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Jeder in New Orleans hat schon von Devlin »Devil« de Vincent gehört, der seit dem rätselhaften Tod des Patriarchen das neue Familienoberhaupt ist. Zahlreiche Gerüchte kursieren über die drei Brüder. Rosie ist sich dessen bewusst, als das Schicksal sie mit Devlin zusammenführt. Und doch hat kein Mann bisher solche wilden Fantasien in ihr entfacht. Rosie ist nicht nur entschlossen, den Mythos, der sich um die de Vincents rankt, zu erforschen, sondern auch, hinter Devlins gut verborgene Geheimnisse zu kommen. Aber dafür muss sie sich in die Arme des Teufels begeben … »Gefühlvoll und leidenschaftlich.« Publisher’s Weekly »Ein mit Leidenschaft gewürzter Page-Turner, der das Feuer in Ihnen entfacht.« Entertainment Weekly über »Golden Dynasty - Größer als Verlangen«
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Seitenzahl: 616
MIRA® TASCHENBUCH
Copyright © 2019 für die deutsche Ausgabe by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Copyright © 2019 by Jennifer L. Armentrout Originaltitel: »Moonlight Scandals« Erschienen bei: Avon Books, New York
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Umschlagabbildung: FinePic / München Lektorat: Rabea Güttler Satz: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
ISBN E-Book 9783745750256
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Für dich, Leser
Anmerkung der Autorin
Nur, damit ihr es wisst:Ich liebe Perlenvorhänge
1. KAPITEL
Rosie Herpin kniete auf dem Boden, atmete tief ein, um sich zu beruhigen, und ignorierte den scharfen Kies, der sich in ihre Haut grub. Sie beugte sich vor und legte die Hand flach auf den warmen, von der Sonne ausgebleichten Stein. Knien war in einem Wickelkleid alles andere als bequem, aber heute würde sie weder eine Jeans noch Leggings tragen.
Sie schloss die Augen, ließ ihre Finger nach unten rechts wandern und zog die flachen Vertiefungen nach, die sorgfältig in den verwitterten Stein gemeißelt waren. Sie musste sie nicht sehen, sondern wusste auch so, dass sie den Namen erreicht hatte – seinen Namen.
Ian Samuel Herpin.
Ihre Finger glitten über jeden einzelnen Buchstaben, und sie sprach sie lautlos aus, und nachdem sie fertig und bei dem »n« des Familiennamens angekommen war, hielt sie inne. Rosie brauchte nicht fortzufahren, um zu erfahren, wie die Daten darunter lauteten. Ian war dreiundzwanzig geworden. Und sie brauchte die Augen nicht zu öffnen, damit sie die eine Zeile lesen konnte, die in den Stein eingraviert war, denn sie hatte sich in ihr Hirn eingebrannt.
Möge ihm der Tod den Frieden schenken, den er im Leben nicht finden konnte.
Abrupt nahm Rosie die Finger von dem Stein, doch sie öffnete nicht die Augen, während sie die Hand an die Brust hob, an die Stelle direkt über ihrem Herzen. Sie hasste diese Worte. Seine trauernden Eltern hatten sie ausgewählt, und sie hatte es damals nicht übers Herz gebracht oder die Kraft gehabt, ihnen dies abzuschlagen. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte es getan.
Es war nicht so gewesen, dass Ian den Frieden nicht hatte finden können. Der Friede war da gewesen, hatte auf ihn gewartet, überall um ihn herum. Der Friede … hatte ihn nur nicht erreichen können.
Das war etwas anderes.
Zumindest für Rosie.
Zehn Jahre war es her, seit ihre Pläne für eine gemeinsame Zukunft – Collegeabschlüsse, ein Haus mit einem schönen Garten, Kinder und vielleicht, wenn Gott es so wollte, sogar Enkelkinder, die sie später im Ruhestand verwöhnen könnten – durch eine Schusswaffe zerstört worden waren, von der Rosie keinen Schimmer hatte, dass ihr Mann sie besaß.
Seit zehn Jahren ließ sie wieder und wieder ihre gemeinsame Zeit vor ihrem inneren Auge ablaufen und suchte nach Anzeichen dafür, dass alles, was sie gewesen waren, und alles, was sie noch werden sollten, nur Fassade gewesen war, weil sie zwei unterschiedliche Leben geführt hatten. Rosie hatte geglaubt, alles sei perfekt gewesen. Sicher, sie hatten Probleme gehabt wie alle anderen, doch nichts Größeres. Aber Ian? Sein Leben war alles andere als perfekt gewesen. Er hatte gekämpft. Nicht ständig, nicht jeden Tag. Das, was seine Gedanken und Gefühle überschattete, hatte sich gut versteckt. Seine Depression war ein lautloser Killer gewesen. Niemand hatte es kommen sehen, weder seine Familie noch seine Freunde, nicht einmal Rosie.
Erst viele, viele Jahre später und nach jeder Menge tiefem Insichgehen gelangte Rosie zu dem Schluss, dass ihr gemeinsames Leben keine totale Lüge gewesen war. Bis sie an diesen Punkt gelangte, hatte sie sich durch alle Stadien der Trauer gekämpft. Ein Teil war echt gewesen. Ian hatte sie geliebt. Sie wusste, dass das die Wahrheit war. Er hatte sie mit aller Kraft geliebt, die er besaß.
Sie waren seit der Highschool zusammen gewesen.
Im Sommer nach ihrem Abschluss hatten sie geheiratet und beide hart gearbeitet, um sich ein Leben aufzubauen, vielleicht ein wenig zu hart, denn das hatte zu seinen Problemen beigetragen. Er hatte bis spät abends in der Zuckerraffinerie geschuftet, während Rosie an der Tulane-Universität Erziehungswissenschaften studiert hatte. Sie hatten über ihre Pläne geredet – eine Zukunft, von der sie nun wusste, dass Ian sich mehr als alles andere verzweifelt danach gesehnt hatte.
