Gib's mir, Karma! - Doris Riedl - E-Book
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Gib's mir, Karma! E-Book

Doris Riedl

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Beschreibung

Sie hatte Glück beim Universum bestellt – und dann kam...

Das Schicksal hat’s auf Andrea abgesehen: Ihr Freund Leo zieht aus, ihren Job ist sie so gut wie los, und nichts läuft, wie es soll. Doch dann Andrea entdeckt Yoga für sich. Anfangs fühlt sie sich wie eine Nacktschnecke im Zirkus, aber schon bald zeigen Sonnengruß und Kopfstand ihre Wirkung, und Andrea kauft ihrer Yogalehrerin Paula sämtliche Heilsversprechen diesseits des Universums ab. Leider übersieht sie, dass sich hinter Paulas heiterer Fassade ein abgebrühtes Miststück verbirgt. Und als sich dann noch ihr merkwürdiger Mattennachbar Hans als Traumprinz herausstellt, wird‘s erst richtig kompliziert ...

Eine unfassbar komische, wunderschöne Liebesgeschichte – garantiert gut fürs Karma!

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Informationen zum Buch

Sie hatte Glück beim Universum bestellt – und dann kam … Hans

Das Schicksal hat’s auf Andrea abgesehen: Ihr Freund Leo zieht aus, ihren Job ist sie so gut wie los, und nichts läuft, wie es soll. Doch dann Andrea entdeckt Yoga für sich. Anfangs fühlt sie sich wie eine Nacktschnecke im Zirkus, aber schon bald zeigen Sonnengruß und Kopfstand ihre Wirkung, und Andrea kauft ihrer Yogalehrerin Paula sämtliche Heilsversprechen diesseits des Universums ab. Leider übersieht sie, dass sich hinter Paulas heiterer Fassade ein abgebrühtes Miststück verbirgt. Und als sich dann noch ihr merkwürdiger Mattennachbar Hans als Traumprinz herausstellt, wird‘s erst richtig kompliziert.

Eine unschlagbar komische, wunderschöne Liebesgeschichte – garantiert gut fürs Karma

Doris Riedl

Gib’s mir, Karma!

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1: Alles auf dem Kopf

Kapitel 2: Verrenkt und verbogen

Kapitel 3: Im Yogarausch

Kapitel 4: Achtsam ärgern

Kapitel 5: Spurwechsel

Kapitel 6: Warum wir fühlen, wie wir fühlen

Kapitel 7: Dem Himmel so nah

Kapitel 8: Ganzheitliche Partnersuche

Kapitel 9: Glück erleben

Kapitel 10: Der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen

Kapitel 11: Liebe dich selbst

Kapitel 12: Auf den Körper hören

Kapitel 13: Wenn mal nichts los ist

Kapitel 14: Verzeihe dir und anderen

Kapitel 15: Eine Idee verbreitet sich

Kapitel 16: Das Spiel aufgeben

Kapitel 17: Lerne vom Meister

Kapitel 18: Wenn Gurus Klartext sprechen

Kapitel 19: Finde dein Spiegelherz

Kapitel 20: Innehalten und Kraft schöpfen

Kapitel 21: Aufs Ganze gehen

Kapitel 22: Liebe ist strahlendes Bewusstsein

Kapitel 23: Positive Abhängigkeit

Über Doris Riedl

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Kapitel 1Alles auf dem Kopf

»Loslassen, einfach loslassen«, säuselte eine Stimme.

Sie war so zart wie ein Geschenkband und machte aus jedem Wort eine Schleife. Ich konnte solche Töne noch nie leiden. Normalerweise wäre ich einfach davongelaufen. Aber im Moment war nichts normal, aus vielen Gründen. Vor allem, weil ich auf dem Kopf stand.

Ich zappelte mit beiden Beinen in der Luft und schwankte wie ein Baum im Wind. Neben mir befanden sich noch etwa zehn andere Frauen in genau der gleichen Position. Wir alle standen kopfüber in einer ehemaligen Fabrikhalle, atmeten hörbar ein und aus und zeigten der Welt, dass wir biegsam waren und unempfindlich gegen die Gesetze der Schwerkraft.

»Nicht festhalten, lasst alles los«, flötete die Stimme.

O ja! Wie gern würde ich loslassen. Aber ich konnte nicht. Nicht in dieser Position. Nicht, ohne Luft zu bekommen. Mein T-Shirt hing mir inzwischen über die Augen, mein Bauch war nach unten gesackt, von meinen Brüsten gar nicht zu reden.

Warum ich auf dem Kopf stand? Nun ja, ich machte gerade Yoga, und ein Kopfstand ist in dieser Disziplin offensichtlich unverzichtbar. Und ich war verzweifelt, wusste nicht mehr ein noch aus. Mein Freund Leo hatte mich verlassen. Zumindest sah es ganz danach aus. Deshalb summte ich jetzt »Oooom«, versuchte, meine Zehen hinter die Ohren zu bringen, und stellte mich auf den Kopf. Zu glauben, sich an einer Stelle anzustrengen und zu quälen, um das Schicksal davon zu überzeugen, uns an anderer Stelle zu begünstigen, ist sicher eine fatale Eigenschaft von uns Frauen. Aber ich war eben eine Frau, und ich wollte Leo zurück. Er war der Mann meines Lebens oder besser: der Mann jenes Lebens, das noch vor mir lag. Schon allein deshalb konnte ich nicht glauben, dass es vorbei sein sollte. Wir waren seit zehn Jahren zusammen und noch lange nicht am Ende. Wir hatten so viele gemeinsame Träume und Sehnsüchte, die alle auf Erfüllung warteten.

Genau das war wohl unser Problem: die Erfüllung, auf die wir ständig warteten, die aber nie eintraf. Leo war Künstler, genauer gesagt Maler und Bildhauer, und hoffte auf seinen Durchbruch. Und ich hoffte mit ihm. Bisher vergeblich. In all den Jahren hatte Leo nur an wenigen Sammelausstellungen teilgenommen und dabei kein einziges Bild verkauft. Er hatte weder Kunstpreise erhalten noch die Aufmerksamkeit der Galeristen erregt. Leo blieb erfolglos und unbekannt. Und ich als seine selbsternannte Muse ebenfalls. Natürlich tat ich alles, damit sich das änderte: Ich zahlte Leo sein Atelier, außerdem Leinwände, Farbe und Pinsel und alles andere auch. Und Leo malte und malte – allerdings immer nur Bilder, die kein Mensch kaufen wollte.

