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Girls like Girls – der erste Roman von Pop-Ikone Hayley Kiyoko Es ist Sommer und nach dem Tod ihrer Mutter fühlt sich die siebzehnjährige Coley allein. Bis sie Sonya trifft, in die sie sich Hals über Kopf verliebt. Immer wenn die beiden allein sind, spürt Coley, dass Sonya ihre Gefühle erwidert. Doch in Gesellschaft anderer vermag Sonya nicht zu Coley zu stehen. Vor allem nicht in Gegenwart von Trenton, mit dem sie eine On- und Off-Beziehung verbindet. Coley will sich so kurz nach dem Verlust ihrer Mutter nicht schon wieder das Herz brechen lassen und zieht sich von Sonya zurück – endgültig, das nimmt sie sich fest vor …
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Seitenzahl: 377
Nach dem Tod ihrer Mutter musste die siebzehnjährige Coley nach Oregon umziehen, wo sie sich einsam und verloren fühlt – wieder einmal. Bis sie Sonya trifft, in die sie sich Hals über Kopf verliebt. Immer wenn die beiden allein sind, spürt Coley, dass Sonya ihre Gefühle erwidert. Doch in Gesellschaft anderer vermag Sonya nicht zu ihr zu stehen. Vor allem nicht in Gegenwart von Trenton, mit dem Sonya eine On- und Off-Beziehung führt. Coley ist sich nicht sicher, ob sie es überhaupt wert ist, geliebt zu werden. Schließlich haben alle, die sie je geliebt hat, sie verlassen. Sie will sich nicht schon wieder das Herz brechen lassen und zieht sich von Sonya zurück – endgültig, das nimmt sie sich fest vor …
Eine herzzerreißende Liebesgeschichte von der Pop-Ikone der LGBTQ+-Community, inspiriert von Hayley Kiyokos weltberühmter Hitsingle »Girls Like Girls«
HAYLEY KIYOKO
GIRLS LIKE GIRLS
SAG MIR NICHT,WIE ICH MICH FÜHLE
Roman
Aus dem amerikanischen Englischvon Yola Schmitz
Dieses Buch behandelt potenziell belastende Themen wie Suizidgedanken und Referenzen zu Suizid. Ratsuchende können sich an das Kinder- und Jugendtelefon und die Online-Beratung von Nummer gegen Kummer e. V. wenden. Das Kinder- und Jugendtelefon ist unter der Nummer 116 111 montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr und die Online-Beratung (www.nummergegenkummer.de) rund um die Uhr für junge Menschen da.
Dieses Buch ist allen gewidmet, die sich jemals hoffnungslos gefühlt und nicht an ein Happy End für sich geglaubt haben.Ihr seid es wert.
Soll ich dir ein Geheimnis verraten?
Mal im Ernst, hat irgendjemand darauf schon mal mit Nein geantwortet? Selbst wenn du davon überzeugt bist, dass die Antwort dich fertigmachen wird, gibt es da einen kleinen Teil in dir, der unbedingt Ja sagen will, oder nicht? Einen Teil, der es unbedingt wissen muss.
Ich kenne mich mit Geheimnissen aus. Mit den guten – ich weiß von Weihnachtsgeschenken und vom Schuleschwänzen und wo die Zuckerstreusel für den Geburtstagskuchen versteckt sind – und mit den schlimmen, die an dir nagen, bis sie sich irgendwann in einem Urschrei lösen. Und ich kenne auch die ganz schlimmen Geheimnisse, die eigentlich eher Lügen sind: Es geht mir gut, Coley (ging es ihr aber nicht). Ich werde mich bei meiner Therapeutin melden (tat sie aber nie). Ich bin hier, wenn du aus der Schule kommst (Lügen, Lügen, nichts als Lügen).
Es war einmal vor langer Zeit, da hatte ich das alles im Griff. Es war ein Balanceakt zwischen den Geheimnissen meiner Mutter und meinen eigenen, denn nie durften sie sich kreuzen. Aber irgendwann brach alles in sich zusammen.
Und nun habe ich keine Mutter mehr und einen Vater, der dem Namen schlicht nicht gerecht wird, und viel zu viele Dinge brodeln mir unter der Haut. Geheimnisse, die eigentlich eher Wahrheiten sind, wenn man das ganze Drama abzieht.
Ich bin nicht wie die anderen Girls.
Und nein, das meine ich nicht auf diese beschissene Art, wie manche Typen es einem als Kompliment verkaufen wollen. Glaub mir, so blöd bin ich nicht.
Man sieht all die Filme, hört die ganzen Songs, liest jede Menge Liebesgeschichten, und alle sagen sie dir, wie es zu laufen hat:
Da ist ein Mädchen mit Zöpfen und Sommersprossen auf rosigen Wangen. In zerrissenen Jeans und bunten Sneakers tanzt und hüpft es durchs Leben. Das Mädchen hat keine Sorgen, es stellt sich keinerlei quälende Fragen. Es gibt kein Was, wenn du …
Das Mädchen wächst auf, verliebt sich in den tollpatschigen Jungen von nebenan oder den Football-Spieler, der auf einmal nicht mehr trifft, oder den ruhigen Streber, der seine wahre Größe erst noch zeigen muss (und natürlich irgendwann ein Makeover bekommt und sich als superheiß entpuppt; seien wir ehrlich, das darf nicht fehlen). Und dann reitet das Mädchen Arm in Arm mit diesem Typen ins Happy End. Dieser Weg ist so abgetreten, dass er in der Mitte mittlerweile wohl eine Senke hat. Das ist der Weg, den du gehen sollst. Alle erwarten von dir, dass du ihn einschlägst.
Aber du, ein Mädchen, das nicht wie andere Mädchen ist … du siehst diesen Weg hinab und er kommt dir nicht strahlend hell vor. Der Gedanke daran löst bei dir nicht die Gefühle aus, von denen in all diesen Songs und Geschichten die Rede ist. Aber diese Songwriter haben ja nicht gelogen. Das heißt, vielleicht gibt es da ein Geheimnis, das du sogar vor dir selbst verheimlichst.
Du verdrängst es. Du ignorierst es, bis es wie eine vernachlässigte Pflanze einfach eingeht. Aber am Ende bist du es, die dabei eingeht.
Und eines Tages wird dir klar: Es geht gar nicht darum, dass du nicht wie andere Mädchen bist.
Du hast nur nie ein Mädchen kennengelernt, das so ist wie du.
Bis es auf einmal passiert. Du begegnest ihr.
Und plötzlich ergeben all die Songs einen Sinn.
Online-Tagebuch: SonyatSunrisex00x (öffentlich)
Datum: 8. Juni 2006
[Stimmung: bäh]
[Musik: »SOS« – Rihanna]
Langeweile. Langeweile. Langeweile.
In dieser Stadt passiert nie was. Außer, dass es immer heißer wird. Vielleicht war an dem Film von diesem Al Gore doch was dran.
