GNOMUS - F. A. Peters - E-Book

GNOMUS E-Book

F. A. Peters

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Beschreibung

Gnomus ist ein rothaariger Zwerg und dient am Hofe König Barbarussas. Dem König ist das Lachen vergangen, als seine drei Töchter verschwanden und sein Königreich mit einem Fluch belegt wurde. Gnomus soll ihm sein Lachen zurückbringen. Das gelingt ihm allerdings nicht, und so hat sein Gegenspieler, der finstere Rusputin, leichtes Spiel und sorgt dafür, dass Gnomus in Ungnade fällt. Dem geplanten Anschlag auf sein Leben entkommt er zwar, findet sich jedoch in einem Haus auf Krähenfüßen wieder, in dem mindestens eine Hexe wohnt. Wird der kleine Kerl verzaubert? Kann er entkommen? Und wird der König sein Lachen finden?  Machen Sie sich in diesem Märchen für Erwachsene auf einige deftige Szenen gefasst. Denn sowohl am Hofe als auch in der Hütte geht es mitunter heiß zu. Empfohlen zur Lektüre für Menschen ab 18 vollendeten Lebensjahren. Mit einem Titelbild von Gerd Scherm.

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Seitenzahl: 228

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F. A. Peters

Gnomus

oder

Der König, der nicht lachte

Außer der Reihe 29

F. A. Peters

Gnomus

oder

Der König, der nicht lachte

Außer der Reihe 29

Dieses Buch ist die Fortsetzung der Kurzgeschichte »Der Weg des Gnomus«, die in »Bilder einer Ausstellung«, hrsg. von Marianne Labisch, Marco Habermann und Gerd Scherm, als Band 28 der Reihe »Außer der Reihe« erschienen ist.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: September 2018

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Gerd Scherm

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Marianne Labisch, Gerd Scherm

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für die Geschichtenweber, www.edition-geschichtenweber.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 145 7

Prolog

»Wie kann man uns, den König Barbarussa, nur zum Lachen bringen?«, rief Gnomus mit der Stimme seines Königs aus. Der Zwerg Gnomus war, wie sonst sein Herrscher, in königlichem Purpur gekleidet, mit einer kleinen Krone auf seinem Kopf. Auf allen vieren krabbelte er auf der Bühne umher. Seinen Hintern, blank und prall, streckte er dem Publikum entgegen. Ein hoher Aufschrei!

»Skandalös!«, rief das Publikum. »Wie obszön!« Wieder andere kicherten verhalten und fragten sich: Wie konnte der Narr den König nur so kompromittieren? Was war nur in ihn gefahren?

Ein Klingeln … Hälse wurden gereckt.

»So seht! Ein Hund!«, riefen die Höflinge, als ein Spaniel auf die Bühne sprang. Dieser Hund nun war gewandet in ein moosgrünes Kostüm, daran Glöckchen eingenäht, und das weinrote Narrenkäppchen mit den hängenden Eselsohren, wie sonst Gnomus eines trug, bedeckte keck des Hundes Kopf. Vier Schnabelschühchen tapsten über die Bühnenbretter.

»Da kommt der Gnomus!«, riefen sie. »Hahaha! Der Hund ist Gnomus!«

Die Blicke der Höflinge wandten sich unsicher zum goldenen Königsthron, und ihr Lachen erstarb sogleich. Der König saß wie immer tief in sich versunken und sah träge vor sich hin. Aus der Nase quoll ihm weißer Schleim. Hermanus, ein flachköpfiger Zwerg und echter Stocknarr, hockte auf der linken Armlehne des Throns und fütterte den König mit Haferschleim, in dem Krötenbeine lagen.

»Mmmhh, lecker Hapse, Hapse für die Babba, Babba«, sagte der Stocknarr Hermanus und streckte seine Zunge aus dem trockenen Mund heraus. »Löffelchen, noch eins, noch!«

Der König würgte, doch der goldene Löffel wurde ihm gnadenlos in den Mund gedrückt.

Neben dem Thron lehnte Rusputin, des Königs einziger Berater, und sein Blick war so finster und schneidend, wie man es von ihm kannte. Die schwarz gekleidete Gestalt Rusputins beugte sich tief hinab zum Haupte Barbarussas.

»Und das lasst Ihr Euch gefallen, mein guter König? Dieser Wicht dort ist dem Teufel näher als dem Himmel!«

Barbarussa hustete. Ein Stückchen Schleim landete auf seinem rot-grauen Bart, der ihm bis auf die Beine, die dünnen, herunterging.

Der Spaniel hechelte ganz aufgeregt, und die Glöckchen an seinem Narrenkostüm klingelten. Gnomus schnalzte, woraufhin der Hund zu seinem blanken Hintern rannte und daran schnupperte.

»Vielleicht, wenn Gnomus Ihro Gnaden am Arsche leckt?«, rief Gnomus und schnalzte ein weiteres Mal.

Die Menge hielt nun nichts mehr, und sie brach in schallendes Gelächter aus, als der närrische Spaniel dem Zwerg den Allerwertesten abschlabberte.

