Glasherzprinzessin - Johanna Wasser - E-Book

Glasherzprinzessin E-Book

Johanna Wasser

0,0

Beschreibung

Wie zerbrechlich ist ein gespendetes Herz? Die achtzehnjährige Mila hasst das Leben seit ihrer Herztransplantation. Sie kann es nicht ertragen, getrennt von ihren alten Freunden zu sein und neue Freunde sterben zu sehen. Zu all dem Schmerz und Kummer beginnt ihr eigener Körper das neue Herz abzustoßen. Um mit ihrer Situation umzugehen, erfindet Mila das Märchen von einer Glasherzprinzessin, die ebenfalls um ihr Leben kämpft. Für sich selbst rechnet sie jedoch mit keinem Happy End mehr. Bis sie dem außergewöhnlichen Jo begegnet und an Märchen zu glauben beginnt. Doch wie soll es gehen, wenn das Glasherz zu zerbrechen droht?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 311

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



WIE ZERBRECHLICH IST EIN GESPENDETES HERZ?

Die achtzehnjährige Mila hasst das Leben seit ihrer Herztransplantation. Sie kann es nicht ertragen, getrennt von ihren alten Freunden zu sein und neue Freunde sterben zu sehen. Zu all dem Schmerz und Kummer beginnt ihr eigener Körper das neue Herz abzustoßen. Um mit der Situation umzugehen, erfindet Mila das Märchen von einer Glasherzprinzessin, die ebenfalls um ihr Leben kämpft. Für sich selbst rechnet sie jedoch mit keinem Happy End mehr. Bis sie dem außergewöhnlichen Jo begegnet und an Märchen zu glauben beginnt.

DOCH WIE SOLL ES GEHEN, WENN DAS GLASHERZ ZU ZERBRECHEN DROHT?

FÜR MEINE BEIDEN HERZEN

IHR SEID ALLES FÜR MICH

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Nachwort

TEIL 1

UND SO LEGE ICH MICH WIE

GEBROCHENES LICHT

AUF DEIN HAUPT,

WIE EIN FUNKELNDES PRISMA DORTHIN,

WO DEIN HERZ EINST WAR.

DENN SO WIE DIE LIEBE

DICH IN STÜCKE REIßT,

SO HEILT SIE DICH.

SO WIE SIE ERSCHRECKT,

SO TRÖSTET SIE.

SO WIE SIE GEFANGEN NIMMT,

SO ERLÖST SIE DICH.

1

MILA

Meine Nackenhaare kräuselten sich, während Schweißtropfen daran hinunterliefen und mein T-Shirt durchnässten. ›Ist nur die Hitze‹, redete ich mir ein, trat die Kupplung durch, schaltete in den fünften Gang und setzte den Blinker. Etwas zu spät gab ich mit zitterndem Fuß Gas, sah in den Rückspiegel und überholte einen kleinen roten Wagen. Sekunden später erblickte ich die Baustelle. Gas weg, Kupplung treten. Ich versuchte, das Lenkrad nicht zu verkrampft zu umklammern, blickte abermals in den Rückspiegel. Diesmal aber nicht, um die Lage hinter mir zu checken. Na ja, genau genommen schon, aber nicht die Verkehrslage. Nur die Halbglatze wollte ich sehen. ›Gar nicht gut‹, dachte ich und spürte, wie sich meine Finger fester um das Leder legten.

Wir wurden langsamer, noch etwas langsamer. Ich schaltete weiter runter. Beim Kupplungtreten bekam ich beinahe einen Wadenkrampf. Ich guckte aus dem Augenwinkel zum Beifahrersitz und meine mittlerweile überreizten Ohren hörten ein tiefes Schnaufen von rechts. Vergiss das Atmen nicht, hieß das wohl. Ich seufzte unwillkürlich. Mein Gesicht würde morgen bestimmt das Einzige an mir sein, was keinen Muskelkater hätte.

»Sie können die nächste Ausfahrt nehmen.«

Jetzt hörte ich sogar seinen Stift quietschen. War die Zeit schon vorbei? ›Atmen, Mila, atmen!‹

»Links.«

Ich hörte mein Herz so laut klopfen, dass ich die Anweisung nicht mitbekam.

»Links!«

›Das war knapp!‹ Ich erkannte die Gegend wieder. ›Fahr keinen Passanten über den Haufen, blinke brav, Schulterblick nicht vergessen.‹ Jetzt fielen sie mir alle wieder ein, die Fahrschulregeln. Zum Geier noch mal: warum nicht vorher?

Ich schluckte, mein Hals war trocken und an Wasser war noch lange nicht zu denken. Ich sah nach dem Glatzkopf. Er schrieb noch immer so, als wäre es nicht längst entschieden.

Wir bogen in die nächste Straße ein, es war eine Einbahnstraße, die ich brav mit dreißig befuhr, weil sie so eng war. Vor vier Wochen war mir hier ein Kind beinahe vors Auto gesprungen. Noch einmal links. Von hier aus konnte ich bereits den Hof der Fahrschule sehen.

»Stellen Sie das Auto bitte ab«, sagte der Prüfer und erst jetzt sah ich sein Gesicht von vorne. »Ich sehe gerade, Sie haben morgen Geburtstag.« Er verzog keine Miene.

Mein Herz klopfte so laut, dass ich befürchtete, den Rest der Worte von seinem Gesicht ablesen zu müssen. Ich atmete durch den Mund aus, aber das Herzrasen ging nicht zurück, es steigerte sich eher.

»Entschuldigung?« Ich guckte zu meinem Fahrlehrer und hoffte, dass er lauter sprach als der Mann auf der Rückbank. »Bin ich durchgefallen?«

Mir wurde schlecht. Alles begann sich zu drehen und ich hörte nur noch das Pochen in meinem Kopf. Zum Glück machte ich meine Augen nicht zu. Etwas Kleines, Viereckiges blitzte zwischen den Sitzen auf. Intuitiv griff ich mit der Hand danach. »Nein, oder?« Nun hörte ich überhaupt nichts mehr.