Jetzt rede ich schon übers Wetter, ihr Süßen. Bitte erlöse mich jemand von diesem grausamen Schicksal! Bitte sagt mir, dass es irgendwo eine Party gibt oder zumindest einen Plan oder dass morgen etwas passiert. Ich brauche unbedingt eine Ablenkung.
xooxSonya
Kommentare:
T0nofTrent0nnn:
Ich kann dich jederzeit gerne ablenken.
SonyatSunrisex00x:
Boah, Trenton. Das habe ich nicht gemeint.
SJbabayy:
lol, Trenton, denkst du auch mal an was anderes?
SJbabayy:
Bock, den Club morgen auszuchecken? Alex meint, er kennt jemanden, der uns reinbringt.
SonyatSunrisex00x:
Unbedingt! Ruf Alex an!
MadeYouBrooke23:
Hat Trenton dir nichts gesagt? Ich hab’s ihm erzählt, als wir im Piercing-Studio waren. Morgen ist Lake Day, Baby! Aber wir müssen warten, bis meine Mom in der Arbeit ist. Sie ist immer noch sauer wegen meinem Nabelpiercing.
SJbabayy:
Was? Du hast dir den Bauchnabel piercen lassen und mich nicht gefragt, ob ich mitkomme?
SJbabayy:
Warum warst du mit Trenton unterwegs?
SonyatSunrisex00x:
Genau, Brooke. Warum warst du mit Trenton unterwegs?
MadeYouBrooke23:
Er hat mich gefahren, weil ich nicht das Auto meiner Mom nehmen konnte wegen ihrem Anti-Piercing-Terror. Schon vergessen? Das habe ich euch erzählt, ihr Spinner!
SonyatSunrisex00x:
Egal. Dann ruf an, wenn du am See bist.
Das Problem ist: Ich gehöre eigentlich nicht hierher. Nicht dass ich jemals das Gefühl gehabt hätte, irgendwohin zu gehören. Ich bin niemals weiß genug. Niemals asiatisch genug. Niemals … genug.
Und trotzdem bin ich hier, am Arsch der Welt, in Oregon. Wo es mehr Bäume gibt als Menschen.
Mir fehlt der Klang von Leben, versteht ihr? Menschen auf den Straßen. Sirenen. Das Hupen und die Gespräche und Lichter und das Brummen, das durch dichtes Aneinanderwohnen entsteht.
Aber hier ist es still und weitläufig und die Grillen zirpen, sie zirpen hier ernsthaft. Die Schatten der Bäume machen alles noch grüner, bis man selbst auch ihre Farbe annimmt und genauso gut ein Waldschrat sein könnte.
Ich habe hier nichts verloren, aber trotzdem bin ich hier. Mitten im Nichts in Oregon mit einem Vater, der zwar nicht gänzlich verloren ist, aber bisher absolut unbrauchbar war. Vielleicht zwingen die Umstände manchmal auch die unbrauchbarsten Väter, sich der Situation zu stellen. In meinem Fall waren die Umstände die, dass es einfach sonst niemanden mehr gab.
Meine Mutter ist weg. Und das fühlt sich zugleich real und total unwirklich an.
Ich wollte nicht hierherziehen. Das habe ich ihm auch gesagt, als mir klar geworden ist, was er für ein Typ ist. Das hat ganze zehn Sekunden gedauert, nachdem ich durch die Tür getreten war und diesen dürren ergrauten Typen vor mir sah.
Vielleicht war er doch irgendwie verloren. Verloren in Erinnerungen, die nicht weiter als bis zu meinem dritten Lebensjahr zurückreichen. Mir fällt es nicht leicht, mich an Dinge zu erinnern, die so lange her sind.
Und jetzt muss ich mich auch nicht mehr erinnern. Jetzt erlebe ich es. Lebe mit ihm. Im grünen Land der Stille und ohne öffentliche Verkehrsmittel.
Es ist, wie man so schön sagt, abgefuckt.
Ich weiß, ich sollte froh sein, dass Curtis mich nicht im Stich gelassen hat. Sonst wäre ich im Heim gelandet. Vermutlich sollte ich irgendwie dankbar sein.
Aber da haben wir die Latte nicht besonders hoch gelegt, wenn ihr mich fragt. So läuft es im Moment nun mal in meinem Leben. Mir sind nur lausige Strohhalme geblieben, und weil ich außer ihnen nichts habe, versuche ich verzweifelt, sie zusammenzuhalten.
Curtis hat keine Ahnung davon, Vater zu sein. Und selbst wenn er es noch herausfindet, ich habe absolut keine Ahnung, wie es ist, einen Vater zu haben. Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass man nur auf sich selbst bauen kann. Also sieht es für uns beide ziemlich bitter aus und wir zählen heimlich die Tage, bis ich achtzehn bin, ausziehen kann und er mich wieder los ist.
So niedrig ist die Latte. War es das, was Mom sich für mich gewünscht hat? Gott … wem mache ich etwas vor?
Sie hat nicht an mich gedacht. Ich muss mir immer wieder sagen, dass sie nicht an mich gedacht hat. Hätte sie an mich gedacht, wäre mein Name oder mein Blick oder mein Lächeln oder sonst irgendwas von mir durch den dichten Nebel gedrungen, der sich auf sie gelegt hat, dann hätte sie es nicht getan. Der Gedanke an mich hätte sie aufgehalten. (Denn ich war nicht da gewesen, um sie aufzuhalten.)
Wie gesagt, ich klammere mich an Strohhalme.
Schon bevor der Wecker klingelt, bin ich wach. Ich schalte ihn aus und ziehe mir die Decke wieder über den Kopf, obwohl es um neun in der Früh schon verdammt heiß ist. In der Küche höre ich Curtis, der sich gleich auf den Weg in die Arbeit macht, und verstecke mich unter der Decke. Er ist rastlos. Eine rastlose Seele. So hatte sie ihn immer genannt, wenn ich sie, als ich noch klein und neugierig war, dazu gebracht hatte, mir von ihm zu erzählen. Als ich noch klein war und dachte: Vielleicht kommt er zurück.
Sie lächelte, wenn sie ihn so nannte, aber es war ein bittersüßes Lächeln. Als ob sie sich nie sicher war, was sie von ihm halten sollte. Ob sie das wohl je gewusst hat?
Hatte sie am Ende Klarheit?
Empfand sie Reue?
Drang irgendwas durch den dichten grauen Nebel, der sie und unser Apartment und unser Leben diese letzten Monate umgeben hat, bevor …
Ich kann nicht weiter darüber nachdenken. Sonst denke ich an jenen Tag und die Wochen zuvor und die Monate, in denen ich mir immer wieder eingeredet habe, alles sei in Ordnung, obwohl ich wusste, nichts war in Ordnung. Am Ende dreht es sich immer wieder um das Gleiche: Warum hast du es nicht besser gemacht, Coley? Warum bist du nicht schneller draufgekommen? Wieso war dir nicht klar, wie übel alles war?
Auf diese Fragen gibt es keine guten oder einfachen Antworten, also werde ich sie eben weiter verdrängen, alles klar?