Sie war dreiundzwanzig und stand kurz vor ihrem Abschluss und sie waren gerade auf der Suche nach ihrem ersten eigenen Haus, als die Polizei Rosie im Laden ihrer Eltern anrief und sie bat, nicht nach Hause zu gehen.
Einen Monat vor ihrem Abschluss hatte Ian bei der Polizei angerufen und erklärt, was er vorhatte. Gerade waren sie dabei, alles für die Aufnahme einer Hypothek in die Wege zu leiten, als sie erfuhr, dass der Mann, mit dem sie seit fast fünf Jahren verheiratet gewesen war, nicht gewollt hatte, dass sie nach Hause kam und ihn fand. Eine Woche vor seinem Geburtstag hatte sich der amerikanische Traum, den sie lebten und atmeten, in eine amerikanische Tragödie verwandelt.
Viele Jahre lang konnte sie nicht begreifen, was er getan hatte. So viele Jahre lang war sie so verdammt zornig gewesen und hatte sich so verflucht schuldig gefühlt; hatte geglaubt, ihr hätte etwas auffallen müssen, sie hätte etwas unternehmen sollen. Erst nachdem sie sich an der University of Alabama für Psychologie eingeschrieben hatte, konnte sie akzeptieren, dass Warnzeichen da gewesen waren – Anzeichen, die die meisten Menschen nie bemerkt hätten.
Das Studium und ihre eigene Erfahrung hatten sie gelehrt, dass Depressionen ganz anders aussahen, als die Leute glaubten – als sie gedacht hatte.
Ian hatte gelächelt und gelebt, doch das hatte er für Rosie getan. Für seine Familie und seine Freunde. Er lächelte, lachte, stand früh auf und ging zur Arbeit, schmiedete Pläne und verbrachte faule Sonntage mit ihr, damit sie nicht seinetwegen besorgt war oder von Gewissensbissen geplagt wurde. Er wollte nicht, dass sie sich genauso schlecht fühlte wie er.
Und damit hatte er einfach weitergemacht, bis er nicht mehr konnte.
Rosies Schuldgefühle verwandelten sich schließlich in Kummer, und der Kummer ließ nach, bis er zu einem Körnchen aus Gefühlen wurde, das immer da sein würde, ganz gleich, was passierte, und das sie wieder spürte, wenn sie sich erlaubte, richtig darüber nachzudenken, wer sie beide sein könnten, wo sie vielleicht wären, wenn alles anders gelaufen wäre. So war nun einmal das Leben.
Er war jetzt schon länger tot, als sie ihn gekannt hatte, und mit jedem Monat und jedem Jahr wurde es leichter. Trotzdem schmerzte sie es immer noch, seinen Namen auszusprechen.
Rosie glaubte nicht daran, dass man einfach über den Verlust eines Menschen, den man wirklich geliebt hatte, hinwegkam; eines Menschen, der nicht nur der beste Freund, sondern auch die andere Hälfte von einem selbst gewesen war. Den Teil von sich selbst, den man einem anderen unwiderruflich schenkte, kriegte man nicht zurück. Wenn der andere ging, nahm er diesen Teil für immer mit. Allerdings glaubte Rosie daran, dass man akzeptieren konnte, dass er nicht mehr da war, und es dennoch schaffte, weiterzumachen und das Leben zu genießen.
Auf nichts war sie stolzer als darauf, dass sie genau das tat. Niemand, keine einzige verdammte Person, konnte behaupten, dass sie schwach wäre; dass sie sich nicht den Staub abklopfte und wieder aufstand. Denn niemand hatte die geringste Ahnung von dem Strudel aus stürmischen, sich ständig verändernden und heftigen Emotionen, die dazugehörten, wenn jemand, den man mehr als alles andere auf der Welt liebte, durch die eigene Hand starb.
Niemand.
Sie machte nicht einen oder zwei Abschlüsse, sondern drei. Sie ging aus und hatte Spaß; die verrückte Art von Spaß, die hin und wieder mit einem Polizeieinsatz zu enden drohte. Aus ihrer Faszination für alles Paranormale, einem Interesse, das sie mit Ian geteilt hatte, hatte sie sich einen regelrechten Nebenjob aufgebaut, bei dem sie einige der besten Menschen auf der Welt getroffen hatte. Rosie datete auch Männer. Oft. Erst Anfang der Woche hatte sie sich mit einem Typen getroffen, den sie bei der Arbeit in der Konditorei ihrer Eltern kennengelernt hatte. Und sie bremste sich nie. Niemals. Dazu war das Leben zu verdammt kurz.
Das hatte sie auf die harte Tour gelernt.
Aber heute, am zehnten Jahrestag von Ians Tod, fiel es ihr schwer, das Gefühl loszuwerden, dass es erst gestern passiert war. Fast unmöglich, keine erstickende Trauer zu empfinden.
Sie griff sich in den Nacken und zupfte an der Goldkette, die sie immer trug. Sie zog sie aus dem Ausschnitt ihres Kleids und umfasste den goldenen Ring. Den Ehering ihres Mannes. Sie hob ihn an die Lippen und küsste das warme Metall.
Eines Tages würde sie diesen Ring an einem sicheren Ort aufbewahren, da war sie sich sicher. Doch dieser Tag war noch nicht gekommen.
Sie öffnete die Augen, blinzelte die Tränen weg und sah auf den frischen Blumenstrauß hinunter, der auf dem Boden lag. Pfingstrosen. Ihre Lieblingsblumen, denn Ian hatte keine spezielle Blume bevorzugt. Die halb aufgeblühten Mini-Pfingstrosen zeigten ein frisches Weiß und besaßen eine rosa Mitte, würden aber irgendwann rein weiß sein. Sie nahm die feuchten Stiele und sog den üppigen Rosenduft ein.