»Kannst du nicht mal was anderes malen als ewig diese Gitter?«, fragte ich ihn deshalb in diesem schrecklich unbedachten Moment, in dem er mir davon erzählte, dass er nach blauen, grünen und gelben Gittern nun auch noch eine schwarze Episode in Angriff nehmen wolle. Leo lief rot an und fuchtelte mit seinen Armen in der Luft. Ich begriff sofort, dass er natürlich nichts anderes malen konnte. Trotzdem kam es nun zu ein paar unschönen Wortwechseln, in deren Folge Leo, wie immer, seine Sachen in sieben Plastiktüten packte – Koffer hielt er für eine bourgeoise Verschwendung – und in sein Atelier verschwand. Solche Abgänge war ich von ihm aus der Vergangenheit gewohnt. Wir hatten oft genug über seinen ausbleibenden Erfolg gestritten, und genauso oft war Leo zutiefst beleidigt aus der Wohnung hinaus- und in sein Atelier hineingestürmt. Dort verbrachte er meist eine Nacht auf seinem zerschlissenen Sofa und kehrte dann reumütig wieder zu mir zurück. Ebenfalls reumütig nahm ich ihn wieder auf und kochte zur Versöhnung komplizierte Aufläufe. Ich trug hohe Absätze, durchsichtige Blusen und offene Haare, und schon bald schwirrten wieder betörende Chemiewölkchen zwischen uns. So wie damals, als ich Leo vor zehn Jahren auf einer Atelierparty kennengelernt hatte. Er stand vor abstrakter Malerei, und ich war sofort verzückt von ihm – von seiner vollen Unterlippe, seinen schwarzen Locken, vor allem von dem, was er mir den ganzen Abend über erzählte. Leo sprach von sich und seiner Kunst und davon, was sie bewirken solle – Horizonterweiterung, Gefühlsstürme, innere und äußere Revolution. Seine Worte klangen verheißungsvoll in meinen Ohren, und Leo genoss meine Bewunderung. Wir trafen uns am nächsten Tag und an allen weiteren, und schon bald schwebten wir als Zwillingssatelliten über allem irdischen Geschehen. Wir schworen uns, zusammen alt zu werden, versprachen uns, dennoch ewig jung zu bleiben und niemals zu heiraten. Wir fütterten uns gegenseitig im Restaurant und schickten uns minütlich Nachrichten aufs Handy, sogar wenn wir auf derselben Party waren. Es war eine herrliche Zeit, voller Gefühle, die in Sensationen gipfelten. Doch jetzt wartete ich vergeblich auf eine Nachricht oder eine Sensation.

Leo kam einfach nicht zurück. Nicht nach einer Nacht. Nicht nach zweien. Inzwischen waren vier Wochen vergangen. So lange war er noch niemals weggeblieben. In der ersten Woche rief ich ihn mindestens zehnmal am Tag auf seinem Handy an. In der zweiten Woche fuhr ich zu seinem Atelier und klingelte Sturm. Aber Leo verbarrikadierte sich. Er ging nicht ans Telefon, ging nicht zur Tür. In der dritten Woche war ich so niedergeschlagen, dass es für eine Depressionsepidemie in ganz Europa ausgereicht hätte. Wollte Leo wirklich lieber mit sieben Plastiktüten zusammenwohnen als mit mir?, fragte ich mich und fand keine Antwort. In der vierten Woche tat ich gar nichts mehr.

»Andrea, so geht das nicht mehr weiter«, sagte Coco an einem dieser schönen Frühlingstage, an denen die Amseln zwitscherten, als würden sie dafür bezahlt.

Coco war meine beste Freundin und stets darum bemüht, mir zu helfen – obwohl sie selbst ebenfalls dringend Hilfe nötig hätte: Coco war geschieden, alleinerziehend und, unabhängig von der Jahreszeit, ständig verschnupft.

»Was meinst du?«, fragte ich in den Telefonhörer.

»Du solltest endlich aufhören, dich dieser Opferrolle hinzugeben«, erwiderte Coco.

Coco, die eigentlich Cornelia heißt (wer heißt heutzutage noch so?), hatte Psychologie studiert und arbeitete als Psychotherapeutin, weshalb sie keine Schwierigkeiten hatte, mir die absurdesten Ratschläge zu geben.

»Aber ich bin ein Opfer. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«

»Wieso verlässt du ihn nicht einfach?«, näselte Coco mit ihren ewig verstopften Nebenhöhlen.

Es war nicht das erste Mal, dass Coco mir das riet.

Schon ganz am Anfang meiner Beziehung mit Leo empfahl sie mir, sofort mit ihm Schluss zu machen. In ihren Augen war ich abhängig von ihm, idealisierte ihn und verlor mich in seinen Künstlerträumen.

Doch jetzt erschien mir ihr Ratschlag geradezu absurd.

»Wie bitte schön soll man jemanden verlassen, der einen gerade verlassen hat?«, fragte ich Coco. »Leo geht ja noch nicht mal ans Telefon!«

Coco ließ sich auf keine Diskussion ein und lenkte ab. »Wieso kommst du nicht einfach mal mit zum Yoga?«, fragte sie mich stattdessen.

Mir klappte die Kinnlade nach unten. Coco und ich kannten uns seit dreißig Jahren, und eigentlich dachte ich, wenn man sich so lange kennt, stellt man sich gewisse Fragen nicht mehr. Zum Beispiel: »Wo wohnst du?« Oder: »Nimmst du Zucker in den Kaffee?« Oder eben: »Kommst du mit zum Yoga?«

Bisher hatte ich mein Leben eher auf dem Sofa verbracht und aufkommenden Bewegungsdrang stets vorüberziehen lassen. Niemand wusste das besser als Coco.

»Yoga? Eher würde ich wieder in die katholische Kirche eintreten«, sagte ich.

»Lass dich doch mal auf was Neues ein.«

»Neu?«, sagte ich. »Soviel ich weiß, ist Yoga fünftausend Jahre alt.«

»Jedenfalls ist es sehr entspannend.«

»Ich will mich aber nicht entspannen.«

Dass Körperdehnungen den Menschen helfen sollen, ihr Leben besser zu ertragen, erschien mir schon immer zweifelhaft. Coco natürlich nicht. Sie hatte von jeher den Hang, sich den absurdesten Heilsversprechungen anzuschließen. Schon als wir Teenager waren und jede noch so kleine Entscheidung stundenlang miteinander berieten, begeisterte sie sich ebenso hemmungslos für Saturday Night Fever wie für Ententanz oder Osho-Meditation und glaubte ernsthaft, in solchen Trends ihr Glück zu finden. Kein Wunder, dass sie in den Yogastrudel geraten war. In Berlin gab es inzwischen mehr Yogastudios als in ganz Indien. Stündlich wurden neue eröffnet. Sie schossen aus dem Boden wie Pilze bei Regen, und da konnte die arme Coco eben nicht mehr widerstehen.

»Nein! Yoga ist nichts für mich«, lehnte ich ab und legte auf.

Doch dann kam ich ins Grübeln. Tag für Tag saß ich allein vor meinem Computer, am Abend allein vor meinem Fernseher. Und obwohl ich der Mittelpunkt der Welt war, war das auf Dauer doch ziemlich einsam. Und wenn ich etwas nicht sein wollte, dann war es das: einsam. Ich wollte Menschen um mich haben und nicht mir selbst und meinen Problemen ausgeliefert sein. Für ein wenig Geselligkeit war ich inzwischen sogar bereit, mich auf so Abseitiges wie Yoga einzulassen.

Zehn Minuten später griff ich noch einmal zum Hörer und rief Coco zurück.

»Also gut, ich komme mit.«

Der Weg zum Yoga war allerdings schwerer als gedacht, und beinahe hätte ich ihn nie gefunden. Schuld daran war Coco. Sie mochte eine intelligente Frau sein, als Navigatorin war sie eine Null. Ihre Wegbeschreibung hatte nicht das Geringste mit der Realität der Berliner Straßen zu tun.

»… und dann rechts halten und die Stichstraße ignorieren, aber auf jeden Fall bei dem kleinen Kiosk links abbiegen.«

»Gib mir doch einfach die Adresse«, flehte ich sie an.