In meinem Kopf drehte sich alles. Der nächste Prüfling riss die Fahrertür auf und ich stolperte auf die Straße hinaus.

»Mila?«

»Scheiße. Schon gut!« Ich rappelte mich hoch, torkelte wie betrunken herum und wankte auf eine Bank zu. Noch während ich mich hinzusetzen versuchte, klingelte mein Handy. Ich hörte meine Mutter jedoch kaum, obwohl sie mir direkt ins Ohr gratulierte. Ich sagte, dass ich gleich käme, und lehnte mich zurück. ›Ein bisschen ausruhen, ein bisschen den Moment genießen‹, dachte ich. Mein Herz freute sich mit mir und ich hörte ihm eine Weile beim Ausrasten zu. Bumm. Bumm. Bumm. Kawumm.

»Mila! Du hast nur schlecht geträumt!«

Jemand zog an meinem Ärmel, während er mir gleichzeitig über die Haare strich. Ich riss die Augen auf und schämte mich sofort. Das ganze Bettzeug inklusive meines Krankenhauskittels war komplett nass. Ich hatte so sehr geschwitzt, es sah aus, als hätte ich ins Bett gemacht. Schuldbewusst sah ich Schwester Gabi an. Sie erkannte die Situation, nickte mir zu und verschwand aus dem Zimmer.

Bevor sie wiederkam, hatte ich mühsam alles abgezogen und zusammengerollt ans Bettende geschoben. Nun war ich völlig aus der Puste.

»Das musst du doch nicht«, sagte sie mit ihrer Engelsstimme. »Hier, schau.« Sie reichte mir trockene Sachen zum Anziehen: Zwei Hemden und zwei Hosen zum Wechseln. Ich lächelte ihr wortlos zu und schlich ins Bad.

»Mach dir keinen Kopf, das ist normal in deiner Situation!«, hörte ich sie hinter der Tür.

›Von wegen normal‹, dachte ich. ›Was soll daran bitte schön normal sein?‹ Ich ging am Waschbecken vorbei, mied den Blick in den Spiegel, um nicht meine hässliche Fratze zu sehen. Dann hockte ich mich auf die Toilette, als sei die Blase mein Problem. Nach einer Weile stand ich auf, zog mich um, ging zur Tür und öffnete sie.

»Ist ja nicht so, dass du gesund bist«, sagte Schwester Gabi lächelnd.

Ich hingegen dachte an den Tag, an dem mein Herz versagt hatte und von dem ich nun immerzu träumte. Langsam humpelte ich zurück. »Sonst alles in Ordnung bei dir?« Sie hatte das Bett wieder frisch bezogen.

Ich nickte, kletterte ins Bett, zog mir die Decke bis zum Kinn hoch und schaltete den Fernseher an. Irgendein Berieselungszeug. Vielleicht sollte ich runter an den Kiosk und mir etwas zum Lesen holen. Allein bei dem Gedanken zu laufen, überfiel mich allerdings eine solche Müdigkeit, dass ich mir wünschte, augenblicklich wieder einzuschlafen.

»Kein guter Tag heute?« Schwester Gabi hatte offenbar meine leere Wasserflasche mitgenommen. Sie stellte eine neue auf den Tisch. »Deine Tabletten.« Sie reichte mir das längliche Kästchen, in dem meine Sechser-Ration Tabletten lag, und einen Becher mit Wasser.

Ich angelte die Pillen heraus, machte den Mund auf und spülte sie nacheinander runter.

»Kein guter Tag?«, fragte sie wieder, obwohl ich mit Absicht zuvor geschwiegen hatte.

»Nicht so, nein.« Sie war die einzige Krankenschwester, die ich nicht aus Höflichkeit anlog.

»Das wird wieder. Wenn deine Mutter vielleicht nachher kommt ...«

Mama war mit meiner kleinen Schwester Kathleen unterwegs. Heute war einer der drei Tage in der Woche, die sie sich für die Kleine reserviert hatte.

»Sie kommt morgen«, sagte ich schnell. ›Wenn nichts dazwischenkommt‹, setzte ich in Gedanken hinzu. Fünfzig Kilometer von Andernach nach Bonn fuhr sie nicht mal eben so.

»Ruf sie an«, schlug Gabi vor.

»Okay«, log ich nun doch. Es gab ja nichts Neues zu berichten.

»Ich habe mir überlegt, wir könnten später mal zu den Kindern rübergehen«. Als hätte sie in meinen Gedanken gelesen.

Auf unserer Krankenhausetage lagen rechts, auf der Kardiologie, die Herzpatienten – wie ich – und auf der anderen Seite des Flurs die Kinder.

›Du musst mich nicht ablenken‹, wollte ich sagen. Ich wollte nicht, dass sie sich wegen mir Ärger einhandelte, weil sie, statt auf der Station zu bleiben, mit mir herumlief. Andererseits war mir wirklich langweilig.

Die Kinderstation war weniger ausgestorben als die Kardiologie. Außerdem waren es maximal drei Minuten bis rüber, na ja, in meinem Tempo vielleicht sieben oder acht.

»Okay«, murmelte ich wieder.

»Sicher?«

Ich nickte und nahm den Arm an, den sie mir anbot. Nur vorsichtshalber. Schwester Gabi ließ den Rollstuhl neben meinem Zimmer stehen, während wir aufbrachen. Ich versuchte, so normal wie möglich zu gehen. Nur eben etwas langsamer, da ich mich mittlerweile daran gewöhnt hatte, bei jeder Kleinigkeit erschöpft zu sein. Sicher würde ich gleich schnaufen wie eine Hundertjährige.

»Was genau wollen wir überhaupt auf der Kinderstation?«, fragte ich beiläufig. Die Nachbarstation war oft eine Ausrede von Gabi. Nur manchmal gab es da was zu sehen.

»Ist eine kleine Überraschung«, flüsterte sie.

