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EINE INSEL, ZWEI HERZEN UND EIN CHAOS DER GEFÜHLE Männer und Liebe sind seit Jahren kein Thema für Jule Petersen. Ihr ganzer Lebensinhalt ist ihre beschauliche Pension auf Amrum, um deren Zukunft sie sich sorgen muss. Als sich im Winter der überaus attraktive Ben gleich für mehrere Wochen bei ihr einquartiert, erweist er sich als ihr Rettungsanker – und das nicht nur in finanzieller Hinsicht. Auch wenn sie sich anfangs dagegen wehrt, kann sie sich seinem Charme nicht entziehen. Dann aber stellt sich heraus, dass Ben ein ganz anderer zu sein scheint, als er vorgibt und Jules kleine Welt bricht erneut zusammen … Ausgebrannt und leer sucht Ben die Einsamkeit und Ruhe der nordfriesischen Insel, bevor er ans andere Ende der Welt aufbrechen muss. Aber vom ersten Moment an wirbelt Jule mit ihren roten Haaren und ihren grünen Augen seine Pläne durcheinander. Sie zieht ihn in ihren Bann und Ben will nichts lieber, als seine Zeit mit ihr verbringen. Dabei ist Liebe in seiner Lebensplanung gar nicht vorgesehen …
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Seitenzahl: 399
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Titelseite
Impressum
Über die Autorin
Prologe
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Epilog
Danke
Rosita Hoppe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2017 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
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Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com
eISBN 978-3-8271-8336-1
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing
www.ansensopublishing.de
Rosita Hoppe ist in einem kleinen Ort, unweit der Rattenfängerstadt Hameln, aufgewachsen und lebt noch heute dort. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Die gelernte Reiseverkehrskauffrau arbeitete einige Jahre als pädagogische Mitarbeiterin an einer Grundschule und als freie Mitarbeiterin für die Lokalzeitung ihres Heimatortes, als sie die Liebe zum Schreiben entdeckte. Ihre Leidenschaft gilt den Liebesromanen, in denen sich die Höhen und Tiefen des Lebens zeigen. Inspiration für ihre einfühlsamen, turbulenten wie auch prickelnden Werke, die unter verschiedenen Namen veröffentlicht sind, findet die Autorin unter anderem bei Reisen. Ihre Liebe zum Meer und ganz besonders zu den Nordseeinseln spiegelt sich auch in einigen ihrer Romane wider. „Glück am Meer" ist der zweite Roman, den die Autorin auf der nordfriesischen Insel Amrum angesiedelt hat und der erste, der im CW Niemeyer Buchverlag erscheint. Seit 2009 ist Rosita Hoppe Mitglied bei DELIA, der Vereinigung deutschsprachiger Liebesromanautoren und -autorinnen.
Mehr zur Autorin finden Sie unter:
www.rositahoppe.de
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Spuren, die das Leben zeichnet, lassen sich nicht einfach wegwischen. Sie machen einen Menschen aus.Sie machen dich aus.
Es war wie verhext. Seit Wochen schon herrschte gähnende Leere im Haus. Und nicht nur das. Keinerlei Anfragen für ihre Ferienzimmer. Bisher konnte sie nur wenige Buchungen für die Sommersaison verzeichnen, die ausschließlich von Gästen stammten, die schon das eine oder andere Mal hier ihren Urlaub verbracht hatten. In all den Jahren, in denen es die Pension Jule gab, hatte sie finanziell nie so schlecht dagestanden. Das war ihr unbegreiflich. Die spärlichen Vermietungen der letzten Monate konnten Jules Finanzen kaum aufbessern. Dazu die unvorhergesehene aufwendige Reparatur ihres Wagens im Herbst, die ein ziemliches Loch in ihr Konto gerissen hatte. Ihre Situation sah alles andere als rosig aus. Wenn sich nicht bald etwas änderte, würde sie sich ernsthaft Gedanken darüber machen müssen, wie es künftig weitergehen sollte. Noch hoffte sie, dass es bald aufwärts gehen würde, aufgeben wollte sie die Jule, die sie gemeinsam mit Jan-Erik aufgebaut hatte, auf gar keinen Fall. Es musste eine Lösung geben. Wenn sie sich wenigstens mit Jan-Erik beraten könnte. Aber Jan-Erik gab es nicht mehr.
Jule wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht, doch die trüben Gedanken ließen sich nicht vertreiben. Seit einer Weile schon starrte sie hinaus in den trostlos grauen Winterhimmel. Vor wenigen Minuten hatte Schneefall eingesetzt. Heftige Böen fegten die Flocken am Fenster vorbei, zerrten an den Bäumen und Büschen und ließen Jule erschaudern, obwohl sie den wärmenden Heizkörper beinahe mit den Knien berührte.
Das Klingeln des Telefons holte sie in die Gegenwart zurück. Hoffentlich eine Anfrage für ein Zimmer. Sie eilte ins Büro, um gleich einen Blick auf den Belegungsplan werfen zu können. „Pension Jule, Jule Petersen am Apparat, was kann ich für Sie tun?“
„Huhu. Ich bin’s, Pauline.“
„Süße, schön, dass du dich meldest.“
„Geht es dir gut?“
Wie gut es tat, ihre Stimme zu hören. „Es ist ziemlich ungemütliches Wetter bei uns hier auf der Insel.“
„Jule, ich hatte dich nicht um den Wetterbericht gebeten. Ich will wissen, wie es dir geht. Alles in Ordnung? Du hockst hoffentlich nicht nur in deiner Bude rum.“
„Alles okay, keine Sorge. Ziemlich ruhig im Moment. Seit die beiden Pärchen, die vor Weihnachten hier waren, abgereist sind, ist das Haus bis auf meine Wenigkeit ausgestorben. In diesem Winter ist es für mich wirklich problematisch, über die Runden zu kommen. Hoffentlich verirrt sich bald wieder jemand hierher. Könnte ich echt gebrauchen. Die nächste Vorreservierung habe ich erst für die Osterferien und auch nur für ein Zimmer.“
„Kopf hoch, das wird schon. Ich wünsche dir sehr, dass du bald von einer Urlauberschwemme quasi überrollt wirst, damit du wieder ruhiger schlafen kannst.“
Wenn es nur so einfach wäre.
„Jule, ist was? Du sagst ja gar nichts mehr.“ Paulines Stimme klang besorgt.