Rosie musste sich auf den Weg machen. Sie hatte ihrer Freundin Nikki versprochen, ihr heute beim Umzug zu helfen, daher war es Zeit, in ihre Wohnung zurückzukehren, sich umzuziehen und sich als gute Freundin zu erweisen. Sie beugte …
Ein leiser, kurzer Fluch, und sie hob den Kopf. Auf einem Friedhof hörte sie nicht oft Flüche. In der Regel war es hier ziemlich still. Sie grinste leicht. Fluchen und Friedhöfe passten normalerweise schlecht zusammen. Sie musterte den schmalen Pfad zu ihrer Rechten und entdeckte nichts. Sie lehnte sich zurück, schaute nach links und erblickte die Quelle des verbalen Ausbruchs.
Ein Mann kniete mit dem Rücken zu ihr und hob gerade Blumen auf, die ihm in eine nach dem letzten Regen zurückgebliebene Pfütze gefallen waren. Sogar von hier aus konnte sie erkennen, dass der empfindliche Strauß ruiniert war.
Sie legte eine Hand über die Augen, blinzelte in die Sonne und beobachtete, wie der Mann aufstand. Er sah aus, als käme er direkt von der Arbeit. Zu einer dunklen Hose trug er ein auf Figur geschnittenes weißes Oberhemd. Die Ärmel waren bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und enthüllten gebräunte Unterarme. Es war Ende September, aber in New Orleans herrschte immer noch eine Höllenhitze, und momentan war es auch noch drückend schwül. Wenn sie in ihrem schwarzen Kleid schon fast erstickte, musste er kurz davorstehen, sich das Hemd herunterzureißen.
Er wandte ihr immer noch den Rücken zu und starrte auf die verdorbenen Blumen hinunter. Als er sich in die andere Richtung wandte, wirkten seine Schultern verkrampft. Mit schnellen Schritten trug er die Blumen zu einer alten, mit Louisiana-Moos überwucherten Eiche. Dort befand sich ein kleiner Mülleimer, einer von sehr wenigen auf dem ganzen Friedhof. Er warf die Blumen hinein, fuhr dann herum und verschwand über einen der zahlreichen Wege.
Oh Mann, das war ätzend.
Aus Mitleid mit dem Kerl setzte sie sich in Bewegung. Vorsichtig löste sie die Hälfte der Stiele aus ihrem Strauß, beugte sich dann vor und steckte den Rest in die Vase vor Ians Grab. Sie griff nach ihren Schlüsseln, erhob sich und setzte ihre lila Sonnenbrille auf. Dann eilte sie den abgetretenen Weg mit den vereinzelten Grasbüscheln entlang und bog auf den Pfad ein, auf dem sie den Typen hatte verschwinden sehen. Das Glück war auf ihrer Seite, denn sie entdeckte ihn in der Nähe des Pyramidengrabs, wo er nach rechts abbog. Sie fühlte sich ein wenig wie eine Stalkerin, folgte ihm aber dennoch.
Natürlich hätte sie ihn auch rufen und ihm einfach die andere Hälfte der Pfingstrosen in die Hand drücken können, doch es erschien ihr einfach falsch, auf einem Friedhof einem Fremden hinterherzuschreien. Lärm auf einem Friedhof fühlte sich wie etwas an, bei dem ihre Mutter ihr einen strengen Blick zugeworfen hätte.
Und niemand hatte so finstere Blicke auf Lager wie ihre Mutter.
Der Mann bog noch einmal ab und entschwand aus ihrem Blickfeld. Die Blumen fest umschlossen, passierte sie ein Grab mit einem großen Kreuz und verlangsamte dann ihre Schritte.
Sie hatte ihn gefunden.
Er stand vor einem riesigen Mausoleum, das von zwei wunderschönen weinenden Engeln bewacht wurde. Genauso reglos wie die Engel verharrte er dort, mit steif herabhängenden Armen und Händen, die zu Fäusten geballt waren. Sie trat einen Schritt vor, und dann glitt ihr Blick zu dem Namen auf dem Mausoleum.
De Vincent.
Sie riss die Augen auf. »Ach, du heiliges Lama«, stieß sie hervor.
Der Mann drehte sich halb um, und mit einem Mal stand Rosie nur wenige Meter vor dem Teufel.
Jedenfalls nannten die Klatschmagazine ihn so – Devil.
Der größte Teil ihrer Familie bezeichnete ihn so.
Rosie nannte ihn gern den Traumtypen.
Jeder in New Orleans und im Staate Louisiana – und wahrscheinlich mehr als die Hälfte der Landesbevölkerung – wusste, wer Devlin de Vincent war. Abgesehen von den vielen Fotos von ihm und seiner Verlobten, die ständig im Lifestyle-Teil der Zeitschriften erschienen, war er der älteste der verbliebenen de-Vincent-Geschwister, der Erbe eines Vermögens, das Rosie sich genau wie fast der ganze Rest der Welt nicht einmal annähernd vorstellen konnte.
Die Welt war wirklich klein.
Etwas anderes konnte sie nicht denken, während sie ihn anstarrte. Ihre Freundin Nikki arbeitete für die de Vincents, wenn auch nur vertretungsweise, und hatte etwas mit dem mittleren Bruder laufen. Momentan war die ganze Lage vollkommen verfahren, und Gabriel de Vincent stand aktuell auf Rosies Liste der Freunde-die-sich-dringend-zusammenreißen-mussten.
Aber der Umstand, dass die de Vincents berühmt-berüchtigt waren, oder die On-off-Beziehung ihrer Freundin zu Gabe waren nicht die einzigen Gründe dafür, dass Rosie besser über sie im Bilde war als so manch anderer.
Es lag an ihrem Anwesen – ihrem Land.
Der Besitz der de Vincents gehörte zu den mysteriösesten Orten in ganz Louisiana. Rosie wusste das, weil sie seit jeher ein wenig besessen von all den Legenden war, die das Land und die Familie umgaben. In einer war sogar von einem Fluch die Rede. Ja. Angeblich waren die Familie und das Land verflucht. Wie cool war das denn? Okay, wahrscheinlich nicht für die, die damit zu tun hatten, Rosie allerdings faszinierte das Ganze.