Gnomus stimmte in das Lachen ein. Er wusste, dass er ein riskantes Spiel spielte. Es könnte ihm durchaus den Kopf kosten, oder die Zunge, wie beim Schalknarren Luca de Borria, seinem alten Kumpan, dem man die Zunge herausgeschnitten und ihn dann gesteinigt hatte. Doch wollte Gnomus sich nicht länger als Narr demütigen lassen. Wie sehr sehnte er sich zurück nach seiner Freiheit, als er noch Musiker gewesen war! Ohne Rechte zwar, aber frei! Wie sehr sehnte er sich zurück nach seiner Musik, die er gespielt hatte in der ganzen Welt! Hier am Hofe hatten sie ihm alles genommen: sein freies Leben, seine schöne Limonenholzvioline und am Ende auch seinen Namen. Einfach alles! Nun wollte er es dem König und Rusputin ordentlich heimzahlen – ihnen allen! Sollen sie ihn nur verbannen! Sollen sie ihn nur zum Tode verurteilen! Nichts lieber als das! Nur dieses Leben, das seinen Namen nicht verdiente, konnte er keinen weiteren Tag ertragen.

Der Spaniel schlabberte an Gnomus’ Hintern und jaulte vor Freude.

»Oh wie herrlich, unser lieber Gnomus!«, schrie Gnomus in der Verkleidung des Königs. »Ach, wie du uns zum Lachen leckst! So treib uns den Fluch aus! Ja! Jaa! Unser kleiner König, Karol Malenki! Mehr! Mehr! Mehr!«

Die Leute hielten sich schon die Bäuche, schnappten nach Luft. Die Narrenkappe des Spaniels verrutschte. Er wackelte mit dem Schwanz, legte seine Vorderpfoten auf den Rücken des Zwerges und brachte sich in Position. Gnomus streckte seine Zunge weit heraus und verdrehte die Augen.

»Ja, Gnomus! Jaa! Besorg's uns nur richtig!«, rief er. »Nun wackel schön mit beiden Schwänzen! Ooh, ja!«

Die Hofdamen hielten sich pikiert ihre Hände vor die Augen, doch zwischen ihren Fingern linsten neugierige Blicke hindurch. Der Spaniel jaulte vor Lust!

Rusputin flüsterte König Barbarussa ins Ohr: »Jetzt ist mir alles klar, mein guter König: Gnomus ist der zweite Kuckuck, den uns die Hexe ins königliche Nest gesetzt hat! Er kam hierher unter Vorspiegelung falscher Tatsachen! Ja, dieser Gnomus ist im Bunde mit der Hexe!«

Barbarussa räusperte sich und blinzelte träge.

»Wollen mir Ihre Hoheit etwas mitteilen?«

»Ich …«, kratzte die Stimme des Königs.

Rusputin nickte. »Oh, Ihre Hoheit wünschen, dass ich mir all jene notiere, die nicht lachen?«

»Nein … Kerk–«

»Wie bitte?« Rusputin spitzte die Lippen. »Entschuldigt! Ich kann Euch gerade so schlecht verstehen. Habt Ihr ›Kerker‹ gesagt?«

Der König gähnte und blinzelte.

»Oh ja, mit Vergnügen, mein guter König! Eine sehr, sehr weise Entscheidung, wenn mir diese Bemerkung erlaubt ist, und überaus gerecht all jenen gegenüber, die so treu an Eurer Seite stehen! Was habt Ihr bitte mit Gnomus vor?«

»Gnom– jaa … Gnomuu… Möcht– hmmm …« König Barbarussa senkte sein Haupt und schnarchte. Ein Schwall grauen Schleims sickerte ihm aus der Nase und über den Bart.

Rusputin gab der königlichen Leibgarde ein Zeichen.

»Ergreift den verhexten Zwerg! Ergreift Gnomus!«

Die blaue Wildkatze

»Nur für eine Nacht, Gnomus«, flüsterte Rusputin, der mit seinen Krähenaugen durch die Gitterstäbe der Zellentür starrte. »Morgen lassen wir dich wieder frei.«

»Ja ja, frei!«, entgegnete Gnomus scharf. »Das erzähl einem anderen!«

»Ich stehe immer zu meinem Wort. Morgen bist du ein freier Mann. Und bevor ich es vergesse: Zieh das hier an! Purpur steht dir nicht.« Rusputin drückte ein klingelndes Stoffbündel durch das Gitter. Gnomus’ Narrenkostüm. »Deine Narrenschuhe stehen vor der Tür.«

Das Gesicht des königlichen Beraters – oder besser Einflüsterers – verschwand.

Gnomus trat gegen die eisenbeschlagene Tür. Er war allein und wurde wieder zu Honobulbus – zumindest ein Teil von ihm.