Die hatte sie natürlich nicht parat. Und so holperte ich eine halbe Stunde lang mit meinem Rad auf dem Kopfsteinpflaster des Prenzlauer Bergs auf und ab.

»Wissen Sie, wo Yoga Yoga ist?«, fragte ich, langsam verzweifelnd, Menschen auf Bürgersteigen.

Doch alle, die ich ansprach, waren entweder selbst ortsfremd oder wiederholten so befremdet »Yoga Yoga?«, als wäre ich eine Verrückte.

Coco ging nicht an ihr Handy, wie immer, wenn es dringend war. Ich beschloss, einfach wieder umzudrehen und zurück in meine behagliche Kreuzberger Wohnung zu fahren: drei Zimmer, Dielen, Balkon, sechshundertfünfzig Euro warm.

Dort hätte ich mich wieder auf mein lila Velourssofa legen, mir die rote Flauschdecke über den Kopf ziehen und vereinsamen können. Aber in dem Moment klingelte mein Handy. Wäre ich nicht rangegangen, wäre alles anders gekommen.

Oder nicht?

Viele Menschen glauben ans Schicksal, manche an den Zufall. Ich glaube inzwischen nur noch an das Wetter. Es ist das Einzige, was auf jeden Fall eintrifft.

Eine melodische Abendamsel begleitete mich mit ihrem Gesang auf jenem Weg, den mein Leben nun einschlug. Coco lotste mich mit immer neuen wirren Worten um Ecken und Gebäude, bis ich schließlich vor einer abgeranzten und graffitibeschmierten Fabrik stand, auf der in einfallslosen Lettern Yoga Yoga prangte. »Na endlich«, beschwerte sich Coco und schnäuzte sich mit dem Geräusch eines Elefanten die Nase. Jetzt führte sie mich in den Hinterhof und eine Treppe hinauf, die mit kostenlosen Esoterikmagazinen und Flyern für eine Meditationspraxis gepflastert waren.

Vor der Eingangstür wies uns ein Schild an, die Schuhe draußen zu lassen. Artig zogen wir sie aus und betraten barfuß eine Welt, die hell war und sauber und nach Zitrone roch. Diese ehemalige Fabrik für Leuchtröhren hatte sich inzwischen in ein heiteres Wohlfühlparadies für Erleuchtete und jene, die es werden wollten, verwandelt. Der Raum war warm wie ein Toast, der Holzboden knarrte gemütlich, und an den gelbgetünchten Wänden hingen Fotos von lachenden Indern in unmöglichen Körperhaltungen. Auf länglichen Wandregalen standen brennende Teelichter, und hinten rechts in der Ecke plätscherte sogar ein Zimmerspringbrunnen. Es wirkte alles so freundlich und heiter. Wie hätte ich da ahnen sollen, was auf mich zukam?

Kapitel 2Verrenkt und verbogen

Als erstes menschliches Wesen in diesem Himmelreich erblickte ich Paula. Sie stand wie ein Zapfhahn hinter einer Holztheke und lächelte.

»Ich bin Paula, die Yogalehrerin. Und du bist neu hier?«, fragte sie mich.

Ich nickte und sah in ihr Gesicht, das so neutral war wie eine dieser schematischen Abbildungen auf Erste-Hilfe-Broschüren. Punkt, Punkt, Komma, Strich. Ebenso makellos war ihr Körper. Ihre Trainingsklamotten lagen so eng an, dass man glauben konnte, sie hätte sich darin einnähen lassen. Sie war etwa dreißig Jahre alt, ungeschminkt, faltenfrei und an keiner Stelle ihres stromlinienförmigen Leibes wölbte sich ein überflüssiges Gramm Fett. Allein aus ihrem halblangen Bob stachen ein paar Haarsträhnen unkontrolliert hervor.

»Das ist meine Freundin Andrea«, stellte mich Coco vor.

»Von Yoga habe ich leider nicht die geringste Ahnung«, sagte ich.

»Schön!«, trällerte Paula. »Hast du irgendwelche körperlichen Beschwerden?«

Nein, hatte ich nicht – abgesehen davon, dass ich aus der Nähe wie ein pummeliger Hase aussehe und zu lange Schneidezähne habe. Trotz meiner psychischen Instabilität war ich grausam gesund.

»Ab und zu habe ich Kopfschmerzen«, fiel mir ein.

»Schön!«

»Und zuckende Beine, wenn ich nicht einschlafen kann.«

»Schön!«

Langsam dämmerte mir, dass Paula vermutlich alles schön fand – möglicherweise sogar zerknüllte Papierhandtücher in Toiletteneimern.

»Du wirst sehen: Yoga hilft bei allem«, trällerte sie mit glockenheller Stimme und drückte mir einen Prospekt mit Preisliste in die Hand.

»Schön«, jauchzte nun auch ich.

»Die Probestunde heute ist kostenlos. Ab dem nächsten Mal müsstest du dann zahlen.«

»Schön!«

»Schön!«

Bevor wir uns in weitere Idyllen hochschaukelten, folgte ich Coco in den Umkleideraum: eine kleine Kammer mit hellen Holzbänken und Haken in heiteren Farben darüber. Coco und ich gerieten in die halbnackte Gesellschaft von Männern und Frauen, die sich in dieser Mischung ungeniert entkleideten, und genau das versuchte ich nun ebenfalls zu tun. Allerdings gehörte ich noch nie zu jenen robust zusammengeschraubten Menschen, die sich jederzeit und vor fremden Augen ihre Kleider vom Leib reißen, um dann ungeachtet ihrer körperlichen Vor- und Nachteile nackt umherzuspringen. Schamhaft bemühte ich mich, jene Teile meines Körpers, die ich für problematisch hielt – genauer gesagt: alle –, so lange mit Kleidung zu bedecken, wie es eben ging. Aber irgendwann ging es nicht mehr. Irgendwann kam der Moment, in dem ich loslassen musste, und da ließ ich los und machte mich frei, allerdings mit geschlossenen Augen. Ich gab mich einfach der Illusion hin, dass, wenn ich mich selbst nicht sah, es die anderen auch nicht täten. Blind schlüpfte ich in meine Sporthose, blind suchte ich nach meinem T-Shirt und öffnete die Augen erst wieder, als ich umgezogen war. Dabei lauschte ich einem Gespräch, das sich um Indien und die dortigen Yogamatten drehte, die allesamt von Insekten befallen waren. Ausrufe des Ekels und Abscheus wurden laut, doch ich hielt mich zurück. Natürlich: Insekten in Indien waren schlimm, aber mit dem Schlimmheitsgrad meiner momentanen Befindlichkeit konnten sie nicht konkurrieren.

»Geht das?«, fragte ich Coco und sah beschämt an meinen Trainingsklamotten herab. Sie stammten noch aus den neunziger Jahren. Ich hatte sie für mögliche, letztlich niemals stattfindende karnevaleske Turbulenzen ganz hinten in meinem Schrank aufbewahrt.