„Nein, nein, alles in Ordnung. Ich musste nur gerade an unsere gemeinsame Zeit denken.“ Jule schluckte und überlegte, ob sie ihre Gedanken aussprechen sollte. Es war schon eine gefühlte Ewigkeit her, seit Pauline sie im vergangenen Sommer für ein paar Wochen unterstützt hatte und diese Zeit vermisste sie. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie wollte ehrlich zu ihrer Freundin sein. „Ich vermisse dich hier am Küchentisch. Ich vermisse unsere gemeinsamen Klönstunden, auch, wenn es manches Mal nicht mehr als Minuten waren, die wir uns gönnen konnten. Sogar die Streitereien mit dir vermisse ich. Und niemand mampft mir meine Eisvorräte weg.“
„Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich mir bei meinem nächsten Besuch ausgiebig Zeit für einen Schnack nehmen werde. Das vermisse ich nämlich auch. Und um deinen Eisvorrat werde ich mich selbstverständlich auch gebührend kümmern. Versprochen.“
Jule schmunzelte. „Daran habe ich keinen Zweifel. Wann kommst du?“
„Zum Biikebrennen, wenn nichts dazwischenkommt. Was ich nicht hoffe.“
„Das ist ja noch eine gefühlte Ewigkeit.“
„Was hältst du davon, wenn du mich vorher besuchen kommst? Das wäre echt klasse. Sollte doch kein Problem sein, jetzt, wo du keine Gäste hast. Ansonsten geh unter die Leute. Verabrede dich mit Gerda, mit ... ach, was weiß ich ... mit einem Mann am besten.“
„Scherzkeks, welchem Mann?“
„Gibt es im Winter keine männlichen Wesen auf der Insel? Ist Amrum nur noch von Frauen bevölkert?“ Pauline kicherte. „Außer Paul. Das werde ich ihm lieber nicht verraten. Sonst kommt er sich vor wie der sprichwörtliche Hahn im Korb.“
Jule verdrehte die Augen. Pauline konnte wirklich nerven. „Gerda liegt mit einer schweren Grippe im Bett, da fallen Verabredungen momentan flach. Und warum ich mich mit einem Mann verabreden sollte, verstehe ich wirklich nicht.“
„Aber ich. Du kannst nicht dein Leben lang allein bleiben und nur an den Erinnerungen an Jan-Erik festhalten. Das ist nicht gut. Öffne dich etwas Neuem.“
Wie oft hatte sie diese Leier schon von Pauline und auch von Gerda zu hören bekommen. Was aber nichts daran änderte, dass sie einfach nicht in der Lage war, sich von den Erinnerungen zu lösen. Würde es jemals anders werden?
„Jule? Bist du noch da?“, drang Paulines Stimme durch den Hörer.
„Entschuldige.“
„Dir geht es nicht gut, stimmt’s? Wenn ich abkömmlich wäre, würde ich mich sofort auf den Weg zu dir machen. Soll Paul mal nach dir sehen?“
„Quatsch, mir geht es gut. Langweilig ist es halt im Moment und frustrierend.“
„Wie ich schon sagte, geh mal wieder aus. Wie wäre es mit Peter aus dem Buchladen? Ihr kennt euch doch schon so lange. Ich fand ihn nett und er sieht auch ganz passabel aus. Oder ist er verheiratet?“
„Er ist geschieden.“
„Na also. Was hindert euch daran, euch zu verabreden?“
„Soll ich etwa in die Buchhandlung gehen und ihn fragen, ob er mit mir ... Pauline, du hast echt ’nen Stich.“
„Was ist denn dabei? Dir ist langweilig, ihm vielleicht auch.“
„Langeweile ist natürlich der perfekte Grund, um sich zu verabreden.“
„Jetzt klingst du sarkastisch. Es ist vielleicht nicht der perfekte Grund, aber es ist immerhin ein Anfang. Wer weiß, vielleicht findet ihr Gefallen daran, und dann ...“ Pauline machte eine bedeutungsvolle Pause.
„Heb dir diesen Gedanken für deine Romane auf.“
„Keine Sorge, den habe ich längst verewigt. Also?“
„Mir steht momentan nicht der Sinn nach Ausgehen. Also dräng mich nicht. Aber ich verspreche dir, dass ich über deinen Vorschlag nachdenken werde.“
„Wenn ich zum Biikebrennen komme, will ich einen ausführlichen Bericht, wie dein Date gelaufen ist. Also bilde dir ja nicht ein zu kneifen.“
Jule schluckte einen genervten Kommentar hinunter. Es hatte sowieso keinen Zweck, Pauline zu widersprechen.
Sie hatte sich tatsächlich mit Peter verabredet. Die Verabredung war rein zufällig zustande gekommen. Wenige Tage nach dem Telefonat mit Pauline hatte sie ihn bei einem Spaziergang getroffen und sie hatten sich eine Weile unterhalten. Peter schlug vor, sie könnten doch mal zusammen essen gehen und sich dabei ausgiebig Zeit zum Plaudern nehmen. Da er ein enger Freund von Jan-Erik gewesen war, stimmte sie schließlich zu. Sie hatten sich im Seeblick getroffen und es war ein netter Abend geworden. Peter ließ es sich nicht nehmen, sie bis nach Hause zu begleiten und gab ihr zu verstehen, dass er sich gern wieder mit ihr verabreden würde. Ja, vielleicht würde sie das sogar tun.
Es war nicht ausgeblieben, dass sie sich über ihre momentane Situation bezüglich der Pension unterhielten, obwohl ihr nichts ferner lag, als Peter etwas vorzujammern. Er riet ihr, doch mal ihre Internetauftritte zu überprüfen. Sie wäre niemals auf die Idee gekommen, dass damit etwas nicht in Ordnung sein könnte. Gleich am nächsten Tag kümmerte sie sich darum. Mit ihrer Homepage war alles okay, allerdings konnte sie im Gastgeberverzeichnis der Amrumseite, wo sie seit Jahren gelistet war, die Pension Jule nicht finden. Auch auf der anderen Vermietungsseite, auf der sie angemeldet war, nicht. Jetzt war ihr auch klar, warum niemand bei ihr anrief. Der Eintrag auf den beiden größten Gastgeberportalen war lebenswichtig für die Pension und damit für ihr Überleben. Sie schrieb an die Betreiber der Seiten gepfefferte Nachrichten und forderte sie auf, die Sache dringend aufzuklären, immerhin war der Eintrag auf den Seiten kostenpflichtig. Hätte sie doch nur früher über die Möglichkeit nachgedacht, dass ihr Eintrag fehlen könnte, dann hätte sie inzwischen vielleicht ein paar Buchungen verzeichnen können. Aber über ein vielleicht nachzudenken, brachte sie nicht weiter.
Bereits am nächsten Tag erreichte sie die erste Rückantwort. Der Webseitenbetreiber entschuldigte sich vielmals. Zwischen Weihnachten und Neujahr hätte es den Supergau, wie er sich ausdrückte, gegeben. Ein Trojaner hätte die Seite komplett zerschossen und sie hätten mühselig alles neu aufbauen müssen. Bedauerlicherweise hätten sie dabei wohl den Auftrag für die Pension Jule übersehen, aber selbstverständlich sofort wieder eingestellt. Es sei hoffentlich nicht zu einem größeren Schaden gekommen. Tja, darüber wollte Jule besser nicht nachdenken. Obwohl, vielleicht sollte sie versuchen, einen Teil der Gebühren zurückzubekommen, schließlich war nicht auszuschließen, dass dieser Supergau ihr immensen Schaden zugefügt hatte. Der zweite Seitenbetreiber teilte ihr mit, dass er keinen Zahlungseingang verzeichnen konnte und deshalb ihren Eintrag gelöscht hatte. Wieso kein Zahlungseingang? Sie wusste genau, dass sie die Überweisungen fertig gemacht hatte. Und wieso löschten sie einen Eintrag kommentarlos, ohne vorher Kontakt aufzunehmen oder eine Mahnung zu schicken? Bei der Überprüfung ihres Kontos stellte Jule fest, dass sie es mit einem Zahlendreher selbst verbockt hatte. Wieso war ihr nicht aufgefallen, dass der Auftrag zurückgebucht worden war? Rasch füllte sie einen neuen Zahlungsauftrag aus und kontrollierte mehrfach die Eingaben, bevor sie ihn online abschickte. Nun dürfte auch das Problem in Kürze aus der Welt geschafft sein.
Nun konnte sie nur darauf hoffen, dass bald erste Buchungen eingingen.
