Globale Gesundheit (Wissen & Leben) - Manfred Spitzer - E-Book

Globale Gesundheit (Wissen & Leben) E-Book

Manfred Spitzer

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Beschreibung

»Bleiben Sie gesund!« - und unser Planet am besten gleich mit... - Aktuell: Die krisenhafte Entwicklung unserer Zeit - Wissenswert: Wie hängen Mensch, Tier und Umwelt zusammen? - Unterhaltsam: 17 Essays des Bestsellerautors Manfred Spitzer Gesundheit ist unteilbar: Wir dürfen die menschliche Gesundheit nicht isoliert betrachten, der One-Health-Gedanke zeigt, dass Tier, Mensch und Planet Erde zusammen gedacht werden müssen. Je mehr der Lebensraum vieler Pflanzen- und Tierarten eingeschränkt und zerstört wird, desto mehr die Artenvielfalt abnimmt, desto empfindlicher wird das Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt gestört. Dies begünstigt auch die Übertragung von Krankheiten zwischen Tier und Mensch und kann schließlich zu Pandemien wie der Covid-19-Pandemie führen. Was können wir also aus dem Blick auf Mensch, Tier und Umwelt lernen? Ist das, was für uns gesund ist, auch automatisch gesund für unseren Planeten? Hat die andauernde Klimakrise Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit? Der Neurowissenschaftler und Bestsellerautor Manfred Spitzer beleuchtet in 17 neuen Essays nicht nur krisenhafte Entwicklungen unserer Zeit, er stellt darüber hinaus auch Fragen wie: Gibt es die sprichwörtliche »tödliche Langeweile« tatsächlich? Hängt wie wir sprechen letztlich davon ab, was wir essen? Und was passiert eigentlich, wenn man ein Schweinehirn wiederbelebt? Dieses Buch richtet sich an: Ärztinnen und Ärzte, psychologische und ärztliche PsychotherapeutInnen, PsychiaterInnen, TherapeutInnen im weitesten Sinne, die Entspannungsverfahren und Körpertherapie anbieten, PsychotherapeutInnen.

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Seitenzahl: 315

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Manfred Spitzer

Globale Gesundheit

Mensch – Tier – Erde

herausgegeben von Wulf Bertram

Wulf Bertram, Dipl.-Psych. Dr. med, geb. in Soest/Westfalen, Studium der Psychologie, Medizin und Soziologie in Hamburg. Zunächst Klinischer Psychologe im Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf, nach Staatsexamen und Promotion in Medizin Assistenzarzt in einem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Provinz Arezzo/Toskana, danach psychiatrische Ausbildung in Kaufbeuren/Allgäu. 1986 wechselte er als Lektor für medizinische Lehrbücher ins Verlagswesen und wurde 1988 wissenschaftlicher Leiter des Schattauer Verlags, 1992 dessen verlegerischer Geschäftsführer. Aus seiner Überzeugung heraus, dass Lernen Spaß machen muss und solides Wissen auch unterhaltsam vermittelt werden kann, konzipierte er 2009 die Taschenbuchreihe »Wissen & Leben«, in der mittlerweile mehr als 50 Bände erschienen sind. Bertram hat eine Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie sowie in Psychodynamischer Psychotherapie und arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis.

Für seine »wissenschaftlich fundierte Verlagstätigkeit«, mit der er im Sinne des Stiftungsgedankens einen Beitrag zu einer humaneren Medizin geleistet hat, in der der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Mittelpunkt steht, wurde Bertram 2018 der renommierte Schweizer Wissenschaftspreis der Margrit-Egnér-Stiftung verliehen.

Impressum

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer

Universität Ulm, Psychiatrische Klinik

Leimgrubenweg 12–14

89075 Ulm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besonderer Hinweis

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Schattauer

www.schattauer.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock.com/DOERS

Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Altusried-Krugzell

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Ruth Becker

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40073-1

E-Book ISBN 978-3-608-11661-8

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20537-4

Inhalt

Vorwort

1 Eine Gesundheit

1.1 Zoonosen

1.2 Antibiotikaresistenz

1.3 Lebensraum und Artenvielfalt

1.4 Nahrungsmittelknappheit

1.5 Lebensraum

1.6 Artensterben

1.7 Anthropozän: ein neuer Name für die Bedrohung der Welt durch den Menschen

1.8 Verlust der Biodiversität und Corona-Krise

1.9 Earth Overshoot Day

1.10 Röteln

1.11 Was kann man tun?

2 Zur Psychologie der Erderwärmung

2.1 Psychologie und Klimamaßnahmen

2.2 Angst versus Kreativität

2.3 Vorurteile versus Offenheit

2.4 Solidarität versus Entsolidarisierung

2.5 Radikalisierung versus Freiheit

3 Gesund an ungesunden Orten

3.1 Das berühmteste Psychiatrie-Experiment der Welt

3.2 Der Betroffene (M. Spitzer)

3.3 Der Wahrheitssucher (R. Spitzer)

3.3.1 Das DSM-III

3.4 Übersetzungsfehler mit Folgen

3.5 Brendan Maher und Martha Mitchell

3.6 Susannah Cahalan: The Great Pretender

3.7 Zwei Pseudopatienten

3.8 Pseudopatient Rosenhan

3.9 Rosenhan und R. Spitzer

3.10 Diskussion

4 Die Replikationskrise in der Psychologie

4.1 Historische Einleitung

4.2 Replikation von 100 bekannten Studien

4.3 Welche wichtigen Studien aus der Psychologie sind betroffen?

4.4 Was geschah nach der Replikationskrise?

4.4.1 Akzeptanz für direkte Replikationen

4.4.2 Konsortien für größere Stichproben

4.4.3 Diskussionen um den p-Wert und die p-Wert-Schwelle

4.4.4 Veränderte Richtlinien und Formate für Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften

4.4.5 Öffentliche Bereitstellung der Daten

4.4.6 Vorregistrierung von Studien

4.4.7 Diskussionen um bayessche Statistiken

4.5 Diskussion: Führen diese Änderungen zu verlässlicheren Befunden?

5 Grade der Evidenz

6 Fußball gegen Vorurteile

7 Keilschrift, Kant und Kaufverträge

7.1 Schreiben in Schulen

7.2 Der hermeneutische Zirkel

7.3 Medienkompetenz?

7.4 Computer versus Gehirne

7.5 Monetarisierung von Unverständnis

7.6 Das Alphabet heute

7.7 Die Schulen heute

8 Biologie versus Kultur, Sprache und Denken – am Beispiel von Farben und Emotionen

9 Neandertaler ohne F

10 Müttersprache – Zu den Auswirkungen eines Sprachkurses für Mütter auf deren Babys

10.1 Babys hören schlechter als Erwachsene

10.2 Was ist Müttersprache?

10.3 Müttersprache kommt beim Baby besser an

10.4 Coaching zum Lernen von Müttersprache

10.5 Coaching in Müttersprache fördert die Sprachentwicklung beim Kind

10.6 Coaching für Väter?

10.7 Zusammenfassende Diskussion

11 Gehirn (und Geist?) nach Tod im Schlachthof

11.1 Dopplersonografie – Perfusion

11.2 MRT (T1-gewichtet) – Struktur

11.3 Histologie – Zytoarchitektur

11.4 Biochemie – Apoptose, myelinisierte Fasern

11.5 Glia – Inflammation

11.6 Elektronenmikroskopie – Ultrastruktur der Synapsen

11.7 Metabolismus

11.8 Elektrophysiologie in Gehirnschnitten

11.8.1 EEG

12 Das haptische Gedächtnis

13 Christiania, Science und Cocktails

13.1 Soziale Experimente in Dänemark

13.2 Christiania

13.3 Science and Cocktails

13.4 Digitales Dänemark

13.5 Diskussion

Sachverzeichnis

Für Johanna

Vorwort

Medizin ist heute in vielfacher Hinsicht global: Werden irgendwo Fortschritte gemacht, verbreitet sich das Wissen in Windeseile über den Globus. Die Corona-Pandemie ist hierfür ein gutes Beispiel: Medizinverlage haben sich weltweit darauf geeinigt, Artikel über das neue Corona-Virus und die von ihm verursachte Erkrankung weltweit kostenlos zur Verfügung zu stellen (open access). Motto: Keiner soll leiden oder gar sterben, weil irgendwelche neuen Erkenntnisse aus Kostengründen nicht bekannt waren. Dies ist wenig bekannt, aber ich halte es für bemerkenswert. Wissen, so zeigen die Erfahrungen mit dem Corona-Virus, ist ein allgemeines Gut und eine starke Waffe gegen die Pandemie.

Im ersten Kapitel geht es um einen anderen Aspekt der Medizin: Sie betrifft nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und – diese Idee ist wesentlich jünger als die Veterinärmedizin – den gesamten Globus. Wenn auch schon vor etwa 50 Jahren die Gaia-Hypothese des Briten James Lovelock formuliert wurde, die besagt, dass die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden könne, so erfuhr die Idee von der Gesundheit des Planeten Erde erst im letzten Jahrzehnt größere Verbreitung. Dies liegt u. a. daran, dass das Thema der Erderwärmung in den Fokus der Öffentlichkeit geraten ist, nicht zuletzt im Rahmen der »Fridays-for-Future«-Bewegung (Kapitel 2).

Nach so viel geballter, wichtiger, aber vielleicht trockener Wissenschaft sei dem Leser dann erst einmal ein Krimi gegönnt (Kapitel 3), ein Psychiatrie-Krimi noch dazu. Zugleich ist es die Geschichte der meist zitierten Arbeit aus diesem Fachgebiet (publiziert im Fachblatt Science im Jahr 1973), von der sich herausstellte, dass sie zum großen Teil erfunden war. Der anschließende Beitrag (Kapitel 4) bleibt dann auch bei diesem Thema und widmet sich allgemein dem Problem der Replikation psychologischer Arbeiten. Der als Replikationskrise bezeichnete Sachverhalt ist wichtig, seine Diskussion war dringend nötig und wird die Psychologie letztlich stärken: Denn was nützen Ergebnisse, auf deren Gültigkeit man sich nicht verlassen kann? Wissenschaft schafft Wissen, und »Wissen« nennen wir nur, was auch wirklich stimmt und worauf wir uns genau deswegen auch wirklich verlassen. Aber auch wenn wir etwas noch nicht zu 100 Prozent (also mit absoluter Sicherheit) wissen, dann gibt es zwischen dem Licht des Wissens und dem Dunkel des Unwissens auch noch Graustufen, also Grade der Evidenz (Kapitel 5), die für die Bewältigung des Alltags durchaus relevant sind: »Ich habe es auf dem Wochenmarkt als Gesprächsfetzen aufgeschnappt« gilt nicht so viel wie »mein bester Freund hat es mir gesagt«, und das wiederum gilt nicht so viel wie »ich habe es selbst gesehen«.

Wissen setzt Verständigung und Vertrauen voraus, und damit wiederum haben wir Menschen so unsere Probleme. Dass diese Probleme eher keine Lösung in theoretischen Auseinandersetzungen am grünen Tisch haben, sondern eher in der gelebten Alltagspraxis, beispielsweise auf dem Fußballrasen, zeigt Kapitel 6. Das gemeinsame Spielen kann Vorurteile abbauen, zwar nicht unter allen Umständen, aber unter bestimmten Rahmenbedingungen schon. Dies wird wichtig sein, wenn wir die vorherigen fünf Kapitel ernst nehmen und die Wahrheit suchen, wenn es darum geht, wie (und wer und wie viele) Menschen künftig leben können. Mit nationalstaatlichem Kleinklein und dem Motto »jeder gegen jeden« kann und wird man das nicht lösen, sondern nur im globalen Miteinander. Das ist sogar Voraussetzung dafür, dass wir die Wahrheit finden und dann richtig handeln (vgl. hierzu auch Spitzer 2021).

Mehrere Kapitel beschäftigen sich mit dem komplexen Wechselspiel zwischen Natur und Kultur, über das nachzudenken sich immer lohnt, weil es zu einer besseren Einordnung unserer Existenz und unseres Erkenntnisvermögens verhilft. Ein wichtiger Schritt in der Transmission von Kultur war die Erfindung der Schrift (Kapitel 7). Seit Jahrtausenden schreiben Menschen Texte und beschäftigen sich mit ihnen, speichern sie, transportieren sie und analysieren und verstehen sie immer wieder aufs Neue. Das nennt man Philologie und das gibt es daher auch seit Jahrtausenden. Seit einigen Jahrzehnten werden für den Umgang mit Texten auch digitale Werkzeuge (Computer, Internet) verwendet, aber die Art, wie wir Menschen Texte verstehen, hat sich durch diese Werkzeuge nicht geändert. Gehirne machen keine Downloads, sondern werden beim Lesen zum Verständnis gebraucht und ändern sich dadurch. Dieser Vorgang heißt Lernen. Seit Jahrhunderten werden schwer verständliche Texte geschrieben – entweder weil bestimmte Sachen tatsächlich komplex und schwer zu verstehen sind oder um ein Informationsgefälle herzustellen, das sich monetarisieren lässt. Das Unverständnis des einen ist der Gewinn des anderen. Das war schon immer so. Aber wenn dies auf institutioneller Ebene zum Prinzip und zur treibenden Kraft des Wirtschaftens wird, sollten wir uns dagegen wehren! »Medienkompetenz« kann uns dabei nicht helfen, denn es gibt sie gar nicht, es sei denn, man meint damit die Philologie.

