter war noch nicht im Gang und Estelle fühlte sich sehr unwohl, alleine dort zu warten, wo doch die anderen alle mit ihren Begleitern plauderten oder in Mädchengruppen kicherten und sich zu amüsieren schienen. Sie hatte in der Stadt keine Freundin, war sie doch erst mit 14 Jahren hierhergekommen und hatte gleich zu arbeiten begonnen beziehungsweise war in die Berufsschule gegangen. Da alle anderen bereits einer Gruppe angehörten und sich feste Freundschaften geformt hatten, wollte sich niemand des etwas tollpatschig wirkenden Mädchens vom Lande annehmen. Warum auch, welchen Vorteil hätten sie auch davon gehabt? Sie sprach damals mit niemandem, da sie viel zu schüchtern war, denn sie war immer wieder von ihrer Mutter niedergemacht worden und hatte bereits sehr früh auf ihre kleine Halbschwester aufpassen müssen.

Estelle war nicht unbeschwert, einerseits schon erwachsen, aber andererseits hatte sie durch das Fehlen von Freunden und das Nicht-Vorhandensein von Radio oder gar Fernsehen bis zu ihrem 14. Lebensjahr keine Ahnung von der wirklichen Welt gehabt. Auch die anderen Dorfbewohner hatten das ihrige dazu beigetragen, denn sie sprachen kaum mit ihr. Selbst die Mitschüler in der Volksschule hatten das Verbot ihrer Eltern, sich nicht mit solchen Menschen wie ihrer Familie abzugeben. So wuchs sie ohne großartige Kommunikation, ja eigentlich isoliert auf. Die einzigen Personen, mit denen sie sprach, waren ihre Mutter und ihre Halbschwester. Sie lernte daher kein Sozialverhalten und auch in der Stadt hatte sie Schwierigkeiten, sich mit jemandem einfach nur so zu unterhalten. Stattdessen schwieg sie lieber, was wiederum bei den anderen den Eindruck erweckte, sie sei nicht richtig im Kopf oder eine furchtbare Langeweilerin und es sei es einfach nicht wert, sich mit ihr auseinanderzusetzen. So hatte Estelle erst bei ihrem Vater und dessen Frau gelernt, dass es Freunde gibt, die einen besuchen kommen. Diese Freunde hatten auch wiederum Kinder und somit konnte Estelle doch ab und zu Gespräche belauschen oder manches Mal ganz schüchtern auch selbst etwas sagen. Peter war ein Sohn von sehr guten Freunden ihrer »Eltern«. Irgendwie machte es Estelle Freude, sie als Eltern zu bezeichnen, auch wenn es nicht ganz korrekt war und es eigentlich nur ihre Stiefmutter und ihr Vater waren, aber sie hatte oft Sehnsucht nach einer richtigen Familie, in der alles ganz normal abläuft und man nicht herablassend von den anderen behandelt wird.

Nach einer halben Ewigkeit kam Peter endlich aus der Männergarderobe. Er war sehr selbstsicher, somit das Gegenteil von Estelle. Eigentlich wollte er mit einem ganz anderen Mädchen zum Tanzkurs gehen und nicht mit diesem langweiligen. Aber seine Eltern waren so gut mit ihren Eltern befreundet, dass sie ihnen diese Bitte nicht abschlagen konnten, und er musste dafür büßen. Peter persönlich hatte nichts gegen Estelle, aber wenn er hätte wählen können, so wäre er lieber mit Christa hier gewesen. Christa war eine kleine, zierliche Blonde mit veilchenblauen Augen, die jeden, den sie anschaute oder mit dem sie sprach, verzauberte. Sie war unterhaltsam, witzig, humorvoll, immer zu Späßen aufgelegt und erweckte in jedem Mann den Beschützerinstinkt. Dabei war sie eigentlich eine sehr selbstsichere Person und hätte keinen Beschützer gebraucht, aber nichtsdestotrotz ließ sie sich gerne umwerben. Es machte Christa Riesenspaß, im Mittelpunkt zu stehen, noch dazu war sie sehr klug, eine hervorragende Schülerin. Sie ging ins Realgymnasium und befand sich nicht in einer Lehre. Sie wollte, so wie ihre Eltern, Medizin studieren und Ärztin werden und eines Tages deren Praxis übernehmen. Sie war anmutig und zog jeden in ihrer Umgebung, egal ob Mann oder Frau, in ihren Bann. Das war der Grund, warum es Peter nicht so eilig hatte, aus der Umkleide zu kommen, denn dieser Zehn-Wochen-Kurs würde seiner Meinung nach noch früh genug beginnen. Es war Samstagabend und eigentlich wäre er lieber mit seinen Kumpeln auf ein Bier gegangen. Manches Mal fühlte er sich Christa gegenüber minderwertig, obwohl er seine Einzelhandelskaufmannslehre bereits abgeschlossen hatte und jetzt in der Verwaltung einer Versicherung arbeitete. Auch besaß er ein Auto, was viele andere, die noch in der Schule oder im Studium waren, nicht hatten. Bei Estelle war es eigentlich umgekehrt, da war er der große und wichtige Mann, zu dem Estelle aufschauen und den sie bewundern konnte. Er sah ja ganz passabel aus, mit seinen breiten Schultern, den sanften rehbraunen Augen und dem braunen, leicht gewellten Haar. Er war groß gewachsen, aber nicht der Größte, so ca. 1,78 Meter, während Estelle 1,72 Meter groß war. Jetzt, da sie Tanzschuhe mit Absätzen anhatte, wirkte sie fast größer neben ihm und, da sie ja eher vollschlank war, nicht gerade zierlich. Da hätte Christa neben ihm ganz anders ausgesehen und alleine schon aufgrund ihrer zierlichen Gestalt seinen Beschützerinstinkt geweckt.