Coco gab mir keine Antwort und starrte nur auf ihr Smartphone. Meine beste Freundin war mit ihren vierzig Jahren noch immer eine ebenso jugendliche wie elegante Erscheinung. Sie hatte lange Glieder, lange Haare und sah in ihrer thermodynamischen Hose und dem ärmellosen Shirt so perfekt aus wie ein Fitnessmodel aus einer Frauenzeitschrift. Ich dagegen wirkte mit meinen glänzend lilafarbenen Leggins und dem ausgebeulten orangefarbenen T-Shirt eher wie ein Clown, den man für Kindergeburtstage bucht. Wir markierten mit unseren Outfits zwei gegensätzliche Punkte modischen Bewusstseins, das war leider schon immer so gewesen.

»Was ist los?«, fragte ich, obwohl ich es natürlich bereits wusste.

Es ging um Henry, Cocos sechzehnjährigen Sohn. Schon seit längerem hatte Coco Probleme mit ihrem pubertierenden Sohn, der sich jeglicher Autorität entzog. Neben Leo war Henry das Topthema unserer Rotweinabende.

»Er schreibt, dass er am Wochenende ausziehen wird«, sagte Coco tonlos.

»Am Wochenende also«, wiederholte ich. Es war keine Überraschung. Henry hatte schon mehrfach angekündigt, ausziehen zu wollen, um künftig bei seinem Vater Lars zu wohnen. Nun war es also so weit. Der Moment, vor dem sich Coco so lange gefürchtet hatte, war gekommen.

»Ja, am Wochenende«, sagte sie.

»Am Wochenende also«, wiederholte ich.

»Am Wochenende«, sagte Coco, und langsam wirkte es, als hätten wir beide einen Kratzer in unserer Tonrille.

Coco sah mich mit wässrigen Augen an, und ich suchte in meinem Kopf fieberhaft nach passenden Worten. Ich hätte sie so gern getröstet. Doch leider war mir das in den dreißig Jahren unserer Freundschaft noch nie wirklich gelungen. Coco tröstete lieber mich, als sich aufmuntern zu lassen. Schenkte ich ihr trotzdem mitfühlende Worte, ging sie meist auf Rückzug. Gern wäre ich für Coco die gleiche gute und hilfreiche Freundin gewesen, die sie für mich war. Doch es gelang mir einfach nicht.

»Warte doch«, rief ich Coco hinterher, die gerade als tragische Königin aus dem Umkleideraum schritt.

»Ich weiß doch gar nicht, wo ich hinmuss.«

Aber Coco war schon verschwunden.

»Der Yogaraum ist dort hinten«, rief mir ein Mann zu und wies mir den Weg nach links. Er sah aus wie das tapfere Schneiderlein aus dem Märchenbuch meiner Kindheit. Forsch, klein und klug.

»Danke«, sagte ich.

»Ich heiße Hans«, sagte er.

»Andrea«, sagte ich.

»Hallo«, sagte er und musterte mich neugierig.

»Ich bin neu hier«, sagte ich.

»Nicht zu übersehen«, sagte Hans. »Du wirkst etwas orientierungslos.«

»So wirke ich immer«, gab ich zu bedenken.

»Na dann«, lachte er.

»Ja«, sagte ich und strich die Falten aus meinem unförmigen Shirt.

Damit war diese aufregende Unterhaltung auch schon an ihr Ende gekommen. Hans ging aus der Umkleide, und ich zog mir meine Turnschuhe über. Erwartungsvoll betrat ich den Yogaraum. Dieser Raum besaß ebenso viele Ecken wie Yogaschüler und war weißer als weiß. Die Wände waren weiß, der Holzboden war weiß, die hauchzarten Gardinen an den drei Fenstern waren cremefarben, und alles vermittelte den Eindruck von Unschuld und Neubeginn. Womöglich sogar von Weisheit.

Verwirrt blickte ich mich um und versuchte, unter all den Yogaschülern Coco zu entdecken. Wo war sie nur? In dem Moment schwebte Paula auf mich zu.

»Andrea, du brauchst keine Turnschuhe. Wir praktizieren Yoga mit bloßen Füßen«, erklärte sie mir. »So können wir uns besser mit der Erde verbinden und unsere Standfestigkeit in ein inneres Erleben übertragen.«

»Ach so«, schluckte ich, riss mir die klumpenförmigen Dinger samt Socken von den Füßen und warf dabei meine mitgebrachte Wasserflasche um.

»Wir trinken auch kein Wasser, während wir üben. Es stört das Feuer des Körpers, das wir durch das Yoga entfachen.«

»Oh. Tut mir leid.«

Beschämt ließ ich mich auf eine ausgebreitete Matte sinken.

»Vielleicht holst du dir auch noch eine Matte und schaffst dir damit einen eigenen Platz in deinem Kosmos?«, schlug Paula vor und deutete auf einen Haufen blauer Yogamatten in der Ecke.

Da erkannte ich, dass die Matte, auf die ich gesunken war, meiner Yogalehrerin gehörte, und das war – o nein – keinesfalls ein Vorbote meines Schicksals.

Barfuß, ohne Wasser und mit eigenem Platz im Kosmos ließ ich mich schließlich neben Coco nieder, die ich endlich entdeckt hatte. Sie saß aufrecht im Lotussitz und wirkte wie nicht mehr von dieser Welt. Sie hielt ihre Augen geschlossen, aber in den Winkeln entdeckte ich verräterische Feuchtigkeit. Natürlich. Coco ging es nicht gut und mir auch nicht. Irgendwie lag gerade ein Übermaß an Leid in der Luft, ein totaler Überschuss an Unglück – es wurde Zeit, dass die Yogastunde begann.

»Ooooooom!«, ertönte es vielstimmig, und »Oooooom!«, tönte nun auch ich.

»Verbindet euch mit dem Klang des Alls und spürt, dass wir alle eins sind«, sagte Paula. Ich blickte mich um und sah, dass wir nicht alle eins waren. Wir waren sogar uneins, denn jeder brummte ganz individuell vor sich hin, und so hörte es sich auch an. Paula sagte, wir sollen aus der Tiefe unserer göttlichen Seele singen. Doch bevor ich diesen Ort in mir entdeckte, war das Ooom auch schon wieder vorbei. Wortlos erhoben sich alle in die Senkrechte, und es ging los mit dem Verbiegen. Die Frauen um mich herum waren groß und schienen durch Yoga noch mehr zu wachsen. Sie warfen sich in sämtliche Stellungen, als ginge es darum, das eigene Leben zu retten. Auch die Männer strengten sich an und atmeten bei jeder Bewegung so laut wie Wasserbüffel.

Nie hätte ich gedacht, dass Yoga so anstrengend sein könnte. In meiner Vorstellung verbrachten Yogis die meiste Zeit mit Singen, Teetrinken und dem Räkeln auf weichen Schaffellmatten, was eine ebensolche Illusion war wie all diese Fotos in Frauenzeitschriften von lächelnden Menschen, die selig im Lotus saßen oder den Sonnenuntergang entspannt im Kopfstand genossen – Lüge, Lüge und nochmals Lüge!

Yoga, zumindest dieses Yoga, ließ mir weder Zeit noch Kraft, zu lächeln oder in aller Ruhe einen Sonnenuntergang zu betrachten. Den eigenen Körper so zu strecken und zu verdrehen, wie Paula es vorgab, war die Hölle. Jeder, der jemals die Töne vernommen hat, die die Übenden von sich geben, weiß, wovon ich spreche – nur dass ich gar nicht mehr sprechen konnte. Ich stand auf allen vieren, ließ den Kopf hängen und stöhnte vor Schmerzen. »Abwärtsgerichteter Hund« hieß diese Yogaübung, und genauso fühlte ich mich auch: wie ein Dackel auf dem Weg nach unten. Mir hätte schon diese eine Übung für den Rest des Abends gereicht, so erschöpfend war es, Beine und Arme in dieser Position zu strecken. Nicht jedoch Paula. »Schön«, sagte sie zu mir, allerdings nur damit es noch schöner wurde. Später erfuhr ich, dass das beim Yoga immer so ist: Wenn man ein guter Dackel ist, muss man sich anstrengen, ein noch besserer Dackel zu werden.