Curtis verlässt das Haus und nun ist niemand außer mir da, sodass ich keine peinliche Stille am Frühstückstisch riskiere. Ich werfe die Decke zurück. Seit über einer Woche bin ich schon hier, aber meine Kisten habe ich noch nicht ausgepackt. Wenn ich auspacke, dann ist es real.
Doch ich mache mir nichts vor. Ich weiß, dass ich hier festsitze. Ich zögere das Auspacken nur etwas raus. Auch wenn es unvermeidlich ist. Daher gibt es ja die ganzen Sprichwörter über Leute, die das Unvermeidliche hinauszögern. Das ist nur menschlich, oder?
Ich bin vollkommen normal.
Curtis hat Kaffee gemacht. Einen Moment starre ich ihn an und frage mich, ob das ein Friedensangebot ist. Am zweiten Morgen hier hat er mich angeblafft, als ich Kaffee getrunken habe. Als ob das mein Wachstum oder so behindern könnte. Als ob er etwas zu sagen hätte nach all den Jahren, die er nichts von mir wissen wollte.
Falls das ein Friedensangebot ist, macht es mich noch wütender, als wenn er ihn einfach nur dort hat stehen lassen. Ich weiß, ich sollte dankbar sein … und ein Teil von ihm ist sicher verwirrt, dass ich es nicht bin.
Da ist sie wieder, die tief liegende Latte. Eine Ameise könnte darüberhüpfen.
Am Kühlschrank hängt ein Zettel mit einem Zwanzigdollarschein unter einem Magneten in Traubenform: »Die Spedition hat dein Rad gebracht. Geh raus und finde Freunde.«
Ich stecke den Geldschein ein und werfe den Zettel weg. Dabei konzentriere ich mich, um nicht an die unzähligen Zettel zu denken, die ich irgendwo in den nicht ausgepackten Kisten in einer Dose aufbewahre. Meine Mutter hat ständig etwas auf Zettel gekritzelt und an den Kühlschrank gehängt. Zitate und Songtexte und Sinnsprüche. Manchmal, wenn es ihr schlecht gegangen war und sie sich wieder aufrappelte, erkannte ich es daran, dass sie den Kühlschrank wieder mit Zetteln bestückte. Aber das war keine Garantie.
Zumindest nicht beim letzten Mal.
Geh raus und finde Freunde. Er schreibt das so, als wäre es einfach. Als ob ich irgendwas gemeinsam hätte mit denen hier draußen. Vielleicht gibt es ja noch eine andere hier draußen, die versucht, das Unvermeidliche aufzuschieben. Aber das kann man wohl kaum bei der ersten Begegnung fragen. Das wäre einfach nur schräg.
Aus Trotz überlege ich, den ganzen Tag hierzubleiben. Aber ich kenne Curtis noch nicht gut genug, um zu wissen, wie er darauf reagieren würde. Er hat mich bisher nicht angeschrien oder so. Aber man weiß nie. Ich kenne nur ein paar Geschichten über ihn von vor fünfzehn Jahren und ich weiß, dass es ihm damals nicht schwergefallen ist, mich zurückzulassen.
Außerdem wäre es die Hölle, in diesem Haus mit seinem Sumpfkühler und ohne richtige Klimaanlage zu bleiben. Also schnappe ich mir mein Fahrrad und fahre los. Vielleicht bleibe ich bis spätnachts unterwegs. Er kann schließlich nicht behaupten, dass er sich Sorgen um mich macht. Oder dass ich zu einer bestimmten Zeit hätte zu Hause sein sollen.
Er hat vermutlich nicht einmal daran gedacht, mir zu sagen, wie lange ich unterwegs sein darf. Amateur.
Das Viertel, in dem Curtis lebt, ist etwas heruntergekommen, versucht aber, ordentlich zu wirken. Im Grunde nicht anders als er. Die Häuser sind alt und so gut in Schuss, wie es eben geht, wenn man es sich eigentlich nicht leisten kann. In den kleinen Vorgärten ist das Gras zwar gemäht, hat aber trockene Stellen. Sogar die Erde weiß, dass es keinen Sinn hat. Sie hat aufgegeben.
»Howdy!«
Was für ein seltsamer Gruß. Ich starre die Dame, die ihn geäußert hat, nur an, als ich vorbeisause.
»Äh, ja!«, rufe ich dämlich über die Schulter zurück. Aber im Ernst, wer sagt schon Howdy? Muss ich mich etwa darauf einstellen? Das wäre scheiße. Schule wird scheiße. Jetzt sind zwar Sommerferien, aber Curtis wird mir sicher nicht erlauben, das letzte Jahr ausfallen zu lassen.
Ich fahre weiter und über die große Steinbrücke. Sie hat keinen Radweg oder Gehweg, trotzdem hupt der Lkw-Fahrer hinter mir alle paar Sekunden, obwohl ich schon so schnell fahre, wie ich kann. Schließlich zieht der Typ an mir vorbei, aber nicht ohne mir einen Vogel zu zeigen. Nette Demonstration von Kleinstadtfreundlichkeit.
Während der Fahrt entlang der Bahngleise überlege ich mir, einfach auf den nächsten vorbeirauschenden Zug aufzuspringen und ins Ungewisse zu reisen.
So etwas wäre typisch für meine Mutter gewesen. Sich den Zugwind um die Nase wehen lassen oder wie auch immer man dazu sagt – es gibt bestimmt eine coolere Bezeichnung. Meine Mutter war furchtlos. Genau der Typ Mensch, der auf einen Zug springt und einfach alles hinter sich lässt.
Wir waren immer ein Team, sie und ich. Aber wir spielten ein Spiel, zu dem ich die Regeln nicht kannte, und am Ende verloren wir beide. Mir ist in letzter Zeit viel verloren gegangen.
Endlich entdecke ich Anzeichen von Zivilisation nach den endlosen einsamen Häuschen und Bäumen. Es ist so heiß, dass es am Horizont flimmert, und die Mall wirkt geradezu magisch statt nur wie ein Ort mit der ersehnten Klimaanlage. Mir läuft der Schweiß den Nacken runter, als ich auf den Parkplatz einbiege. Hier gibt es ein chinesisches Restaurant, ein Sonnenstudio, das den Namen Sunkissed trägt und eine gruselige Sonne mit Kussmund als Logo hat … und zum Glück auch eine Spielhalle mit einem großen Schild, auf dem steht: »Klimatisiert«. Einige Läden sind verrammelt und ein paar Typen skateboarden über die Temposchwellen. Hier im Land der Bäume und Landstraßen muss man schließlich jeden Meter Asphalt nutzen.
Ich steige vom Rad und schiebe es in Richtung Spielhalle, wo ich es gut abschließen kann. Muss ich das hier in Oregon überhaupt? Oder werden hier keine Fahrräder geklaut? Doch. Natürlich. Die Leute klauen überall.
Quietsch! Ich höre Reifen über Asphalt rutschen und wirble so schnell herum, dass ich stürze und mir die Ellbogen auf dem Boden aufschürfe. Mein Fahrrad landet auf mir und das Pedal bohrt sich mir schmerzhaft in den Oberschenkel. Dann sehe ich einen Minivan auf mich zurasen.