Wie dem auch sei, er hatte seinen Eltern versprochen, gut auf sie aufzupassen, sich die zehn Wochen lang nichts anmerken zu lassen, sondern den perfekten Gentleman zu spielen. Also tief durchatmen und los gehts, dachte er sich. Dann zauberte er sogar ein Lächeln auf sein Gesicht und ging in Richtung Estelle, die in einer Ecke des Korridors vor dem Eingang zum Tanzsaal stand. Ihr ganzes Gesicht begann zu leuchten und sie hatte ein Lächeln so breit, dass es ihre ganze untere Gesichtshälfte ausfüllte. Es war ein erlösendes Lachen, hatte Peter sie doch aus der ihr äußerst unangenehmen Situation› dort alleine herumzustehen, befreit. Und da Peter sehr gut aussah, konnte man sich mit so einem Partner durchaus sehen lassen. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie hie und da sogar bewundernde Blicke für ihre Begleitung, was Estelle mit großem Stolz erfüllte.

Dann gab Peter ihr seinen Arm, sie hakte sich ein und sie gingen in den Tanzsaal. Von der Decke herunter strahlte ein sehr alter, stilvoller Kristallkronleuchter mit vielen kleinen Glühbirnen. Estelle hatte das Gefühl, sich in einem Märchenschloss zu befinden, für sie, die sie in einer dunklen Holzhütte mit nur spärlicher Kerzenbeleuchtung am Abend aufgewachsen war, war Licht in jeglicher Form etwas Besonderes. Estelle blieb der Mund offen vor lauter Staunen, sie blickte hinauf und strahlte. Aber nicht nur sie, der ganze Tanzsaal erstrahlte in seiner vollsten Pracht, das Licht wurde noch reflektiert von den vielen Spiegelwänden, was alles noch heller und freundlicher erscheinen ließ. Die Augen von Estelle mussten sich erst an diese Helligkeit gewöhnen, dann sah sie am Rande des Saales ein Piano der Marke Bösendorfer stehen und davor saß eine etwas dickere, ältere, schon grauhaarige Dame. Mitten im Saal stand eine blonde Frau mit hoch aufgestecktem Haar und wunderschön anzusehen, denn sie trug ein elegantes schwarzes Kleid sowie eine Perlenkette und Perlenohrringe. Sie sah sehr gepflegt aus und war gertenschlank. Estelle schätzte sie auf 30, maximal 35 Jahre, erfuhr aber später, dass die Tanzschulbesitzerin bereits 45 Jahre alt war.

Frau Kummer, die Dame auf der Tanzfläche, winkte die Teilnehmer des Tanzkurses herein und genau um Punkt 19 Uhr wurde die große Tür geschlossen und alle befanden sich im Tanzsaal mit einem traumhaften Blick hinaus auf eine große Terrasse, die von einem fein geschwungenen weißen Steingeländer umrahmt war, hinter dem man einen Teich erkennen konnte. Es war zwar schon fast dunkel, aber die Terrasse war erleuchtet und alles sah aus wie aus 1001 Nacht, zumindest hatte Estelle dieses Gefühl. Die blonde Frau stellte sich vor und erzählte, seit welchem Alter sie bereits tanzte, dass sie bei den Weltmeisterschaften mitgemacht hatte und nun bereits seit 25 Jahren diese Tanzschule leite, die sie von ihren Eltern übernommen hatte, die auch schon Tänzer waren. Dann stellte sie die Dame am Piano als Frau Pauline vor, die für den heutigen Kursabend die Tanzmusik liefern würde. Sie sagte, dass die Männer auf die eine Seite des Saales gehen sollten und die Damen auf die andere. Dann begann sie Schritte vorzuzeigen, die man nachmachen musste. Zuerst waren die Damen an der Reihe. Sie begann mit dem Langsamen Walzer, also zuerst den linken Fuß, dann den rechten Fuß und schließen, dann umgekehrt, zuerst den rechten, dann den linken und schließen. Dann zeigte Frau Kummer die erste Rechtsdrehung und alle Teilnehmerinnen machten diese Schritte nach, nur Estelle hatte große Mühe dabei und beneidete die anderen, die dies mit einer unwahrscheinlichen Leichtigkeit so ganz ohne Probleme zu bewältigen schienen. Estelle hatte fast das Gefühl, als ob sie zwei linke Füße hätte, immer wieder kam Frau Kummer zu ihr und korrigierte ihre Schritte, was die Nervosität von Estelle erhöhte und sie die Schritte noch schlechter nachmachen ließ. Estelle war ja von Natur aus nicht gerade selbstbewusst und wenn sie dann auch noch jemand korrigierte, brachte sie das gänzlich aus der Fassung. Obwohl die Tanzlehrerin oft zu ihr kommen musste, blieb diese trotzdem freundlich und erklärte die Schritte immer und immer wieder, bis Estelle endlich so weit war. Dann wendete Frau Kummer sich den jungen Herren zu und zeigte ihnen die Schritte vor, die sie dann wie die Mädchen zuvor wiederholen mussten. Peter schien das ganz einfach vom Fuße zu gehen, er hatte den Schritt sofort heraus und grinste über das ganze Gesicht. Estelle dachte, dass er wirklich ein Netter sei, und beobachtete ihn ganz verstohlen.