In Kapitel 8 wird am Beispiel von Farben und Emotionen gezeigt, wie unsere Biologie in unsere Kultur hineinspielt – mehr oder weniger, je nach beobachtetem Sachverhalt oder Vorgang. Vorbei sind die Zeiten, in denen man Kultur und Biologie fein säuberlich sortieren konnte, und die Kulturwissenschaften für die Kultur und die Naturwissenschaften für die Biologie zuständig waren. Denn wir Menschen gehören auch zur Natur und unsere Kultur damit ebenfalls. Wir sind damit jedoch keineswegs vollständig determiniert. Kultur entwickelt vielmehr auch unabhängig von Natur eine Eigendynamik, sodass die Natur allein nicht ausreicht, die Unterschiede zwischen Kulturen zu erklären. Ich möchte diesen Gedanken kurz anhand weiterer Beispiele erläutern. Die Laktoseintoleranz, also der Verlust der Fähigkeit, Milchzucker zu verdauen, ist für alle Säugetiere und damit auch für uns Menschen eigentlich der Normalfall. Denn warum sollte der Körper zeitlebens ein Enzym– die Laktase – produzieren, das man nach der Stillperiode nicht mehr braucht? Aufgrund der vor Jahrtausenden aufkommenden kulturellen Neuerung der Viehzucht und Milchwirtschaft (einschließlich Käseherstellung und damit Haltbarmachung von lebenswichtigem Eiweiß) hatten jedoch Menschen mit einer Mutation, die bewirkt, dass das Gen zur Produktion von Laktase nicht abgeschaltet wird, einen Vorteil – sie konnten sich auch als Erwachsene von Milchprodukten ernähren. Die Mutation setzte sich damit durch, wobei das umso besser gelang, je früher sie auftrat: In Gegenden, wo es Viehzucht schon sein knapp 10 000 Jahren gibt, ist die Laktoseintoleranz viel seltener als in Gegenden, wo erst seit kürzerer Zeit Milch und Milchprodukte zum Speiseplan gehören. In Japan beispielsweise ist das erst seit einigen Jahrzehnten der Fall, weswegen der Anteil der Bevölkerung mit Laktoseintoleranz sehr hoch ist. Folgender Sachverhalt bestätigt diese Überlegungen nochmals eindrucksvoll: Normalerweise handelt es sich bei einem erblichen Defekt um eine ganz bestimmte Mutation. Der genetische »Normalfall« – man spricht auch vom genetischen »Wildtyp« – hingegen weist Unterschiede auf, d. h. beim Wildtyp handelt es sich um eine Vielzahl genetischer Varianten. Bei der Laktoseintoleranz ist dies umgekehrt, denn was heute »Krankheit« ist (Laktose nicht verdauen zu können), war früher der Normalfall (und damit der variantenreiche Wildtyp), wohingegen der heutige Normalfall Ausdruck einer Mutation ist (die allerdings in unterschiedlichen Regionen der Welt eine andere sein kann). Schließlich ist die Laktoseintoleranz auch ein Paradebeispiel dafür, dass die Evolution des Menschen nicht aufgehört hat, sondern vielmehr mittlerweile auch in Anpassungen des Menschen an Kultur besteht. Noch nicht besonders alt ist der Gedanke, dass Kultur der Hauptreiber der menschlichen Evolution während der letzten hunderttausend Jahre (plus/minus ein paar Jahrzehntausende) war (Wilson 2012; Henrich 2016).

Das Kapitel 9 stellt ein weiteres Beispiel für die Kultur als Treiber der Evolution des Menschen vor: den Laut »F«. Diesen gibt es in menschlichen Sprachen erst seit einigen Jahrtausenden, d. h. der Neandertaler, sofern er denn sprach (wovon man heute ausgeht), hatte diesen labiodentalen Frikativ (wie »F« in der Linguistik genannt wird) noch nicht in seinem Laut-Repertoire. Erst die kulturellen Änderungen der Essgewohnheiten der Menschen während der vergangenen Jahrtausende – Kochen, Brei – änderten unser Gebiss und ermöglichten damit das F. Und weil wir schon bei der Sprache sind: Die Sprache von Müttern ist dem noch nicht vollständig entwickelten Hörvermögen ihrer Babys optimal angepasst: Mütter sprechen lauter und mit einer höheren Grundfrequenz (Kapitel 10). Nun ist Sprache zweifellos ein wesentlicher kultureller Tatbestand, der jedoch unbestreitbar auch durch unsere Biologie geprägt ist – wie das fehlende »F« bei den Neandertalern.

Neueste Erkenntnisse zum Gehirntod (Kapitel 11) und zum haptischen Gedächtnis (Kapitel 12) zeigen dies ebenfalls. Die Beschreibung einer Reise zur im Herzen von Kopenhagen gelegenen »dänischen Freistadt« Christiana kann man auch als gesellschaftskritischen Krimi lesen (Kapitel 13). Sie rundet den Reigen der Beiträge in diesem Buch ab und belohnt den Leser mit ein wenig Hygge. Im Lichte der Kapitel 7 bis 10 lässt sich das, was die Dänen damit bezeichnen, wohl als ein Beispiel gelungener Ko-Evolution von Natur und Kultur betrachten und erscheint so in einem ganz neuen Licht.