Ich sehe mein Leben nicht an mir vorbeirauschen. Ich denke nur Oh und dann Shit! und dann …
Nichts mehr.
Ich kneife die Augen fest zu. Es dauert, bis mir auffällt, dass der Aufprall nicht kommt. Ich muss mich zwingen, die Augen aufzumachen, alles an mir bereitet sich auf den Zusammenstoß vor.
»Verdammte Scheiße!«
»O mein Gott, Trenton!«, höre ich ein Mädchen rufen.
»Was denn?! Die ist aus dem Nichts aufgetaucht!«
»Du Vollidiot!«, blafft sie ihn an und ich muss ihr zustimmen: Trenton ist wirklich ein Vollidiot.
Ich stehe langsam auf und zucke vor Schmerz. Als ich aufsehe, grinst mich der Fahrer, der mich gerade beinahe umgebracht hätte, an, als würde sein Charme mich irgendwie beeindrucken. Auf dem Beifahrersitz sitzt noch ein Typ, der grinst aber nicht. Er sieht so erschrocken aus, wie ich mich fühle.
»Trent! Ich glaube es nicht«, ruft das Mädchen aus dem Fenster. Dann geht die hintere Tür auf und sie steigt aus. Sie trägt ein bauchfreies gestreiftes Hemd. Manche Mädchen können einfach alles tragen. Sie ist groß und hat lange sonnengebräunte Beine. Dunkles Haar fällt ihr über die Schultern. Sie streicht es sich hinters Ohr und eilt auf mich zu. Ich beobachte jede ihrer Bewegungen, bleibe bei der Farbe ihres Nagellacks hängen, er hat diesen seltsamen Ton zwischen Lila und Blau: Flieder.
Jetzt stockt mir noch mehr der Atem als zuvor auf dem Boden. Als ich damit rechnete, zermatscht zu werden.
Ihre dunklen Augen – endlos dunkle, furchtlose Augen – sehen in meine und es kommt mir vor, als ob ich ein zweites Mal fast überfahren werde. Eine Flut an Gefühlen überrollt meine Sinne.
Ich kann mich nicht lösen. Kann meine Perspektive nicht ändern.
Sie ist das Einzige, was ich sehe.
»Alles in Ordnung?«, fragt das Mädchen.
Ihre Schönheit ist nicht zu leugnen. Bei manchen Mädchen ist das Geschmackssache. Ich will hier kein Arsch sein. Ich gehöre auf jeden Fall in die Kategorie »manche Mädchen«. Eher niedlich als schön, versteht ihr? So ist es nun mal. Da bin ich realistisch.
Aber dieses Girl ist schlicht wunderschön. Ich-habe-vergessen-was-ich-sagen-wollte-schön. Nach ihr dreht man sich um.
Sie sieht mich direkt an und ich muss mich konzentrieren, um ihr zu antworten. Aber ich bin wie versteinert. Der Depp von einem Fahrer steht rum und lacht, als ob es das Witzigste auf der Welt wäre, dass mein Rad auf dem Boden liegt.
»Hallo?« Das Mädchen wedelt ungeduldig mit der Hand vor meinem Gesicht.
Ich knurre sie an. »Ja. Alles gut.«
Sie sieht sich zu dem großen Jungen hinter ihr um, versucht, ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen zu bringen, aber als sie sich wieder zu mir umdreht, scheint sie trotzdem über sein Verhalten zu grinsen.
Ich ächze und schnappe mir mein Fahrrad, um es abzuschließen. Ich komme wieder in der Realität an, denn dieser Tag läuft bisher wirklich beschissen. Obwohl der Arsch mich natürlich auch tatsächlich hätte überfahren können statt nur fast.
Heute habe ich es mit den niedrigen Latten wirklich drauf.
»Du bist aus dem Nichts aufgetaucht!«, ruft der Junge mir nach, als ich in Richtung der Spielhalle wegstampfe. Meine Wangen brennen und ich muss mich zusammenreißen, ihm nicht den Marsch zu blasen. Stattdessen schließe ich mein Rad an einen der Pfosten und gehe rein. Ich versuche, meinen Magen zu beruhigen. Und als das nicht klappt, versuche ich mir einzureden, dass es an der Nahtoderfahrung liegt.
Adrenalin löst merkwürdige Dinge aus. Ich muss mich nur etwas abkühlen.
Aber das wird komplizierter als gedacht, denn die Klimaanlage, mit der die Spielhalle angegeben hat, stellt sich als Ventilator heraus, der sich nicht einmal dreht. Großartig, einfach großartig. Zu Hause wäre es kühler.
Immerhin gibt es eine leichte Brise. Im Moment bin ich für alles dankbar, bevor ich mich wieder auf den Weg zurück mache.
Der Rest der Spielhalle ist schummrig beleuchtet, aber die Automaten, drei schwere Kästen nebeneinander, geben schwaches Licht ab. Dahinter gibt es Tischfußball und Airhockey-Tische. Rechts von mir ist ein Bistro mit alten Resopaltischen. Ich setze mich direkt vor den Ventilator und schließe die Augen. Versuche, mich zu beruhigen.
»Alter, der Typ im Club war kurz vorm Herzinfarkt«, höre ich eine männliche Stimme neben mir. »Er hatte keine Chance! Und SJ! Bäm! Einfach aus den Latschen gekippt.« Er lacht laut.
Ich versuche, ihn zu ignorieren.
»Du musst aufhören mit dem Scheiß, Trenton«, weist ihn jemand zurecht. Der andere Junge. »Ich hätte beinahe einen Asthmaanfall bekommen.«
Ich öffne die Augen.
»Was, wenn SJ sich verletzt hat?«
Das ist ihre Stimme. Wieso weiß ich das? Ich habe sie schließlich nur ein paar Worte sagen hören.
»Du hast dich auch nicht um SJ gekümmert, Sonya«, schnaubt Trenton.
Dieser Ventilator kann gar nichts, daher wedle ich mit dem Saum meines T-Shirts, um etwas Luftzug zu erzeugen. Gott, ist es heiß.
»Hey.«
Der Idiot, der nicht fahren kann, hat genug geredet, dass ich auch seine Stimme jetzt erkenne. Also drehe ich mich nicht um.
»Hey, Süße.«
Er ist wie ein Hund mit einem Knochen, nur sind Hunde meist besser erzogen als solche Typen.
»Lass sie in Ruhe«, sagt der andere.
»Ich bin nur freundlich! Na los, komm rüber zu uns.«
Ich sehe über die Schulter und an ihm vorbei, als der andere Junge Trenton den Mund zuhält und er sich wegduckt. Mein Blick wandert zu ihr: Sonya hat er sie genannt. Sie sitzt zwischen den beiden an einem der Resopaltische. Als sie zu mir sieht, stehe ich auf. Trenton macht ein zufriedenes Geräusch, als ob ich seinetwegen rüberkäme. Aber sie grinst, als ob sie es besser wüsste.
»Willst du was?«, frage ich Trenton.