Dann schweifte ihr Blick zu den anderen Burschen, die den Mädchen im Tanzsaal gegenüberstanden, und dabei blieb ihr Blick an einem jungen Mann mit tiefgebräunter Haut, blauen Augen und dunkelbraunen Haaren haften. Er hatte ein Lachen auf dem Mund und schien all die vorgezeigten Schritte mit der Leichtigkeit und Geschmeidigkeit einer Raubkatze zu bewältigen. Seine Bewegungen waren trotz seiner Größe – Estelle schätzte ihn mindestens auf 1,89 Meter – wie die eines Panthers und man konnte den Blick nicht von ihm wenden. Irgendwie schien er bemerkt zu haben, dass sie ihn anstarrte, denn er lächelte sie an, wobei eine Reihe strahlend weißer Zähne aus dem braunen Gesicht hervorstach und dadurch noch weißer aussahen, als sie sowieso schon waren. Er hatte ein schelmisches Lächeln und Estelle wusste nicht, warum ihr auf einmal so heiß im Gesicht wurde, bis sie merkte, dass sie rot geworden war.

Gleich darauf sagte Frau Kummer, dass die Männer sich eine Partnerin suchen sollten, und als Peter auf sie zukam und fragte, ob denn alles in Ordnung mit ihr sei, antwortete Estelle: »Es ist alles okay, mir ist nur ein wenig warm.« Da der Tanzsaal eher kühl gehalten und ihr neues Kleid ja nur kurzärmelig war, schien diese Ausrede alles andere als glaubhaft zu sein. Sie war total verwirrt, als Peter seinen rechten Arm auf ihren Rücken legte, so, wie es davor gezeigt worden war, und ihre rechte Hand in seine linke nahm und sie mit den gelernten Schritten zu zweit tanzten, oder besser gesagt herumstiegen. Aber Peter konnte gut führen und auch wenn Estelle alleine Schwierigkeiten bei den Schritten hatte, mit Peter gemeinsam fielen ihr diese ihr gar nicht mehr so schwer. Nach mehrmaligem Probieren sagte Frau Kummer zu Pauline: »Bitte begleiten Sie uns mit Musik.« Ach, das war dann schön, als True Love aus dem Film High Society erklang und sie sich fast rhythmisch zu diesen Klängen bewegten und Estelle zu schweben glaubte. Sie schloss für einen Moment ihre Augen, um dieses Gefühl ganz in sich aufnehmen zu können.

Dann öffnete sie ihre Augen wieder und sah rechts von ihr diesen Mann vorbeischweben, der sie kurz davor so aus der Fassung gebracht hatte. Er hatte ein wunderhübsches dunkelrothaariges Mädchen im Arm und schwebte auf der Tanzfläche, man hatte das Gefühl, als ob er schon immer getanzt hätte. Aber dann ermahnte sich Estelle, dass sie mit Peter, ihren Begleiter, ja auch einen guten Tänzer hatte. Nachdem sie den Langsamen Walzer ausreichend geübt hatten, bat die Tanzlehrerin die Teilnehmer, wieder ihre Plätze einzunehmen, das hieß die Burschen auf der einen Seite und die Mädchen auf der anderen Seite. Gott sei Dank habe ich Handschuhe an, dachte Estelle, denn sonst hätte man ihre Nervosität spüren können und sicherlich waren ihre Hände schweißgebadet, so aufgeregt war sie. Jetzt kam der Slowfox dran. Wieder stellten sich die Mädchen und die Jungen einander gegenüber auf, aber dieses Mal begann Frau Kummer mit den Burschen. Das heißt, sie zeigte zuerst die Schritte für die Männer, die diese dann nachtanzen mussten. Manche waren wirklich nicht talentiert, während andere, wie Estelles schöner Unbekannter und eigentlich auch Peter, sehr viel Talent bewiesen. Auch dieses Mal, als sie mit den andern Mädchen den Slowfox-Grundschritt übte, stellte sich Estelle nicht gerade sehr geschickt an. Es fiel ihr schwer, den Schritt alleine zu machen. Vielleicht deshalb, weil die jungen Männer auf der anderen Seite des Tanzsaales die Mädchen beobachteten, während diese den Schritt mit Frau Kummer übten, oder vielleicht auch, weil sie nicht gerade dafür begabt war. Aber sobald sie wieder mit ihrem Partner, dem Peter, den Slowfox nach der Pianomusik tanzte, fiel ihr dieser Tanz gar nicht mehr so schwer und sie hatte fast das Gefühl, sehr gut zu tanzen. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie wieder diesen interessanten Unbekannten, der wie ein Halbgott über das Parkett schwebte. Es war unbeschreiblich. Nach nur zwei Tänzen sagte Frau Kummer: »Meine Damen und Herren, ich bin ganz stolz auf Sie, das haben Sie sehr gut gemacht! Das nächste Mal werden wir den Grundschritt vom Tango und vom Quickstep lernen und die beiden Tänze von heute wiederholen. Ach ja, jeden Sonntagabend von 18 bis 20 Uhr ist Übungsabend, der Eintritt kostet fünf Schillinge und ich würde ihnen raten, zu diesem Übungsabend zu kommen, da werden immer viele verschiedene Tänze gespielt und Sie können zu diesen tanzen und ihre heute gelernten Schritte verfestigen. Danke, Sie waren großartig, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Rest vom Samstagabend und falls ich Sie nicht am Sonntag sehen sollte, so sehen wir uns wieder um dieselbe Zeit nächsten Samstag. Eine schöne Woche.«

Nach dieser Verabschiedung begann der Lärmpegel sich im Tanzsaal ganz plötzlich zu erhöhen, denn zuvor waren noch alle mit dem Erlernen der Schritte und mit dem Zuhören der Worte von Frau Kummer beschäftigt gewesen, doch jetzt redeten alle durcheinander. Manche wiederholten die Schritte für die Damen: links, rechts, zurück und schließen, halbe Drehung nach rechts …, manche berieten, was sie danach machen wollten, und wieder andere sprachen darüber, ob sie morgen kommen sollten. Nur Estelle stand schweigend neben Peter und ließ all das auf sich einwirken, bis Peter plötzlich sagte, dass er es eilig habe, denn er sei mit seiner Freundin Christa verabredet und würde Estelle gerne noch davor nach Hause bringen. Bis dato wusste Estelle gar nicht, dass Peter eine Freundin hatte, aber sie nahm es irgendwie gelassen auf. Na gut, dachte sie, warum sollte er auch keine Freundin haben, bis jetzt hatte ich ja nicht das Gefühl, dass er sich für mich als Frau interessiert, er ist einfach ein guter Freund und nett ist er auch, ein richtiger Gentleman. Trotzdem war sie ein ganz klein wenig traurig, denn irgendwie hätte es sie schon mit Stolz erfüllt, wenn er sie auch als interessant empfunden hätte.