Ruth Becker hat wie auch bei meinen vorausgegangenen Büchern in ihrer ruhigen, zuverlässigen, klugen, engagierten und kreativen Art das Lektorat besorgt, dafür danke ich ihr erneut und gerne immer wieder. Dr. Nadja Urbani hat aus dem Inneren des Verlages die Fäden für die Realisierung des Buches gezogen und wichtige Anregungen für Titel, Texte und Ausstattung gegeben – auch dafür mein herzlicher Dank. Wulf Bertram hat den Schattauer Verlag über 30 Jahre lang geleitet und mit Beginn des Jahres 2021 seine Arbeit in andere Hände übergeben. Aus den Augen verlieren werden wir uns deswegen aber nicht, denn sobald es nach diesen unglücklichen Zeiten wieder möglich ist, wird auch das Braintertainers-Trio, gemeinsam mit unserem Dritten im Bunde, Joram Ronel, wieder von sich hören lassen – in Lindau, München, Berlin oder anderswo. Wulf hatte vor mehr als zwei Jahrzehnten die verrückte Idee, mich zu fragen, ob ich nicht die Nervenheilkunde herausgeben möchte; und ich hatte die verrückte Idee, ja zu sagen. Das Resultat war einerseits sehr viel Arbeit, nämlich etwa alle zwei Wochen irgendetwas Interessantes und/oder Neues zu schreiben. Andererseits habe ich dadurch auch über sehr viele unterschiedliche Dinge etwas gründlicher recherchieren und nachdenken müssen, als man das tut, wenn man nichts aufschreibt. Denn beim Aufschreiben merkt man immer sofort, was man noch nicht weiß, noch nicht wirklich verstanden und bislang viel zu oberflächlich betrachtet hat. Für diesen einmaligen Schubser mit gefühlt ewigem Nachhalleffekt kann ich ihm im Grunde gar nicht herzlich genug danken, denn der Auftrag entsprach meiner grenzenlosen Neugierde wie der Deckel dem Topf. Und so ergab sich eine sehr lange, sehr fruchtbare Zusammenarbeit: Ich schreibe und er verlegt es – und findet es auch wieder (im Gegensatz zu mir), ein Running Gag über die Jahre. Von den vielen gemeinsamen Gigs mit ihm als Frontmann der Braintertainer gar nicht zu reden! Für all das und noch viel mehr: Danke Wulf!

Dieses Buch ist meiner jüngsten Enkeltochter Johanna gewidmet. Rein statistisch wird sie das Ende dieses Jahrhunderts erleben und dann hoffentlich ihren Enkeln von den Gedanken ihrer Vorfahren zur globalen Gesundheit und deren positiven Auswirkungen auf die Lebenswelt in 79 Jahren berichten.

Ulm, zum Frühlingsanfang 2021

Manfred Spitzer

Literatur

Henrich, J (2016). The Secret of Our Success. Princeton: University Press.

Spitzer, M (2021). Naturerleben. Ins Grüne für mehr Glück, Gesundheit und eine bessere Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta.

Wilson EO (2012). The Social Conquest of Earth. W. W. Norton, New York.

1 Eine Gesundheit

One Health(1) (»eine Gesundheit«) ist eine von der Vereinigung amerikanischer Tierärzte (American Veterinary Medical Association, AVMA) im Jahr 2008 ins Leben gerufene Initiative (One Health Initiative Task Force 2008), deren Ziel es ist, die Gesundheit der Menschen, der Tiere und des Planeten Erde multidisziplinär und mit einem alle drei Bereiche zugleich umfassenden Blick zu betrachten. Das ist beispielsweise bei Krankheiten sehr sinnvoll, die zwischen Tieren und Menschen übertragen werden – man nennt sie seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts Zoonosen(1). Wenn man zusätzlich zu den Infektionswegen, der Biochemie und den unterschiedlichen Lebensphasen vieler Krankheitserreger noch deren Lebensräume (irgendwo auf der Welt) und unseren Lebensraum (überall auf der Erde) mit in Betracht zieht, folgt der Grundgedanke von One Health fast schon mit zwingender Logik: Mensch, Tier und Lebensraum hängen zusammen.

Daher ist dieser Grundgedanke auch nicht auf die USA beschränkt geblieben. Vielmehr haben sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization, FAO) und die Weltorganisation für Tiergesundheit (World Organisation for Animal Health, OIE) diesen Gedanken zu eigen gemacht (▶ Tab. 1-1). Auch die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC)(1) und das Deutsche Robert Koch-Institut (RKI)(1) haben One Health jeweils zu einem ihrer Leitthemen gemacht (▶ Abb. 1-1). Die zwischenstaatliche Plattform für Biodiversität und Ökosystem-Dienstleistungen (IMBES) geht nicht zuletzt auf die Gründer von One Health und deren Idee zurück.

»Das One-Health-Konzept(2)

Mehr als die Hälfte aller bekannten Erreger, die Erkrankungen beim Menschen hervorrufen, sind so genannte Zoonose-Erreger. Diese Pilze, Bakterien, Viren und Parasiten können zwischen Mensch und Tier übertragen werden.

Eine wachsende Bevölkerung, steigende Mobilität, schwindende Lebensräume, industrielle Landwirtschaft und intensivierte Nutztierhaltung – all dies sind Faktoren, die das Risiko für eine schnelle weltweite Ausbreitung von Krankheitserregern erhöhen.

Die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt sind eng miteinander verknüpft. Beim One-Health-Ansatz arbeiten die Akteure der verschiedenen Disziplinen – Humanmedizin, Veterinärmedizin und Umweltwissenschaften – fächerübergreifend zusammen, um beispielsweise der Übertragung von Krankheitserregern entgegenzuwirken. Auch im Kampf gegen Antibiotika-Resistenzen ist der One-Health-Ansatz zentral: Resistenzen kennen keine Grenzen und können sich zwischen Mensch, Tier und Umwelt rasch verbreiten.«

Zitat von der Webseite des RKI(2) zum Thema One Health, Stand: 09. 05. 2019 (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Antibiotikaresistenz/One-Health/One_Health-Konzept.html; abgerufen am 10. 10. 2020)

Abb. 1-1 Faksimile (Screenshot) eines Ausschnitts der Webseite des CDC(2) zum Thema One Health (https://www.cdc.gov/onehealth/what-we-do/zoonotic-disease-prioritization/fact-sheet.html; abgerufen am 10. 10. 2020).

Aufgrund der Ausweitung des globalen Reiseverkehrs (Budd et al. 2009; Christidis & Christodoulou 2020; Tatem et al. 2006) und Handels (Butler 2012; Hatcher et al. 2012) wird die Gesundheit zu einem Problem, das sich ebenfalls nur global lösen lässt. Daher sind Zusammenarbeit, Koordination, Kommunikation und konzertierte Aktionen zwischen unterschiedlichen Ländern und Sektoren des Gesundheitswesens, der Veterinärmedizin und der Ökologie unbedingt erforderlich – aber schwierig. Man spricht mittlerweile von der »Schnittstelle Mensch-Tier-Umwelt« (CDC 2019), wie beispielhaft anhand dreier Problemkreise leicht zu zeigen ist.

Tab. 1-1 Wichtige Organisationen und Einrichtungen für den One-Health-Gedanken.

Wer

Grün-

dung

Sitz

Mit-

glieds-

staaten

Besonderes

WHO(1)

7. 4. -

1948

Genf

194

Weltgesundheitsorganisation, (WHO, World Health Organization), Organ der Vereinten Nationen (UN) für weltweite Gesundheit.