Ich sah an den Wänden entlang nach vorne. Alle paar Meter schmückten diese Bilder und Fotos. Vasen jedoch gab es nirgendwo, denn Blumen waren bei uns wegen der Infektionsgefahr untersagt. An einem von Kinderhand gemalten Bild blieb ich stehen und tat so, als betrachtete ich es. So zu tun, als würde ich normal weiteratmen und doch mehr Luft holen, hatte ich in den letzten Monaten meiner Krankenhausaufenthalte gelernt.

Schwester Gabi sah mich prüfend an. Ich lächelte und wippte ein kleines bisschen mit meinem Kopf.

›Alles in Ordnung?‹

›Alles gut.‹

Manchmal kommunizierten wir, ohne zu sprechen. Sie gab mir einen Moment, dann erst schlurften wir weiter. Zwei Rollstühle standen uns im Weg. Wir umgingen sie, und ich sah in den Augen meiner Begleiterin zweimal dieselbe Frage, die ich mit einem stummen Lächeln beiseite wischte.

›Alles gut, alles prima.‹

Wir passierten die erste große Glastür, gingen an den Aufzügen vorbei zu der zweiten, die sich durchs Drücken eines Seitenknopfs öffnete, dann sah ich schon die kleine Cafeteria der Kinderstation. Ich stoppte. Feierte da jemand Geburtstag? Etwas in mir drehte sich um und rannte davon. Schwester Gabi legte ihre Hand auf meinen Arm, der sich noch immer unter ihrem befand. Ich klammerte mich mit der Hand am Stoff ihres Hemdes fest, und sie hielt meine Hand nun von oben, so als spürte sie meinen Fluchtreflex.

»Es wird dir gefallen«, flüsterte sie, mich ein wenig mit sich ziehend. Vor der nächsten Tür blieben wir wieder stehen. Ich sah durch das Glas hindurch und erwischte mich dabei, dass ich grinste. Möglicherweise hatte sie recht. Na ja, ein bisschen vielleicht.

Ich hörte Kinderlachen. In dem Raum hatten sich mindestens zehn Kinder versammelt. Ihre Gesichter zeigten allesamt in eine Richtung. Sie starrten zwei Clowns an, die Kunststückchen für sie vollführten. Ich hörte keine Musik und die Clowns redeten nicht. Jetzt applaudierten ein paar Kinder. Ein kleines Mädchen im Alter von etwa fünf, ungefähr so alt wie Kathleen, strahlte einen der beiden Clowns mit glänzenden, weit aufgerissenen Augen an, während er ihr einen Luftballon schenkte.

Erneut lächelte ich. Vielleicht war es der Gedanke an meine Schwester, vielleicht rührte mich auch die Sache mit dem Luftballon und die Freude, die er bei der Kleinen auslöste.

Gabi ließ meine Hand los und bewegte ihre zu dem Schalter, mit dem man die Tür öffnete. Doch ich hielt sie zurück, griff nach ihrem Arm, bedeutete ihr, stehen zu bleiben. Eine Sekunde später erstarrte ich.

War ich blind oder warum waren mir zuvor nur zwei Clowns aufgefallen? Jetzt spürte ich überall auf meinem Körper Gänsehaut und das freudige Gefühl von vorhin war augenblicklich verschwunden.

»Was ist denn?«, fragte mich Gabi. Doch ich schüttelte nur den Kopf und starrte weiter durch die Glasscheibe.

Der dritte Clown war völlig anders als die anderen beiden. Er trug keine bunten Sachen, keine rote Perücke, sondern schwarze, fast schulterlange, gewellte Haare und einen ebenfalls schwarzen Spitzhut auf dem Kopf. Drei weiße Kugeln klebten darauf, die wie übergroße Knöpfe wirkten, ähnlich denen auf seinem schwarz-weiß karierten Hemd.

»Ist das ein ...?« Ich suchte nach dem Begriff, der mir partout nicht einfallen wollte. Wie hießen diese traurigen Clowns, zum Henker? Ich hustete, hielt mir die freie Hand vor den Mund und stellte zufrieden fest, dass auf der anderen Seite der Scheibe niemand Notiz von uns nahm. Niemand, bis auf diesen seltsamen dritten Clown, der mich mit seinen schwarzen Augen fixierte.

Abermals spürte ich das Bedürfnis, davonzurennen. Ich wollte in mein Zimmer zurück oder mich zumindest wieder auf die Show der anderen Clowns konzentrieren. Aber irgendwie ging das nicht. Die unpassende Erscheinung in der Cafeteria schien nur da zu sein, um mich zu verhöhnen.

Da er mich schon so anstarrte, ich meinen Blick nicht abwenden konnte, musterte ich ihn ebenfalls. Sein Gesicht war weiß geschminkt, was die Schwärze seiner Knopfaugen noch verstärkte. Eine aufgemalte Träne zierte seine linke Wange und der geschminkte Mund drückte Traurigkeit aus. ›Ein Pierrot!‹, fiel mir plötzlich ein. Ich dachte an eines der Kinderbücher meiner Schwester, in denen ich einen solch traurigen Pantomimen schon einmal gesehen hatte.

Warum glotzte er nur so? Ich ging einen Schritt zurück und bemerkte erst jetzt, dass er mich nachmachte, denn auch er schritt nach hinten. Daraufhin drehte ich meinen Kopf zur Seite, lugte aber weiterhin zu ihm rüber. Der Clown tat es mir gleich. Ich kniff meine Lider zusammen und sah mir seine Gesichtszüge genauer an. Guckte ich tatsächlich auch so finster?

Die riesigen Augen verwandelten sich in schmale Schlitze, an deren oberem und unterem Rand lange, gebogene Wimpern zum Vorschein kamen. Er sah furchterregend und gleichzeitig unglaublich schön aus wie eine Porzellanpuppe in einem Kaufhaus. Und diese Puppe starrte mich an. In ihrem Blick lag etwas, das mich völlig verwirrte. Sie schien verzückt, so als sähe sie nicht eine von Cortison aufgeblähte, herzkranke junge Frau, sondern als wäre ich das schönste Wesen, das ihr je begegnet war. Es war zu viel an Melodramatik, immerhin wusste ich um die Realität.