In der Garderobe fand es niemand wert, mit ihr zu plaudern, und sie war viel zu schüchtern und unsicher, das Wort zu eröffnen. So schlüpfte sie nur schweigend in ihre Straßenschuhe und packte ihre ersten, so wunderschönen silberglänzenden Tanzschuhe in die mitgebrachte Tasche. Mit einem Lächeln auf ihrem Mund schaute sie sich im Spiegel an und sah eine attraktive junge Dame in einem eleganten grünen Kleid mit leicht geröteten Wangen sowie toll frisiertem, dunklem Haar zurückblicken. Sie zog jetzt auch ihre Handschuhe aus, packte sie ein und schlüpfte in den Persianermantel, den ihr ihre Stiefmutter geborgt hatte. Ein wohlig-warmes Gefühl kroch von ihrer Lendenwirbelsäule hinauf zu ihrem Halswirbel und breitete sich dann im Kopf aus. Sie hatte den Abend genossen, es war einer ihrer schönsten überhaupt gewesen, denn bis jetzt hatte sie ja noch nicht viel in ihrem 16-jährigen Leben an Höhepunkten gehabt, aber heute, das war so ein spezieller Abend.

Draußen im Korridor wartete bereits Peter, der dachte, eigentlich schaut sie heute gar nicht so schlecht aus. Tante Rosalinde – so nannte er Estelles Stiefmutter, obwohl sie in Wirklichkeit eigentlich nicht seine Tante war – hat sie fein rausgeputzt. Das grüne Kleid steht ihr gut und mit der neuen Frisur schaut sie fast aus wie eine aus der Stadt und nicht wie eine vom Land. Aber er hegte nur freundschaftliche Gefühle ihr gegenüber, denn sein Herz war in festen Händen, es gehörte Christa, seiner kleinen blonden Elfe, wie er sie oft liebevoll nannte, und er freute sich bereits jetzt, sie gleich noch kurz zu sehen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie sich aus dem Elternhaus schleichen würde, sobald sie sein Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblickt, denn sie wollte wissen, wie es war, denn irgendwie störte es sie ungemein, dass ihr Peter nicht mit ihr, sondern mit dieser, wie hieß sie gleich noch, ach ja, dieser Estelle den Tanzkurs besuchte. Wahrscheinlich hätte ihr Vater nicht erlaubt, dass sie mit Peter dorthin gegangen wäre. Aber sie könnte ihre Eltern vielleicht überreden, dass sie auch diesen Tanzkurs besuchen darf, natürlich mit einem Cousin oder einem Sohn von Freunden ihrer Eltern, der dem Standard ihres Elternhauses und deren Lebensgewohnheiten mehr entsprach. Das war die Lösung! Dann könnte sie mit ihrem Peter tanzen und niemand würde merken, vor allem ihre Eltern nicht, dass sie ihn regelmäßig sieht.

Peter öffnete galant die Autotüre für Estelle, er wartete, bis sie eingestiegen war, und schloss sie dann wieder. Dann ging er auf die Fahrerseite, stieg ein und brachte Estelle in die Wohnung ihres Vater und ihrer Stiefmutter zurück. Sie wohnten im ersten Stock eines Zweifamilienhauses zur Miete. Die Wohnung war nicht gerade groß, ein kleiner Flur, ein Badezimmer, ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, eine Wohn-Ess-Küche, alles zusammen waren es vielleicht 79 Quadratmeter. Es wartete Rosalinde bereits auf Estelle und fragte ganz aufgeregt, wie es denn gewesen sei, während ihr Vater sich bereits schlafen gelegt hatte. Er kümmerte sich auch sonst kaum um seine uneheliche Tochter, nur dann, wenn es unvermeidlich war, was Estelle schon oft traurig stimmte. Andererseits war sie es nicht anders von ihrer leiblichen Mutter gewohnt. Peter verabschiedete sich gleich wieder. Estelle wollte ihn noch fragen, ob er denn mit ihr zum Übungsabend morgen gehen würde, aber er war schon weg, bevor sie noch dazu kam. Rosalinde umarmte Estelle und sagte, dass sie sich freue, dass der Abend so gut verlaufen sei. Dann setzte sie sich gemeinsam mit Estelle an den kleinen Küchentisch und Estelle erzählte ihr alles ganz genau. Sie fühlte sich wohl und geborgen bei ihrer Stiefmutter, die ganz anders war, als man es oft von den angeblich bösen Stiefmüttern hört. Ihre war einfach großartig, so gütig, immer nett, humorvoll, einfach eine absolute Optimistin. Immer, wenn sie mit ihr zusammen war, hatte Estelle das Gefühl, beschützt zu sein, sie war so gut zu ihr.