FAO

16. 10. -

1945

Rom

194

Weltweite Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (Food and Agriculture Organization) der UN, im deutschen Sprachraum als Welternährungsorganisation bezeichnet.

OIE

25. 1. -

1924

Paris

182

Der ursprüngliche Name war Office International des Epizooties (französisch), 2003 umbenannt in World Organization for Animal Health; das alte Akronym und der Sitz in Paris wurden beibehalten.

CDC

1. 7. -

1946

Atlanta

USA

Centers for Disease Control and Prevention(3), Gesundheitsbehörde der USA, ursprünglich als Office of National Defense Malaria Control Activities gegründet, umbenannt am 27. 10. 1992.

RKI

1. 7. -

1891

Berlin

Deutsch-

land

Das Robert Koch-Institut(3) wurde als Königlich Preußisches Institut für Infektionskrankheiten gegründet und die ersten 13 Jahre von Robert Koch geleitet. Im Jahr 1912 erhielt es (zum 30. Jahrestag der Entdeckung des Tuberkel-Bazillus) den Namenszusatz »Robert Koch«, nach dem Ersten Weltkrieg verschwand »Königlich« aus dem Namen und im Jahr 1942 erhielt es als selbstständige »Reichsanstalt« den heutigen Namen.

IPBES

21. 4. 2012

Bonn

136

Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES), zu Deutsch: Zwischenstaatliche Plattform für Biodiversität und Ökosystem-Dienstleistungen, auch Weltbiodiversitätsrat oder Weltrat für Biologische Vielfalt genannt. Die Organisation unter dem Dach der UN hat 136 Mitgliedsstaaten. Ihre Aufgabe ist die wissenschaftliche Politikberatung in Sachen Nachhaltigkeit, biologische Vielfalt und »Ökosystemdienstleistungen«.

IUCN

5. 10. 1948

Gland

208

International Union for Conservation of Nature (IUCN), zu Deutsch: Internationale Union zur Bewahrung der Natur. Die IUCN ist eine zwischenstaatliche Organisation, die sich sowohl aus staatlichen als auch zivilgesellschaftlichen Mitgliedsorganisationen zusammensetzt. Sie macht sich die Erfahrung, die Ressourcen und die Reichweite ihrer mehr als 1400 Mitgliedsorganisationen und den Input von mehr als 17 000 Experten zunutze. Diese Vielfalt und das große Fachwissen machen die IUCN zur weltweiten Autorität für den Status der natürlichen Welt und die zu ihrem Schutz erforderlichen Maßnahmen.

1.1 Zoonosen(2)

Die Mehrheit (etwa 70 %) der neu auftretenden Krankheiten (wie Influenza, HIV/AIDS, Ebola, Zika, Nipah-Enzephalitis und zuletzt Covid-19) sind Zoonosen, d. h. durch Tiere übertragene Krankheiten, die deswegen auch keine politischen Grenzen und definitionsgemäß auch keine biologischen Grenzen zwischen Mensch und Tier kennen. Sie wirken sich mitunter nicht nur auf unsere Gesundheit aus, sondern auch auf die Gesundheit und das Wohlergehen von Tieren und damit auch auf die Landwirtschaft und können zu einer Bedrohung der Nahrungsmittelproduktion führen. So wundert es nicht, dass die erste wesentliche Aktion der genannten, den One-Health-Gedanken vertretenden Organisation in der Erstellung eines Leitfadens zur Bekämpfung von Zoonosen bestand (CDC 2019).

1.2 Antibiotikaresistenz(1)

Auch Bakterien kennen weder politische noch biologische Grenzen. In der Landwirtschaft bei der Tiermast verwendete Antibiotika haben »Nebenwirkungen« in Krankenhäusern, denn die gleichen Bakterien, die innerhalb von Tieren eine Resistenz gegenüber Antibiotika entwickeln können, verursachen auch Infektionskrankheiten beim Menschen, deren Behandlung zunehmend schwierig wird, weil die verwendeten Medikamente (Antibiotika) nicht mehr wirken.

1.3 Lebensraum und Artenvielfalt(1)

Die Bedeutung des One-Health-Gedankens wurde nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie(1) für viele überhaupt erst erkennbar (Amuasi et al. 2020)1. Menschen sind nun einmal nicht die einzigen Lebewesen auf der Erde. Insbesondere seit dem Übergang vom Jäger und Sammler zu Ackerbau und Viehzucht leben Mensch mit vielen Arten – Haustieren, Nutztieren, aber auch Parasiten und Schädlingen – eng zusammen. Dies hat in den vergangenen 10 000 Jahren zu vielen Epidemien geführt: Die Masern und Tuberkulose verdanken wir den Kühen, den Keuchhusten den Schweinen und die Grippe den Enten. Viele Menschen sind daran gestorben, aber die »Menschheit« wurde immun – zumindest teilweise, nämlich dort, wo man Haustiere hatte sowie Viehzucht und Milchwirtschaft betrieb. Hunde, Pferde, Esel, Katzen, Rinder, Schweine, Schafe, Gänse, Hühner und Enten – diese Haus- und Nutztiere trugen die Krankheiten unserer Vorfahren in sich. Für uns heutige Menschen sind dagegen Fledermäuse, Schuppentiere, Schleichkatzen oder Schlangen Überträger von Krankheiten und zwar nicht deswegen, weil diese Tiere uns bedrängen, sondern wir sie. – Durch die immer weiter fortschreitende Abholzung der Wälder und die zunehmende Urbanisierung vieler Regionen engen wir den Lebensraum vieler Tiere ein, wodurch ihre Nähe zu uns und damit auch die Wahrscheinlichkeit zunimmt, mit ihnen in Kontakt kommen, sodass Krankheitserreger (Malaria, Ebola, Corona) von ihnen auf uns überspringen können.

Die WHO, FAO und OIE haben daher im Jahr 2019 gemeinsam einen »Dreigliedrigen Leitfaden für Zoonosen« (Tripartite Zoonoses Guide, TZG) herausgegeben, um die Länder der Vereinten Nationen in ihren Bemühungen um die Gesundheit von Mensch, Tier und Erdball zu unterstützen. Er bezieht alle relevanten Sektoren, Fachkenntnisse, Perspektiven und Erfahrungen ein und vernetzt nationale Gruppen, sodass koordinierte internationale Reaktionen auf globale Bedrohungen möglich werden. Einige heben hervor, dass zu diesem Wissen auch die Erfahrungen indigener Völker mit dem von ihnen bewohnten Land (immerhin etwa ein Viertel der Erde) und der von ihnen oft betriebenen schonenden, konservierenden Nutzung gehören (Jack et al. 2020; O’Bryan et al. 2020). Schon im Jahr 2018 erschien eine von Wissenschaftlern der University of Missouri in Columbia, Missouri sowie der der Fontbonne University in St. Louis, Missouri, herausgegebene Einführung in One Health(3) (▶ Abb. 1-2), die den Grundgedanken und einige Beispiele hierzu in 15 Kapiteln durchdekliniert (Deem et al. 2018).