Bevor er antworten kann, wird die Tür zur Spielhalle so dramatisch aufgeworfen, dass die Tische wackeln. Ein Mädchen mit Pony und Pferdeschwanz und aufgeschürften Knien kommt auf uns zu. »Was zum Teufel, Leute?« Sie faucht die drei an und lässt sich in den leeren Stuhl neben mir fallen. »Ich glaub es nicht, dass ihr mich mit dem angepissten Türsteher allein gelassen habt. Wenn ich Narben an den Knien habe, zahlt ihr für die Schönheits-OP.«
Trenton lacht. »Beruhig dich mal. Wie wäre es mit einer Cola?«
Pferdeschwanz fuchtelt in seine Richtung. Ich bin beinahe beeindruckt von ihrer Zurückhaltung. Ich hätte ihm eine reingehauen. »Ich habe mich für dich geopfert, du Arsch! Die Cola geht auf dich. Und eine Zuckerbrezel auch. Ich brauche Kohlenhydrate.«
»Tut mir leid, Süße«, sagt Sonya und legt ihr einen Arm um die Schultern. »Die Jungs haben mich mitgezogen. Ich hatte keine Wahl.«
»Du bist nie auf meiner Seite«, faucht Pferdeschwanz sie an. Dann sieht sie zu mir hoch, die ich wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Raum stehe. Die Abneigung in ihrem Blick treibt mir die Röte in die Wangen. Gerade als ich etwas abgekühlt war. »Wer ist das?«, fragt sie und schmiegt sich an Sonya.
»Das Mädchen, das ich beinahe umgebracht hätte«, sagt Trenton mit funkelnden Augen. »Oder, wenn man es anders sieht, das Mädchen, dem ich das Leben gerettet habe, weil ich gerade im richtigen Moment gebremst habe. Meine Mutter wäre so stolz.«
Ich mache mir nicht die Mühe zu antworten. Ich sollte gehen, aber irgendwie kann ich mich nicht losreißen.
»SJ, hat Brooke dir schon vom See erzählt?«, fragt Sonya.
»Noch nicht.« Wieder sieht sie zu mir. »Und du bist …?«
»Coley.«
»Was geht bei dir?«, fragt SJ. »Oder redest du einfach nicht?«
»Doch«, sage ich.
»Man sagt ja, dass die schlausten Leute die schweigsamen sind, weil sie zuhören«, mischt sich der andere Junge ein. Ihn mag ich sofort, hauptsächlich weil er nicht Trenton ist.
»Na, fantastisch«, schnaubt Trenton. »Noch ein schlaues Mädchen. Genau was wir brauchen.« Er neigt sich vor und grinst wie ein Lustmolch. »Du kannst bestimmt gut zuhören, Coley.«
»Du redest jedenfalls ganz schön viel Scheiße, da ist das nicht besonders schwer«, erwidere ich.
»O mein Gott«, sagt SJ, als Sonya anfängt, laut zu lachen. Die Jungs reißen die Augen auf. Aber SJs Interesse an mir ist nicht von langer Dauer. »Brooke hat sich gemeldet. Wir treffen uns heute am Nordufer vom See.«
»Großartig«, sagt Trenton und steht auf. Alle anderen folgen seinem Beispiel, als wäre er der König der Spielhalle. Ich trete hastig zurück, weg von ihr, als Sonya ihren Stuhl nach hinten schiebt und aufsteht.
Sie gehen an mir vorbei, als wäre ich nicht da. Aber als Sonya vor der Tür ankommt, dreht sie sich zu mir um und sieht mich an. Und ich kann nicht anders, als ihr hinterherzugehen.
Draußen ist die Hitze immer noch erdrückend. Ich schließe mein Rad auf und versuche, sie zu ignorieren, während sie zusammenstehen und warten, dass Trenton den Minivan vorfährt.
»Hey! Coley!«
Ich sehe mich um. Sie ist schon fast in den Van gestiegen und Trenton flucht vom Fahrersitz.
»Wir treffen ein paar Freunde am See«, sagt Sonya.
»Okay«, erwidere ich.
Sie verdreht die Augen und schnipst mit den Fingern. Ganz schön dreist und ungeduldig.
Mir rutscht das Herz in die Hose, als ob ich in einer Achterbahn sitze. Dann fährt sie fort: »Kommst du mit, oder was?«
Vor meinem inneren Auge tun sich zwei Optionen auf: Curtis’ Haus, das nicht mein Zuhause ist, oder mit diesem Mädchen mitfahren.
Alles ist besser als Curtis.
»Ich komme«, antworte ich.
Sonya zieht den Schlüssel aus der Zündung. »Alex, setz dich nach vorn. Ich fahre mit Coley hinten mit.«
Sie steigt aus, öffnet den Kofferraum und winkt mich zu sich. Ich gehorche, bevor sie wieder anfängt, mit den Fingern nach mir zu schnippen, ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich das Gefühl mag, das es in mir auslöst. Herrisch. Ist sie das?
Eigentlich hätte ich SJ in diese Kategorie sortiert, bevor Sonya so ungeduldig wurde. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Wurde ich ausgerechnet von den coolen Kids beinahe überfahren? Was mache ich hier nur? Ich sollte ihr einfach sagen, dass ich wegmuss. Genau das werde ich tun. Sobald ich um den Wagen rum bin, sage ich ihr: »Mir fällt grad ein, dass ich noch was vorhabe.« Bleib cool … steig auf dein Rad, bevor es noch unangenehmer wird. Niemand außer ihr hat Bock darauf, dass du mitkommst.
Warum bleibe ich dann wie angewurzelt stehen, als sie lächelt?
»Hier ist genug Platz«, sagt sie, beugt sich runter und greift nach dem Rad. Ich starre sie an, als wollte ich mir alles an ihr einprägen, jedes Detail aufsaugen. Diese fliederfarbenen Nägel, weder blau noch lila: eine mysteriöse Farbe für ein mysteriöses Mädchen.
»Vorsicht«, warne ich sie, als sie in die Speichen greift.
»Keine Sorge!« Sie schnappt sich das Vorderrad und ich hebe hinten mit an.
»Beeilt euch!«, ruft Trenton vom Fahrersitz.
»Ich hätte auch radeln können«, erkläre ich, während sie den Kofferraum schließt.
Sie lacht. »Warst du schon mal am See?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich bin gerade erst hergezogen.«
»Das erklärt auch, warum ich dich noch nie gesehen habe«, sagt sie. »An den See braucht man von hier mindestens eine halbe Stunde mit dem Rad. Es ist viel zu heiß dafür. Komm schon.«
Sonya klettert auf die Rückbank und ich folge ihr. Im Wagen riecht es nach Gras und alten Chips. SJ sitzt mit den Jungs vorne in der Mitte. Sie dreht sich zu mir um, als wir uns anschnallen.
»Bist du gerade erst hergezogen, Coley?«
Sonya winkt ab. »Das wissen wir doch schon. Coley hat mir alles erzählt.«
SJ verdreht die Augen. »Ich hab ja nur gefragt. Wo hast du vorher gewohnt?«
»In San Diego.«
»Wow, eine echte Stadt.« Sonya seufzt neidisch.