In der Zwischenzeit war Peter zu seiner Freundin Christa gefahren. Diese hatte bereits sehnsüchtig auf ihn gewartet und sobald sie das Auto sah, ließ sie sich über eine Art Feuerleiter, an der jetzt Pflanzen entlangwuchsen, auf die Veranda ihres Hauses hinab. Eigentlich ein gefährliches Unterfangen, denn das Haus sehr groß und so ganz anders als das, in dem Estelle wohnte, ein wunderschöner Altbau mit einer stilvollen Auffahrt und mindestens 400 Quadratmeter Wohnfläche. Christas Familie hatte ein Hausmädchen und einen Koch. Alles war so edel und gediegen. Sie hatte an diesem Abend eine eng anliegende Hose an, die, wie in den Sixties üblich, ganz hoch geschnitten war. Die Hose war dunkelblau und dazu trug sie eine hellblaue Bluse, die ihre veilchenblauen Augen sehr vorteilhaft hervorhob. Ihre Haare waren leicht zerzaust, als sie unten anlangte, aber da sie sportlich war, fiel es ihr nicht besonders schwer, sich wie die Feuerwehrleute auf dieser schmalen Leiter hinunterzulassen. Kaum unten angekommen, lief sie schnell ins Gebüsch, bevor jemand aus ihrer Familie oder die Hausangestellten sie sehen konnten. Von Baum zu Gebüsch hopsend, immer bemüht, sich gut zu verstecken, so wie eine Diebin in einem Kriminalfilm, kam sie dann endlich bei Peter an und hüpfte schnell in sein Auto und flüsterte: »Na fahr schon endlich los, mach schnell.« Er startete den Motor und sie fuhren zunächst etwas in der Gegend umher, bis Peter sie fragte, wohin sie denn wolle. Sie antwortete: »Ich möchte zum Schloßberg und mit der Bahn hinauffahren, da ist es immer so romantisch und wunderschön.« Peter gab zu bedenken: »Ist das nicht ein wenig zu weit von dir zu Hause entfernt, bis wir zurückkommen, wird es bereits weit nach Mitternacht sein, und falls sie bei dir etwas bemerken sollten?« Er schien sich fast mehr Sorgen zu machen als sie selbst. Sie nahm das Leben generell leichter und man hatte fast das Gefühl, dass sie mit einer unerträglichen Leichtigkeit des Seins alles und jedes in sich aufnahm. Peter war viel verantwortungsvoller, ernster, bedachter und auch besorgter, denn er wollte niemanden in Schwierigkeiten bringen und am wenigsten sie, seine Christa, die er so liebte und vergötterte. Er schaute sie heimlich von der Seite an und dachte: Mein Gott, ist sie schön, und sie interessiert sich doch tatsächlich für MICH, wo sie doch jeden haben könnte. Aber was kann ich ihr schon bieten? Habe ja noch nicht viel und sie ist so viel Luxus gewöhnt. Auch hatte er Angst, dass er heute nicht genug Geld für die Schloßbergbahnfahrt und danach vielleicht ein spätes Abendessen dabeihaben könnte. Sie ging ja nicht in normale Restaurants, sondern nur in gehobene, und keine Frage, zu dieser Zeit war es nicht üblich, dass das Mädchen selbst für sich bezahlte. Er dachte angestrengt nach, wie viel er noch in der Geldbörse hatte und ob es reichen würde. Dabei legte er anscheinend seine Stirn in Falten, denn Christa fragte, warum er denn so ernst und grüblerisch in die Gegend schaue und sich gar nicht über ihr Kommen freue, denn es sei nicht einfach gewesen, zu entkommen.

Der Schelm lachte aus ihren Augen und man konnte nicht anders, als auch zu lachen, wenn sie so ernst tuend mit den Augen zwinkerte und meinte, dass ihr etwas schwergefallen sei, was natürlich nicht der Fall war. Sie genoss es, Schabernack zu treiben, und wo immer etwas Verbotenes, Kribbelndes getan wurde, war sie dabei. Sie liebte die Aufregung und die Abwechslung und ihr Leben war wie eine Achterbahn, so turbulent, dass einem nie langweilig wurde. Sie war ein Dynamo.

Sie parkten circa 500 Meter vor der Bahn, denn man konnte nicht näher heranfahren. Peter sperrte das Auto ab und sie gingen Hand in Hand in der dunklen, lauen Nacht zur Schloßbergbahn. Davor saß ein Schaffner und verkaufte ihnen die Tickets, die natürlich Peter bezahlte. Dann setzten sie sich in die Schloßbergbahn und kicherten. Sie waren die einzigen Fahrgäste, na ja, es war ja schon spät und zu dieser Zeit, wenn nicht gerade Ballsaison war im Schloßbergrestaurant über den Dächern von Graz, fuhr niemand mehr hinauf, außer Verliebte, so wie sie beide. Sie saßen engumschlungen da und nach zehnminütiger Wartezeit ging es los. Die Bahn, eigentlich eine Standseilbahn, die nur aus drei Kabinen bestand, mühte sich langsam den steilen Berg hinauf. Oben angekommen, stieg Christa mit Elan aus, der Schaffner warf ihr einen bewunderten Blick nach. Sie sah fast wie eine Barbiepuppe aus, mit ihren schönen blonden, lockigen Haaren und den veilchenblauen Augen, auch war sie fast genauso schmal um ihre Mitte, aber vielleicht nicht ganz so groß.