Ein freier Mann …, überlegte er. Pah!Wahrscheinlich werden sie mich zurück in die Menagerie stecken, zu den Affen und Papageien! Scheiß Tier- und Zwergenknast! Er musste an den Schimpansen Cocoitus denken und schmunzelte: Cocoitus und Lecksal, der Papagei. Wenigstens könnte er sich in der Menagerie nachts wieder durch die lose Fensterscheibe hinausschleichen, den Fröschen am Teich zuhören und ein wenig singen. Er wäre dann immer noch ein Gefangener; seine Situation hätte sich nicht verbessert. Wer wusste, wie sie ihn jetzt behandelten, nachdem er dem ganzen Hofstaat seinen Arsch entgegengestreckt hat? Ihm dämmerte, dass er einen Fehler begangen hatte. Einen schweren Fehler!

Und wenn Rusputin doch die Wahrheit sagte? Wenn sie ihn wirklich freiließen? Diese Möglichkeit bestand immerhin. Ja … Wozu brauchten sie ihn denn noch? Der König konnte nie mehr lachen; so viel stand mal fest. Aber wussten das auch die Höflinge? Sie hatten ihre letzte Hoffnung auf ihn gesetzt – und er hatte kläglich versagt, ihnen den Arsch gezeigt! Er könnte sich ohrfeigen!

Honobulbus malte sich aus, wie er am nächsten Tag als freier Mann das Schloss verließ: Das Tor in der hohen, von Efeu umrankten Mauer durchschritt, am Fluss und an den Pappeln vorbei, immer weiter … auf die hohen Berge zu, über die er vor vier Sommern in dieses unholde Reich gekommen war. Ob sie mir die Violine wiederjeben?Die brauchen sie doch nicht mehr. Musik und Tanz sind eh verboten. Ja, er könnte wieder ganz er selbst sein! Und er müsste nicht mehr in dieser feinen Sprache sprechen, die sie ihm andressiert hatten – wie einem Papagei, der irgendwann lernte, »Lora will Namm, Namm!« zu krächzen, weil er wusste, dass man ihm dann sein Leckerli gab. Wer biss schon in die Hand, die einen fütterte? Nein! Wie dumm war er gewesen! Wie dumm, den Menschen zu vertrauen! Niemandem konnte man vertrauen. Niemandem!

Honobulbus sah sich in der Zelle um: ein hoch liegendes Fenster, eine Holzpritsche, direkt an der steinernen Wand. Eine verbeulte Metallschüssel. Es zog kalt herunter. Am Fenstergitter bewegte sich etwas. Eine weiße Feder, die von einem Lüftchen in diese oder jene Richtung gedrückt wurde.

Er setzte sich auf die Pritsche. Das Holz gab knarrend nach. Und wenn sie mich hier drinnen lassen? Für lange Zeit? Für immer …

An der Wand waren Zeichen eingeritzt. Gaunerzinken … Ein Kreis, durch den ein Pfeil ging: Hier abhauen …, dachte Honobulbus. Sehr witzig!

Wieso hatte er sich nur auf diese Aufgabe eingelassen? Den König wieder zum Lachen bringen! Was steckte überhaupt dahinter? Warum war der König so traurig? Irgendwann hatte er es aufgegeben zu fragen. Die Leute wurden ja immer gleich so schmallippig. »Wir wissen nichts!«, sagten sie dann, oder: »Uns darfst du nicht fragen!« Heuchler! Weshalb musste er immer zum Nebelberg gehen, sich in Abstand zur Krötenbrücke halten und die Raben und Krähen beobachten, die den Berg umkreisten? Vor allem nach drei weißen Räbinnen Ausschau halten? Dem König berichten? Was sollte das alles? Warum stellte er sich erst jetzt diese Fragen, wo es zu spät war?

Der Stallbursche Georg hatte ihm von geraunten Gesprächen erzählt, die er belauscht und nur bruchstückhaft verstanden hatte: »Die Hexe auf dem Nebelberg …«, »Die gläserne Wundervioline der Hexe …«,»Verleiht unendlich viel Macht …«, »Der Fluch der Hexe …«

Eine Weile hatte er an diese schaurigen Geschichten fast geglaubt und konnte sich der Krötenbrücke nicht auf zwanzig Schritte nähern. Ach was! Sie hatten ihn nur ängstlich gemacht mit ihrem Wahn! Waren eigentlich alle Menschen meschugge? Menschen!

Was passierte wohl, wenn er jetzt ein kleines Liedchen anstimmte? Hmm? Kämen sie und stächen ihm die Augen aus? Er musste an seinen alten Kumpan Luca denken. Gut, dem schnitten sie die Zunge raus.

Die Spielleute … Vor seinem inneren Auge tauchten sie auf, seine alten Zwergengefährten: Blasius, Helenya, Swain, Arbellius, Kuloi … die »Klein, aber Ohos!«-Truppe. Artistik, Wahrsagerei und Musik. Eine irre Mischung! »Schnullipulliii! Jetzt geht's los hier!«, hatten sie immer gerufen. Was hatten sie alles gemeinsam durchgestanden! Den Inquisitor Cochon … Die Flucht aus dem Gefängnis … Den Wettbewerb beim Comte in Antibes … Das Labyrinth mit dem Wundertier … Die gefährliche und aufregende Reise zum Hofe Barbarussas. Schon so lange her. Alles vorbei. Wo damals Blasius und die anderen wohl abgeblieben waren?