»Na ja, nicht wie L. A. oder New York«, schnaubt SJ.
»Bestimmt nicht«, erwidere ich und sie sieht mich irritiert an, weil ich ihr zustimme.
»Fehlt dir die Stadt?«, fragt Sonya.
Die einfache Antwort lautet: Nein. Die Wahrheit ist so viel komplizierter.
»Hier ist es auf jeden Fall ganz anders«, sage ich schließlich. Aber sie scheint mich zu durchschauen, denn sie rutscht näher ran und tätschelt mir den Oberschenkel. Mein Mund wird bei dieser Berührung staubtrocken.
»Du wirst dich hier ganz schnell zu Hause fühlen«, sagt sie. »Du hast Glück, dass du uns gefunden hast.«
»Glück, dass ihr mich fast überfahren habt?«, frage ich trocken.
»Hey! Du kannst froh sein, dass ich dich und dein dreckiges Fahrrad in meinem Van mitnehme«, ruft Trenton von vorne. Mein Magen krampft sich ein wenig zusammen. Mir war nicht klar, dass er uns hier hinten hören kann. Ich sehe auf und er starrt mich durch den Rückspiegel an. Er hat Augen wie Kaleidoskope, aber nicht, wie die Beatles das meinten. Sie scheinen tiefgründig und dann kommen sie mir plötzlich verschlagen und kampflustig funkelnd vor.
»Ignorier ihn einfach, bitte«, sagt Alex zu mir und faltet die Hände wie zum Gebet.
»Ich sollte euch einfach auf die Straße setzen«, knurrt Trenton.
»Wenn du mich noch einmal hängen lässt, mach ich dich zu Hackfleisch«, kontert SJ.
Ich ducke mich und versuche, nicht zu husten vor Lachen. Die SJs dieser Welt sind sicher keine großen Fans von Mädchen wie mir und sie hat mir keinen Grund gegeben, anders von ihr zu denken, aber manchmal ist Zickenhumor einfach universell.
»Gib’s ihm, SJ.« Sonya lehnt sich auf der Rückbank zurück und streckt die Arme über den Kopf. Ihre Hand hängt über der Kopflehne von meinem Sitz, die fliedernen Nägel bilden einen starken Kontrast zu dem ausgeblichenen braunen Polster.
»Fang bloß nicht wieder mit diesem Girl-Power-Mist an, Sonya«, sagt Trenton und fährt auf einen Parkplatz, der von, dreimal dürft ihr raten, noch mehr Bäumen umgeben ist. Kiefern, nichts als Kiefern. Gibt es in dieser Stadt überhaupt andere Bäume?
Sonya reagiert nicht. Sie trommelt ungeduldig mit den Fingern kleine Crescendos aufs Polster. Als die Jungs aussteigen, frage ich mich, ob ihre Zunge schmerzt, weil sie sich so daraufgebissen hat, um nichts zu erwidern.
»Komm, Sonya, lass uns Brooke suchen«, fordert SJ sie auf, als wir aus dem Van klettern.
»Nur zu«, sage ich, als Sonya mich zögernd ansieht. SJ schnaubt genervt. »Ich muss nur mein Rad abschließen.«
SJ lacht. »Niemand klaut diesen Schrotthaufen.«
»SJ.« Sonya schüttelt den Kopf.
»Ach du meine Güte«, sagt SJ angewidert. Ich konzentriere mich auf den Gehsteig. »Komm schon. Deine Freundinnen warten auf dich, Sonya.«
Sie greift nach Sonyas Hand und zieht sie mit sich auf den von Bäumen gesäumten Weg. Ich kehre zum Van zurück und mache den Kofferraum auf, um mein Rad rauszuholen. Es ist mir egal, ob sie sich nach mir umsieht. Völlig egal.
Ich schließe mein Fahrrad an eine der Laternen und folge ihnen den Weg zwischen den Bäumen hinunter. Unter den Kronen der Kiefern ist alles dunkler, bis der Weg auf eine Lichtung führt.
Sofort fängt mein Blick sie wieder ein, obwohl Sonya schon am Ufer des Sees angelangt ist. Weit entfernt, aber ich hätte sie auch auf der anderen Seeseite sofort ausgemacht. Sie lacht über etwas, das SJ gesagt hat. Dabei wirft sie den Kopf zurück und die Sonne scheint auf sie, die Szene wirkt wie ein Ferienlagerfilm aus den Achtzigern.
Sonya passt gut hierher, zu den tobenden Jungs im Wasser, den Mädchen in Bikinis, die sich auf den Steinen am Ufer sonnen, dem Lagerfeuer, dem kalt gestellten Bier auf den Campingtischen.
Ich passe nicht hierher. Überhaupt nicht. O mein Gott, warum bin ich hier? Sie hat nicht einmal auf mich gewartet. Ich sollte wirklich gehen.
»Hey, Coley!«
Shit. Ich sehe mich um. Alex winkt mich zu sich zu dem Tisch neben den Kühlboxen. Immerhin balanciert er Drehpapier und eine Dose mit Gras auf den Knien. Vielleicht pack ich das hier besser, wenn ich bekifft bin.
Jetzt kann ich nicht mehr weglaufen, also setze ich mich zu ihm. Alex hat nicht die Aura eines verwöhnten Angebers, wie Trenton sie hat, und ich frage mich, wie er hier reinpasst. Jeder Freundeskreis hat etwas von einer Wippe, immer versucht einer, die anderen auszugleichen. Als ich mich neben ihn setze und er mich freundlich und aufrichtig anlächelt – mit seinem dunklen Haar hat er bestimmt einige Verehrerinnen –, frage ich mich, ob er derjenige ist, der alles ausgleicht.
Ich versuche, mich nicht zu auffällig umzuschauen. Nur ein kurzer Blick. Aber Sonya sieht nicht einmal in unsere Richtung. Sie kickt einen gestreiften Ball zu einer ihrer Freundinnen. Vermutlich Brooke, von der sie in der Spielhalle geredet haben. Es ist, als ob ich gar nicht da wäre.
»Ich hab mich schon gefragt, ob du dich im Wald verlaufen hast«, sagt Alex.
»Der Weg ist ja recht gut zu erkennen«, erwidere ich und drehe mich etwas, damit ich besser ans Ufer sehen kann. Damit ich sie besser sehen kann.
»Pass aber auf. Es gibt Bären hier draußen.« Seine Augen funkeln und verraten mir, dass er mich auf den Arm nimmt. Also spiele ich mit.
»Ich weiß, ich habe drei Bären auf dem Weg hierher niedergerungen. Mit meinen bloßen Händen.«
Er lacht über meinen lahmen Witz.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Sonya den Ball ins Wasser kickt, sich das T-Shirt auszieht und ihm hinterher ins Wasser rennt. Der weiße Schaum, den sie aufwirbelt, steht im Kontrast zu ihrem roten Bikini. Mir rutscht das Herz in die Hose, als sie untertaucht und wie eine Meerjungfrau schimmert, als sie wieder an die Oberfläche kommt. Ich muss wegsehen, sonst werde ich genauso rot wie ihr Bikini.