»Mila?« Gabis Stimme drang wie durch Watte zu mir. Sie sagte etwas, aber ich konnte ihr nicht folgen. Die Kinder begannen gerade wieder zu applaudieren, was mich ein wenig aus meinen Gedanken lockte. Sie lachten und schienen ihr Schicksal für den Augenblick vergessen zu haben. Die Clowns verbeugten sich. Ich drehte mich zu Schwester Gabi und atmete durch.

»Könnten wir bitte gehen?«, fragte ich und fühlte mich außerstande, selbst loszugehen.

Sie verstand mich offenbar nicht. Sie öffnete ihren Mund und wollte augenscheinlich etwas fragen, als ich wieder kurz in die Cafeteria blickte.

Für einen Moment verschwanden die Kinder, die anderen Clowns, die Geräusche hinter dem Glas. Ich nahm nur diesen Pierrot mit seiner traurigen Miene wahr, sah, wie er eine Hand hinter seinem Rücken versteckte. Als er sie wieder nach vorne holte, entdeckte ich darin ebenfalls einen Luftballon. Es war kein richtiger Ballon, eher eine Schlange, schwarz, schmal und lang. Mit flinker Hand, von der ich zuvor gedacht hatte, dass daran ein weißer Handschuh wäre, wand er sie zu einem Herz, das er rasch nochmals umformte. Nun sah mir eine Blume entgegen.

Er machte erst einen, dann noch einen Schritt auf mich zu, ich hingegen blieb wie angewurzelt stehen. Kurz bevor er bei mir war, verwandelte sich die Blume abermals zu einem schwarzen Herz. Dahinter sah ich das traurige Gesicht, die schneeweiße Haut, die geschminkten Augen.

Langsam fügte sich die Szenerie wieder in die Cafeteria ein. Ich sah die beiden bunten Kollegen des Pantomimen, die lachenden Kindergesichter.

Was machte ein solcher Trauerkloß hier? Ich schluckte, denn ich kam mir selbst so falsch vor, dass es schon wehtat.

»Ich hasse Clowns«, keuchte ich plötzlich, krallte meine Finger in Gabis Hand und drehte mich von der Glastür weg.

»Was?«

Jetzt war ich es, die zog. Die Krankenschwester bewegte sich keinen Millimeter, sodass ich doch wenden musste, um sie zum Gehen zu bewegen. Mein Magen drehte sich um, und ich dachte, ich müsste mich gleich direkt vor den Augen der Kinder übergeben. Fast alle hatten sich umgedreht und guckten her.

»Bitte, können wir jetzt, bitte, bitte gehen?« Nun lachte keiner mehr, keine Ahnung warum. Ich traute mich nicht, zurückzustarren. Immerhin waren es Kinder, die sich aus ihrem Krankenhausalltag hatten entführen lassen und die nun dank meiner nicht mehr so fröhlich waren.

Ich fühlte mich noch immer ziemlich bescheuert, als mein Tablet abends zu blinken begann. Skype-Zeit. Ich nahm das Gerät hoch, holte die Decke vom Bett, ging damit ans Fenster und setzte mich im Schneidersitz in den Besuchersessel.

»Hi Schatz!« Mama sah gestresst aus.

»Hallo Mom!« Ein kleiner, blonder Lockenkopf tauchte neben meiner Mutter auf. Ich lachte auf und winkte wie wild. »Hallo Kathleen!« Es war schön, sie zu sehen, auch wenn mir gar nicht nach Skypen war. Vor allem die Kleine vermisste ich furchtbar. Sie durfte nicht zu mir, also telefonierten wir täglich oder gingen – wie heute – online und quatschten, manchmal bis zum Abendessen oder sogar noch länger, wenn bei mir etwas Blödes gewesen war, schlechte Werte oder so.

Ich wollte nicht, dass Kathleen dachte, sie sei schuld an irgendwas oder dass sie bestraft würde, weil sie nicht zu mir konnte. Doch Kindergartenkinder waren Gift für Leute wie mich. »Bazillenschleuder«, sagte ich manchmal, wenn Kathleen es nicht hören konnte. Sie war immerzu erkältet. Schnupfen, Husten, Heiserkeit. Kein Problem für Menschen mit einem funktionierenden Immunsystem. Für solche wie mich eher suboptimal.

»Wie ist es?«, fragte Mama.

»Gut.«

»Wir haben dir was gekauft!«, schrie die Kleine. »Guck! Guck!« Sie hielt bunten Stoff vor den Laptop.

›Aha, sie waren also shoppen‹, überlegte ich. Früher waren wir oft zusammen losgegangen.

»Ein Kleid, ein richtig schönes. Mit Blumen und so.«

Mama lachte, was hieß, dass Kathleen darauf bestanden hatte, es mir zu kaufen. Die Kleine hatte es mir ausgesucht, da war ich mir sicher. Ich war ihre große Barbie, die sie nun aus der Ferne ankleiden durfte.

»Cool«, sagte ich. »Zeig noch mal!«

Wir quatschten über den Tag, den sie in der Stadt verbracht hatten. Mama sagte, dass sie morgen selbst bei einem Arzt sei, also erst übermorgen nach Bonn käme.

»Ist es etwas Ernstes?«

»Nein, nein«, lächelte Mama.

Keine Ahnung, warum ich nachgefragt hatte. Irgendein Arschloch in mir wollte, dass sie immer bei mir war. Immer, zu jeder Sekunde wollte ich meine Mutter bei mir haben, sodass ich es nicht einmal wirklich gut verkraftete, wenn sie zum Zahnarzt ging oder eben mit meiner kleinen Schwester shoppen.