Honobulbus legte sich auf die Holzpritsche und blickte zum Fenster hoch, dessen Gitter im Mondlicht glitzerte. Die Feder rührte sich nicht mehr …

Die Gedanken huschten ihm nur so im Kopf herum. Dachte er an dieses, hatte er jenes schon wieder vergessen. Hallanda und Jollobos … seine Eltern. Er sah die Wegelagerer vor sich. Die durchgeschnittenen Kehlen seiner Eltern, ihre durchwühlten Taschen. Nur die Noten hatten sie dagelassen. Lieblos darauf herumgetrampelt, alles voll Dreck!

Er dachte an die Wildkatze. Angliana … seine treue Gefährtin. Immer wieder mal tauchte sie auf. Hatte sich an ihn geschmiegt. Er fühlte jetzt fast ihr langes, weiches Fell an seinen Fingerspitzen und den erdigen Geruch, den sie verströmte. Seine Angliana! Wann hatte er sie zuletzt gesehen? Vor der Schlossmauer, damals, als sie auf den Einlass warteten … Ja, das Tier musste instinktiv gespürt haben, dass etwas in der Luft lag. Unheil!

Honobulbus Gedanken spülten Erinnerungen vom Rand seines Bewusstseins heran, flossen dahin zurück, ins Nirgendwo. Die Welle überschlug sich, begrub Gedanken unter sich. Die nächste Welle strömte heran, mit neuen, noch seltsameren Gedanken …

Was war das? Ein blaues Leuchten … hinten an der Wand. Und es näherte sich! Die Bewegungen des Lichtflecks wirkten geschmeidig. Über dem Fleck erschien ein zweiter; darunter schälten sich zwei senkrechte Streifen aus der Dunkelheit. Das Etwas schlich direkt auf ihn zu.

»Hab keine Angst, Honobulbus!«, ertönte die Stimme einer Frau. »Ich bin es nur: Angliana.«

»A-Angliana? Unmöglich!«

Die Gestalt einer Katze – einer blau leuchtenden Katze.

»W-Wie bist du überhaupt hier rinnjekommen?«, fragte Honobulbus. »Und seit wann leuchtest du?«

»Wie bist du hier hereingekommen?«, entgegnete die Katze Angliana.

Honobulbus lachte auf. »Und seit wann kannst du sprechen?!«

Angliana sprang auf die Pritsche und setzte sich an das Fußende. Ihre grün leuchtenden Augen fixierten ihn. Sie balancierte auf seinen Beinen entlang und legte sich auf seinen Bauch. Es fühlte sich gut an. Warm und weich. Angliana schnurrte – und leuchtete immer noch blau.

»Bitte streichel mich!«, sagte sie. »Ich brauche das jetzt!«

»Was machst du denn hier?«

Behutsam ließ er seine Hände durch ihr Fell gleiten. Es fühlte sich eigentlich an wie immer. Ihr erdiger Geruch …

»Ja, so! So ist es schön«, schnurrte sie. »Noch etwas mehr hinter dem linken Ohr! Ja, genau dort!«

»Wo warst du denn die janze Zeit?«

»Du kennst mich doch: Heute hier, morgen dort, niemals ganz an einem Ort.«

Honobulbus schmunzelte. »Dichtest du jetzt?«

»Ich möchte dir eine kleine Geschichte erzählen, Honobulbus Lemoncello.«

»Eine Jeschichte? Ick will aber schlafen!«

Angliana starrte ihn mit funkelnden Augen an. »Tust du das nicht schon? Schlafen?«

Und so begann die blaue Wildkatze, zu erzählen:

Es war einmal ein König, der errichtete sein Schloss auf dem Land einer bösen Hexe. Die Ältesten hatten ihn stets vor der Nähe des Nebelberges gewarnt, dem Heim des unholden Waldweibes, doch wollte der König nicht auf sie hören.

Er ließ das prächtigste Schloss aller Königreiche erbauen. Ein riesiger Wald lag in der Nähe, und man konnte so viel Holz roden, wie man nur wollte. Holzfäller aus dem ganzen Land wurden angeheuert, und alles lief prächtig – bis es zu den ersten seltsamen Vorfällen kam.

Zunächst verhüllte dichter Nebel den Wald. Der Nebel war so dicht, dass man kaum atmen, geschweige denn arbeiten konnte. Dann kam es zu drückenden Regenfällen und Hagelschlag, die ein Arbeiten schier unmöglich machten. Niemand konnte sich das erklären.

Irgendwann verschwanden die ersten Holzfäller. Sie ließen ihre Arbeit einfach liegen, gingen tief in den Wald hinein und waren niemals mehr gesehen. Der König aber ließ sich davon nicht beirren. Neue Holzfäller wurden angeheuert. Die Arbeiten am Schloss mussten schließlich vorankommen! Und es wurde größer und größer …

Als alle vier Flügel errichtet waren, da entschied König Barbarussa – so sein Name – einen fünften Flügel zu errichten. Seine Baumeister sagten, dies sei völlig unmöglich, doch Barbarussa ließ sich nicht beirren.