Nach den Recherchen zu urteilen, die Rosie vor Ewigkeiten angestellt hatte, ging alles von dem Land selbst aus. New Orleans war Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von zahlreichen Seuchen heimgesucht worden. Pocken. Der Spanischen Grippe. Gelbfieber. Sogar der Beulenpest. Tausende von Menschen starben, und noch viel mehr wurden in Quarantäne gesteckt. Oft ließ man die Toten und die Sterbenden am selben Platz zurück, damit sie zusammen verfaulten. Das Land, auf dem das Anwesen der de Vincents errichtet war, lag auf einer der Flächen, die bekannterweise während vieler dieser Seuchen dazu benutzt worden waren. Sogar nach dem Bau des Hauses hatte man bei späteren Krankheitsausbrüchen weiter Areale in der Nähe dazu verwendet. So viel Krankheit und Tod, gepaart mit Kummer und Hoffnungslosigkeit, mussten zwangsläufig negative Schwingungen hinterlassen haben.
Und Junge, Junge, das Land der de Vincents hatte allerhand üble Schwingungen.
Das Gebäude selbst war etliche Male in Brand geraten. Die Feuer ließen sich leicht erklären, aber die vielen seltsamen Todesfälle? Von denen hatte ihre Freundin Nikki ihr erzählt. Und dann war da der de-Vincent-Fluch, und was noch verrückter war?
Ley-Linien.
Ley-Linien waren im Wesentlichen schnurgerade verlaufende Energielinien, von denen man annahm, dass sie spirituelle Verbindungen darstellten. Dieselbe Linie, die von Stonehenge ausging, durchquerte den Atlantik und verlief durch Städte wie New York, Washington, D. C., und New Orleans. Und außerdem – laut ihren Recherchen – geradewegs durch den Besitz der de Vincents.
Es gab kaum etwas, was Rosie nicht getan hätte, um in dieses Haus zu gelangen und dort Messungen durchzuführen.
Doch dazu würde es wahrscheinlich niemals kommen. Kaum dass Rosie Nikki darauf angesprochen hatte, hatte diese schneller komplett dichtgemacht, als Rosie nach ihren geliebten Beignets spurten konnte.
Sie war noch nie einem de Vincent begegnet, und ganz bestimmt nicht Devlin de Vincent, aber sie hatte genug Bilder von ihm gesehen, um zu wissen, dass Devlin … nun ja, genau ihre Kragenweite war.
Er besaß dieses undefinierbare Etwas, das ihre Hormone aufjaulen ließ wie einen 1967er-Impala. Der Mann war groß, gut über eins achtzig, und hatte breite Schultern und eine schmale Taille. Sein kurzes, dunkles Haar war gut frisiert. Er hatte ein Gesicht, das universell attraktiv war. Hohe, breite Wangenknochen, eine Adlernase und volle, schön geschwungene Lippen. Sein kantiger Kiefer war kräftig, und sein Kinn wies ein flaches Grübchen auf.
Der Mann sah atemberaubend aus, und doch strahlte er etwas Kaltes, beinahe Distanziertes und ein wenig Grausames aus. Für jede andere Frau hätte das seine Anziehungskraft gedämpft, aber für Rosie? Das machte ihn nur noch schöner.
Oh Gott, in diesem Moment fiel Rosie etwas ein. Wie hatte sie das vergessen können? Sie war sich nicht sicher, doch sein Vater war kürzlich gestorben. Lawrence de Vincent hatte den gleichen Tod gefunden wie die Mutter der de-Vincent-Brüder – und Ian.
Er hatte sich umgebracht.
Allerdings hatte sich Lawrence de Vincent nicht erschossen. Er hatte sich erhängt. Jedenfalls stand das in der Boulevardpresse.
In diesem Moment brach ihr um seinetwillen, um aller Brüder willen fast das Herz. Sie hatten das nicht nur ein-, sondern zweimal erlebt? Guter Gott …
Devlin hatte sich nicht komplett zu ihr umgedreht, aber er starrte sie an und sie ihn. Sie hatte absolut nicht damit gerechnet, dass ihr Friedhofsbesuch so verlaufen würde.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, und – herrje – seine Stimme war so tief wie das Meer.
»Ich habe Sie dahinten gesehen, als Ihnen die Blumen in die Pfütze gefallen sind«, erklärte sie und schob sich näher an ihn heran. »Ich habe mehr, als ich brauche. Ich dachte, Sie möchten vielleicht welche haben.«
Er neigte den Kopf zur Seite, sodass die Sonne auf seine Wangen fiel, doch er antwortete nicht. Daher streckte sie die Arme aus und hielt ihm die Pfingstrosen entgegen. »Wollen Sie sie?«
Devlin reagierte immer noch nicht.
Sie sog die Unterlippe zwischen die Zähne und beschloss, dass sie ebenso gut durchziehen konnte, was sie angefangen hatte. Sie trat um die steinerne Einfassung herum und ging auf Devlin zu. Herrgott, der Mann war wirklich groß; sie musste den Kopf in den Nacken legen, damit sie ihm in die Augen schauen konnte.
Diese Augen.
Dichte, schwere dunkle Wimpern umrahmten Augen von der Farbe des Golfs, einem atemberaubenden Blaugrün.
Er sah ihr nicht in die Augen. Nein, er schien … auf ihren Mund zu starren.
Eine Hitzewelle überlief sie. Er ist verlobt. Jedenfalls glaubte sie das. Das sagte sie sich ungefähr dreimal. Sie hörte auf, auf ihrer Unterlippe zu kauen, und versuchte noch einmal, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
»Pfingstrosen sind meine Lieblingsblumen«, erklärte sie. Warum auch nicht? »Das heißt, die, die duften. Wussten Sie, dass nicht alle riechen?«
Er hob den Kopf und schaute ihr endlich in die Augen. Beinahe wünschte sie, er hätte es nicht getan, denn sie hatte noch nie jemanden mit einem so intensiven, ernsten Blick getroffen. Keine Spur von Humor lag darin. Er wirkte zutiefst aufgewühlt.