›Bis übermorgen‹, wollte ich sagen, oder ›bis morgen hier am Tablet oder am Telefon.‹ Stattdessen bat ich Kathleen, mir ihre Sachen zu zeigen. Ich wusste, sie hatte ganze Berge bekommen.

Wir skypten bestimmt eine Stunde oder sogar noch länger. Zum Abschied musste ich – wie immer – mein für sie ausgedachtes Glasherzprinzessin-Märchen weitererzählen. Ich bekam zwischendrin das Essen, das ich trotz Hunger stehen ließ.

»Ich esse es später!«, sagte ich, als Schwester Gabi mich wortlos ermahnte. ›Bin bestimmt die ganze Nacht wach‹, dachte ich und war froh, dass sie gleich wieder verschwand.

AKI

Es war nicht das Feuer, das den Tod brachte, vielmehr war es der Rauch. Das wusste Aki Riebler aus vier Jahren Berufsalltag. Er riss die Autotür des Löschfahrzeugs auf und sprang auf die Straße. Das Haus vor ihm stand bereits in Flammen.

»Mein Baby!«, schrie eine junge Frau und versuchte, sich aus den Armen einer anderen Frau herauszuwinden. Am ganzen Körper zitternd brüllte sie: »Mein Baby ist da oben! Bitte, es ist im letzten Zimmer, ganz oben!«

Die Menschenmenge drängte näher, obwohl jemand schon angefangen hatte, eine Absperrung einzurichten.

»Wir sind zu spät«, sagte Akis Chef Ralf hinter ihm. An die Umherstehenden gerichtet: »Wer genau ist noch in dem Gebäude?«

Aki sah hinauf zu dem äußersten Fenster, aus dem – wie aus allen anderen Fenstern – dichter Qualm mit züngelnden Flammen drang. Er hörte, wie seine Kameraden die Löschschläuche herauszogen. Ohne zu überlegen, griff er zu seiner Atemschutzmaske, nahm sie und rannte auf das Haus zu.

»Aki, nicht!«, herrschte ihm Ralf hinterher.

Aki blieb für einen Augenblick direkt vor dem Haus stehen, stülpte die Atemschutzmaske über, schloss das Visier seines Helms. Noch ein Schritt, er prüfte die Türklinke, drückte sie hinunter und trat ein. Im Qualm vor ihm flackerte es bedrohlich.

»Aki!«, hörte er abermals Ralfs Stimme hinter sich. Fast gleichzeitig schrie die Frau noch lauter.

Glas zersprang, Holz knackte, von hinten drangen Laute zu ihm, aber er nahm sie kaum wahr. Stattdessen überdachte er rasch den Weg zum äußersten Zimmer des Gebäudes und rannte los, obwohl überall brennende Holzbalken von der Decke hingen. Ein paar von ihnen lösten sich, fielen Aki krachend entgegen. Er wich ihnen im Laufen aus. Ein Holzstück hätte ihn beinahe am Kopf getroffen, doch der Feuerwehrmann blieb nicht stehen. Seine Pupillen verengten sich, das Herz knarrte im Takt seiner Schritte.

Das Treppengeländer schien noch intakt, die Stufen sah er allerdings kaum. ›Passiert schon nichts‹, dachte er und setzte den Fuß auf die erste.

Trotz Atemmaske schoss ihm für Sekunden eine vertraute Hitze ins Gesicht: das Adrenalin, das seinen Körper überflutete. Tief durchatmend griff er an das Geländer und rannte hinauf, dem Qualm entgegen. Nach wenigen Schritten polterte etwas von der Decke und schlug neben ihm auf. Aki riss einen Arm zum Schutz über seinen Kopf, machte sich kleiner und steigerte sein Tempo.

Oben angekommen sah er den Flur entlang. Er versuchte, die anschwellende Hitze zu ignorieren. Der Qualm verdichtete sich. Die Wände waren bereits schwarz, der Boden teilweise aufgerissen und zerschmolzen.

Aki ging in die Hocke, versuchte zu ertasten, ob etwas im Weg lag, kroch die letzten Meter beinahe blind vorwärts.

»Hallo?«, hustete er mehr, als dass er rief. Er wusste nicht, wie alt das Kind war, ob es ihn überhaupt verstand.

Das letzte Zimmer. Er testete die Temperatur der Türklinke, duckte sich und drückte so vorsichtig wie möglich die Tür auf. Die Gefahr, von Flammen überrascht zu werden, lauerte überall, vor allem aber hinter geschlossenen Türen, das wusste er aus Erfahrung. Es kam ihm kein Feuer entgegen, da das offene Fenster die Flammen nach draußen zu ziehen schien. Dennoch war der Raum voller Qualm.

Aki wurde erneut in die Hocke gezwungen. Überall sah er kleinere Feuerherde auf dem Fußboden. Auf allen vieren kroch er dazwischen herum und versuchte, sich zu orientieren. ›Schneller, Aki, schneller, vielleicht reicht es ja doch noch.‹

»Hallo? Wo bist du?«, rief er.

Er sah die Füße eines kleinen Bettes. ›Bestimmt die Wiege‹, dachte er, steuerte die Ecke an, in der es stand. Aus dem Augenwinkel sah er darunter etwas Dunkles, langte mit der anderen Hand dorthin und zupfte an dem Wesen, das sich noch bewegte. Doch es war nicht das Baby, das begriff er instinktiv. Durch den Handschuh hindurch und im dichten Qualm konnte er nur Vermutungen anstellen. Eine Katze vielleicht oder ein Welpe? Da das Knäuel sich bewegte, bestand durchaus die Chance, dass auch das Baby – wo immer es war – noch lebte.

Aki hielt seinen Fund fest, stand auf und tastete mit schnellem Griff das gesamte Bett ab. Es war leer!

»Scheiße!« Aki ging wieder in die Hocke. »Stirb mir jetzt nicht weg«, sagte er zu dem Wesen in seinen Händen und robbte zwischen den Brandherden hindurch. Plötzlich stoppte ihn etwas. Sein Kopf donnerte gegen brennendes Holz, das er als eine Tischplatte ertastete. Er bückte sich noch etwas tiefer und steckte seinen Kopf darunter. Tatsächlich! Ein lebloser, kleiner Menschenkörper lag zusammengerollt unter dem Tisch.