Jule konnte es kaum fassen. Sie fuhr tatsächlich zu Pauline. Beim Frühstück hatte sie vor Aufregung kaum einen Bissen herunterbekommen. Das letzte Mal, dass sie die Insel für mehrere Tage verlassen hatte, war schon Jahre her. Sie konnte sich spontan gar nicht mehr erinnern, wann genau das gewesen war. Damals war sie für ein paar Tage mit Jan-Erik nach Kiel und dann weiter mit dem Schiff nach Oslo gefahren. Diesen Kurzurlaub hatte er ihr zum Geburtstag geschenkt. Es war schwierig gewesen, sich vom Pensionsbetrieb loszueisen, trotzdem hatten sie sich diese kleine Auszeit gegönnt. Die Reise war fantastisch gewesen und es war die letzte, die sie gemeinsam machen konnten. Jule versuchte den Anflug von Traurigkeit zu verdrängen und rüttelte am Türknauf, um sicherzugehen, dass die Haustür fest verschlossen war. In zwanzig Minuten würde sie die Insel durchquert haben und von Wittdün aus mit der Fähre zum Festland und damit Richtung Pauline schippern.
Kurz vor dem Ortseingang von Nebel drang ein leises Bimmeln aus ihrer Handtasche. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Wer wollte ausgerechnet jetzt etwas von ihr? Ob das Pauline war, die dafür sorgen wollte, dass sie rechtzeitig losfuhr? Gerda, die ihr eine gute Reise wünschen wollte? Sie blinkte, bremste und hielt am Straßenrand an. Doch ehe sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche gekramt hatte, verstummte es. Die Nummer, die auf dem Display stand, kannte sie nicht. Wer immer das gewesen war, würde sich hoffentlich noch einmal melden. Kurz vor Wittdün klingelte es erneut. Heilfroh, die nächste Bushaltestelle direkt vor sich zu sehen, setzte sie den Blinker und hielt an der Haltestelle an. Hoffentlich kam jetzt kein Bus.
„Pension Jule, Petersen am Apparat. Moin“, meldete sie sich gewohnheitsmäßig.
„Guten Morgen, ich hoffe, ich rufe nicht zu früh an“, hörte Jule eine tiefe männliche Stimme. Musste der ausgerechnet jetzt anrufen?
„Nein, nein, alles okay. Was kann ich für Sie tun?“
„Haben Sie ein Zimmer frei?“
Endlich eine Anfrage. Sehnsüchtig hatte sie auf solche Anrufe gewartet. „Für welchen Termin bitte?“
„Morgen.“
„Ähm ...“ Das war doch ein Scherz, oder?
„Sind Sie ausgebucht?“, kam es enttäuscht durchs Telefon.
„Nein, nein ...“
„Gut. Ich würde gleich früh morgens mit der ersten Fähre ankommen.“
„Ja also ...“ In Jules Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume. Sie brauchte dringend Gäste, aber ausgerechnet jetzt? Was sollte sie tun? Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie sagte zu und bat Grit Sörens, für ein paar Tage einzuspringen, oder sie musste dem Herrn am anderen Ende der Leitung sagen, er möge sich ein anderes Quartier suchen.
„Wie lange wollen Sie bleiben?“
„Vier Wochen. Eventuell länger.“
Da spielte ihr doch jemand einen Streich, oder? Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Zimmer in der tiefsten Nebensaison für so lange Zeit an einem Stück vermietet zu haben. „Ich muss mal eben auf den Belegungsplan schauen“, krächzte sie. Natürlich wusste sie auch so, dass darauf gähnende Leere herrschte. „Das wäre noch machbar“, hörte sie sich sagen. Niemals konnte sie sich solch eine Buchung entgehen lassen. Nicht nach den frustrierenden Wochen, die hinter ihr lagen. „Wie viel Personen?“
„Nur für mich.“
Jule nickte, dann wurde ihr klar, dass er das ja nicht sehen konnte. „Okay, das würde gehen. Das Zimmer kostet pro Nacht vierzig, nein, für Langzeitgäste siebenunddreißig Euro, inklusive Frühstück natürlich.“ Jule versuchte zu überschlagen, wie viel Miete sie durch diese Buchung einnehmen würde, aber sie war viel zu angespannt, um das auf die Schnelle ausrechnen zu können.
„In Ordnung. Ich würde auch vierzig Euro bezahlen.“
Was bin ich doch für ein Schaf! Aber vielleicht war er auch das Schaf, weil er eigentlich froh sein konnte, dass sich der Übernachtungspreis für die lange Zeit reduzieren würde.
„Okay, dann bis morgen. Ich werde im Laufe des Vormittags ankommen. Mein Name ist Stüber, Ben Stüber. Das nur, damit Sie das Zimmer nicht anderweitig vergeben.“
Was für ein Scherzkeks. Als ob die Gäste im Winter Schlange stehen würden. „Bis morgen. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Anreise.“
Jule schielte auf die Uhr am Armaturenbrett. So spät schon? Sie musste sich sputen. Schneller, als sie normalerweise unterwegs war, fuhr sie zum Hafen und fand rasch einen Parkplatz. Sie holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum und schloss den Wagen ab. Nebenbei wählte sie die Nummer vom Ehepaar Sörens. Grit Sörens kümmerte sich seit Jahren während der Saison um die Gästezimmer. Hoffentlich ließ sich alles rasch regeln, damit sie zügig an Bord gehen konnte. Die Schleswig-Holstein näherte sich bereits dem Anleger.
„Sörens.“
„Moin, Herr Sörens, Jule Petersen hier. Tut mir leid, dass ich so früh störe. Ist Ihre Frau da?“
„Die ist bei einer Bekannten auf dem Festland.“
„Das ist dumm. Wann kommt sie denn zurück?“
„In zwei oder drei Tagen.“
Schiet! Das war doch ... In Windeseile überlegte Jule, ob sie Hinrich Sörens ... „Sie wissen doch, dass ich heute zu meiner Freundin Pauline fahre und nun hat sich eben ein Gast für morgen angemeldet. Könnten Sie vielleicht ... bitte, Herr Sörens, würden Sie den Gast in Empfang nehmen, ihm alles zeigen und eventuell das Frühstück ...“
„Nee, min Deern“, unterbrach Sörens sie.
„Aber warum nicht, Herr Sörens? Bitte.“
Ein durchdringendes Tuten fuhr Jule durch Mark und Bein. Die Schleswig-Holstein hatte angelegt, die ersten Pkws rollten von Bord. Sie musste schleunigst zur Fähre.
„Muss morgen aufs Festland, zum Arzt. Dringend. Hab auch keinen Schlüssel.“
O nein, die Schlüssel. Wieso hatte sie nicht daran gedacht, die zu den Sörens zu bringen? Verdammt! Was nun? Das Klackern der Räder ihres Trolleys begleitete sie, als sie zum Schiff eilte. Die Schiffssirene gab erneut ein energisches Kommando von sich, das Jule in die Gegenwart zurückriss. Das Handy immer noch am Ohr starrte sie den Mann mit der leuchtend gelben Warnjacke an, der sie mit eindeutiger Gestik aufforderte, an Bord zu kommen. Doch sie stand nur da und konnte sich nicht rühren. Der Decksmann zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und widmete sich wieder seiner Arbeit. Alle Autos standen an Deck und außer ihr war niemand mehr zu sehen, der noch aufs Schiff wollte. Jule war nicht fähig, nur einen Schritt in Richtung Fährschiff zu machen. Mittlerweile senkte sich die Reling herab, das Schiffshorn ertönte erneut und kündigte die Abfahrt an. Die Schleswig-Holstein löste sich langsam vom Anleger. „Es hat sich erledigt, Herr Sörens“, murmelte sie und beendete das Gespräch. Sie schaute dem Fährschiff, das Kurs auf Wyk und anschließend Dagebüll nahm, hinterher, bis es nur noch ein winziger Punkt am Horizont war. Erst dann drehte sie sich um und ging, begleitet vom Klackern der Kofferrollen, zurück zu ihrem Wagen.