Abb. 1-2 Cover des Einführungsbuchs zum One-Health-Gedanken (links). Der neueste Report des Netzwerks für Informationen zur Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung (Food Security Information Network, FSIN 2020) befasst sich mit den Auslösern für Hungersnöte(1). Dargestellt auch als Icons auf dem Titelblatt des Reports (Mitte). Im neuesten Bericht einer Arbeitsgruppe an den Royal Botanic Gardens (im Londoner Stadtteil Kew) über den Zustand des Pflanzenreichs (Antonelli et al. 2020). Nach Berichten über den Zustand der Pflanzen aus den Jahren 2016 und 2017 sowie über den Zustand der Pilze (2018) ist es der vierte seiner Art, der auf 100 Seiten eine sehr gründliche Darstellung und Analyse der vorhandenen Erkenntnisse liefert. Einer der Schwerpunkte ist, wie auch auf dem Titel thematisiert, die weltweit wachsende Anzahl von Waldbränden (rechts).

1.4 Nahrungsmittelknappheit

So wird beispielsweise die weltweite Nahrungsmittelknappheit(1) diskutiert (Deem et al. 2018). Wussten Sie, dass die globalen Vorräte an Weizen für etwa 60 Tage ausreichen, und dass die Weizenpreise deutlich steigen, wenn es ein paar Tage weniger werden? Weil Transport sehr günstig und irgendwo auf der Welt immer gerade Ernte ist, unterliegen die Preise für Weizen – und für viele Nahrungsmittel ganz allgemein – heute deutlich geringeren Schwankungen als vor 50, 100 oder 300 Jahren (Roser & Ritchie 2013). Das System hat aber seine Schwächen: Während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 kam es beispielsweise zu deutlich gesteigerten Nahrungsmittelpreisen. Dies macht in »reichen« Ländern kaum Probleme, denn wer 10 % seines Einkommens für Nahrungsmittel ausgibt, den trifft eine Steigerung der Preise um 50 % kaum, kann er doch die zusätzlichen benötigten 5 % seines Einkommens leicht anderswo einsparen. In einem ärmeren Land hingegen, dessen Einwohner im Mittel 80 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben, führt eine Preissteigerung um 50 % dazu, dass selbst im besten Fall (wenn man das ganze Einkommen für Nahrungsmittel ausgibt) nur 100 von benötigten 130 % des benötigten Einkommens zur Verfügung stehen, also gehungert werden muss. Hunger wiederum führt zu Unruhen, vor allem dann, wenn das Durchschnittsalter der Bevölkerung noch niedrig ist – wie man während der Finanzkrise vor gut elf Jahren weltweit in mehr als 20 Ländern gesehen hat (Spitzer 2014; Streck 2011; Urdal 2012). Auch die gegenwärtige Corona-Krise kann zu Problemen in der Logistik und damit der Verteilung von Nahrungsmitteln beitragen, selbst wenn es global betrachtet prinzipiell an nichts fehlt, worauf Wissenschaftler der Plattform Globales Netzwerk Gegen Nahrungsmittelkrisen schon vor Monaten hinwiesen (FSIN 2020) (▶ Abb. 1-2).

1.5 Lebensraum

Vor 300 Jahren, also im Jahr 1700, wurden lediglich 9 % der Landerdoberfläche für den Ackerbau verwendet. Im Jahr 1992 waren es 40 % (MacKenzie 2008). Immer mehr Land wird zur Nahrungsmittelproduktion urbar gemacht, weswegen es weniger unberührte Natur und Lebensraum für viele Tierarten gibt. Menschen kommen den Tieren immer näher, was die Verbreitung von Zoonosen(3) begünstigt.

Als Beispiel für die nahezu beliebig hohe Komplexität des Geschehens sei Folgendes angeführt: Eine internationale Arbeitsgruppe (auch unter deutscher Beteiligung u. a. mit dem Virologen Christian Drosten) publizierte im April 2020 eine Studie zu den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Tier mit Blick auf die Zusammenhänge zwischen Stress und Immunsystem. Die Höhle von Faucon(1) im zentralafrikanischen Gabun, einer ehemaligen französischen Kolonie, ist die größte von allen untersuchten Höhlen und beherbergt eine Vielfalt von Fledermausarten. Sie wird regelmäßig von Dorfbewohnern besucht, um Fledermäuse für den Verzehr zu jagen. Man geht davon aus, dass solche Störungen des Lebensraums bei den Fledermäusen chronischen Stress bewirken und damit bei den Tieren eine Unterdrückung der körpereigenen Abwehr (Immunsuppression) verursachen. Hierdurch wiederum könnte die Anfälligkeit der Tiere für Infektionen mit Viren zunehmen (Maganga et al. 2020). Durch den häufigen Kontakt kann es dann zur Übertragung auf den Menschen kommen, wie dies für Coronaviren mittlerweile zweimal geschehen ist. Eine Fledermaus frisst täglich 350 Insekten, die wiederum Malaria übertragen, weswegen die Bedrohung durch die Fledermäuse nicht nur für die Verbreitung von Covid-19(1), sondern auch von Malaria(1) relevant ist.

1.6 Artensterben(1)

Die Zahl der Tier- und Pflanzenarten wurde vor etwa 25 Jahren durch das Global Biodiversity Assessment im Auftrag der UN mit rund 1,75 Millionen ermittelt (UNEP 1995). Diese Zahl ist nur ein Schätzwert. Wissenschaftler schätzen, dass es zwischen 10 und 100 Millionen Tier- und Pflanzenarten auf der Erde gibt. Der Artenreichtum nimmt jedoch mit zunehmender Geschwindigkeit seit Jahrzehnten ab, was meistens als abnehmende Biodiversität(1) bezeichnet wird, obgleich dieser Begriff auch die abnehmende genetische Verschiedenheit (der einzelnen Individuen innerhalb einer Art) und die abnehmende Verschiedenheit von Lebensräumen meinen kann. Man schätzt2, dass etwa 40 % der 310 000 Pflanzenarten, die es weltweit gibt (Deem et al. 2018), vom Aussterben bedroht sind. War noch im Jahr 2016 im ersten Report über den Zustand der Pflanzenwelt von 20 % bedrohter Arten die Rede, so zeigten genauere Daten in den vier Jahren danach eine doppelt so hohe Zahl (Antonelli et al. 2020; ▶ Abb. 1-2).