Aki zog ihn zu sich, drückte das Menschlein und das Tier an sich, stand auf und rannte nun – völlig blind – in die Richtung, wohin Qualm und Feuer abzogen: zum Fenster, dessen Glas zersprungen war, und von wo panisches Geschrei zu hören war.

2

AKI

Der Schaum lief vom Scheitel über die gebräunte Haut des Halses, die durchtrainierten Schultern, die geschlossenen Augen und das Gesicht Richtung Brust weiter nach unten. Aki legte den Kopf in den Nacken, sodass seine Haare, die unter dem Wasserstrahl nach hinten fielen, sich daran anschmiegten. Das Wasser floss über seine Wangen, benetzte seinen Mund sowie die Härchen des Dreitagebarts. Er schloss die Augen und versuchte, sein pochendes Herz zu beruhigen. Seine Gedanken drehten sich noch immer im Kreis.

»Was ist denn jetzt mit der Kleinen?«, polterte Kai neben ihm. Aki überlegte einen Moment, schüttelte den Kopf und seufzte.

»Sie heißt Linda«, sagte er nur, ohne die Augen zu öffnen. Er drehte das Wasser zuerst auf warm, dann auf ganz kalt. Seine Muskeln spannten sich an.

»Läuft da was?« Kai lachte und Aki dachte daran, dass er Linda zurückrufen wollte.

»So wie sie dich letztens angeschmachtet hat.« Kai stellte das Wasser ab. »Weiß Bea eigentlich davon?« Er schnappte sein Handtuch, rubbelte sich damit den Oberkörper trocken und wickelte es sich dann um die Hüfte.

Aki sah seinem Kollegen hinterher. »Bea ist nur eine Freundin.« Er fragte sich, weshalb das Duschen ihn nicht, wie sonst, beruhigt hatte. »Eine Kollegin außerdem.« ›Und mit Kollegen beginnt man nichts‹, setzte er in Gedanken hinzu. Dass Bea und er während ihrer gemeinsamen Ausbildung einen kleinen Flirt gehabt hatten, zählte nicht und war längst geklärt.

Er trocknete sich ab und folgte seinem Freund in die Umkleide, in der der Rest des Teams sich zum Aufbrechen fertigmachte. Kai klopfte Aki auf dessen Oberarm.

»Du und die Frauen.« Er zwinkerte. »Gehen wir noch was trinken?«

Aki ging an seinen Spind, öffnete ihn, zog seine Klamotten heraus und schlüpfte hinein. Beim Anblick der Dunkelheit des Metallschranks vor ihm verfinsterten sich seine Gedanken vollends.

»Sorry, Mann, nicht heute«, gab er zurück, nahm seine Tasche an sich und sah kurz zu Kai, der ihn verständnislos anstarrte. ›Ist was?‹, las Aki in seinem Blick. ›Wir gehen doch immer was trinken nach so einem Einsatz.‹ Aki senkte seinen Blick, warf sich die Tasche über die Schulter und verabschiedete sich mit knapper Handbewegung vom Rest des Teams.

Als er ins Auto stieg, klingelte sein Handy, doch er ging nicht dran.

Erst nachdem er gegessen, sich noch einmal geduscht und auf sein Bett gesetzt hatte, sah er, wer die Anruferin gewesen war. Er legte das Handy auf die Bettdecke, ließ sich nach hinten fallen, starrte zur Decke hinauf und bemühte sich, die Bilder des heutigen Einsatzes auszublenden. Doch allein bei dem Versuch pochte sein Herz schneller. Er schluckte, schloss die Augen, legte die Hand auf das Handy neben sich und atmete tief ein und aus. Die ersehnte Entspannung jedoch stellte sich nicht ein. Das Mobiltelefon unter seinen Fingern blieb allgegenwärtig, der Gedanke daran, zurückzurufen, nahm allerdings keinen Platz in seinem Kopf ein.

MILA

»Hallo, meine Süße!«

Ich verschluckte mich fast.

»Mama!«

Sie nahm mich in den Arm, drückte mich an sich, küsste mich auf den Scheitel und sah mich dann streng an.

»Was denn?«

Sie lächelte, schüttelte ihren Kopf.

»Nichts. Nichts, wirklich.«

›Wolltest du nicht morgen kommen?‹, wollte ich fragen, schwieg aber. Jede Minute mehr, die sie bei mir war, war eine gute Minute.

»Ist Kathleen bei Paul?«

Mama nickte, packte eine Tüte aus ihrer Tasche und reichte sie mir. Ich mochte ihren Ex noch immer nicht, doch im Moment war er mir fast schon sympathisch. Wenn er die Kleine übernahm, konnte unsere Mutter nämlich bei mir sein.

»Ich soll es mit dem Handy aufnehmen«, sagte Mama. Auf meine Frage nach Paul ging sie nicht weiter ein.

Ich lachte, dachte daran, wie wir uns einst über den Gockel in die Haare bekommen hatten, schüttelte die Erinnerung von mir ab, griff stattdessen in die Tüte und holte das geblümte Etwas heraus. Das Kleid hätte meiner Schwester gestanden, prinzessinnenlike. Mir war es bestimmt zu klein. Mamas Blick duldete allerdings keinen Widerstand. ›Los jetzt, anziehen!‹, lautete der stumme Befehl.

»Du hast gar nicht erzählt, was du gestern gemacht hast«, hörte ich, als ich im Bad verschwand.

»Nichts weiter«, murmelte ich. »Fernsehen geschaut, gegessen, eine Clown-Show auf der Kinderstation gestört.« Ich hustete. »Geschaut«, korrigierte ich mich im Rausgehen.

Im Zimmer gab es keinen Spiegel, bestimmt aus gutem Grund. Ich hatte erneut zugenommen. Beim Zähneputzen hatte ich in den letzten Tagen aus Versehen in das kleine Ding über dem Waschbecken geguckt.