Pauline würde es nicht fassen können. Sie konnte es ja selbst nicht.
„Du hast was? Jule, das kann doch nicht wahr sein. Du kannst doch das mit dem Sörens noch klären und mit der nächsten Möglichkeit herkommen.“
Jule schüttelte den Kopf. „Der muss morgen zum Arzt aufs Festland.“ Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ihn nicht mal gefragt hatte, ob er ernstlich krank war. Aber dann wäre seine Frau sicherlich nicht zu ihrer Freundin gefahren.
„Versuch es bei Gerda oder einem Nachbarn. Irgendwen wirst du schon auftreiben können. Und dann nimm deine Beine in die Hand und komm her.“
„Es tut mir leid, Pauline. Wirklich. Aber ich glaube, das ist ein Wink des Schicksals.“
„So’n Quatsch.“
„Ich kann nicht in Nullkommanichts jemanden einspannen, der sich in meinem Haus nicht mal auskennt, nur, weil ich mir in den Kopf gesetzt habe zu verreisen. Gerda liegt außerdem immer noch mit einem grippalen Infekt im Bett.“
„Ich hab mich so auf dich gefreut.“ Paulines Stimme klang deprimiert und das machte Jule traurig.
„Was meinst du, wie ich mich gefreut hatte, nachdem ich mich dazu durchgerungen hatte, für ein paar Tage alle Fünfe gerade sein zu lassen. Versteh doch, seit Wochen habe ich keine Einnahmen, und nun will jemand für mindestens einen Monat einziehen. Das konnte ich doch nicht ablehnen.“
Pauline gab einen tiefen Seufzer von sich. „Natürlich konntest du das nicht. Übrigens könntest du auch Paul bitten. Wieso hab ich nicht eher daran gedacht? Der würde dir sicher gern helfen.“
„Lass mal. Es sollte nicht sein. Außerdem können wir einen späteren Termin ausmachen, wenn der Gast abgereist ist und sonst niemand bei mir wohnen will.“
„Das glaubst du doch selbst nicht. Eher komm ich ganz nach Amrum, als dass du es schaffst, deinen Fuß von der Insel runterzusetzen.“
„Das wäre natürlich die Ideallösung. Nicht nur für mich, sondern ganz besonders für dich und Paul. Ziehst du das ernsthaft in Erwägung?“
„Tu ich nicht, das war nur ein Beispiel, das darlegen sollte, dass es vermutlich Jahre dauern würde, bis du es schaffst, deinem Zuhause für ein paar Tage den Rücken zu kehren.“
„Überleg es dir trotzdem, Süße. Kannst du nicht von hier aus deine Aufträge bearbeiten? Oder eine eigene Werbeagentur eröffnen? Genau, das wäre es. Du machst dich selbstständig und kommst endlich zurück nach Amrum.“
„Träum weiter, Jule. Als wenn das so einfach wäre, wie es aus deinem Mund klingt. Wenn du wenigstens bei deinen eigenen Angelegenheiten so optimistisch wärst.“
Seit einer halben Stunde schon ordnete sie Blumen, Deko und die Kissen in den Korbsesseln im Wintergarten. Dabei war alles ordentlich und aufgeräumt, so wie immer. War es, weil dieser Herr Stüber der erste Gast seit Wochen war? Jule schüttelte über sich selbst den Kopf und schaute auf ihre Armbanduhr. Eigentlich müsste er in Kürze eintreffen, es sei denn, die Fähre hätte Verspätung. Hm, sie wusste nicht mal, wie er anreisen wollte. Aber wer für so lange Zeit verreiste, brauchte reichlich Gepäck, da wäre eine Fahrt mit dem Pkw die bequemste Lösung.
Eine halbe Stunde später klingelte es. Schon durch die Scheibe der Eingangstür erkannte Jule die Silhouette eines groß gewachsenen Mannes. Endlich. Schwungvoll riss sie die Haustür auf.
„Moin. Herzlich willkommen in der Pension Jule. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.“ Der Mann vor ihr hatte eine schwarze Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, trug eine ebenfalls schwarze Daunenjacke und einen roten Schal, den er mehrfach um den Hals geschlungen hatte. Obwohl sie nicht viel von ihm sehen konnte, erkannte sie doch, dass sie einen sehr attraktiven Mann vor sich hatte.
Der Typ sah sie leicht irritiert an. Ob ihm ihr Willkommensgruß zu stürmisch gewesen war?
„Stüber. Ich hatte hier ein Zimmer reserviert.“ Er zog sich die Mütze vom Kopf. Dunkelbraunes, kurz geschnittenes Haar kam zum Vorschein.
Ohne Mütze sah er noch besser aus. Jule schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig. Hatte sie schon jemals so einen gut aussehenden Kerl in ihrem Haus gehabt? Seit wann interessierte sie das Aussehen ihrer Gäste? Sie entdeckte dunkle Schatten unter seinen Augen, die Frisur war an der einen Seite platt gedrückt. Sicher hatte er eine stundenlange Anreise hinter sich.
„Weiß ich doch. Ich freue mich, dass Sie da sind und gleich so lange ...“ Jule schluckte den Rest des Satzes hinunter. „Egal, kommen Sie erst mal rein.“
Während ihr Gast einen prall gefüllten Seesack in den Flur hievte, trat Jule einen Schritt an ihm vorbei nach draußen. Eine Windböe traf sie und sie zog trotz ihrer molligwarmen Strickjacke fröstelnd die Schultern empor. „Sind Sie mit dem Bus raufgekommen?“
„Mein Auto steht an der Straße.“
„Sie können auf den Hof fahren. Dafür ist er gedacht. Am besten parken Sie gleich neben meinem Wagen.“ Sie huschte in den Flur zurück und schloss rasch die Eingangstür. „Wenn es recht ist, zeige ich Ihnen gleich Ihr Zimmer. Sicher möchten Sie sich einrichten.“ Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. Wieso hatte sie das Gefühl, dass er ihr auf irgendeine Weise vertraut war? Gewohnheitsgemäß hatte sie beim Eintragen der Reservierung gecheckt, ob Ben Stüber bereits früher Gast in ihrem Haus gewesen war. War er nicht. Sein Name war ihr auch unbekannt. Sie musste sich täuschen. „Ich habe Ihnen Zimmer Fünf zurechtgemacht. Ein Eckzimmer mit Blick in den Garten und größer als das andere Einzelzimmer.“
„Ist es ruhig?“, fragte Ben Stüber mit skeptischem Blick.
„Keine Sorge, im Winter ist es hier überall ruhig. Manchmal zu ruhig“, fügte sie mehr zu sich selbst hinzu. „Die Gästezimmer liegen in der ersten Etage. Ich gehe mal vor. Soll ich Ihnen etwas abnehmen?“
„Nicht nötig. Den Rest hole ich später aus dem Wagen.“
Oben auf dem Treppenabsatz drehte sie sich zu ihm um. „Waren Sie schon mal auf Amrum?“
„Nein“, kam es von ein paar Stufen unter ihr.