»So wird es gemacht!«, befahl er; und so wurde es gemacht.

Das Schloss war endlich erbaut und erstrahlte in prächtigem Glanze, der sich durch die zahlreichen Spiegel, die man in den hallenartigen Räumen aufgestellt hatte, noch endlos vervielfältigte. All überall brannten Fackeln in silbernen Haltern, und Kerzen flackerten in goldenen Kronleuchtern.

Prächtige Feste wurden gefeiert. Es wurde über alle Maßen getrunken, geschmaust, getanzt und geliebt! Die Prinzessinnen vieler Länder rissen sich förmlich um König Rotbart, wie man Barbarussa auch nannte. Liebestrunken krallten sich zarte Hände in seinen feuerroten Bart und in andere haarige Gefilde des Königs.

Bald schon war eine Frau gefunden, die Barbarussa als die Seine auserkor: Prinzessin Zitarsia aus dem Hause Limoninas. Und die Hochzeit des Königspaares war die prächtigste aller Zeiten, und man sollte sich daran noch nach Jahrhunderten erinnern.

Königin Zitarsia schenkte Barbarussa drei wunderbare Töchter: Saloma, die Älteste, liebte das Tanzen und die Malerei. Ihre Bilder zierten die Wände des ganzen Schlosses und wurden von allen bestaunt. Sophia, die Mittlere, las leidenschaftlich gerne und dichtete ergreifende Verse, die man auf Festen und bei anderen Gelegenheiten bewundern konnte. Die jüngste Tochter, das zarte Mädchen Euterpia, wusste mit ihrem Flötenspiel den Hof zu verzücken. Schon von Weitem hörte man ihre fröhlichen Weisen.

Vor jeder Geburt herrschte große Angst, es könnte sich um einen Jungen handeln, denn der Legende nach nahm sich die Nebelberghexe immer den Erstgeborenen. Ach, vergaß ich das zu erwähnen? Man verzeihe mir! Nun denn: Natürlich brauchte das Königshaus einen männlichen Thronfolger, und so versuchte es das Königspaar weiter. Und Zitarsia wurde ein viertes Mal schwanger. Oh, sie freuten sich so sehr auf ihr viertes Kind! Und es war ein Junge! Und er atmete nur wenige Augenblicke … Zitarsia überlebte ihren Sohn nur um einen Wimpernschlag, bis auch sie ihre Augen für immer schloss.

Für die Königin dauerte es nur einen Wimpernschlag, doch der König war für immer gebrochen. Den fünften Flügel des Schlosses ließ er zu einem Mausoleum umbauen. In einen Glassarg legte man die Königin, und in ihre Arme, auf ein kleines Kissen aus Seide, da legte man das Bündel mit ihrem verstorbenen Sohn. Oft kauerte Barbarussa vor dem gläsernen Sarg seiner geliebten Frau. Man hatte das Glas reichlich verziert mit geschwungenen, milchigen Linien, und in goldenen Lettern stand darauf geschrieben: »Für meine Königin, meine geliebte Zitarsia – und für meinen lieben Sohn, der da keinen Namen trägt und den ich nie kennenlernen durfte.«

Aus einem unerfindlichen Grunde ließ der König den Südturm des Schlosses für immer versperren. Keine Sterbensseele durfte den Südturm je wieder betreten! Der König verfiel in tiefe Trauer, doch es gab noch seine drei Töchter, und diese konnten ihm zumindest etwas Glück und Freude im Leben schenken.

So verging die Zeit. Ein Tag folgte auf den anderen, Monat folgte auf Monat, Jahr folgte auf Jahr. Und irgendwann wurden wieder Feste gefeiert. Doch in seinem Herzen hegte der König eine tiefe Melancholie. Man sah ihn oft allein im Festsaal stehen, am großen Fenster, wie er hinausblickte und den Regen beobachtete, oder wie der Schnee langsam fiel. Oder er betrachtete den Abendschein – lange stand er da, nachdem die letzten Sonnenstrahlen verschwunden waren. Dann schlich er sich in das Mausoleum. Wenn er das bleiche Gesicht seiner Liebsten betrachtete, so spürte er, wie sich die Melancholie in ihm warm und wohlig ausbreitete, ihn einhüllte und sie beide zärtlich im Geiste verband. Wenn er dachte: Ich liebe dich …, meinte er bisweilen, ein zartes Lächeln zu sehen, das über Zitarsias Gesicht huschte – nur für einen Wimpernschlag.

Eines Tages, da tauchte wie aus dem Nichts ein seltsamer Mann auf. Er nannte sich Rusputin. Niemand wusste, woher er kam oder wem er zuvor diente, geschweige denn, wer er wirklich war. Es wurde gemunkelt, er sei ein Wanderprediger, da seine Stimme etwas Predigendes, ja, etwas sehr Eindringliches hatte – und doch klang sie leise und ruhig und von einer eisigen Kälte durchzogen. Rusputin wurde stets von seinen beiden Dienern begleitet, die sich da nannten Roiner Fass und Warnhär Grün.