»Sieht doch gut aus«, schmeichelte mir meine – wenn es um mein Aussehen ging – chronisch lügende Mutter.

Ich schnaufte, das Kleid war tatsächlich zu eng und kniff überall.

»Clowns?«, beeilte sie sich, mich abzulenken.

Ich ging ins Bad zurück, holte mir den Krankenhauskittel sowie die unsägliche Hose und tauschte beides im Zimmer gegen das unsägliche Kleid.

»Jetzt habe ich vergessen, das Video zu drehen«, klagte sie wehleidig. »Also noch mal: Clowns? Hier im Krankenhaus?« Sie war ganz Ohr, setzte sich auf mein Bett und riss ihre Augen auf. Für eine zweifache Mutter sah sie noch sehr nach einem Mädchen aus. Ach ja, und meine Mutter liebte Clowns, daher überhaupt meine Kenntnis darüber, was ein Pierrot war. Sie hatte das besagte Buch einst für Kathleen gekauft. Ich erzählte ihr, wie Schwester Gabi mich überredet hatte, rüberzugehen.

»Ich habe eine Reportage über solche Krankenhaus-Clowns geguckt. Klasse, was sie da tun!«, schwärmte Mama.

Ich schluckte und fühlte mich wegen gestern noch blöder. Um sie nicht zu enttäuschen, verschwieg ich alle peinlichen Details. »Ja, war ganz nett«, sagte ich nur.

»Ganz nett?« Sie wollte offenbar weiter darüber reden, wie toll Clowns waren.

Ich zog Grimassen und machte die drei bunten Vögel von gestern nach, während meine Mutter das Handy herauskramte und mich dabei filmte. Irgendwann machte ich das, was wir zu Hause machten, wenn wir Pantomime spielten. Erstes Wort, zweites Wort. Setze es zusammen. Ich sagte keine einzige Silbe, doch Mama verstand sofort, was ich von ihr wollte.

»Klein?«

Ich nickte.

»Du? Zwei? Mädchen?« Sie kam erst nicht drauf.

»Ach warte: Kathleen!« Sie lachte, dann drehte sie das Handy so um, dass sie selbst hineinsprechen konnte. »Schatz, das ist wohl für dich! Deine große Schwester will dir offenbar Danke sagen. Hier.« Wieder hielt sie das glänzende Ding auf mich. »Sieht doch gut aus, stimmt’s?«

Irgendwann hörte sie auf zu filmen und wir alberten einfach so herum. Das war das Schönste mit ihr: Herumalbern. Lachen oder einfach schweigen.

Seit ich begriffen hatte, wie toll es war, eine so junge Mama zu haben, weigerte ich mich, in ihr nur diese zu sehen. Sie war meine beste Freundin, meine achtzehn Jahre ältere Schwester. Als sie das zweite Mal schwanger geworden war, war sie fast doppelt so alt wie mit mir seinerzeit. Ich könnte also Kathleens Mutter sein oder aber die Schwester von Mama.

»Nutella!«

Sie war dran mit Pantomime. Ich lag im Bett. Sie sprang wie ein Gummiball zwischen der Tür und dem Fenster herum, machte wilde Bewegungen vor ihrem Mund.

Sofort sah ich das Bild von mir, wie ich, die Schokolade löffelnd, am Tisch in unserer Küche saß. Mein Gott, wie lange war das jetzt her? Ich lachte.

Mama wurde ruhiger, legte sich neben mich und streckte sich aus. Da lagen wir. Sie erschöpft vom vielen Herumhampeln, ich nur erschöpft vom Garnichts-Machen. Erschöpft und gleichzeitig glücklich. Immer wenn Mama bei mir war, dachte ich, dass alles wieder gut werden würde.

»Ich habe dich so lieb, Schatz«, sagte sie plötzlich. Ich drehte meinen Kopf zu ihr und strahlte sie an. Sie kannte meine Antwort, ich musste es nicht aussprechen. Sie legte ihren Arm näher, ich hob meinen Kopf und legte mich von innen auf ihre Schulter.

»Wie war es beim Arzt?«, fragte ich irgendwann.

»Nur eine Kontrolle«, sagte sie. »Vorsorge«, korrigierte sie sich.

Ich glaube, ich war zusammengezuckt. Kontrolle war etwas, das mir seit einem Jahr Panik machte. Allein das Wort jagte Gänsehaut über mich.

»Mir fehlt nix«, beschwichtigte sie und ich drückte mich näher an sie. Von mir aus konnten wir so eine ganze Weile liegen bleiben, aber ich wusste, dass sie nach Hause musste. Paul würde Kathleen nicht über Nacht behalten, sie hing – wie ich – zu sehr an Mama. Also schloss ich meine Augen und versuchte, die Minuten, die mir für heute in ihren Armen blieben, einfach nur zu genießen.

»Du hast so süß geschlafen und ich musste meinen Zug erwischen«, stand auf dem Zettel, den sie neben mich ins Bett gelegt hatte. Ich setzte mich auf und machte es mir im Bett gemütlich. Berieselungs-TV gucken. Wieder nahm ich mir vor, nach unten zum Kiosk zu gehen, um etwas Gescheites zum Lesen zu kaufen, oder aber Mama das nächste Mal darum zu bitten.

3

AKI

»Ich wollte mich die ganze Zeit schon melden«, sagte sie leise, während sie schüchtern die große Halle betrat.

Aki sah auf, nickte, dann schluckte er, zog sich einen Lappen von der Metallstange und wischte daran seine Hände ab.

Er dachte an seinen Chef Ralf, der ihm die Zwangspause angeordnet hatte. Zu gern wäre er wieder im Dienst, statt die Zeit mit dem Warten der Löschfahrzeuge totzuschlagen.