Seine Antwort war mehr als knapp ausgefallen. Vielleicht, weil ihn das Tragen seines Gepäcks womöglich aus der Puste brachte. Vor der Tür mit der schwungvoll aufgemalten Fünf blieb sie stehen. „Da sind wir.“ Sie schob die Tür auf und trat beiseite, um ihrem Gast einen ersten Blick in sein Ferienzimmer zu gewähren. „Ich hoffe, es ist Ihnen recht und Sie werden sich hier wohlfühlen. Ansonsten kann ich Ihnen auch eines der anderen Zimmer anbieten. Ein Doppelzimmer, falls Sie mehr Platz benötigen. Das kostet allerdings mehr.“
Ben Stüber blieb im Türrahmen stehen und ließ seinen Blick schweifen. „Passt schon.“
„Wenn es Ihnen an etwas fehlt, sagen Sie einfach Bescheid. Frühstück ist von sieben Uhr dreißig bis zehn Uhr, aber da Sie momentan der einzige Gast sind, nehme ich das nicht so genau. Der Frühstücksraum befindet sich im Erdgeschoss, ebenso ein Wintergarten, der all meinen Gästen zur Verfügung steht. Möchten Sie sich die Räumlichkeiten gleich anschauen?“
„Ich werde mich schon zurechtfinden. Vielen Dank.“
Zum ersten Mal zeigte er ein kleines Lächeln und Jule entdeckte rechts und links seiner Mundwinkel je ein kleines bezauberndes Grübchen, das ihn auf irgendeine Weise verwegen und gleichzeitig verführerisch aussehen ließ. Sie schluckte trocken. Erst, als er nach dem Zimmerschlüssel fragte, wurde ihr bewusst, dass sie ihn angestarrt haben musste. Rasch wandte sie den Blick ab und schaute nach, ob der Schlüssel im Schlüsselloch steckte. „O pardon, den habe ich wohl unten vergessen. Ich hole ihn sofort.“ Jule kehrte um und eilte hinunter ins Erdgeschoss. Mannomann, was war das denn? Wieso machte dieser Mann sie so nervös? Ob das an seinen Augen lag, die sie an blank polierten, in der Sonne glänzenden Bernstein erinnerten? Alles in allem war er eine mehr als ansehnliche Erscheinung. Außergewöhnlich und ziemlich irritierend. Noch nie hatte sie sich bei einem ihrer Feriengäste Gedanken über sein Aussehen gemacht, geschweige denn, Ähnliches empfunden, wie sie es gerade tat. Sie war eindeutig schon zu lange allein in ihrem Haus. Anders konnte sie sich das nicht erklären.
Wenig später klopfte sie an die Tür von Zimmer Fünf. „Die Schlüssel.“
Beinahe lautlos öffnete sich die Tür.
Ben Stüber hatte inzwischen seinen Schal und die Jacke abgelegt. Er trug einen blauen Sweater und eine ausgeblichene Jeans.
„Der größere Schlüssel ist fürs Zimmer, der andere für die Haustür und gleichzeitig den Schuppen, wo die Fahrräder stehen, die Sie gern nutzen dürfen.“
Ihr Gast nahm die Schlüssel, die von einem silbernen Anhänger mit blauem Seestern zusammengehalten wurden, entgegen.
„Mögen Sie eine Tasse Tee? Ich will gleich einen aufbrühen.“
„Nein danke, nicht nötig.“ Seinem unnahbaren und gleichzeitig müden Blick nach zu urteilen, wollte er sie loswerden. Na klar, auspacken, ankommen, vermutlich ausruhen.
„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und erholsamen Aufenthalt auf der schönsten Insel der Welt. Scheuen Sie sich nicht, mich zu fragen, wenn Ihnen etwas unklar ist oder Sie etwas benötigen. Ich bin übrigens Jule Petersen.“
Ben Stübers Mundwinkel zuckte. „Das weiß ich zu schätzen, Jule ... Petersen.“
„Na dann ... bis später. Oder morgen, oder so.“ Himmel, was stotterte sie so herum?
Ben Stüber nickte knapp und ehe sie sich versah, schloss sich die Tür.
Unschlüssig blieb sie noch ein paar Sekunden lang stehen, dann machte sie kehrt. Sie hatte sich doch nicht daneben benommen und dummes Zeug gequatscht, oder? Vielleicht war er von Natur aus zurückhaltend oder die Reise hatte ihn angestrengt. Ob das Zucken seines Mundwinkels eben der Versuch eines Lächelns sein sollte? Wieso machte sie sich eigentlich so viele Gedanken um Ben Stüber? Er war ein Gast wie Hunderte vor ihm. Vielleicht hatte sie einfach zu wenig zu tun und somit viel zu viel Zeit zum Denken.
Kopfschüttelnd starrte Ben auf das weiß gestrichene Türblatt, hinter dem eben das Antlitz seiner Vermieterin verschwunden war. Diese Rothaarige schien ein richtiger Wirbelwind zu sein, jedenfalls hatte sie ihn mit ihrem Eifer völlig überrumpelt. Hoffentlich war sie nicht immer so drauf. Am liebsten wäre es ihm, wenn sie fast vollständig unsichtbar bliebe, damit er seine Ruhe hatte. War es unhöflich gewesen, ihr einfach die Tür vor der Nase zu schließen? Er bückte sich, zog die Schuhe von den Füßen und stellte sie ordentlich neben der Zimmertür ab. Auf Strümpfen ging er zum Bett, streckte sich darauf aus und schloss mit einem tiefen Schnaufer die Augen. Schlafen, nur noch schlafen. Er hatte nicht mal die Kraft, sich Hose und Pullover auszuziehen. Aber das spielte auch keine Rolle, wer sollte schon was dagegen haben?
Ben vermutete, dass er tatsächlich geschlafen hatte, denn als er das nächste Mal auf die Uhr an seinem Handgelenk schaute, war die Mittagszeit längst um. Erholt fühlte er sich nicht gerade, aber was erwartete er auch nach einer Nacht, die er auf der Autobahn zugebracht hatte. Am besten wäre es, er würde sich zu einem ersten Orientierungsspaziergang aufraffen, bevor es dunkel wurde. Auf die Weise konnte er noch ein bisschen Sauerstoff tanken. Er schob seine Beine über die Bettkante und erhob sich schwerfällig. Viel lieber würde er liegen bleiben, was aber sicher zur Folge hätte, dass er sich die Nacht über schlaflos im Bett herumwälzte. Er schlurfte ins angrenzende Bad, das er erst jetzt zum ersten Mal in Augenschein nahm. Es war recht klein, weiß gefliest, enthielt aber alles, was man benötigte. Er verzichtete auf einen ausgiebigen Blick in den Spiegel, er wusste auch so, dass er schon mal ausgeruhter ausgesehen hatte. Er schaufelte sich zwei Hände voll Wasser ins Gesicht und strubbelte sich durch die Haare. Das musste reichen. Wenig später verließ er dick eingemummelt das Zimmer.