Dieser Rusputin war schon eine grauliche Erscheinung: Von hohem Wuchs, hager und blass. Sein langer, schwarzer Bart reichte ihm bis zu den Hüften. Seine verkrüppelte rechte Hand wirkte wie im Greifen erstarrt. Rusputin hatte die kalten Augen einer Saatkrähe. Sein Satansblick war so lähmend, dass er selbst gestandene Männer zum Stottern brachte und in ihren Grundfesten erschütterte. Doch es gab etwas, was sein Aussehen an Merkwürdigkeit noch übertraf: Er machte die ruckartigen Bewegungen eines Vogels, der mal hierhin, mal dorthin zuckte, in seltsamen Posen verharrend.

Rusputin sprach oder flüsterte bisweilen über einen schwarzen Siegelring hinweg, der auf dem Mittelfinger der verkrüppelten Hand steckte. Dabei starrte er sein Gegenüber ausdruckslos an. So glaubte man ihm alles, was immer er sagte, denn in dem Ring steckte eine böse Zauberkraft. Der Spruch »Über den Ring hinweg gelogen« verbreitete sich bald im ganzen Lande. Auf dem Ring befand sich ein Zeichen, das niemand zu deuten wusste. Manche meinten, es handele sich um eine Rune, andere wiederum sahen darin eine Krähe.

Rusputin begann man alsbald, wegen seiner Klugheit und Weitsicht zu schätzen. So machte König Barbarussa ihn, nach wenigen Tagen schon, zu seinem engsten Vertrauten und wichtigsten Berater. Nach und nach, auf unerklärliche Weise, verschwanden die anderen Berater des Königs und waren nimmermehr gesehen. Ein paar Höflinge bezichtigten Rusputin, etwas mit dem Verschwinden der königlichen Berater zu tun zu haben, aber sobald Rusputin seine verkrüppelte Hand erhob, und salbungsvolle Worte über den Ring hinwegsäuselte, da verflüchtigten sich die Gerüchte so rasch, wie sie gekommen waren, und man schenkte ihm abermals tiefstes Vertrauen.

Der König ließ sein Schloss weiter ausbauen. Bald schon hatte es sechs Flügel – dann sieben, mit der Errichtung des achten Flügels wurde eifrig begonnen. Immer mehr Bäume mussten gerodet werden, und immer mehr Holzfäller und Jäger verschwanden. Ein gewisser Unmut machte sich im Volke breit. König Barbarussa schickte daher, auf Rusputins Rat hin, Soldaten in den Wald. Boten berichteten, dass die Soldaten die Krötenbrücke der Hexe überquert hatten und in den Nebel gegangen waren. Kein Schrei, kein Laut – nichts hat man je wieder von ihnen gehört noch gesehen. Nur das ätherische Spiel einer Violine wurde vernommen, die da klang, als brächte sie Gläser zum Weinen.

Die Bauarbeiten am Schloss gerieten ins Stocken. Schnell musste eine Lösung gefunden werden, denn welcher König von Ehre und Stand lebte in einem unfertigen Schloss? Doch das unvollendete Schloss stellte nur das geringste Problem dar: Das kleine Königreich wurde durch den Verlust an Soldaten bereits in seiner Streitkraft geschwächt. Spione angrenzender Länder berichteten ihren Herren eifrig von den Problemen, und so richteten sich bald neugierige, fremde Augen und Ohren auf das, was sich im Reiche Barbarussas abspielte.

Die Legende der magischen Glasvioline der Hexe machte die Runde. Auch die Tiere des Waldes folgten dem ätherischen Klang der Violine und zogen sich nach und nach auf den Nebelberg zurück. So wurden die Jagden immer bescheidener: Bald gab es keine Hirsche mehr, bald keine Wildschweine. Man hätte sich auch mit Niederwild begnügt, doch schon bald gab es noch nicht einmal mehr Wildhasen. Die verbliebenen Tiere wiesen üble Geschwülste auf, suppende Wunden und allerlei Missbildungen. Ein Eichhörnchen etwa wurde gefunden, das hatte zwei Köpfe mit jeweils drei Augen. Füchse verharrten in einer Art Sitzhaltung und wurden von feinem Wurzelwerk regelrecht eingewoben. Aus ihren Bäuchen, den aufgeblähten, da krabbelten gelbe Maden heraus, und fliederfarbene Gottesanbeterinnen, die sich sogleich über die Maden hermachten und selbst verendeten. Immer mehr Rabenvögel umkreisten den Nebelberg. Das Flattern der zahllosen Raben und Krähen vernahm man schon von Weitem als ein fürchterliches Rauschen.

Die Musik der gläsernen Violine zog auch immer mehr Menschen in ihren Bann – vor allem Mädchen und junge Frauen, die die blutbetropfte Schwelle noch nicht überschritten hatten. Viele von ihnen gingen lächelnd in den Nebel. »Man geht nicht auf den Nebelberg, nein, man verschwindet darin!«, wurde zu einem hinter vorgehaltenen Händen geraunten Spruch.