Sie zog Peter hinter sich her und sagte: »Schau dir doch diesen wunderschönen und klaren Sternenhimmel einmal an, siehst du, da ist der Große Wagen und dort leuchtet der Abendstern, viel klarer als sonst.« Peter kommentierte dies nicht, denn er kannte sich im Gegensatz zu ihr so gar nicht mit dem Sternenhimmel aus und wollte sich keine Blöße geben. Christa hingegen wusste fast alles über die Gestirne, denn ihr Vater war Hobby-Astrologe, immer, wenn er Zeit hatte, sprach er mit seinen Kindern darüber. So hörte Peter ihr nur stillschweigend und bewundernd zu und nickte, wenn sie sagte, dass heute der Abendstern besonders hell leuchte. Sie gingen zum Aussichtspunkt, der einen magischen Blick auf Graz und die vielen Lichter der Stadt erlaubte, die den Eindruck erweckten, als ob noch niemand schliefe. Es war wirklich romantisch, so dunkel, wie es hier war, nur vom Sternenhimmel beleuchtet und von unten herauf von den Lichtern der Stadt. Peter spürte ein mulmiges Gefühl in seinem Bauch und dachte: Soll und darf ich sie küssen? Mein Gott, wie liebe ich dieses Mädchen, sie versetzt mich immer in ein Hochgefühl. Und noch bevor er seinen Gedanken zu Ende denken konnte, spürte er Christa ganz nahe bei sich, sie stellte sich ganz plötzlich auf ihre Zehenspitzen und küsste ihn, selbstverständlich erwiderte er diesen Kuss sofort inniglich. Mein Gott, eine Hitzewelle stieg in seinem Körper auf, er wollte sie überall berühren. Sie küssten sich immer und immer wieder und ihre Lippen wollten sich gar nicht mehr voneinander lösen. Ihr Kuss schmeckte so süß, als ob sie gerade Schokolade gegessen hätte, und gleichzeitig so feurig und hungrig. Ja, er hatte auch Hunger nach mehr, aber er getraute sich nicht, sie auch noch an anderen Stellen zu küssen, denn er wollte sie nicht einschüchtern und auf keinen Fall so weit gehen, dass er sich vielleicht nicht mehr würde kontrollieren können. Sie war ein Mädchen aus gutem Hause und er liebte und achtete sie so sehr, dass er auf keinen Fall etwas machen wollte, das vielleicht unziemlich wäre. Aber Christa nahm ihm die Entscheidung einfach ab, nahm seine Hand, führte diese unter ihre blaue Bluse und legte sie auf ihre Brüste. Dann küssten sie sich nochmals und er begann ihre Brüste zu streicheln, wohlgemerkt noch über ihrem BH, aber doch bereits unter ihrer Bluse. Sie strich mit ihrer Hand seinen Nacken entlang und er bemerkte, dass sich etwas in seiner Hose regte. Mein Gott, dachte er, hoffentlich merkt sie das nicht! Und versuchte etwas Abstand zu gewinnen.

Plötzlich, ebenso abrupt, wie sie sich ihm genähert hatte, entfernte sie sich auch wieder von ihm und lachte ihn nur an und meinte: »Jetzt habe ich aber Hunger, lass uns doch in das Restaurant gehen und dort eine Kleinigkeit essen.« Auf einmal war die romantische Stimmung weg, dachte er doch wieder an das Bargeld in seiner Geldbörse und ob es auch für ein Essen reichen würde. Sie gingen ins Restaurant und setzten sich an einen Tisch, der mit einer Rose in einer langstieligen Vase dekoriert und mit einer Kerze beleuchtet war. Der Tisch befand sich in einer kleinen Nische. Somit waren sie abgeschirmt von den neugierigen Blicken der anderen Gäste, nicht, dass es viele gewesen wären, aber Christa war ja gerade von zu Hause abgehauen. Somit wäre es peinlich gewesen, wenn Bekannte oder Freunde ihrer Familie sie dort mit Peter sehen würden. Sie bestellten, Christa ein Wiener Schnitzel mit Petersilienkartoffeln und er nur etwas zu trinken. Er hätte keinen Hunger, log er. Sie unterhielten sich über dies und jenes und dann auch über Christas Idee, dass sie ihre Eltern davon überzeugen wollte, denselben Tanzkurs bei der Tanzschule Kummer zu besuchen wie er. Als sie ihm davon berichtete, dass sie mit einem Sohn einer befreundeten Familie ihrer Eltern dorthin gehen könnte, überkam ihn ein Gefühl der Eifersucht. Er wollte sich nicht vorstellen, dass Christa in den Armen eines anderen Mannes liegt und mit ihm vielleicht Tango oder Walzer tanzt. Das störte ihn ungemein, weshalb er versuchte, ihr diese Idee auszureden, was wiederum Christa schmollen ließ. Sie aß schweigend Wiener ihr Schnitzel und sagte zum Schluss nur: »Ich möchte, dass du mich jetzt sofort nach Hause bringst.« Ihre Lippen kräuselten sich zu einem Schmollmund, denn sie war es nicht gewohnt, dass sie etwas nicht bekam oder jemand ihr gar einen Wunsch abschlug. Außerdem fand sie, dass es eine gute, ja hervorragende Idee sei, und warum Peter nun so komisch reagierte, verstand sie überhaupt nicht. Sie dachte: Er kann sagen, was er will, nächsten Samstag werde ich zu diesem Tanzkurs gehen. Hat er vielleicht sogar etwas mit diesem Mädchen vom Land? Das hätte sie nicht gedacht. Wie dem auch sei, sie würde auf jeden Fall nächsten Samstag tanzen, so oder so.