»Andrea, press die Fersen und Handballen nach unten«, sagte sie zu mir.

So was macht doch bitte schön kein Hund, und wieso sollte es dann der Mensch tun?

Ich war trotz aller Anstrengung empört, konnte dieses Gefühl aber nicht mit meiner Umwelt teilen. Rechts neben mir war eine Schlangenfrau, die einen vorbildlichen Dackel machte; links von mir presste Coco ebenfalls alles artig nach unten.

»Wie du das kannst«, sagte ich bewundernd zu ihr. Doch weder Lob noch Seitenblicke waren hier erwünscht.

»Andrea, bleib ganz bei dir. Kümmere dich nicht um die anderen«, tadelte mich Paula. Dann kam sie auf mich zu und drückte mit ihrer Hand mein Kreuzbein nach hinten, was das Gegenteil von Hilfe war. Ich bemühte mich, wenigstens mit Anstand zu röcheln.

Paula ließ uns ein gefühltes Jahrhundert in dieser Übung hängen, bis sie endlich Entwarnung gab. Ich sackte nach unten und hätte mich am liebsten sofort in meine Yogamatte eingerollt und geschlafen. Doch schon ging es weiter, diesmal mit dem »aufwärtsgerichteten Hund«.

Ich bin diplomierte Biologin, und natürlich hätte ich gern gefragt, warum die Kategorisierung von Hunden hier in aufwärts und abwärts erfolgte, doch mir blieb keine Puste mehr für Fragen zur zoologischen Taxonomie.

Zarte Frühlingswinde pfiffen durch die Ritzen der schlecht isolierten Fabrikfenster, und so wie ich stöhnte und knarzte, kam ich mir schon selbst vor wie eine alte Holzdiele – was offensichtlich nicht der gewünschte Effekt war.

»Es geht darum, immer ruhig zu bleiben und ruhig zu atmen«, sagte Paula.

»Uaaah!«, keuchte ich.

»Verbindet euren Atem mit dem Universum«, sagte Paula.

»Uaaah!«, atmete ich ins Universum hinein.

»Erforscht euer Bewusstsein, als sei es eine Landkarte«, gebot sie uns und klang dabei so allwissend, als hätte sie ihren eigenen Kontinent längst kartographiert.

Mit der nächsten Übung hörten wir auf, das Tierreich durchzuhecheln, und wandten uns der Welt der Geometrie zu. Leider scheiterte ich beim Versuch, mich in einer seitlichen Beuge auf den Beinen zu halten, weshalb aus meinem gedrehten Dreieck ein Viereck wurde und ich mich ebenso erbärmlich und wenig heldenhaft fühlte wie bei den anschließenden Heldenpositionen. Ich vernudelte meine Glieder und nahm mit der »Adlerstellung« oder auch dem »Kuhauge« Körperpositionen ein, die so aussahen, als wollte ich mich selbst verhaften oder mir zumindest die Arme und Beine aus dem Rumpf zerren.

»Das stärkt eure inneren Organe und gibt euch Kraft«, behauptete Paula.

Doch statt kosmischer Energien oder neuer Kräfte erfüllten mich lebhafte Visionen von Wein, Pizza Napoletana und Tiramisu. Deutlich sah ich all die Köstlichkeiten vor mir. Dabei zitterten meine Beine inzwischen wie junge Birken im Sturm und meine Arme wie Wetterfahnen. Nur Coco wirkte noch immer so frisch wie ein Tautropfen.

»Haltet durch. Findet die Energie tief in eurer Mitte. Noch ein paar Atemzüge«, ermunterte uns Paula.

Atmen? Damit hatte ich längst aufgehört. Ich schnaufte auf dem letzten Lungenbläschen. Trotzdem stemmte ich mich noch in den Kopfstand, der – wie ich nun erfuhr – als König sämtlicher Yogaübungen gilt.

»Andrea, übernimm dich nicht«, warnte mich Paula. »Selbstüberschätzung ist kein Meilenstein auf dem Weg der Erkenntnis.«

Doch zu spät. Einmal im Kopfstand angekommen, hing ich fest. Während meine Füße in der Luft vergebens nach Halt suchten, hatte ich das Gefühl, dass der Rest meines Verstandes aus meinen Ohren zu quellen drohte und mein Nacken gleich entzweibrechen würde.

»Loslassen. Einfach loslassen!«, säuselte Paula, und normalerweise wäre ich davongelaufen. Doch hier war nichts normal und davonlaufen leider unmöglich.

»Fühlt jeden eurer Knochen einzeln. Spürt ihnen so nach, als müsstet ihr sie malen«, sagte Paula und wies uns an, wieder auf die Füße zu kommen, worauf ich mich dankbar fallen ließ und mit einem Rums auf meiner Yogamatte landete.

Selbst wenn ich es gewollt hätte, was nicht der Fall war, hätte ich meine Knochen jetzt nur noch als großen ungestalten Haufen kritzeln können. Ich hatte den Eindruck, dass mir jegliche mentale Kontrolle über meine physische Existenz abhandengekommen war. Zum Glück schaltete Paula jetzt in den Ruhemodus.

»Setzt euch im Schneidersitz auf die Matte. Schaut nach innen, haltet Einkehr in euer Selbst, kommt ganz in eurem Körper an und versucht, nichts mehr zu denken.«

Nichts mehr denken? Sofort überlegte ich, wie ich nichts mehr denken sollte, und dachte natürlich mehr als je zuvor.

Kurz darauf begaben wir uns ins selige »Shavasana« – die finale Ruheposition, eine Übung, die meinem zerquälten Körper gerade recht kam. Ich legte mich auf den Rücken, schloss die Augen und streckte getreu der Anweisung alle viere von mir.

»Folgt dem Licht eures Innenlebens«, gebot Paula.

Sosehr ich auch suchte, in mir drin war kein Licht, nur Dunkelheit.

»Hapüüüh«, schnorchelte ich bereits nach drei Sekunden und wachte erst wieder auf, als Coco an meinem Hemd zog.

»Du sollst nicht schlafen«, sagte sie. »Es geht um das wache Bewusstsein.«

Verwirrt blickte ich mich um. Die anderen Schüler waren bereits wieder in ihr erhabenes Leben zurückgekehrt, legten Matten zusammen, falteten Decken und hängten Gurte auf Haken.

Und ich?

»Ich bin gelähmt«, rief ich verzweifelt und versuchte hektisch aufzustehen. Doch das wurde von einem dumpfen Schmerz im Rücken verhindert.

»Hiiiilfe«, rief ich.

Sofort versammelten sich die anderen um mich und blickten zu mir herunter – allerdings so tatenlos, als wäre ich bereits gestorben. Auch Coco zeigte sich wenig hilfsbereit. Zum Glück kam Paula und half mir mit geübten Griffen wieder auf die Beine.