Die Hauptursache der Bedrohung vieler Pflanzenarten vom Aussterben ist nicht die Erderwärmung (obgleich deren Bedeutung zunimmt, liegt ihr Anteil derzeit nur bei etwa 4 %), sondern die Konversion von immer mehr unberührter Natur in Ackerbauflächen (mit einem Anteil von 38 % am Gesamtgeschehen): »Noch nie zuvor war die Biosphäre, diese dünne Schicht des Lebens, die wir unsere Heimat nennen, so intensiv und dringend bedroht wie heute. Die Rate der Rodung von Wäldern ist stark gestiegen, damit wir genügend Land haben, um immer mehr Menschen zu ernähren«, beschreiben Antonelli und seine Mitarbeiter die Situation (Antonelli et al. 2020). Unter den vom Aussterben bedrohten Pflanzenarten sind übrigens auch 723 in der Medizin als Heilmittel eingesetzte Arten (Antonelli et al. 2020).

Im Tierreich besonders vom Aussterben bedroht sind die Amphibien(1) (Frösche, Salamander, Lurche): Etwa ein Drittel der 6300 Arten ist bedroht (Wake & Vredenburg 2008). Dies liegt vor allem an der Zerstörung ihrer Lebensräume. Durch Ausrottung sind dagegen viele größere Land- und Meerestiere ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. Hinzu kommt als dritter Faktor der weltweite Verkehr und damit die Zunahme der Konkurrenz unter Arten, die früher abgegrenzt voneinander existiert hatten. Schließlich macht der Klimawandel vielen Arten zu schaffen. Eine im Fachblatt Science publizierte Analyse von 131 Studien zu den Ursachen des Artensterbens(2) im Tierreich ergab, dass etwa 8 % vom Klimawandel verursacht werden (Urban 2015). Dieser Effekt hat – wie der Klimawandel(1) selbst – eine steigende Tendenz und wurde mittlerweile experimentell in einer Arbeit mit dem bezeichnenden Titel »Lebe schnell und stirb jung: Experimenteller Nachweis der Auswirkungen des Klimawandels auf das Aussterben von Populationen«3 nachgewiesen (Bestion et al. 2015).

Im Hinblick auf die Tierwelt – etwa 1 400 000 wirbellose Tierarten und 62 000 Arten von Wirbeltieren – sieht es also nicht besser aus als bei den Pflanzen. Man spricht mittlerweile erdgeschichtlich von der sechsten großen Welle des Aussterbens von Arten(3), wobei die erste vor über einer Milliarde Jahren im Aussterben der Lebewesen durch Vergiftung mit Sauerstoff (den die Pflanzen produzierten) bestand und die fünfte große Welle vor 66 Millionen Jahren (bei der u. a. die Dinosaurier ausstarben) höchstwahrscheinlich auf einen Meteoriteneinschlag im Golf von Mexiko zurückgeht (Henehan et al. 2019; Hildebrand et al. 1991; One Health Initiative Task Force 2008), nachdem dieser Gedanke im Jahr 1980 erstmals publiziert wurde (Alvarez et al. 1980). Weil man damals den weltgrößten Meteoritenkrater noch nicht kannte, wurde diese Idee jedoch zunächst sehr skeptisch betrachtet, ist aber mittlerweile weitgehend akzeptiert.

Innerhalb weniger Jahrzehnte nahmen nicht nur die Populationen von Insekten, Vögeln, Fischen und Säugetieren deutlich ab, auch die Vielfalt der Arten ist bedroht. Seit 1964 führt die Weltnaturschutzunion (IUCN) die »internationale Rote Liste gefährdeter Tier- und Pflanzenarten«. Sie unterscheidet die unterschiedlichen Gefährdungsstufen, von »nicht gefährdet« über »verletzlich«, »stark gefährdet« oder »vom Aussterben bedroht« bis »ausgestorben«. Es sind noch längst nicht alle gefährdeten Arten einer Bewertung unterzogen, aber immerhin wurde schon der Gefährdungsstatus aller Vögel, Säugetiere und Amphibien beurteilt. Im Jahr 2020 galten 32 441 der mehr als 120 000 untersuchten Tier- und Pflanzenarten als vom Aussterben bedroht, im Jahr 2000 waren dies noch 11 046 von 16 507 und im Jahr 2010 bereits 18 351 von 55 926 untersuchten Arten.

1.7 Anthropozän(1): ein neuer Name für die Bedrohung der Welt durch den Menschen

Demgegenüber war man sich von Anfang an darüber einig, dass die seit einigen Jahrzehnten oder vielleicht schon seit mehr als zwei Jahrhunderten4 (erdgeschichtlich macht das kaum einen Unterschied) sechste große Welle des Artensterbens(4) nicht auf Geophysik, Vulkanismus oder Meteoriten zurückgeht, sondern auf die Aktivitäten des Menschen. Nicht zuletzt nennt man deswegen auch das derzeitige Zeitalter der Erdgeschichte das Anthropozän(2). Das Wort »Anthropozän« wird (noch inoffiziell) zur Benennung einer neuen geochronologischen Epoche verwendet, in der wir begonnen haben zu leben: Der Name soll andeuten, dass der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Der Begriff wurde Anfang dieses Jahrhunderts vom niederländischen Meteorologen und Nobelpreisträger für Chemie, Paul J. Crutzen(1), wieder in die Diskussion eingebracht (Crutzen 2002; Crutzen & Stoermer 2000; Schulte et al. 2010), nachdem der italienische Geologe Antonio Stoppani(1) bereits im Jahr 1873 die Bezeichnungen »Anthropozoische Ära« beziehungsweise »Anthropozoikum« als Bezeichnungen für ein neues Erdzeitalter vorgeschlagen hatte (▶ Abb. 1-3).

Abb. 1-3 Titelseite der Schrift des italienischen Geologen Antonio Stoppani(2), der dort auf S. 463 bereits im Jahr 1873 von der »antropozoischen Ära« spricht.