Im Haus war es mucksmäuschenstill. Seine Vermieterin hatte sich entweder verkrochen oder schien nicht zu Hause zu sein. Nur ein leises Knarren der Treppenstufe, auf die er gerade trat, drang an sein Ohr. Ben war froh, dass er nicht aufgehalten wurde. Bevor er die Haustür öffnete, schob er seine Hand in die rechte Jackentasche und prüfte, ob er die Schlüssel eingesteckt hatte. Er parkte sein Auto auf dem Hof, direkt neben dem seiner Vermieterin, so, wie sie es ihm angeboten hatte. Kurz darauf ging er gemäßigten Schrittes den Dünemwai entlang. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Ortsplan, den er sich bereits zu Hause in München ausgedruckt hatte, noch im Seesack steckte. Vermutlich würde er sich auch ohne zurechtfinden. An der Hauptstraße bog er ab, kam am Supermarkt vorbei. Er nahm sich vor, sich hier später mit Getränken und Essen einzudecken. Minuten später landete er in der Fußgängerzone. Nur vereinzelt begegnete er hier oder da jemandem. Augenscheinlich war nicht viel los im Ort, das konnte ihm nur recht sein. Schließlich hatte er die Einsamkeit gesucht. Bei der Suche nach einer passenden Bleibe an der See hatten ihn die Weite des Strandes und der Dünen ziemlich beeindruckt, deshalb war seine Entscheidung für diese Insel recht schnell gefallen. Der Gedanke an Strand und Dünen nahm ihn gefangen. Er beschleunigte seine Schritte, konnte es mit einem Mal kaum abwarten, endlich am Meeressaum zu stehen, die salzhaltige Luft zu inhalieren und das Rauschen der Brandung zu hören. Als er den Holzsteg entdeckte, der zum Strand führte, rannte er beinahe, so eilig hatte er es. Das Knattern der Fahnen im Wind begleitete das dumpfe Geräusch, das seine derben Schuhe auf den Planken hinterließ. Am Ende des Stegs blieb er stehen, stützte sich mit den Händen an dem Holzgeländer ab und atmete tief durch. Es war ihm egal, dass ihm die feuchtkalte Luft und der stürmische Wind beinahe den Atem nahmen. Schon am frühen Morgen auf der Fähre hatte er seine Nase ordentlich in den Wind gestreckt und dabei gespürt, wie gut die Seeluft tat. Er blickte zum Himmel, der wie eine dicke graue Decke wirkte, die über der Insel lag. Wenigstens regnete es nicht. Auf einer der Aufnahmen vom Norddorfer Strand, die er sich zu Hause angesehen hatte, schien die Sonne von einem azurblauen Himmel und standen Strandkörbe in allen möglichen leuchtenden Farben auf hellem feinem Sand. Doch jetzt waren sowohl die Sonne wie auch die bunten und einladenden Sitzgelegenheiten verschwunden. Von dem typischen Urlaubspostkartenidyll war nichts zu erkennen. Kein Wunder, es war ja erst Februar und nicht mitten im Sommer. Die Strandkörbe standen vermutlich eingemottet in einer Lagerhalle, wo sie bis zum Frühling dicht an dicht aufgereiht ausharren mussten.
Ben schob seine kalten Hände in die Jackentaschen, bevor sie am Geländer festfrieren konnten. Er stieg die wenigen Stufen, die zum Strand führten, hinunter und stapfte hinüber bis zum Wassersaum. Bei früheren Urlauben an der See war er gern barfuß durch den Sand und die Brandung gelaufen, er bedauerte ein wenig, dass er es jetzt nicht tun konnte. Okay, ein paar Hartgesottene würden sich vielleicht auch im tiefsten Winter nicht davon abhalten lassen, aber zu der Sorte Mensch gehörte er nicht. Er begnügte sich damit, dicht am Wasser zu stehen, übers Meer zu blicken und sich im Horizont zu verlieren. Es war die richtige Entscheidung gewesen hierher zu kommen, das spürte er tief in seinem Innern. Vielleicht würde er es schaffen, hier zur Ruhe zu kommen und Kraft für die kommende, anstrengende Zeit zu tanken. Lange Spaziergänge würden ihm hoffentlich den nötigen Schub geben. Er wollte gleich damit anfangen, nahm er sich vor.
Als eine gute Stunde später allmählich die Dämmerung über der Insel hereinbrach, erreichte er gerade wieder das Restaurant, das am Norddorfer Strandaufgang stand und das bedauerlicherweise im völligen Dunkel lag. Wie es aussah, hatte es im Winter geschlossen. Schade, die Lage war perfekt, hier wäre er sicher ab und an eingekehrt. Vielleicht hatte er das Glück und konnte die Lokalität noch nutzen, bevor er in ein paar Wochen heimreiste. Nun wollte er auf dem schnellsten Weg ins Warme, zurück in die Pension Jule. Als er das Grundstück erreichte, entdeckte er seine Vermieterin, die gerade eine Kiste Mineralwasser aus dem Kofferraum ihres Autos hob.
„Warten Sie“, rief er und eilte zu ihr. „Ich helfe Ihnen.“
Sie stellte die Kiste vor sich auf den Boden und drehte sich mit erstauntem Blick zu ihm um. „O hallo. Haben Sie sich in unserem Ort umgesehen?“
„Das auch“, antwortete Ben, bückte sich nach der Kiste und hob sie an. „Haben Sie sonst noch etwas Schweres?“
„Nein, die Einkaufstasche ist nicht schwer. Außerdem bin ich es gewohnt, all die Dinge, die man zum Leben braucht, allein zu schleppen.“
„Ihr Mann ...“ Im Schein der Außenlampe, die ihr direkt ins Gesicht schien, konnte er den Schatten sehen, der sich über ihre Augen legte.
„Ich erledige alles selbst“, erwiderte sie und wandte sich ab, um die Tasche aus dem Kofferraum zu heben.
Was war er für ein ungehobelter Idiot. „Es tut mir leid, es geht mich gar nichts an.“ Ben bedauerte seine unüberlegte Äußerung. Andererseits hatte er ja nicht wissen können, dass er einen wunden Punkt ansprechen würde.
„Ist schon okay. Nun kommen Sie, allmählich muss die Kiste auch für Sie schwer werden.“
Erst jetzt spürte Ben das Gewicht, das an seinen Armen zog und er folgte seiner Vermieterin, die ihm voraus zur Haustür eilte.
„Wohin damit?“
„Stellen Sie sie in die Küche, hier entlang. Am besten in die Ecke hinterm Kühlschrank. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
„Keine Ursache.“
Seine Vermieterin zog sich ihren Wollschal vom Hals. „Mögen Sie einen Tee? Einen Kaffee?“
Etwas Warmes würde ihm durchaus guttun. „Einen Tee vielleicht. Wenn es nicht zu viel Umstände macht.“
„Ach Quatsch, das macht doch keine Umstände. Ich hätte mir sowieso Tee gekocht. Eine bestimmte Sorte? Ich habe reichlich Auswahl da.“ Aus einem der Oberschränke holte sie ein Holzkästchen und eine bunt bedruckte Dose und stellte beides auf den Tisch.
„Die Auswahl überlasse ich Ihnen. Ich gestehe, dass ich mich mit Teesorten überhaupt nicht auskenne.“
„Okay. Ich räume nur rasch meine Einkäufe weg. Den Tee serviere ich Ihnen gern im Wintergarten. Haben Sie schon einen Blick hineingeworfen?“
Ben schüttelte den Kopf. „Noch nicht, ich wollte vorhin erst einmal raus, solange es noch hell war.“ Allmählich wurde ihm heiß in seiner Jacke. Schal und Mütze hatte er ebenfalls noch nicht abgelegt. „Ich geh dann mal rauf und ziehe mich rasch aus. Also Jacke, Schuhe und so“, schob er hinterher, als ihm bewusst wurde, wie zweideutig das eben geklungen hatte.
„Na dann.“ Jule kramte bereits in ihrer Tasche und schien seine plumpe Bemerkung gar nicht wahrgenommen zu haben. Umso besser.
Er wandte sich um und verließ die Küche. Wieso hatte er sich zu einem Tee überreden lassen? Er wollte schließlich nichts anderes, als seine Ruhe haben. Aber okay, ein heißes Getränk würde ihm nicht schaden und vermutlich wollte sie sich einfach nur für seine Hilfe bedanken.