»Du bist über deine Grenzen gegangen«, konstatierte sie. »Ein typischer Anfängerfehler.«

»Ich kann nicht mehr laufen«, jaulte ich. Doch sobald der Satz draußen war, stimmte er schon nicht mehr. Natürlich konnte ich noch laufen – vielleicht nicht mehr so wie vorher, aber zumindest noch wie der Glöckner von Notre-Dame. Gebeugt und humpelnd erreichte ich die Umkleidekabine und riss mir mein Clownskostüm vom Leib.

»Alles wieder okay?«, fragte Coco besorgt.

»Wenn ich hier noch mal herkommen sollte, dann nur, weil ich endgültig verrückt geworden bin. Aber dann setz mir bitte ein Geweih auf und erkläre die Jagdsaison für eröffnet.«

»Hihihi«, kicherte Coco.

Auch ich musste lachen, und gemeinsam gaben wir uns nun einer ebenso sinnlosen wie unpassenden Heiterkeit hin. Denn wirklich nichts war lustig in unserem Leben. Pünktlich zur Halbzeit hatten wir alles gegen die Wand gefahren, und trotzdem benahmen wir uns wie Narren.

Unsere gute Laune hielt nicht lange an und verebbte, kaum dass wir auf die Straße traten. Es war kurz vor acht an einem Mittwochabend im März und dunkler als dunkel. In Berlin leuchteten die Straßenlaternen nie so hell und freundlich wie in anderen Städten, sondern glimmten nur. Coco und ich kamen wieder in unserem düsteren Alltag an und kurz darauf auch noch in einem Café mit heruntergedimmtem Licht. Wir bestellten Rotwein, was so etwas wie die Basis unserer Freundschaft war und an den Glanz vergangener Tage erinnerte. Mit Rotweingläsern saßen wir schon vor zwanzig Jahren jedes Wochenende auf Cocos Bett (beziehungsweise auf ihrer Bettdecke, auf der die Weiten des Alls im kosmischen Airbrush-Design auf zwei mal zwei Meter heruntergebrochen waren) und redeten über die Welt, genauer: über unsere Achterbahngefühle, das merkwürdige Verhalten unserer Mitmenschen und über die neurotischen Charaktere unserer Freunde. Wir selbst hielten uns für ganz und gar störungsfrei – wobei uns der Rotwein half. Natürlich hatten wir inzwischen einige Änderungen an unserer Selbst- und Fremdeinschätzung vornehmen müssen, dennoch tranken wir noch immer gern Rotwein.

»Und jetzt?«, fragte ich Coco im Bemühen, das Gespräch auf jenes Thema zu lenken, das Coco vor zwei Stunden noch die Tränen in die Augen getrieben hatte: ihren Sohn Henry und seinen bevorstehenden Auszug.

Doch Coco wollte offensichtlich lieber meine Probleme lösen als ihre eigenen.

»Jetzt solltest du Leo so schnell wie möglich das Atelier kündigen«, missverstand sie mich, sicher in voller Absicht.

»Ich meinte eigentlich …«, bemühte ich mich um Richtigstellung, wurde jedoch von ihr unterbrochen.

»… oder du sperrst ihm gleich die Kreditkarte«, sagte sie.

Coco hatte in letzter Zeit eine Neigung zu unseligen Motivationsreden entwickelt. Die Botschaft war natürlich immer dieselbe: Du führst dich lächerlich auf. So geht es nicht weiter. Es gibt nur eine Möglichkeit zur Kehrtwende – und zwar, wenn du das tust, was ich dir sage.

»… du kannst Leo nicht immer alles zahlen. Nicht nur um deinet-, auch nicht um seinetwillen. Ich glaube, du würdest ihm sogar helfen, wenn du ihn dazu bringst, sein Geld selbst zu verdienen«, sagte sie.

»Könnten wir vielleicht über was anderes reden?«, fragte ich.

Nein, offensichtlich nicht. Coco war nicht mehr zu stoppen und erläuterte mir noch, warum ich einfach zu nachsichtig mit Leo wäre und so weiter und so fort …

Vielleicht hätte ich ihr einfach eine von diesen Servietten, auf denen unsere Rotweingläser standen, in den Mund stopfen sollen. Aber Coco war schließlich meine beste Freundin. Und durften und mussten sich Freundinnen nicht auch solche Dinge sagen? Waren sie nicht sogar verpflichtet, aneinander emotionale Wurzelbehandlungen durchzuführen? Ja, sicher.

Trotzdem wollte ich es nicht hören.

»Du hast ja recht, aber …«, unterbrach ich sie

»Aber was?«

Ich holte Luft. »Aber … Leo ist gestern Abend wieder zurückgekommen, und wir haben uns wieder versöhnt.«

Coco blieb der Mund offen stehen, und ich konnte sehen, wie meine Worte ihre Wirkung auf ihrem Gesicht taten und ihre Gehirnwindungen aktivierten.

Auch mir blieb der Mund offen stehen – verblüfft über meine eigene Unverfrorenheit, mit der ich meine beste Freundin gerade angelogen hatte.

»Und das sagst du mir erst jetzt?«, empörte sich Coco.

»Tut mir leid!«, zuckte ich mit den Schultern. »Ich bin ja selbst noch ganz durcheinander.«

Das war ich tatsächlich. Was tat ich da nur?

»Und wie geht es jetzt weiter zwischen euch?«, erkundigte sich Coco.

»Leo hat mir versprochen, einen Job anzunehmen, und ich glaube, wir sind auf einem guten Weg«, verkündete ich mit feierlicher Miene.

Zur Strafe für meine Unaufrichtigkeit biss ich mir selbst auf die Unterlippe und nahm einen großen Schluck Rotwein zur Betäubung.

»Na, dann bin ich ja mal gespannt«, erwiderte Coco skeptisch.

»Und weißt du was? Ich glaube, Henry kommt auch bald wieder zu dir zurück. Lars hat doch gar keine Zeit, sich um ihn zu kümmern«, lenkte ich endlich ab.

Coco kommentierte meinen Themenwechsel mit einem vernichtenden Blick. Dennoch ließ sie sich auf mein Ausweichmanöver ein.

»Kann schon sein«, sagte sie. »Lars schafft es ja noch nicht mal, sich selbst ein Butterbrot zu schmieren, wie du weißt.«

Und ob ich das wusste. Ich hatte miterlebt, wie kläglich Lars dabei versagt hatte, seine Rolle als Familienvater mit jener Effizienz und Disziplin auszufüllen, die Coco für unverzichtbar hielt. Das und die zunehmende Alkoholisierung von Lars führten schließlich zu dem Drama jener Scheidung, über das Coco bis heute nicht von mir hinweggetröstet werden wollte.

Coco senkte ihren Blick auf den Lippenstiftrand an ihrem Weinglas und schwieg.

»Du darfst aber auf keinen Fall denken, dass du bei Henry in deiner Erziehung versagt hast«, versicherte ich ihr mitfühlend.