Andererseits, warum überraschte sie das? Sein Vater war gestorben, und sie hätte schwören können, dass kürzlich noch etwas anderes, furchtbar Dramatisches über seine Familie in den Zeitungen zu lesen gewesen war. Auf jeden Fall stand er auf einem Friedhof vor der Grabstätte seiner Familie – wäre es da weiter verwunderlich, wenn er bekümmert wäre?
War sie das nicht schließlich auch?
»Ich hatte keine Ahnung«, antwortete er.
Vorsichtig lächelte sie ein wenig. »Na, jetzt wissen Sie es ja.«
Er schwieg einen Moment lang. »Wonach duften sie?«
»Also, die hier riechen wie gewöhnliche Rosen, und wahrscheinlich könnten Sie sich einfach Rosen kaufen, wenn Sie den Duft mögen. Aber ich fand schon immer, dass Pfingstrosen hübscher sind.«
Er schaute auf die Blumen in ihren Händen hinunter. »Das sind sie.«
Rosie lächelte breiter. »Sie gehören Ihnen, wenn Sie wollen.«
Ein Moment verstrich, dann streckte er die Hand aus, um die Blumen zu nehmen. Als er die Finger um die Stiele schloss, streiften sie ihre. Ruckartig sah sie zu ihm auf. Er hatte fast unmerklich die Mundwinkel hochgezogen. Die Berührung war kurz, aber sie meinte …
Uh. Das klang verrückt, doch Rosie hatte den Eindruck, dass er das mit Absicht gemacht hatte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leute das oft tun«, sagte er, blickte auf die Pfingstrosen hinunter und schaute dann wieder sie an.
»Was tun?« Sie ließ ihre Hand sinken.
»Auf einem Friedhof jemandem nachlaufen, um ihm Blumen zu ersetzen, die er unvorsichtigerweise fallen gelassen hat«, erklärte er und sah zu einem Flieger hoch, der über ihnen brummend auf den Flughafen zuhielt. Dann richtete er die hellen Augen wieder genauso durchdringend auf sie wie zuvor. »Ich vermute, die meisten Leute hätten keinen Gedanken daran verschwendet.«
Rosie zog eine Schulter hoch. »Ich hoffe doch.«
»Nein.« Er klang, als hätte er nicht den geringsten Zweifel daran. »Danke.«
»Gern geschehen.«
Er nickte und wandte sich erneut dem Grabmal zu. Rosie brauchte einen Moment, um sich über die verrückte Situation klar zu werden. Sie stand tatsächlich hier und unterhielt sich mit Devlin de Vincent, ohne ihn mit Fragen über den Spuk auf seinem Besitz zu löchern.
Sie hätte einen Berg Beignets dafür verdient, dass sie diesem Drang widerstand und bewies, dass sie Anstand besaß und den Umstand respektierte, dass sie sich auf einem Friedhof befanden und hier weder die Zeit noch der Ort für eine solche Unterhaltung war.
Sie sollte ihn allein lassen – zum einen, da sie wirklich zu Nikki fahren musste, und zum anderen, da ihm seine Privatsphäre zustand –, aber sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »Das mit Ihrem Vater tut mir leid.«
Mehr sagte sie nicht, denn sie wusste, dass jeder Mensch es anders verarbeitete, wenn er jemanden auf die Art verlor wie Devlin. Manche wollten – brauchten – die Bestätigung und hatten das Bedürfnis, darüber zu reden. Andere hatten diesen Punkt noch nicht erreicht, und der Selbstmord seines Vaters lag noch nicht lange zurück.
Erneut drehte sich Devlin zu ihr um. Er neigte den Kopf zur Seite, und ein misstrauischer Ausdruck legte sich über seine attraktiven Züge. »Sie wissen, wer ich bin?«
Rosie lachte leise. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder Sie kennt.«
»Stimmt«, murmelte er und brachte Rosie wieder fast zum Lachen. Kein Grund, das abzustreiten. »Wussten Sie, wer ich bin, als mir die Blumen heruntergefallen sind?«
Jetzt lachte sie wirklich noch einmal. »Nein. Sie hatten mir den Rücken zugedreht und waren zu weit weg. Ich wusste nur, dass Sie ein Mann waren.«
So, wie er sie ansah, fragte sie sich, ob er ihr das abkaufte; aber wenn nicht, konnte sie nichts dagegen tun. Über ihnen zog eine Wolke hinweg, und Rosie schob ihre Sonnenbrille hoch. Sie hatte sich das lockige Haar heute Morgen zu einem Knoten hochfrisiert. Sie war sich sicher, dass ihr Haar sich sonst in der feuchten Luft zu einer wilden Mähne aufgeplustert hätte.
Ein … eigenartiger Ausdruck glitt über seine Miene, während er sie anschaute. Sie hatte keine Ahnung, was das war, doch sie ließ den Schlüsselbund um ihren Zeigefinger kreisen. »Tja, ich habe schon genug von Ihrer Zeit beansprucht …«
»Die sind nicht für Lawrence«, meinte er, und sie fand es merkwürdig, dass Devlin ihn so nannte und nicht Vater. Er trat vor, über den Stein hinweg. »Ich bin Ihnen gegenüber im Nachteil.«
»Ach ja?« Sie sah zu, wie er niederkniete, und da fiel ihm der Name auf. Marjorie de Vincent. War das seine Mutter?
Devlin stellte die Pfingstrosen in die Vase. »Sie kennen mich, aber ich habe keine Ahnung, wer Sie sind.«
»Oh.« Beinahe hätte Rosie ihm ihren Namen genannt. Er lag ihr schon auf der Zunge, aber Rosie hatte Nikki ein Date mit einem Freund verschafft, der ohne Rosies Wissen versucht hatte, die de Vincents für die Zeitung auszuspionieren. Sie hatte keine Ahnung, ob Devlin darüber im Bilde war, aber es war sinnlos, dieses Risiko einzugehen. »Ist nicht so wichtig.«
Er drehte sich zu ihr um und runzelte leicht die Stirn. »Nicht?«
»Nein.« Sie lächelte, und ihr Blick wanderte von ihm zu dem in Stein gehauenen Namen seines Vaters. »Sie haben das sicherlich schon gehört, aber es stimmt. Sie werden vielleicht nie verstehen, warum Ihr Vater das getan hat, aber es wird leichter … damit umzugehen.«
Devlin starrte sie an und öffnete die Lippen.
Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden, denn natürlich wusste er das. Er hatte das schon einmal erlebt, bei seiner Mutter, und hier stand sie und erteilte unnötige Ratschläge wie eine Idiotin.
Über den Stein hinweg trat er auf sie zu. »Wie heißen Sie?«
Bevor sie antworten konnte, klingelte sein Handy. Einen Moment lang hatte sie den Eindruck, er würde nicht rangehen, doch dann griff er in die Tasche und zog es hervor.
»Tut mir leid«, erklärte er. »Das Gespräch muss ich annehmen.«
»Ist schon gut.«
Devlin wandte sich ab, stützte eine Hand in die Hüfte und sprach in sein Handy. Das war ihre Chance, einen sauberen Abgang hinzulegen. Sie nahm sich noch eine Sekunde Zeit, den Umriss seines Gesichts und seine breiten Schultern auf sich wirken zu lassen, während sie ihre Sonnenbrille wieder aufsetzte und langsam zurückwich.
Sanft lächelnd drehte sie sich um und ließ Devlin de Vincent hinter sich. Sie wusste, es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie ihn je wiedersehen würde.
2. KAPITEL
Beruflich war sie als Prinzessin Silbermond bekannt, doch für Rosie war sie einfach Sarah LePen. Keine Frage, Prinzessin Silbermond war ein echt absurder Name, aber in Sarahs Branche musste man sich von der Konkurrenz abheben. Besonders in einer Stadt, in der man keinen Stein werfen konnte, ohne jemanden zu treffen, der Tarotkarten legte oder ein Medium war, und sich Prinzessin zu nennen sorgte für eine Menge Aufmerksamkeit.
Allerdings war Sarah auch absolut echt.
Sie war eine Hellseherin, deren Gefühle fast immer Vorahnungen waren; und nicht nur das, sie konnte auch mit richtigen Geistern kommunizieren. Rosie wusste, dass Sarah sich nicht nur auf ihre geschärfte Intuition verließ oder sich meisterhaft darauf verstand, Körpersprache zu deuten; es steckte mehr dahinter. Schon oft hatte sie Sarah in Aktion gesehen und erlebt, wie sie mit jemandem in Verbindung trat und dabei fast unmögliche Fragen beantworten und Personen, die sie konsultierten, schockierend exakte Informationen liefern konnte.
Rosie hatte Sarah vor mehreren Jahren über ihre Freundin Jillian kennengelernt. Jilly war die Gründerin und Mitinhaberin von NOPE – New Orleans Paranormale Ermittlungen –, Rosies Meinung nach eines der besten Teams, die paranormale Nachforschungen anstellten. Jilly hatte Sarah hinzugezogen, als NOPE ein Haus draußen in Covington untersucht hatte. Die vorherige Besitzerin des Gebäudes war nicht auf die nächste Ebene übergegangen und hatte da drin ihr Unwesen getrieben, herumrumort, Gegenstände gestohlen und sie an merkwürdigen Stellen wieder auftauchen lassen und die Kinder zu Tode erschreckt. Sarah war es zur großen Freude der Familie gelungen, die alte Dame dazu zu bewegen, auf die andere Seite zu schreiten. Und soweit Rosie allerdings wusste, lebte sie immer noch in diesem Gebäude. Aber die Geister konnten auch stur sein. Manchmal hatte Sarah sie nicht dazu überreden können, hinüberzugehen, und dann konnten die Hausbesitzer nur versuchen, sie mit Gewalt zu vertreiben oder zu lernen, mit ihnen zu leben.
Bis vor vier Monaten war Sarah verlobt gewesen, doch dann hatte ein Gefühl sie bewogen, früher als normal heimzukommen, wo sie ihren Verlobten – fürchterlich klischeehaft – mit seiner Sekretärin erwischt hatte.
Daher war sie kürzlich in eine Wohnung in der Ursulines Avenue gezogen, nicht weit entfernt von Rosie, wo Letztere sie momentan um Verzeihung anflehte.
»Tut mir leid, dass ich so spät bin«, erklärte sie Sarah und ließ ihre Tasche auf das Sofa fallen. »Heute war … Heute war das totale Chaos. Ich habe meiner Freundin Nikki beim Umzug geholfen, und dann musste ich Jilly bei einer ihrer Geisterführungen aushelfen. Du weißt ja, wie das geht.«
»Ein einziges Durcheinander und immer überlaufen?«, fragte Sarah lachend und trat aus ihrer Küche. Sie hatte sich das blonde Haar zu einem wirren Knoten hochfrisiert, der absolut Instagram-würdig aussah. Sarah war eine umwerfende Frau, die Rosie an eine ältere Version der Schauspielerin Jennifer Lawrence erinnerte. Wenn Sarah offiziell arbeitete, trug sie fließende Gewänder und Armreife, die wie Windspiele klirrten, wenn sie zusammenstießen. Doch wenn sie wie jetzt freihatte, bevorzugte sie schwarze Leggings und eine schwarze Tunika. »Kein Grund, dich zu entschuldigen. Ist schon gut. Ich habe heute Abend keine anderen Pläne. An diesem Abend nehme ich mir nie etwas vor.«
»Aber wir haben Freitag …«
»Und wir sind jedes Jahr an diesem Datum fest verabredet, also ist das in Ordnung.« Sie hielt zwei kleine Stumpenkerzen in den Händen und stellte sie auf den Couchtisch.