König Barbarussa musste diesem Treiben endlich ein Ende setzen!

Da kam die Hexe auf das Schloss. Niemand hätte je damit gerechnet. Es herrschte große Aufregung. Was wollte das böse Waldweib nur? Unentwegt spielte sie auf ihrer gläsernen Violine, während sie staksend den Thronsaal durchschritt. Die königlichen Wachen wollten sie aufhalten, doch keiner konnte sich ihr auf weniger als drei Schritte nähern, geschweige denn, sie berühren. Pfeile prallten an ihr ab, als bestünde sie aus Stein. Gewehre zerfielen in ihre Einzelteile, Schwerter verbogen sich und fielen rot glühend zu Boden. Der Musik der Hexe wohnte ein süßer, irrer Zauber inne, den niemand durchbrechen oder sich entziehen konnte. Spielend schritt sie durch die Reihen. Hinter ihr hatte sich ein Zug gebildet. In den Gesichtern der Höflinge lag ein waidwunder Ausdruck.

Die Hexe war komplett verhüllt unter einer schweren, schwarzen Kutte, das Gesicht tief im Schatten einer Haube verborgen. Man sah nur ihre Hände und einen Teil der mit braunen Flecken übersäten Arme. Ihre Stimme jedoch klang wie die einer jungen Frau. Eine Stimme, so magisch schön, so magisch verführerisch und zugleich so beängstigend. Und sie verströmte einen betörenden Geruch von feuchter Erde und verfaulendem Totholz.

Rusputin stellte sich der Hexe in den Weg und flüsterte ihr etwas über den Ring zu. Als dies nicht fruchtete, da sprach er ruhig: »Wer hat dieses Weib überhaupt hereingelassen?«

»Das Weib hat sich selbst hereingelassen! Und Taschenspielertricks funktionieren bei uns nicht. Mach Platz!«, sagte die Hexe, spielte drei Töne, und Rusputin wurde durch eine unsichtbare Macht zur Seite gestoßen.

Sie schritt weiter auf den goldenen Thron zu, auf dem ein sichtlich beunruhigter König hin und her rutschte. Des Königs nachtblau gekleidete Leibgarde stellte sich in einem Halbkreis schützend vor ihn.

»Wer wagt es?«, rief König Barbarussa und linste an seiner Garde vorbei.

Die Hexe zupfte zwei Töne auf der Violine, und schon traten sie beiseite.

»Welche Ungeheuerlichkeit!«, schrie der König. »Du tauchst hier unangemeldet auf und trittst zudem verhüllt vor uns?«

»Bekommst gleich unverhüllt einen Tritt in die Eier!«, lachte sie. »Im Ernst: Wir beide haben ein Problem.«

Der König schnappte nach Luft. Davon ließ sich die Hexe nicht im Geringsten beeindrucken und fuhr fort: »So geht das nicht! Die Leute scheißen uns den ganzen Berg voll!«

»D-Du freches Weibsstück, du! Euchzt und ihrzt uns gefälligst! Und halt uns ja nicht zum Narren! Mit deinem Violinspiel lockst du sie an!«

»Ach, das meinst. Tja, das können wir nicht ändern. Sie kommen –« Die Hexe kicherte und schmatzte. »– aus freien Stücken!«

Rusputin stellte sich neben seinen Herrscher und flüsterte ihm etwas zu. Der König machte eine abwimmelnde Handbewegung und sprang auf.

»Gib unsere Leute frei! All die jungen Mädchen und Frauen! Und –«

»Das würden wir nur zu gern, Rotzzausel! Doch die hängen ja an uns wie die Kletten! Wir werden sie nicht mehr los – und wer soll die alle fressen? Etwa wir?«

Der König trat zwei Schritte zurück, schwankte und stützte sich auf den Thron.

»D-Du isst sie?«

»Ja, freilich! Die vermehren sich doch sonst wie die Ratten. Weißt, dass stramme Holzfäller darunter waren? Junge Burschen … na, die haben wir zuerst verputzt. Ganz lecker – nur leider etwas zäh im Abgang.«

»Teufelsweib!«, schrie Barbarussa. »Was willst du? Wahnsinnige!«

»Danke!«, antwortete die Hexe. »Und wo wir grad’ so nett plaudern: Wir wollen weder das Schloss, noch das Land, noch irgendetwas von alledem.«

Sie verdrehte ihren Kopf in einem unnatürlichen Winkel. Ein stoppeliges Kinn kam zum Vorschein und ein Stück ihrer Unterlippe. »Wir wollen uns aus dem Wald außerhalb des Nebelberges zurückziehen. Uns ist es dort zu ungemütlich geworden. Zu wenig Bäume und kaum noch Getier. Auf dem Nebelberg, dort wollen wir fortan friedlich weilen, oben in unserem Wald. Haltet Euch nur vom Nebelberg fern, dann soll Euch nichts geschehen! Wer sich jedoch nicht daran hält und sich auf unseren Nebelberg wagt, der wird elendig vergehen!«