»Das denke ich doch gar nicht«, entfuhr es ihr empört. »Davon kann nun wirklich keine Rede sein.«

»Schon gut, so hab ich es nicht gemeint. Reg dich nicht auf«, sagte ich, doch natürlich regte sie sich trotzdem auf, und unter ihrem Make-up leuchteten die ersten roten Flecken. Coco wollte immer alles richtig machen, als Therapeutin und noch viel mehr als Mutter. Und das tat sie auch: Sie war tolerant, nachsichtig und immer gerecht. Aber Mütter, die so perfekt sind, sind für Kinder irgendwann nicht mehr zu ertragen. Sie ziehen dann lieber zu ihren Vätern, die viel trinken und ihnen noch nicht einmal ein Butterbrot schmieren. So ungerecht ist das Leben. Doch darüber mit meiner Freundin offen zu reden bedeutete, ein Minenfeld aus potentiellen Fettnäpfchen zu durchqueren.

Coco schnäuzte sich ausgiebig. »Er hat neulich Nazi zu mir gesagt«, sagte sie.

»Wer?«

»Na Henry!«

»Nazi«, rief ich entsetzt. »Ist er etwa rechtsradikal?«

»Quatsch. Nazis sagen doch nicht Nazi zu ihren Müttern.«

»Was ist denn dann los?«, fragte ich besorgt.

Coco seufzte. »Er isst nur noch Chips – morgens, mittags und abends. Und sobald ich ihn bitte, sich ausgewogener zu ernähren, beschimpft er mich als Kontrollfreak oder eben als Nazi«, erklärte sie mir.

»Das ist ja schrecklich«, pflichtete ich ihr bei. »Und jetzt hast du sicher Angst, dass er bald Mangelerscheinungen hat?«

Coco sah mich vorwurfsvoll an. »Ich habe keine Angst«, erwiderte sie und leerte ihr Glas in einem Zug.

Ich nickte auf eine Art und Weise, die ihr zu verstehen geben sollte, dass ich ihr glaubte, aber gern noch mehr hören würde.

Doch sie schwieg.

Fieberhaft suchte ich nach einer sinnvollen Fortführung dieses Themas, konnte jedoch keine finden.

»Na dann ist doch alles gut«, sagte ich schließlich.

Aber natürlich war gar nichts gut. Weder die Sache mit Henry noch die mit Leo. Und schon gar nicht die Sache zwischen Coco und mir. Ich kannte Coco seit der Grundschule. Damals waren wir noch Mädchen in einem kleinen Dorf in Bayern, die glaubten, das Wichtigste auf der Welt sei es, schön, selbstlos und nützlich zu sein. Doch jetzt waren wir erwachsene Frauen in der großen Stadt Berlin und hatten diese Lüge längst durchschaut. Aber was hatten wir davon? Massive Probleme und keine Gesprächsthemen mehr.

Kapitel 3Im Yogarausch

Das Leben ist eine Qual, und Yoga ist von allen Qualen die größte. Leben muss man trotzdem, Yoga machen nicht.

Dennoch fuhr ich am nächsten Abend wieder zu Yoga Yoga. Und obwohl mein Muskelkater geradezu unerträglich war, tat ich es am über- und übernächsten Abend ebenfalls. Schließlich sogar am Wochenende. Meine Knochen heulten bei der kleinsten Bewegung auf, schon morgens beim Aufdrehen der Kaffeedose. Doch selbst das hinderte mich nicht daran, auch am darauffolgenden Abend zum Yoga zu gehen.

Selbstverständlich ergaben sich dadurch einige Fragen. Erstens: War ich geisteskrank? Zweitens: Was zum Teufel war mit mir los? Und drittens: Warum bloß machte ich es mir nicht einfach auf meinem Sofa bequem und wartete, bis mein Liebeskummer, mein Muskelkater und dieser dumpfe Schmerz im Rücken verschwanden?

Die Antwort darauf war einfach: weil ich mich einsam fühlte. Und weil ich es mir nicht bequem machen konnte. Auf meinem Sofa lagen unzählige Polster und Kissen. Doch je weicher ich lag, desto aufgewühlter stand es um mein Innenleben. Ich lag in meiner Wohnung und zermarterte mir das Hirn mit der Frage, ob meine Beziehung nun tatsächlich an ihr Ende gekommen war oder vielleicht nur eine Pause brauchte. Ich quälte mich mit Vorwürfen, warum ich nur nicht meinen Mund gehalten hatte, und mit schrecklichsten Zukunftsvisionen, da ich nun vierzig Jahre alt war und vermutlich nie mehr einen Mann finden würde. Schließlich begann ich ausgefeilte Pläne zu Leos Rückeroberung zu schmieden. Erst wollte ich ihm einen Brief schreiben und ihn bitten, zu mir zurückzukommen. Falls er darauf nicht reagierte, plante ich, vor seinem Atelier zu campieren und zu warten, bis er herauskam. In kühnen Momenten erwog ich sogar, an der Fassade hochzuklettern, um durch ein Fenster in sein Atelier einzusteigen. Ich hoffte, damit sowohl Leo als auch mein Schicksal gnädig zu stimmen. Doch meine Verdrossenheit und natürlich auch mein anhaltender Muskelkater verhinderten solch abenteuerliche Aktionen, und am Ende beschränkte ich mich darauf, mich meinem Leid zu ergeben. Mein Hirn wurde mir dabei zum Folterinstrument, das mir die Tage zur Hölle machte. Kein Wunder, dass ich abends fertig war, meine Sachen packte und durch die halbe Stadt radelte, um meinen Körper in die absurdesten Stellungen zu zwingen. Auf der Flucht vor mir selbst verwandelte ich mich in aufwärts- und abwärtsgerichtete Hunde, Katzen, Kerzen und sogar in eine Schildkröte (ja, auch das ist eine Yogaposition, sogar eine besonders vertrackte, bei der man sitzenderweise den Kopf auf den Boden legt, während man seine Arme durch gespreizte Beine hindurchstreckt). Jede Art marternder Gedanken und Selbstgespräche findet hier ihr Ende, da alle Energie benötigt wird, sich stöhnend in die Positionen hineinzuquälen, aber genau das war meine Rettung. Wenn ich mich etwa beim Halbmond bemühte, auf einem Bein zu stehen, mich dabei gleichzeitig im Neunzig-Grad-Winkel nach vorn und zur Seite zu beugen und meine restlichen Gliedmaßen anmutig in die Luft zu strecken, setzte ein Effekt völliger Hirnleere bei mir ein. Natürlich sah es alles andere als anmutig aus, befand ich mich dabei im Ringkampf mit den Grenzen der Physik. Aber zumindest vergaß ich darüber mein Leid mit Leo. Ich zwängte mich in die Kobra und in den Frosch – Übungen, die natürlich nur so hießen, weil man dabei auch genau so aussah und seine Reflexionsfähigkeit auf die Kapazität besagter Amphibien runterfuhr. Name? Wohnort? Beruf? Keine Ahnung. Ich wusste nach diesen Positionen noch nicht mal mehr, ob ich überhaupt schon geboren war.