Wenige Minuten später folgte er der Beleuchtung und fand auf die Weise den Frühstücksraum, wo für ihn bereits ein Platz am Fenster eingedeckt war. Es war schon irgendwie komisch zu sehen, dass er der einzige Gast war. In diesem Moment hatte er das Empfinden, verloren dazustehen. Dabei war die Abgeschiedenheit doch genau das, was er suchte. Ob er lieber in seinem Zimmer ...?
„Ah, da sind Sie ja schon“, kam die Stimme seiner Vermieterin vom anderen Ende des Raumes geflogen, wo sich ein Durchgang befand und Jule Petersen auftauchte. „Wie Sie sehen, serviere ich Ihnen hier täglich das Frühstück. Aber falls Sie es lieber an einem anderen Tisch oder im Wintergarten einnehmen wollen, ist das auch kein Problem. Allerdings ist es da etwas schwieriger, weil die Tische niedriger sind.“
„Der Platz, den Sie für mich vorgesehen haben, ist völlig okay.“
„Dann bin ich ja beruhigt. Kommen Sie durch, der Wintergarten ist gleich hierhinter.“
Sie hatte eindeutig das richtige Gespür, eine wohlige Atmosphäre für ihre Gäste zu schaffen, erkannte Ben auf den ersten Blick. Die runden Tische mit den Korbsesseln, die Grünpflanzen und die hauptsächlich maritime Dekoration gefielen ihm. Er setzte sich an den Tisch, auf dem eine Teekanne im friesischen Stil auf einem passenden Stövchen stand. Einen Teller mit Gebäck hatte sie dazugestellt. „Und Sie?“, fragte er, als ihm auffiel, dass nur eine Tasse auf dem Tisch stand.
„Ich war mir nicht sicher, ob es Ihnen recht wäre“, gab Jule Petersen mit entschuldigendem Gesichtsausdruck zu.
„Ich würde mich über Ihre Gesellschaft freuen.“ Das hatte er doch nicht ernsthaft gesagt, oder?
„Wenn das so ist, hole ich eben meine Tasse.“
Ben starrte ihr hinterher. Schon lange war er keiner Frau mit naturroter wilder Mähne und derart vielen Sommersprossen begegnet. Es passte zu ihr und sie passte genau hierher auf die Insel, soweit er das nach den kurzen Begegnungen beurteilen konnte.
Jule Petersen tauchte mit einer weiteren Tasse wieder auf und stellte sie auf den Tisch. „Ich habe mich für einen Holunderblüten-Quitte-Tee entschieden, meine momentane Lieblingsmischung. Ich hoffe, das ist okay, denn ich war mir nicht sicher, ob Ihnen ein Friesentee recht gewesen wäre. Nicht jeder meiner Gäste mag die typischen Friesenmischungen, die man ja traditionell mit einer Sahnewolke und Kluntjes trinkt. Ich musste feststellen, dass sich nicht jeder an Milch im Tee herantraut. Welche Sorte mögen Sie am liebsten?“
„Ehrlich gesagt bin ich kein Teetrinker.“
Jule, die eben einschenken wollte, hob erstaunt den Kopf. „Das hätten Sie doch sagen können. Möchten Sie lieber etwas anderes?“
„Nein, nein, Tee ist völlig okay. Manchmal im Leben sollte man einfach etwas Neues wagen.“
Schweigend goss Jule ihnen beiden ein. Dann setzte sie sich in den Sessel, der, ebenso wie seiner, ausgerichtet war, um nach draußen zu schauen. Zwar war es stockfinster draußen, aber der Platz gefiel ihm trotzdem.
„Wie schmeckt er?“, fragte sie, nachdem er ein paar Mal vorsichtig am heißen Tee genippt hatte.
„Viel besser, als ich erwartet hatte“, gab er schmunzelnd zu. „Holunder und Quitte klangen viel zu gesund für meinen Geschmack.“ Er nahm einen größeren Schluck. „Er schmeckt mir wirklich“, schob er, nachdem er einen skeptischen Blick eingefangen hatte, hinterher.
„Das beruhigt mich. Wobei mir einfällt, mögen Sie Tee oder lieber Kaffee zum Frühstück?“
„Kaffee. Ohne den bin ich morgens zu nichts zu gebrauchen.“
Jule lächelte und zwinkerte ihm zu. „Gut zu wissen. Sonst noch besondere Wünsche zum Frühstück?“
Wieso berührten ihr Lächeln und diese für eine Vermieterin nicht ganz unwichtige Frage ihn gerade? Eine Frau, die ihn in Unruhe versetzen konnte, war ganz und gar nicht das, was er hier an der See suchte. Was er überhaupt und grundsätzlich nicht suchte. Er trank einen kräftigen Schluck von dem Tee in dem Versuch, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.
„Darf ich fragen, was Sie bewogen hat, nach Amrum zu kommen?“
Ben räusperte sich, bevor er antwortete. Er sah hinaus in das Dunkel und wog ab, ob er überhaupt über seine Beweggründe sprechen wollte. „Vor allen Dingen die Sehnsucht nach Ruhe. Nach Einsamkeit, zur Besinnung kommen und die Hoffnung, all das bei langen Spaziergängen über Insel und Strand einfangen zu können“, sprudelte es aus ihm heraus, ehe er die Worte stoppen konnte. „Ich hoffe, ich kann hier auftanken. Schlafen können, nicht gestört werden, mich einfach auf mich selbst konzentrieren, das ist es, was ich mir erhoffe.“
„Oje, und ich dränge mich Ihnen mit meinem Tee auf. Das war keinesfalls meine Absicht, Sie zu stören. Ich dachte nur ...“, sie wirkte wirklich erschüttert, „... es sollte nur eine nette Geste sein und ...“
Ben setzte sich kerzengerade auf und stellte die Teetasse zurück auf den Tisch. „Machen Sie sich keine Gedanken, es ist alles gut. Ich danke Ihnen für den Tee. Aber nun muss ich ...“ Er stützte sich auf den Armlehnen ab und stand auf. „Es war eine lange Reise.“
„O natürlich.“ Jule sprang ebenfalls auf. „Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Schlaf. Und danke für Ihre Hilfe.“
„Kein Problem.“ Ben flüchtete beinahe nach oben. Warum zum Teufel hatte er sich verleiten lassen, über seine Beweggründe zu reden? Sein Seelenleben ging niemanden etwas an und jetzt hatten ein Tee und ein bisschen Small Talk genügt, um zur Plaudertasche zu werden. Er fluchte leise. Rote Haare, Sommersprossen ... ob sie ihm ein Wahrheitsserum untergemischt hatte? So’n Schmarrn, schalt er sich, als er den Zimmerschlüssel ins Schloss steckte.
Nach einer heißen Dusche legte er sich ins Bett. Es war ihm total egal, dass es erst früher Abend war. Er wollte nur noch schlafen. Bevor er ins Land der Träume driftete, wurde ihm schlagartig bewusst, dass sein Abgang vorhin vermutlich nicht die feine Art gewesen war. Er musste sich bei Jule Petersen entschuldigen. Gleich morgen, am besten noch vor dem Frühstück.