»Wohnst du in der Stadt?«, fragt Alex.
»Ja.«
»Dann musst du dir um Bären keine Sorgen machen. Im Hinterland muss man ein bisschen mehr aufpassen. Meine Ex muss ihren Müll einsperren.«
»Also das klingt ernsthaft gruselig. In San Diego hatte ich es nur mit Ratten und Kakerlaken zu tun.«
»Dann warte ab, bis du die Tausendfüßler im Wald siehst.«
»Irgh!« Ich schaudere bei der Vorstellung. »Die vielen Beinchen ekeln mich an.«
»Geht mir genauso.« Er streut das zerkleinerte Gras auf das vorbereitete Papier und dreht es mit geübten Fingern zu. Dann hält er mir den Joint hin. »Den bin ich dir schuldig, nachdem wir dich fast totgefahren hätten.«
»Der Logik kann ich nicht wiedersprechen«, antworte ich und stecke den Joint in meine Tasche. »Danke.«
»Gern. Gib mir Bescheid, wenn du was brauchst. Allerdings nur Gras, das andere Zeug rühre ich nicht an.«
»Cool. Ich mach’s genauso.«
»Straight Edge, oder was?«
Ich muss lachen. Irgendwie hat er was Beruhigendes.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich Sonya am Seeufer die Haare auswringt und dabei mit SJ redet. Sie lacht und gestikuliert wild, was SJ zum Prusten bringt. Sonya wirft einen Arm um SJ und küsst sie übertrieben auf die Stirn. Dann täuscht sie einen Ohnmachtsanfall vor und SJ fängt sie auf, bevor sie in den See fällt.
Was für eine Dramaqueen.
Ich will alles über sie wissen.
»Ich hoffe wirklich, dass wir dir auf dem Parkplatz keinen allzu großen Schrecken eingejagt haben«, sagt Alex ernsthaft. »Trenton ist …«
Der Klang seines Namens scheint Trenton heraufzubeschwören, denn auf einmal kommt er mit drei weiteren Jungs auf uns zugepoltert. Er schüttelt seine nassen Haare in Richtung Alex aus wie ein Hund. Überall spritzt Wasser und Alex wirft sich über sein Drehzeug.
»Verdammt noch mal, Trenton! Meine Papierchen!«
Trenton lacht nur.
»Schwimmst du auch?« Trenton deutet mit dem Kopf in Richtung See.
»Nope«, antworte ich und betone das p überdeutlich, in der Hoffnung, dass er den Hint kapiert.
Tut er aber nicht. So gar nicht. »Was ist das Problem? Willst du nicht feucht werden?«
Bei der Anspielung wird mir übel.
»Oh Himmel, Trenton«, schnaubt Alex.
Aber Trenton kichert nur. »Keine Sorge, da kann ich dir helfen.«
Bevor ich überhaupt mitbekomme, was passiert, stürzt sich Trenton auf mich. Er ist bestimmt dreißig Zentimeter größer als ich und hebt mich hoch, als wäre ich ein Sack Mehl, um mich dann über die Schulter zu werfen.
Verflucht. Ich hasse solche Typen. Kerle, die meinen, es wäre lustig, einen hochzuheben, wann immer es ihnen passt. Sie finden es zum Totlachen, wenn man sich windet, um loszukommen. Und es ist ein willkommener Vorwand, einen zu begrapschen.
Scheißkerle. Man sollte niemanden begrapschen, der das nicht will. So schwer kann das doch nicht zu verstehen sein.
»Lass mich runter! Ich habe keinen Badeanzug an«, sage ich und versuche, dabei ruhig zu bleiben. Schließlich ist das hier der Typ, der einfach gelacht hat, als er mich beinahe überfahren hat. Er will, dass ich mich aufrege. Und ich bin wirklich stinksauer. Aber ich versuche, mich nicht auf seinen Bullshit einzulassen.
Meine Haare wehen hin und her, während Trenton auf den See zuläuft und fast hysterisch dabei lacht. Aber sein Griff um meine Hüfte ist fest. Mir läuft Blut in den Kopf und ich überlege, ob ich ihm aus Rache in die Eier treten sollte. Aber wir sind schon im Wasser angekommen und meine Haare hängen in den See. Es gibt keine beißenden Fische, oder? Das bilde ich mir nur ein. Das hier ist Oregon. Nicht Australien, wo einen alles killen kann.
Trenton fängt an, sich im Wasser zu drehen, und mir wird schwarz vor Augen. Durch den plötzlichen Blutrausch im Kopf und die Drehung wird mir schwindelig. Ich schlage wild um mich, um mich aufzurichten. Dabei verlagert sich mein Gewicht und er strauchelt und wir stürzen beide unbeholfen in den See. Das Wasser ist trüb und überhaupt nicht wie in einem Pool. Aber der Schock vertreibt mein Schwindelgefühl. Als ich wieder auf die Beine komme, hasse ich alle und jeden. Besonders als ich Sonya knöcheltief im Wasser stehen sehe. Das nasse Haar klebt ihr am Kopf und sie starrt mich an. Ein absolut absurder Gedanke kommt mir in den Sinn, als unsere Blicke sich treffen und ich ihre zusammengezogenen Augenbrauen sehe. Wolltest du mich retten kommen?
»Was zum Teufel ist eigentlich dein Problem?«, will Trenton wissen und stellt sich vor mich, sodass ich Sonya nicht mehr sehen kann. Mit seiner fleischigen Hand spritzt er Wasser nach mir. »Ich hab nur Spaß gemacht! Ich hätte dich schon nicht reingeworfen!«
Mit meiner Zurückhaltung ist es vorbei und ich zeige ihm den Mittelfinger. Er hat kein weiteres Wort verdient. Keiner von denen hier. Ich stapfe aus dem Wasser und laufe an allen vorbei, die mich irritiert anstarren, zu meinem Fahrrad. Scheiß auf das hier und sie alle. Scheiß auf Curtis und seinen »Geh raus und finde Freunde«-Bullshit. Welche Freunde? Warum sollte ich mit denen hier befreundet sein wollen? Nur weil sie hier leben?
Was für ein Scheißgrund: lokale Nähe.
Das hier wird nie mein Zuhause werden. Und jetzt wird auch die Schule ein Desaster, weil ich nicht einfach über den Typen gekichert habe, der mich wie ein Neandertaler hochgehoben und in den See geworfen hat.
»Hey, warte!«
Ich gehe weiter, obwohl ich ihre Stimme erkenne. Ich kann sie aus dem Augenwinkel sehen, während ich über den Parkplatz laufe. Sie zieht sich ihr gestreiftes Hemd über das Bikinioberteil, knöpft es aber nicht zu. Ich versuche mich auf die Knoten ihres Bikinis zu konzentrieren statt auf alles andere.