»Du hast kein Recht, unser Schloss zu betreten!«, schrie der König. »Kein Recht! Und fordern darfst du hier schon gar nichts!«

»Es ist uns, wie siehst, ein Leichtes, das Land und das Schloss zu betreten. Nichts und niemand kann uns aufhalten.«

»Großen Respekt, mein König!«, flüsterte Rusputin seinem Herrn ins Ohr. »Ich bewundere, wie Ihr dieser Hexe die Stirn bietet. Doch sie betreibt Schwarze Magie ohne erkennbare Anzeichen von Anstrengung. Jener dort seid Ihr, ist niemand gewachsen!«

»Grober Unfug!«, rief der König. »Ergreift sie!«

Zögerlich näherten sich der Hexe die sieben Gardisten. Der Vorderste schaffte es, bis auf drei Schritte an die Unholde heranzukommen. Als er zum nächsten Schritt ansetzte, da drehte die Hexe ihren Kopf und zupfte an der höchsten Saite der Violine. Ein Ton erklang, als zerspränge Glas, und der mutige Gardist sackte sogleich in sich zusammen und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Rusputin richtete den Mann auf, doch dessen Lippen waren bereits blau, und er erstickte elendig.

Weiter spielte die Hexe auf der Violine ihre irren Weisen. Da kam der zweite Gardist und wollte die Unholde packen. Nach einem Crescendo schwebte dieser nun quer durch den Thronsaal, über die Köpfe der Staunenden hinweg und flugs zum Fenster hinaus.

Und die Hexe spielte weiter. Das Glas der Violine funkelte nur so in der trüben Abendsonne und warf tanzende Lichtflecken an die hohe Decke der Halle. Da kam der dritte Gardist und holte weit mit seiner Lanze aus. Die Hexe spielte zwei Töne gleichzeitig. In eleganter Drehung schoss der arme Mann gegen die Decke, fiel und blieb mit seinem Gemächt an einem Dorn im Kronleuchter hängen.

Die Hexe lachte. »Hahaha! Gefällt mir sehr, wie da oben abhängst. Armes Würstchen!«

Die verbliebenen vier Gardisten formierten sich und rannten schreiend und mit nach vorn gerichteten Lanzen auf sie zu. Die Hexe aber zupfte unbeeindruckt Triolen. Die Männer ließen ihre Lanzen fallen und tanzten, Marionetten gleich, Walzer zur Musik der Unholden.

»Eins, zwei, drei! Eins, zwei, drei! So ist es richtig!«, sagte die Unholde und kicherte. »Eins, zwei, drei! Eins, zwei, drei! Mehr im Takt, die Herren!«

Dann passierte etwas noch Merkwürdigeres: Es schien, als fiele die Hexe in sich zusammen, ja, als löste sie sich innerhalb ihrer Kutte auf. Der schwarze Stoff senkte sich und verfärbte sich blau.

Sie schrie: »Was sagst da? Bist nur ein Teil von uns. Also schweig!«

Mit wem sprach sie da? Plötzlich schien sie zu wachsen, richtete sich auf und füllte ihre nun wieder schwarze Kutte zur Gänze aus. Da sie ihr Spiel für einen Moment unterbrochen hatte, fand sie sich jetzt von den vier Gardisten umstellt. Sah’s, zupfte Triolen, und die Männer begannen ihren Tanz von vorn.

»Eins, zwei, drei, die Herren! Ja, genau so! Es ist gar nicht schwer! Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, eins, zwei …«

»Nun ist aber mal gut hier!«, rief König Barbarussa. »Ergreift sie endlich!« Doch niemand folgte mehr seinen Befehlen. Man hielt sich lieber in sicherem Abstand.

Der König spie aus. »Menschenfresserin!«

»Scheltest den Vogel, der einen Wurm frisst? Scheltest die Katze, die nun den Vogel verspeist? Den Bären, der schließlich die Katze frisst? Und dann den Menschen, der den Bären verspeist? So ist eben das Leben; überall, wo man hinsieht, nur Verluste, Verluste, Verluste!«

»Menschenfresserin! Hinfort mit dir! Respektloses, altes Weib!«

Der König stürmte auf die Hexe zu und prallte wie von einer unsichtbaren Wand ab, taumelte und fiel zu Boden.

Die Unholde lachte. »Hihihihi! Warum so ungestüm? Wurdest von Stolz, Eitelkeit und Überheblichkeit übermannt?«

Der König stampfte mit dem Fuß auf. »Verschwinde!«

»Hörst uns nicht richtig zu, alter Tor? Wir sagten doch schon, dass wir uns auf den Nebelberg zurückziehen. Wenn wir erst fort sind – wirst uns dann vermissen? So wie den – kleinen Sohn? Hast ihm eigentlich schon einen Namen gegeben?«

»W-Was? Was ist mit dem?«

»Na, den hast uns noch nicht übergeben.« Die Hexe kicherte. »Bist uns noch was schuldig!«