1.8 Verlust der Biodiversität(2) und Corona-Krise(2)

Die früheren Wellen des Aussterbens und deren Ursachen werden anhand von Fossilien und anderen erdgeschichtlichen Datenquellen (Bohrungen in Gestein und Eis) zu rekonstruieren versucht. Das jetzige Aussterben im Bereich der Tierwelt wird dagegen dokumentiert. Was mit einem Treffen unter der Schirmherrschaft der National Academy of Science und des Smithsonian Institut in Washington, DC, unter dem Titel »National Forum on BioDiversity«5 im September 1986 begann, wurde innerhalb kurzer Zeit zu einem bedeutsamen wissenschaftlichen und mittlerweile auch politischen Begriff.

Das ökologische Gleichgewicht(1) ist recht empfindlich. Stirbt beispielsweise eine Pflanzenart aus, von der sich eine bestimmte Insektenart vorwiegend ernährt, ist auch diese in ihrem Bestand gefährdet. Davon können wiederum Wirbeltiere (Vögel, Fledermäuse) abhängen, die sich von Insekten ernähren. An fast allen Ursachenverkettungen für das Aussterben von Arten ist der Mensch beteiligt: intensive Landwirtschaft(1) mit vorwiegend Monokulturen, Insektizide, Pestizide, vergiftete Lebensräume, Eindringen fremder Arten in Ökosysteme durch den weltweiten Handel etc. Hinzu kommt der Landverbrauch durch Bebauung und Verkehrswege sowie die Tatsache, dass in den Industrieländern immer weniger Obst-, Gemüse- und Getreidesorten kultiviert werden. Beispielsweise handelt es sich bei den gängigen Kartoffel- und Apfelsorten, die überall zu kaufen sind, nur um einen winzigen Bruchteil der tatsächlichen Sorten, wodurch die meisten nach und nach in Vergessenheit geraten und langsam aussterben.

Es ist zunächst gar nicht so einfach, sich zu erklären, warum Biodiversität(1) einen Wert an sich darstellt. »Vielfalt ist immer besser als Einfalt«, sagen die einen. »Monokulturen sind effektiver« und »Artensterben gehört zur Evolution«, entgegnen die anderen. Mittlerweile wurde empirisch gefunden, dass im Laufe der Erdgeschichte nichts beständiger war als der Wechsel und damit das Aussterben von Arten (Dornelas & Madin 2020; Pandolfi et al. 2020). Warum muss uns dann die derzeitige Abnahme der Biodiversität Sorgen bereiten? Sie ist zum einen stärker ausgeprägt als je zuvor: Innerhalb weniger Jahrzehnte starben etwa 1000-mal mehr Arten pro Zeiteinheit aus als dies normalerweise der Fall ist. Zum zweiten konnte experimentell nachgewiesen werden, dass eine größere Artenvielfalt(2) ein Ökosystem gegenüber »Ausbeutung« widerstandsfähiger macht. Mehr Artenvielfalt bewirkt, dass für bestimmte Funktionen im System mehrere Träger vorhanden sind, die diese Funktion innehaben. Bei Ausfall eines Trägers können daher andere einspringen und die Funktion ist noch immer gewährleistet. Das System hat durch Artenvielfalt also eine eingebaute Redundanz, die es unempfindlicher gegenüber Störungen von außen macht (Vidal et al. 2020). In heutigen Ökosystemen haben solche Störungen überall fast immer die gleiche Ursache: Eingriff und Ressourcenverbrauch6 durch den Menschen.

Zur besseren Überwachung (Monitoring und Kontrolle) des Artensterbens wurde 2012 – im Wesentlichen von den Gründern von »One Health« – die Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES(1)) mit Sitz (Sekretariat) in Bonn von 90 Staaten gegründet. Das zwischenstaatliche Gremium soll helfen, umweltpolitische Entscheidungen nach bestem Stand des Wissens zu treffen. Politische Entscheidungsträger können Anfragen an IPBES stellen, wo dann der aktuelle Stand des Wissens zum jeweiligen Problem in einem sogenannten Assessment zusammengetragen wird, um Handlungsoptionen und deren Folgen aufzuzeigen (IBN 2020). Die neueste, am 29. Oktober 2020 erschienene Publikation von IPBES dreht sich um den Zusammenhang von Zoonosen (und damit auch der Corona-Pandemie) und Biodiversität. Dort schreiben 22 Experten aus verschiedenen Ländern: »Pandemien nehmen zwar ihren Ursprung in Erregern, die in tierischen Reservoiren vorkommen, entstehen aber letztlich durch menschliche Aktivitäten. Die den Pandemien zugrunde liegenden Ursachen sind dieselben globalen Umweltveränderungen, die den Verlust der Biodiversität und den Klimawandel vorantreiben. Dazu gehören Veränderungen der Landnutzung, die Ausdehnung und Intensivierung der Landwirtschaft sowie der Handel und Konsum von Wildtieren. Diese Triebkräfte des Wandels bringen Wildtiere, Vieh und Menschen in engeren Kontakt, sodass tierische Mikroben in den Menschen eindringen und zu Infektionen, manchmal zu Ausbrüchen, und seltener zu echten Pandemien führen, die sich über Straßennetze, städtische Zentren und globale Reise- und Handelsrouten ausbreiten« (IPBES 2020). Die Autoren rechnen ferner vor, dass die Drosselung von Landverbrauch und des Handels mit Wildtieren als Nahrungsquelle sowie ein globales Überwachungssystem für die Gesundheit von Mensch, Tier und Globus nur einen Bruchteil dessen kosten würden, was die gegenwärtige Pandemie weltwirtschaftlich kostet, volle zwei Größenordnungen weniger, also etwa ein Hundertstel. Anders ausgedrückt: Den One-Health-Gedanken nicht ernst zu nehmen, können wir uns im Grunde gar nicht leisten.

1.9 Earth Overshoot Day(1)

Man kann versuchen, die biologischen »Leistungen« der Erde und den »ökologischen Fußabdruck(1) der Menschheit« mit Hilfe von publizierten Daten zur Wirtschaft und zum Verbrauch zu berechnen. Im Jahr 1961 wurde dies erstmals gemacht, wodurch man fand, dass die Menschheit damals 73 % der Ressourcen verbrauchte, die der Planet Erde bereitstellte. Seit dem Jahr 1970 ist dies grundlegend anders: In diesem Jahr überstieg der Fußabdruck erstmals die Biokapazität der Erde. Seit 1986 wird jährlich der »Earth Overshoot Day« berechnet, indem man die Biokapazität der Erde durch den ökologischen Fußabdruck der Menschheit dividiert und das Ganze mit 365 multipliziert. Dann erhält man den Tag im Jahr, an dem die Ressourcen, die weltweit verbraucht werden, die Kapazität der Erde, diese nachhaltig zu reproduzieren, übersteigt (▶ Abb. 1-4).

Abb. 1-4 Der Tag(2)