»Alles okay?«
Ich stehe vor meinem Fahrrad und halte mich am Lenker fest. Bei jeder Bewegung schwappt Matsch aus meinen Schuhen. Ich hoffe zumindest inständig, dass es Matsch ist und nicht diese widerlichen Algen.
»Trenton kann manchmal ein Arschloch sein«, sagt sie mit einem peinlich berührten Grinsen und wieder macht mein Magen einen Satz. »Aber ich schwör dir, er ist eigentlich einer von den Guten. Ich kenne ihn schon ewig.«
»Na klar ist er einer von den Guten«, erwidere ich und der Sarkasmus tropft schneller aus meinen Worten als das Wasser aus meinem Haar.
»Hey!« Sie runzelt die Stirn und ihre Augenbrauen formen ein V. »Sei nicht sauer auf mich«, sagt sie. »Ich bin den ganzen Weg hierhergekommen, um zu fragen, wie es dir geht.«
»Den ganzen weiten Weg hierher. Also bis zum Parkplatz?«
Das V zwischen ihren Augen wird tiefer. Ein Teil von mir möchte sie provozieren. Sehen, wie tief es noch werden kann. Sie macht nämlich nicht den Eindruck, als ob sie das gut wegsteckt. Wenn sie die Stirn runzelt, dann sieht sie eher niedlich als wütend aus. Dahinter liegt keine Kraft.
Aber heute habe ich keine Energie mehr. Mir tropft das Wasser den Nacken hinunter und ich bin froh, dass ich heute Morgen ein graues Tanktop angezogen habe und kein weißes. Sonst hätte Trenton wohl noch darauf bestanden, dass ich bleibe.
»Hör mal, ich kenne dich und deine Freunde nicht. Ich kenne hier niemanden. Und dann …« Ich halte inne. Gott, bin ich müde. Klatschnass und müde und durch. »Das war eine echte Scheißaktion von ihm. Und dass du ihn nicht aufgehalten hast, war auch scheiße.«
Sie verdreht theatralisch die Augen. »Hey, du bist mit uns an den See gekommen.«
»Du hast mich gefragt, ob ich mitkomme!«, schnappe ich zurück. »Ich kenne euch nicht. Und ich fange an mich zu fragen, ob ich euch überhaupt kennenlernen will. Der Typ ist ein Arschloch.«
Auf einmal wird ihr Gesichtsausdruck milder. Sie runzelt die Stirn nicht mehr. »Hey, ich weiß nicht, was da vorhin passiert ist mit dir und Trenton. Aber ich habe nichts gemacht, außer nachzuschauen, ob du okay bist.«
»Warum hast du nicht versucht, ihn aufzuhalten?«
Wieder zieht sie die Augenbrauen zusammen. Aber nur für einen kurzen Moment, wie ein Fehler im Bild. Es passiert so schnell, dass ich mich frage, ob ich es mir nur eingebildet habe. Aber dann sagt sie, freundlicher: »Ich wusste nicht, wie …«
Sie ist wie Benzin auf einem Feuer, das schon seit Monaten schwelt. »Also machst du einfach bei all seinem Scheiß mit.«
»Was? Nein, das tue ich nicht!«, widerspricht sie empört.
»Hauptsache du kannst mitmachen. Du musst immer im Mittelpunkt stehen, selbst wenn sich dein herzensguter Typ wie Scheiße benimmt.«
»Wow«, sagt sie. »Das ist heftig. Und nicht wahr.«
»Was war das dann gerade?« Ich deute mit dem Arm in Richtung See und starre sie an. Sie hat mich gefragt, ob ich mitkomme, hat die ganze Fahrt mit mir geredet, und ist dann einfach abgehauen, als ob ich nicht interessant genug wäre. Es sollte mich nicht so verletzen nach so kurzer Zeit. Tut es aber.
»Ich …« Ihre Stirn liegt wieder in tiefen Falten. Entweder ist sie angepisst oder zutiefst verwundert. Keine Ahnung, aber das ist mir mittlerweile auch egal.
»Ich hab keine Lust auf Leute, die sich immer nur rausreden«, erkläre ich ihr mutig. Aber es klingt schwach, und daher stapfe ich weg. Ich muss ziemlich tough aussehen, aber mir schlägt das Herz wie wild, und dann kommt es mir plötzlich vor, als ob es aussetzt, als sie mir nachruft.
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
Sie läuft mir hinterher. Dieses Gefühl hatte ich noch nie zuvor. Wenn einem ein Typ hinterherläuft, dann ist es einschüchternd, nicht erregend. Aber das hier …
Ich kann jeden Pulsschlag in den Adern spüren.
»Du hast kein Recht, über mich zu urteilen«, wütet sie hinter mir. Ich gehe weiter. Mir wird schwindelig von ihren Worten, aber ich kann nicht weglaufen, sonst wüsste sie es.
Wüsste sie was, Coley? Ich weiß es ja selbst nicht mal.
»Was glaubst du, wer du bist? Du bist nur irgendeine schlecht gelaunte blöde Schlampe!« Bei ihrem letzten Wort packt sie mich an der Schulter und dreht mich zu sich.
All die Gefühle steigen mir in den Kopf und werden sich gleich als Tränen Bahn brechen. Ich kann nicht weglaufen und ich kriege keine Luft. Ich kann nur das Gesicht in den Händen vergraben. Es ist demütigend.
»Hey.« Wieder wird ihre Stimme sanft. »Hey, alles in Ordnung?«
Wie oft hat sie mich das heute schon gefragt? Habe ich auch nur ein einziges Mal ehrlich geantwortet?
Sie nimmt mich in den Arm, bevor ich über die Konsequenzen nachdenken kann, und auf einmal ist alles warm. Nicht heiß. Warm. Als ob man in eine perfekt temperierte Badewanne steigt.
»Es tut mir so leid, dass ich das gesagt habe«, sagt Sonya direkt in mein Ohr.
Mir war nicht klar, dass man so zittern kann. Aber ich zittere von der Wirbelsäule über die Beine bis zur Oberseite meiner Füße. Seit wann habe ich da überhaupt Gespür, wenn mir nicht gerade etwas drauffällt?
»Das ist es nicht. Nicht, was du gesagt hast. Es ist nur …« Als sie mich fester bei der Hüfte hält, gehen mir die Worte aus.
»Können wir noch mal von vorne anfangen?«, fragt sie wieder direkt in mein Ohr und ich denke: So werde ich also sterben. Ich werde in tausend Teile zittern, direkt hier auf der Straße. Aber dann lehnt sie sich zurück und ich kann zum ersten Mal ihre Augen aus der Nähe sehen. Sie sind braun und funkeln golden im Sonnenlicht. Sie tritt zurück und später werde ich stundenlang daran denken, wie sich die Berührung ihrer Hände an meinen Schultern angefühlt hat. Sie lächelt und legt den Kopf schief. »Gib mir eine Chance, es wiedergutzumachen. Ich bin nur – dämlich. Ehrlich. Ich mache die dämlichsten Sachen. Da kannst du alle fragen.«
»Schon gut«, sage ich. »Und das bist du nicht.«
»Was bin ich nicht?«