»Kommen Sie rein«, bedeutete er ihr, wies mit einer Hand zu dem kleinen Aufenthaltsraum, trat zur Seite und ließ die Frau vorbeigehen. ›Geht es dem Jungen gut?‹, wollte er fragen, doch sie kam ihm zuvor.

»Ich habe etwas für Sie.« Bevor sie sich an den Tisch setzte, holte sie ein Päckchen aus ihrer Handtasche. Ihr Blick wanderte durch den Raum, berührte Akis Gesicht und flüchtete. Sie hatte ihn ganz anders in Erinnerung. Älter und – vor allem – nicht so hübsch. Sie sah weg, sammelte sich, nahm sich vor, ihn nicht zu sehr anzustarren. »Das hat er für Sie gemacht.«

Der junge Feuerwehrmann atmete durch. ›Der Kleine hat überlebt‹, dachte er erleichtert, schob aber sogleich die Bilder aus seinem Kopf. ›Vielleicht hat Ralf recht‹, überlegte er, denn es gelang ihm partout nicht, Distanz zu wahren. Die Frau musterte ihn nicht, sie starrte ihn an, sobald sich ihre Blicke kreuzten. Aki blieb am Tisch stehen, sein Blick legte sich auf die zitternden Hände der Besucherin. ›Sie hat ebenfalls zu kämpfen mit diesem Brand‹, stellte er fest. Verbrennungen entstellten ihr Gesicht. ›Ich hätte sie auf der Straße nicht wiedererkannt‹, dachte er, doch ihre Stimme war genau die, die ihn seit der Brandnacht immerzu verfolgte.

»Ohne Sie hätte ich Noah verloren«, flüsterte sie und er begriff, wie nah sie den Tränen war. ›Noah‹, dachte er. ›So ist also sein Name.‹

Die Mutter des Jungen schnaufte. »Entschuldigen Sie bitte.« Wieder sah sie zu ihm hoch. Ihre Augen suchten sofort nach etwas neben ihm, das sie anstarren konnte. Als sie nichts fand, blickte sie zu Boden.

Aki erinnerte sich, wie er mit dem Kind auf dem Arm und mit dem Welpen der Familie in der anderen Hand in den Korb der Drehtreppe trat. Wie die Mutter zu ihrem Jungen gerannt war, wie sie schrie und bettelte, er solle aufwachen. Als die beiden mit dem Krankenwagen davonfuhren, ahnte er nicht, dass ihr Schicksal ihn nicht loslassen würde.

Jetzt drehte er sich um und kochte ihr ungefragt einen Tee. Als er die Tasse vor sie stellte, nahm er das aufgelöste Gesicht der Frau vor sich wahr, als sie begriff, dass der Kleine den Flammen entrissen war. Dann erst wurde ihm bewusst, wie sie dankbar nickte und den Dampf des Tees wegpustete.

»Ich hätte viel früher kommen sollen.«

Aki schüttelte den Kopf.

»Darf ich Sie drücken?«, fragte sie schüchtern. Erneut schluckte der junge Mann. Die Situation war ihm äußerst unangenehm.

Die Frau ließ ihren Tee stehen, stand auf, umarmte ihn. »Danke, danke. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, flüsterte sie und entspannte sich für einen winzigen Augenblick.

Einen Moment lang stand Aki unbewegt da, doch kurz bevor sie ihre Arme wieder sinken ließ, legte er seine um ihren Rücken und versuchte, ihr aufsteigendes Schluchzen abzumildern.

MILA

Keine Ahnung, warum ich in dieser Nacht ausgerechnet von dem seltsamen schwarz-weißen Clown träumte und nicht wie üblich von meiner Fahrprüfung. Von dem Tag, an dem mein altes Leben geendet hatte. Das Gute dabei war, dass ich nicht schweißgebadet aufwachte wie schon seit Monaten beinahe jeden Morgen.

»Gut geschlafen?«

Es war die andere Krankenschwester. Ihren Namen konnte ich mir nicht merken. Vielleicht, weil ich sie nicht so sehr mochte wie Schwester Gabi. Diese hier meckerte ständig an mir herum, nahm das Essen mit, obwohl ich es einfach nur später essen wollte statt gleich, und bestand darauf, dass ich meine Tabletten immer in ihrem Beisein einnahm. Als ob ich ein Junkie wäre, der die Dinge hortete, um was weiß ich was Verrücktes mit denen anzustellen. »So lautet die Vorschrift«, sagte sie stets. ›Komisch, die scheint nur für dich zu gelten‹, dachte ich.

Na ja, heute schien selbst sie gut gelaunt. Kein Befehlston, nette Begrüßung. Sollte ich vielleicht auch versuchen, nett zu sein? ›Gewöhn dich nicht an die Krankenschwester. Sie gern zu haben, birgt das Risiko, dass du sie arg vermisst, wenn sie dich wieder entlassen.‹ Ich sah Richtung Fenster und lächelte. Die blöde Verstimmung wegen der Tabletten, vor der mich die Ärzte bereits gewarnt hatten, schien sich langsam zu legen. Ich glaubte allen Ernstes wieder daran, dass sie mich entlassen würden. Ich grinste in mich hinein.

»Du siehst besser aus!«, setzte sie noch einen drauf. Mist.

»Danke.«

»Was war denn gestern?« Der Ton war noch immer nett, aber jetzt schwante mir, dass es ein Trick gewesen war. Oder meinte sie vielleicht gar nicht die Sache auf der Kinderstation?

»Ähm, was denn?« Sollte sie doch denken, dass ich keine Ahnung hatte. Ich setzte mich auf, ließ meine Beine vom Bett runterhängen, sah zu, wie sie mir den Blutdruck maß, nahm meine Tabletten und zeigte ihr sogar den leeren Mund, obwohl ich mir vorkam wie die Insassin einer Irrenanstalt.

»Du sollst herumgeschrien haben«, sagte sie. »Sollst hysterisch geworden sein.«

»Hysterisch?« Ich hustete. »So ein Quatsch. Ich habe nur gesagt, dass Clowns nicht meine Sache sind.«