Es stimmte. Seit sechs Jahren versuchte Sarah, an Ians Todestag Verbindung zu ihm aufzunehmen. Rosie und Ian hatten ein Codewort gehabt, so wie Houdini und seine Frau. Ein Wort, das nur die beiden kannten. Die Idee war ihnen eines Abends gekommen, nachdem sie an einem ihrer faulen Sonntage nonstop Das Medium und der Cop geschaut und dabei gefühlt einen Eimer Wein getrunken hatten. Da Ian sich genauso für das Paranormale interessiert hatte wie Rosie, war es nicht so abwegig, dass sie sich ein Wort ausgedacht hatten, das beweisen würde, ob ein Medium wirklich mit einem von ihnen kommunizierte.
Rosie hatte vier Jahre gebraucht, um an einen Punkt zu gelangen, an dem sie emotional auch nur annähernd bereit zu so etwas war. Eigentlich wollte sie Ian nichts fragen. Sie wollte nur wissen, ob es ihm … gut ging. Nichts weiter.
Doch die letzten sechs Jahre hatte Sarah ihn nie erreichen können. Rosie hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Sarah hatte ihr immer erklärt, das heiße nicht, er sei nicht in ihrer Nähe. Er meldete sich nur nicht. Vielleicht war er noch nicht bereit zu reden. Oder … Oder er war nicht da, wo immer da auch sein mochte.
So oder so hatte Rosie großen Respekt vor Sarah und schwärmte vielleicht sogar ein wenig für sie. Rosie war absolut fasziniert davon, dass sie mit Verstorbenen reden konnte. Sarah war ihr gegenüber absolut offen über ihre Gabe gewesen und hatte ihr erzählt, wie sie sie als Kind erlebt hatte, aber Rosie konnte sich wirklich nicht vorstellen und nicht einmal ahnen, wie es sein mochte, Stimmen wahrzunehmen, die andere nicht hören konnten, oder zu fühlen, was andere nicht spürten.
Für Rosie waren Sarah und ihresgleichen, die eine echte Gabe besaßen, Helden.
»Wie war die Führung?«, erkundigte sich Sarah.
»Nicht übel.« Rosie, die mit dem Prozedere vertraut war, trat in die Küche und schnappte sich zwei weitere Kerzen. Sie ging damit ins Wohnzimmer und stellte sie mitten auf den Couchtisch. »Es war nur so, dass viele Leute Fragen hatten, was mir an sich nichts ausmacht, aber dadurch sind wir am Sultanspalast hängen geblieben.«
Sarah verdrehte die Augen und knipste die Deckenlampe aus. Jetzt war der Raum von weichen flackernden Schatten erfüllt. Die Jalousien waren bereits geschlossen und hielten die hellen Lichter der Stadt fern. Sie hatte schon Musik eingeschaltet. Eigentlich war es nicht wirklich Musik. Es war leises Meeresrauschen, ein Hintergrundgeräusch, das Sarah half, sich zu konzentrieren, und den Straßenlärm übertönte.
Sarah ging zu Rosie und kniete sich auf ein dickes, mit blauem Glitzerstoff bezogenes Kissen. »Du meinst das Haus, bei dem es absolut keinen Beweis dafür gibt, dass dort einmal ein Sultan oder der Bruder eines Sultans gelebt hat? Oder irgendeinen Hinweis auf ein grauenhaftes blutiges Massaker?«
Rosie lachte und ließ sich auf ihr Kissen sinken. Es glitzerte ebenfalls, allerdings in Pink. »Einer der Touristen wollte wissen, warum wir sie nicht zum Gardette-LaPrete-Haus führen, und ich habe versucht zu erklären, dass es nie einen historischen Beweis dafür gegeben hat, dass dort ein solches Blutbad stattgefunden hat – und dass das Haus zwar sehr schön ist, wir aber keine Geschichten erwähnen, für die es nicht einen gewissen Grad an historischen Belegen gibt. Er hat Einwände erhoben und all diese Fakten aufgeführt, die keine sind, was jeder, der einigermaßen googeln kann, hätte wissen können.«
»Typisch Mann, der einem die Welt erklärt, was?«
»Jepp.« Sie überkreuzte die Beine. »Ich habe diesem Typ gesagt, dass niemand behaupte, dass es in dem Gebäude nicht spukt. Nur, dass die Legende von keinerlei Fakten untermauert wird. Keine Zeitung hat einen einzigen Bericht über die Morde gedruckt – und wenn die wirklich so grauenhaft waren, wie es heißt, hätten sie in der Zeitung gestanden.«
Sarah reckte ihren Hals nach links und dann nach rechts. Der Kerzenschein glitt über ihr Gesicht. »Das Haus hat aber wirklich eine eigenartige Ausstrahlung. Ich würde nicht in einer dieser Wohnungen leben wollen, aber du weißt schon …«
»Jepp. Man glaubt entweder an die Morde im Gardette-LaPrete-Haus oder nicht. Das eine oder das andere. Jedenfalls haben wir wegen dieser Debatte überzogen. Und, hast du deinen Abend auch mit einem Streit über einen Massenmord zugebracht, der vielleicht nie passiert ist?«
Leise lachte Sarah. »Nein. Ich wünschte beinahe, es wäre so. Ich hatte eine private Sitzung mit diesem Paar, das vor Kurzem sein Kind verloren hat.«
»Oh nein.« Rosies Schultern sackten nach vorn. Diese Sitzungen mussten furchtbar sein, und Rosie war sich nicht sicher, wie Sarah es fertigbrachte, mit den Leuten umzugehen – den trauernden Familienmitgliedern und Freunden, die sich verzweifelt danach sehnten, noch ein letztes Mal mit dem geliebten Menschen zu sprechen. Und Sarah log sie nicht an. Im Unterschied zu anderen Medien erzählte sie ihnen keine vagen Geschichten, damit sie sich besser fühlten. Sarah war immer ehrlich, auch wenn es schmerzte. »Hast du das Kind erreicht?«
Sarah strich sich eine lose Haarsträhne von der Wange zurück. »Nein. Kinder sind … Bei ihnen ist es immer schwierig. Besonders, wenn sie erst vor Kurzem gestorben sind. Ich habe versucht, den Eltern das zu erklären, aber sie wollten es dennoch versuchen. Sie möchten es noch einmal probieren, doch ich konnte sie überreden, sich ein paar Monate Zeit damit zu lassen.« Sie lächelte, es wirkte allerdings betrübt. Sie legte die Hände auf den Couchtisch. »Übrigens, es bleibt doch dabei, dass du mich nächste Woche zum Maskenball begleitest, oder?«
Begeistert nickte Rosie. »Na sicher! Ich bin nur froh, dass du noch gehst. Und noch mal danke, dass du mich als Begleitung mitnimmst. Zu dem Ball wollte ich immer schon.«
Bei dem jährlich stattfindenden Maskenball, einer Benefizveranstaltung, verkehrten die Reichsten und Mächtigsten aus New Orleans miteinander – und Gott wusste, auf wie viel verschiedenen Ebenen –, daher hatte Rosie nie die Chance gehabt, ihn zu besuchen. Mit der High Society hatte sie nichts am Hut.