Christa lachte nicht und sprach auch nicht, was für Peter komisch war, denn so ruhig hatte er sie überhaupt noch nicht erlebt. Dann kam auch noch die Rechnung über 13 Schillinge, die für seinen Geschmack sehr überhöht schien. Er kratzte seine letzten Schillinge und Groschen zusammen, um bezahlen zu können. Christa stand auf, bedankte sich nicht einmal für seine Einladung, was ihn doch sehr störte, denn er hatte sein letztes Geld für sie ausgegeben. Diese verwöhnte Göre, dachte er. Dann stand er auch auf und begleitete sie hinaus. Draußen angekommen, ging Christa Richtung Schloßbergbahn, aber er sagte: »Christa, mein Liebling, es ist so schön, möchtest du nicht zu Fuß hinuntergehen?« »Bist du total verrückt, zuerst machst du dir Sorgen, dass ich vielleicht nicht früh genug zu Hause ankomme, und dann möchtest du so einen großen Umweg machen, auf dem Fußweg kommen wir auf die anderen Seite des Berges und müssen dann ganz um den Berg herumgehen, um wieder zum Auto zu kommen. Das würde sicherlich eine Stunde dauern. Nachdem du dich nicht einmal freuen würdest, wenn ich auch zu diesem Tanzkurs kommen würde, willst du jetzt einen so langen, romantischen Spaziergang machen. Ich glaube, du tickst nicht richtig. Ich möchte nach Hause und zwar auf dem schnellsten Weg.«

Peter versuchte sie wieder in seine Arme zu nehmen und sie zu beruhigen, aber sie sträubte sich, wand sich wieder aus seiner Umarmung heraus und sagte: »Ich möchte jetzt sofort nach Hause!« Peter hatte kein Geld mehr, wollte sich aber keine Blöße vor ihr geben und antwortete daher: »Na, gut, dann gehe ich alleine und du kannst ja ebenfalls alleine mit der Bahn fahren. Wir treffen uns beim Auto.« Christa antwortete erbost: »Bist du denn von allen bösen Geistern verlassen, du kannst mich doch nicht allein lassen. Das gehört sich nicht. Und noch weniger mitten in der Nacht.« Peter wusste ja, dass sie recht hatte, aber er wollte partout nicht zugeben, dass er kein Geld mehr hatte, und begann sich Richtung Fußweg zu bewegen. Er hoffte, dass sie vielleicht Angst haben und ihm folgen würde. Aber sie blieb stehen und schaute ihm nach, schäumend vor Wut. Was glaubt dieser Mensch eigentlich, mit wem er es hier zu tun hatte, so etwas gehört sich nicht.

Dann begann sie sich in die andere Richtung zur Schloßbergbahn zu bewegen. Peter ging vorsichtig weiter und hoffte inständig, dass sie Vernunft annehmen und ihm folgen würde. Aber sie stapfte wütend mit ihren Füßen auf den Boden und ging in die andere Richtung weiter. Auch Peter ging weiter und weiter, aber sein Schritt wurde immer zögernder, denn er machte sich Sorgen, dass ihr etwas passieren könnte. Bald war sie aus seinem Blickwinkel verschwunden und ihm wurde ganz anders. Was, wenn ihr etwas passierte, er könnte sich das niemals verzeihen, vor allem nicht, da sie ja unter seinem Schutz stand. Ein Mann hatte seine Freundin zu beschützen. Indes hatte Christa fast die Bahn erreicht, hörte aber auf einmal ein komisches Geräusch, ein Betrunkener, schon von Weitem an einer unangenehm duftenden Alkoholfahne erkennbar, kam torkelnd hinter ihr her. Dieser Fremde sagte: »Na, mein kleines Fräulein, wie wär’s denn mit uns zwei?« Christa wurde Angst und Bange. Sie hielt inne und begann laut nach Peter zu rufen. »Peter, Peter, mein Liebling, hier bin ich!« Peter hörte sie schreien und rannte zu ihr zurück. Gerade als der unangenehme Zeitgenosse ungläubig in die Gegend blickte und nochmals seine Stimme erhob: »Willst mir wohl was vorspielen, aber mit mir nicht!«, war Peter an der Stelle angekommen und sagte in harschem Ton zu ihm: »Mein Herr, lassen Sie sofort meine Verlobte in Ruhe oder ich rufe die Polizei.« Eigentlich hätte er keine Polizei rufen können, denn es gab keine Telefonzelle weit und breit. Doch auch der Schaffner von der Bahn hatte diesen Lärm gehört, stieg aus seiner Bahn und näherte sich Gott sei Dank der Gruppe. Es war ein riesengroßer Mann von 1,90 Meter und sehr breit gebaut, er flößte alleine durch seine Statur Respekt ein. Der Betrunkene kehrte um und der Schaffner lächelte: »Na, da habe ich Sie wohl gerettet, und weil das heute meine letzte Talfahrt ist, möchte ich Sie auf den Schock zu dieser Fahrt einladen. Ich hoffe, dass das okay ist.« Peter fiel ein Stein vom Herzen, er hatte sein Gesicht gewahrt und auch Christa hatte ihren Willen bekommen. Sie konnten hinunterfahren und er musste nicht zugeben, dass er kein Geld mehr gehabt hätte für die Fahrt. Er war so erleichtert. Auch Christa war zufrieden und gab ein schwaches Lächeln von sich.

In der Bahn saßen sie wieder zusammengekuschelt aufder nicht gerade sehr gemütlichen Holzbank, aber sie spürten das gar nicht. Dieses kleine Abenteuer war ja noch mal gut ausgegangen. Unten angekommen, bedankten sich die beiden bei dem Schaffner für die nette Einladung und gingen, es war kurz nach Mitternacht, in Richtung von Peters Auto. Peter öffnete Christa galant die Autotüre und sagte: »Liebling, mir tut es schrecklich leid, aber natürlich möchte ich dich immer und überall um mich haben, aber mich hat einfach gestört, dich beim Tanzkurs in den Armen eines anderen zu wissen.« Sie lächelte und sie fuhren los. Christa meinte, dass sie ja tauschen könnten, sodass die meiste Zeit sie beide tanzen, sie würde ihren Tanzpartner schon dazu überreden. »Aber wer will denn schon lieber mit Estelle tanzen, wenn er mit dir tanzen könnte?«, fragte Peter.