Am Ende jeder Yogastunde war mein Kopf wie leergefegt, und wohl genau deshalb schwebte ich beschwingt in die dunkle Nacht hinaus. Yoga hatte den gleichen Effekt auf mich, als würde ich gleichzeitig die Haare geschnitten, den Nacken massiert und die Schuhe geputzt bekommen. Es verschaffte mir so gute und unkomplizierte Gefühle wie schon lange nicht mehr. Natürlich war diese neue innere Harmonie eine Illusion, eine durch ausgeklügelte Körperpositionen ausgelöste Verblendung, deren Wirkung leider nur kurz anhielt, im Höchstfall eine Stunde. Danach war leider alles wieder beim Alten, und ich fand mich in der Depression meines Alltags wieder. Trotzdem oder vielleicht genau deshalb gierte ich nach Wiederholung – wie eine Heroinsüchtige nach dem nächsten Schuss. Coco und den anderen Yogaschülern ging es genauso. Ich sah die immergleichen Gesichter im Unterricht, und alle brannten sie auf den Schmerz der Dehnungen und Streckungen. Paula war unser Dealer und wusste genau, welche Dosis jeweils die richtige für uns war. Sie verfügte über ein geheimes Wissen, mit welchen Übungen und Positionen sie unsere Körper und Seelen traktieren musste, um sie gefügig zu machen. Am Ende jeder Stunde, wenn wir wie schlaffe Stofftiere auf unserer Matte lagen und daran dachten, nichts mehr zu denken, setzte sich Paula im Lotussitz vor uns hin und begann mit Trällerstimme von der Philosophie des Yoga zu erzählen. Ganz selbstverständlich gingen ihr dabei Begriffe wie »Erleuchtung«, »innerer Friede« und »Seligkeit« über die Lippen. Sie berichtete vom »Universum und seiner liebenden Energie« und betonte immer wieder die Notwendigkeit unserer »Transformation und Persönlichkeitsentwicklung«.

Früher wäre ich bei der Erwähnung solcher Vokabeln postwendend davongelaufen. Doch jetzt lag ich erschöpft am Boden und kam nicht weg. Meine Einsamkeit und Verzweiflung hatten mich wehrlos gemacht. Ich brauchte so sehr Zuspruch und menschliche Zuwendung, dass mir diese Heilsversprechen verheißungsvoll schienen. Paulas Worte rauschten direkt in mein emotionales Vakuum und erfüllten mich wie der Staub den Staubsaugerbeutel. Genauso wenig wie der Staubsauger kam ich dabei auf die Idee, den Staub zu hinterfragen. Ich fragte nicht, warum das Universum liebend sein und ich mich transformieren sollte. Ich saugte alles auf und klammerte mich an die Hoffnung, meine schrecklichen Gefühle irgendwann wieder in schöne verwandeln zu können.

In einer aufrechten Sitzposition, die niemals eine Stuhllehne benötigt, erzählte uns Paula auch von ihrem indischen Guru Dulali und seinen Lehren. Dieser Mensch mit dem merkwürdigen Namen sagte viel, vor allem, dass Yoga toll sei, uns zu besseren Menschen mache und wir uns allesamt bereits auf dem Weg zur Erleuchtung befinden. Natürlich sagte er es mit anderen Worten, aber grob gesagt, war das die Botschaft, und sie reichte völlig aus, um mich in der Überzeugung zu wiegen, dass alles gut werden würde, und zwar auch in meinem Leben.

Und so überraschend es auch war – es wurde wirklich alles gut.

Nach sieben Wochen Trennung kündigten ein Morgenhimmel mit rosa Wölkchen und zwei Stubenfliegen in meinem Schlafzimmer das Kommende an. Nur verstand ich diese Zeichen damals noch nicht: Ich war blind und hatte keinen Blick für das Transzendente.

Ohne jegliche Vorahnung loggte ich mich also in mein Home-Office ein und verband mich mit der Pharmaindustrie. Seit Jahren arbeitete ich für die international agierende Firma »Zemico« als Texterin für Nahrungsergänzungsmittel, was hieß, dass ich all die Worthülsen erfand, die Einschlafdragées beruhigender und Vitamine gesünder scheinen ließen. Jeden Tag dachte ich mir neue Floskeln aus, die dann auf Tablettenpackungen und Beipackzetteln erschienen.

Beruflicher Stress und Leistungsdruck, ständige Reizüberflutung und Spannungen im sozialen Umfeld führen häufig zu innerer Unruhe und Nervosität, schrieb ich. Baldrian-Einschlafdragées helfen Ihnen beim Ein- und Durchschlafen.

Als diplomierte Biologin hätte ich eigentlich lieber die Natur erforscht und am allerliebsten Vögel studiert. Das war eine Disziplin, die ich vor allem in meiner Jugend und Studienzeit intensiv zwischen Baum und Busch betrieben hatte. Doch jetzt brachte ich die Menschheit entweder zum Einschlafen oder dazu, sich irgendwelche Pillen einzuwerfen. Ich verbreitete mit meinen einlullenden Worten schöne Illusionen und verdiente damit Geld, sehr viel sogar. Es war erschreckend, dass die Produktion sprachlicher Banalitäten so einträglich war, während Leos Kunst mit all ihren hehren Ansprüchen es ganz und gar nicht war. Dabei war er ein so vielversprechender Maler und Bildhauer. Gut, ich mochte ein Problem mit seinen Gitterbildern haben, dennoch war ich im Großen und Ganzen von seinem Talent überzeugt. Seine gemalten Vorstadtidyllen, auf denen statt Menschen viele Rasenmäher zu sehen waren, begeisterten mich, und ich liebte seine Miniaturmöbel, die er für einen Flohzirkus geschnitzt hatte. Selbst diese überlebensgroße Wachsskulptur, die rechts hinten in seinem Atelier stand und aussah wie ein lavaspeiender Vulkan auf zwei Armen und Beinen, mochte ich. Die Plastik trug den Titel »Meine Mutter« und zeugte von der feurigen und konfliktreichen Beziehung, die Leo zu ihr hatte. Die Mutter war inzwischen gestorben, die Probleme, die Leo mit ihr hatte, waren es noch lange nicht.

So ist das oft im Leben. Die Menschen gehen, aber die Probleme bleiben. Mit Leo und mir verhielt es sich eigentlich genauso. Selbst nachdem Leo unsere gemeinsame Wohnung verlassen hatte, dauerte das Problem unseres finanziellen Ungleichgewichts an, und Leo benutzte weiter meine Kreditkarte. Jeden Morgen verfolgte ich online die Abbuchungen von Lebensmittelläden und Restaurants, in denen er gegessen hatte. So nahm ich an seinem Leben teil, das er doch seit Wochen ohne mich führte. Es waren die einzigen Botschaften, die ich von ihm noch erhielt, und vielleicht dauerte es deshalb so lange, bis ich angemessen darauf reagierte – und explodierte. Auslöser des Wutausbruchs waren 449,90 Euro für einen weißen Designheizkörper, Modell »New York«.

Wozu zum Teufel brauchte Leo einen Heizkörper mit New-York-Design? Es war Frühling, verdammt noch mal! Er lebte in Berlin und nicht in Sibirien. Ich griff zu meinem Handy und tippte die Wahlwiederholung.

Zu meiner großen Überraschung hob Leo ab.

»Ja«, sagte er.

Einfach »ja«. Nach sieben Wochen meldete er sich mit einem einfachen Ja. Was sollte das bedeuten?

»Du lebst also noch«, sagte ich.

»Du auch.«

»Wieso bist du nie ans Telefon gegangen?«

»Ich dachte, wir bräuchten Abstand.«

»Und jetzt denkst du das nicht mehr?«

»Interessiert dich, was ich denke?«, fragte Leo.

»Jedenfalls denke ich, dass du diesen Designheizkörper wieder zurückbringen wirst.«

»Es ist kalt im Atelier«, verteidigte er sich.