Jule starrte den Durchgang zum Frühstücksraum an. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Einen wunden Punkt berührt? Sie war sich keiner Schuld bewusst. Die Tatsache, dass er hier Ruhe suchte, konnte es allein doch nicht sein, oder? Sie hatte sich wirklich nicht aufdrängen wollen. Vielleicht war sie ein bisschen zu euphorisch aufgetreten, weil er derjenige war, der wieder ein bisschen Leben in ihre vier Wände brachte, ein bisschen Geld auf ihr Konto. Sie musste zugeben, dass es sich gut anfühlte, endlich jemanden im Haus zu haben, selbst wenn er nichts anderes als seine Ruhe haben wollte.
Nachdem sie das Teegeschirr abgespült und im Schrank verstaut hatte, entschloss sie sich, bei Gerda anzurufen. Die Arme hütete seit geraumer Zeit das Bett und hatte bei ihrem vorigen Telefonat kaum ein Wort herausgebracht, weshalb sie es nach ein paar Sätzen aufgegeben hatten. Hoffentlich ging es ihr inzwischen besser.
„Hallo, Gerda, du hörst dich ja noch immer an, als würde ein Reibeisen in deinem Hals stecken. Warst du wenigstens noch mal beim Arzt? Soll ich dir Medikamente besorgen?“
„Nun mach es mal halblang“, kam es krächzend durch den Hörer. „Ich hab nur ’ne Halsentzündung und so ’nen ekligen Husten. Ansonsten bin ich beinahe wieder die Alte.“
Jule kicherte. So kannte sie Gerda. Sie nahm sich selbst nicht so wichtig und ließ sich von einer Armee Grippeviren nicht aus der Fassung bringen. „Hoffentlich bist du bis zum Biikebrennen wieder topfit. Ohne dich wäre es nämlich nur der halbe Spaß.“
„Danke, du Liebe. Da muss ich mir wohl noch ein paar Liter Salbeitee mehr aufbrühen, damit ich das nicht versäume.“ Ein tiefer Hustenanfall unterbrach sie für einen Moment. „Besonders nachts geht mir die Husterei auf die Nerven. Und so kann ich nicht arbeiten gehen, wer will sich schon von einer Kassiererin im Supermarkt anhusten lassen. Zum Glück ist der Chef verständnisvoll, weil es ihm vor Kurzem nicht besser erging.“
„Leider kann ich dich nicht besuchen kommen, ich habe nämlich keine Lust, auch noch flachzuliegen. Besonders jetzt nicht.“
„Was heißt besonders jetzt? Habe ich was verpasst?“ Gerdas Stimme klang mehr als neugierig und brachte Jule zum Grinsen. „Stimmt ja, du wolltest zu Pauline fahren. Wann geht es denn los?“
„Wollte ich längst, es sollte aber nicht sein. Stell dir vor, seit heute habe ich einen Mann im Haus.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und konnte sich Gerdas Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen.
„So richtig? Ich meine, du hast jemanden kennengelernt, der gleich mal bei dir eingezogen ist? Und dafür lässt du deine Reise sausen? Jule, so kenn ich dich gar nicht. Wenn ich daran denke, wie lange ich schon versuche, dich davon zu überzeugen, dass du dich endlich mal wieder mit einem Mann verabredest. Und nun so was.“
„Einen Pensionsgast natürlich, nicht, was du wieder denkst.“
„Wäre ja auch zu schön gewesen.“
Jule ignorierte geflissentlich Gerdas Kommentar. „Gestern, ich war schon auf dem Weg zur Fähre, rief er an, um ein Zimmer zu buchen. Dank Rufumleitung kam der Anruf auf meinem Handy an. Gleich ab heute und dann für vier Wochen, eventuell noch länger. Mal ehrlich, das konnte ich unmöglich ablehnen.“
„Versteh ich das richtig, du wolltest schon gestern zu Pauline fahren?“
„Ja, das hatte ich dir doch erzählt.“
„Du hattest davon gesprochen, aber da war ich noch im Fieberwahn und habe mir wohl das Datum nicht gemerkt. Pauline ist sicher enttäuscht, dass du so plötzlich abgesagt hast.“
„Natürlich. Ich einerseits auch, denn ich hatte mich sehr auf ein paar Tage mit ihr gefreut. Aber ich konnte doch so eine Wahnsinnsbuchung nicht ablehnen, wo ich seit Wochen buchstäblich auf dem Trockenen sitze und händeringend auf Gäste warte.“
„Das verstehe ich vollkommen. Wie hat es Pauline aufgefasst?“
„Da sie im vorigen Sommer selbst erfahren musste, wie es ist, wenn kein Geld aufs Konto kommt, wie sehr man sich einschränken und jeden Cent dreimal umdrehen muss, hatte sie nach einigem Rummaulen letztendlich Verständnis für meine Situation. Aber sie kommt ja bald und darauf freue ich mich. Also noch ein Grund für dich, endlich wieder gesund zu werden. Sie hat versprochen, dass sie mit Paul nach Norddorf kommen will, um gemeinsam mit uns den Winter zu vertreiben. Ich hoffe, dass sie sich Zeit für einen Schnack bei mir nehmen wird. Weißt du, ich vermisse sie. Es tat so gut, sie für ein paar Wochen hier zu haben.“
„Ich freue mich darauf, sie wiederzusehen. Seit ihrer Lesung im vorigen Sommer sind wir uns nicht wieder begegnet.“
Gerdas Stimme wurde rauer und Jule entschloss sich, das Telefonat lieber zu beenden, bevor die Freundin ihre Stimme total verlor. „Koch dir gleich mal einen Tee oder lutsch eine Halstablette, sonst wird das nichts mit unserem Vorhaben.“
„Hast recht, aber bevor ich auflege, will ich wissen, wie er ist.“
„Wie wer ist?“
„Na, der Mann unter deinem Dach.“
„Also Gerda, vergiss es. Er ist siebenundachtzig, hat nur noch einen leichten Haarkranz und ...“
„Schade“, unterbrach Gerda sie.
Obwohl Gerda ihr mit ihren Kommentaren über Männer und Verabredungen mächtig auf den Keks ging, konnte Jule sich ein Kichern nicht verkneifen. „Das war ein Scherz.“
„Wieso flunkerst du mir was vor? Gefällt er dir etwa?“
Sie brauchte sich das Antlitz ihres Gastes nicht heraufzubeschwören, er tauchte ohne ihr Zutun vor ihrem inneren Auge auf und brachte sie ganz durcheinander. „Gerda, er hat sich hier lediglich eingemietet, wie jeder andere meiner Pensionsgäste. Und außerdem will er nichts anderes als seine Ruhe haben. Genau deshalb ist er nach Amrum gekommen.“
„Und das hat er dir schon erzählt?“
„Hat er. Und nun Schluss. Schone deine Stimme und verschon mich mit deiner Fragerei.“
Jetzt war es Gerda, die kicherte. „Ich bin gern neugierig, das weißt du doch. Schade, dass ich gerade unpässlich bin und dich keinesfalls anstecken will. Sonst würde ich auf einen Sprung vorbeikommen und mir selbst ein Bild machen.“
„Untersteh dich. Machs gut und sieh zu, dass du wieder fit wirst.“ Bevor Gerda etwas erwidern konnte, legte Jule auf.
Es war ungewohnt, so früh am Morgen bei völliger Dunkelheit aus dem Haus zu gehen. Aber das änderte sich ab heute, weil sie Ben Stüber natürlich täglich frische Brötchen anbieten wollte.
„Moin, Karen“, begrüßte Jule die Bedienung hinter dem Tresen der Bäckerei.
„Moin, Jule. Was treibt dich denn so früh aus dem Haus?“
„Ich habe einen Gast, der sich sicherlich über eure Brötchen freuen wird.“
„Das ist ja schön für dich. Was möchtest du denn?“