Sie fuhren durch die dunkle Nacht und kaum in der Nähe von Christas Zuhause angekommen, parkte Peter sein Auto etwas abseits, damit man es nicht sehen konnte. Dann küssten sie sich zum Abschied, dieser Kuss fiel jedoch etwas kürzer aus, aus Angst, dass jemand sie beobachten könnte. Christa stieg aus, nachdem ihr Peter die Tür geöffnet hatte, und ging zurück zum Haus. Alle Lichter waren bereits erloschen, sie schlich sich über denselben Weg wieder zurück und kletterte die Feuerleiter hinauf zu ihrem Zimmer. Es sieht fast so aus, als ob sie bereits ein Profi darin ist, dachte Peter. Dann verwarf er diesen Gedanken wieder, denn Christa hatte zu ihm gesagt, dass sie heute das erste Mal aus ihrem Fenster geklettert sei. Es war bereits 20 Minuten nach Mitternacht und für ein Mädchen ihres Alters gehörte es sich nicht, dass sie länger als bis 23 Uhr aus war und das natürlich nur mit angemessener Begleitung. Peter lächelte, tja, heute war er ihre angemessene Begleitung und sie war mit ihm so lange aus gewesen. Natürlich werde ich Christa heiraten und als Verlobte ist das ja kein Verbrechen. Erst jetzt fiel im auf, dass sie sich gar nicht dazu geäußert hatte, dass er zu diesem betrunkenen Mann gesagt hatte: »Meine Verlobte …« Vielleicht stand sie zu sehr unter Schock, sodass sie das gar nicht mitbekommen hatte, oder sie hatte es stillschweigend und wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber Letzteres würde so ganz und gar nicht zum Charakter von Christa passen. Diese fiel in der Zwischenzeit todmüde ins Bett und schlief sofort ein, während Peter nach Hause fuhr.

Ungefähr zur gleichen Zeit schlief auch Estelle endlich ein, die nach dem netten Gespräch mit Rosalinde ebenfalls zu Bett gegangen war und noch über den schönen ersten Tanzschulabend nachgedacht hatte. Es war bereits 20 Minuten nach Mitternacht. Aber morgen war ja Sonntag und vielleicht ging Peter mit ihr zu diesem Übungsabend. Sie beschloss, ihn morgen anzurufen.

Am nächsten Morgen, als Estelle aufstand, duftete es nach Kaffee in der Wohnung. Es war bereits 8 Uhr, also eigentlich früh für einen Sonntagmorgen, aber nicht so für Estelle, die aufgrund ihrer Arbeit in dem kleinen Lebensmittelladen – oder Kreißler, wie diese Läden im österreichischem Dialekt oft genannt werden – schon meistens um 5 Uhr, spätestens jedoch um Viertel nach fünf aufstehen musste. Ihre Lehrstelle lag weit entfernt von der Wohnung und die Fahrt zur Arbeit dauerte circa 45 Minuten. Aber heute hatte sie es sich gut gehen lassen und so lange geschlafen, bis sie der köstliche Duft des Kaffees weckte. Sie streckte und reckte sich und ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Dann schien auch noch die Sonne herein, deren Strahlen am Vorhang vorbei in den Raum fielen. Sie stand beschwingt auf, zog den Vorhang zur Seite, öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, dann schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und ging zum Badezimmer.

Währenddessen bereitete Rosalinde das Frühstück, sie war schon seit halb sieben auf, da sie eine Frühaufsteherin war. Sie schlich sich aus dem Schlafzimmer ins Badezimmer und dann in die Küche. Dann begann die Zeitung zu lesen, die sie bereits von der Straße geholt hatte, denn sonntags wurden immer kleine Zeitungsständer aufgestellt. Sie machte sich immer gleich auf den Weg, ein oder zwei Exemplare von verschiedenen Zeitungen zu holen, meistens waren es die »Kronen Zeitung« und die »Kleine Zeitung«, weil diese beiden Zeitungsständer gleich nebeneinander aufgestellt waren, nur circa 50 Meter von der Wohnung entfernt. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und las in Ruhe die Zeitung. So gegen halb acht begann sie den Frühstückstisch zu decken, die selbstgemachte Marmelade, das herrlich duftende Schwarzbrot, ein bis zwei Frühstückssemmerln, die sie gestern am Abend noch frisch vom Bäcker geholt, dann eingefroren hatte und jetzt nur aus dem Tiefkühlgerät nahm und im Rohr aufbackte, sodass ihr Mann Robert sein frisches Semmerl hatte. Er war kein einfacher Mann, sehr herrschsüchtig und alles musste passen, aber sie war eine gute Seele, die ihn anderen gegenüber immer verteidigte und sagte, er war im Krieg und da war es nicht einfach für ihn und außerdem ist er fast ohne Mutter aufgewachsen, da er das zweitjüngste Kind von fünf Geschwistern war und seine Mutter bereits in jungen Jahren starb, als er gerade einmal sieben Jahre alt war. Das waren die Gründe, die Rosalinde vorbrachte, wenn die anderen meinten, dass er schon etwas kompliziert sei.

15 Minuten vor acht weckte sie ihn dann auf, denn er hatte heute »Dienst«, wie er seine Arbeit immer bezeichnete, und der begann bereits um 10 Uhr, er war Straßenbahner und musste manches Mal auch sonntags arbeiten und das war heute so ein Tag. Kurz nach acht erschien er frisch rasiert und für die Arbeit in Uniform gekleidet am Frühstückstisch und brummte gerade einmal ein »Guten Morgen«, welches kaum hörbar war, aber Rosalinde lächelte ihn an und strahlte wie jeden Tag übers ganze Gesicht. »Guten Morgen, mein Robert, hast du gut geschlafen, setz dich doch, möchtest du ein weiches Ei oder lieber ein Omelette, hier ist dein Semmerl, es ist ganz frisch aus dem Ofen. Soll ich dir die Butter aufstreichen?«