Sarah hatte den Ball sonst immer mit ihrem Ex besucht, der an die exklusiven Eintrittskarten herankam, weil er bei der Staatsanwaltschaft arbeitete. Soweit die beiden wussten, würde er nicht da sein. Irgendwie hoffte Rosie, dass er es tun würde, denn ihre Kostüme waren verdammt sexy und sie wollte, dass Sarah ihm unter die Nase rieb, was er weggeworfen hatte.
»Du bist bloß aufgeregt, weil es in dem Haus spukt.« Sarah grinste.
»Schuldig im Sinne der Anklage.« Das Schlafzimmer im ersten Stock – das letzte auf der linken Seite, das auf den Garten hinter dem Haus hinausführt – gehörte zu den unheimlichsten Locations der Stadt. Die Legende besagte, dass dort eine Frau erschien, die in der Nacht vor ihrer Hochzeit von einem eifersüchtigen Ex-Liebhaber ermordet worden war, und zwar vollständig materialisiert. Das würde Rosie sich auf keinen Fall entgehen lassen.
Sarah schüttelte den Kopf. »Sehen wir, ob ich Ian erreichen kann. Okay?«
Rosie nickte. Manchmal brauchte Sarah persönliche Gegenstände, doch sie versuchte grundsätzlich zuerst, ohne diese Kontakt aufzunehmen. Rosie rechnete allerdings nicht damit, dass der heutige Abend anders verlaufen würde als alle vorherigen Versuche.
Aber sie würde es probieren, weil Ian und sie es einander geschworen hatten. Vielleicht war es nur ein dummes Versprechen, das Ian nicht ernst genommen hatte, doch Rosie war es wichtig.
»Schließ die Augen, und stelle dir Ian vor«, forderte Sarah sie auf. In der Dunkelheit klang ihre Stimme weich. »Ich gebe dir Bescheid, falls er sich meldet.«
In anderen Worten, Rosie sollte den Mund halten, damit Sarah sich konzentrieren konnte. Also gehorchte sie, denn ihr war klar, Sarah wollte, dass sie erst sprach, wenn sie ihr eine Frage stellte. Schließlich hätte Rosie ihr sonst zufällig Informationen übermitteln können. Da sie befreundet waren und Sarah ohnehin schon viel über Ian wusste, war es schon jetzt schwierig für sie, nicht darauf zurückzugreifen.
Rosie senkte die Lider und stellte sich Ian vor. Jedenfalls versuchte sie es. Es … Gott, es war schlimm, sich das einzugestehen, doch es wurde immer schwieriger, sein Gesicht vor sich zu sehen. Sie musste sich richtig anstrengen, damit die Einzelheiten nicht verschwammen, und es kostete sie Mühe. Obwohl Rosie verstand, dass es normal war, brannte es ihr dennoch ein Loch in die Brust.
Ian war attraktiv gewesen.
Er war groß und sehnig gewesen; einer dieser Männer, die täglich frittierte Hähnchenflügel in jeder der Menschheit bekannten Soße oder Hamburger essen konnten, ohne je ein Pfund zuzulegen. Rosie brauchte eine Schale mit Chickenwings nur anzuschauen und nahm zu, aber Ian nicht. Er hatte dunkelbraunes, kurzes Haar gehabt. Rosie mochte langes Haar an Männern, doch bei Ian sah der kurze Schnitt immer gut aus, da er seine hohen Wangenknochen betonte. Seine Haut war – dank seines Vaters – ein wenig dunkler als ihre, und seine Augen waren von einem tiefen weichen Braun gewesen. Rosie hielt an dem Bild von ihm fest – eines, auf dem er lächelte, denn, mein Gott, was hatte er für ein schönes Lächeln gehabt. Ein so ansteckendes, dass man nur mit einem Grinsen darauf reagieren konnte. Und sein Lachen? Oh Mann, das war genauso …
»Hier ist jemand«, erklärte Sarah, und Rosies Magen tat einen Satz. »Die Stimme ist schwach. Sehr weit weg.« Sie unterbrach sich noch einmal. »Eine Frauenstimme.«
Rosie wurde aus ihren Gedanken gerissen und öffnete die Augen. Ihr gegenüber hatte Sarah ihre immer noch geschlossen und zog jetzt die hellen Brauen zusammen und umklammerte die Kante des Couchtisches. »Rosalynn …«
Niemand nannte sie Rosalynn, höchstens ihre Eltern und ihre Schwester, wenn sie sie ärgern wollten. Andererseits hatte ihre Großmutter sie immer so angesprochen.
Sarah drehte den Kopf leicht nach links. »Du hast diesen Namen … immer gehasst.«
Rosie grinste. Jeder, der sie kannte, wusste, dass sie ihren vollen Namen nicht leiden konnte. Vor ihrer Ehe hatte ihr voller Name Rosalynn June Pradine gelautet. Nach Ians Tod hatte sie seinen Nachnamen nicht abgelegt, weil sie das sinnlos fand. Ihre Schwester allerdings hatte den schlimmeren Namen erwischt. Ihre Eltern, die es immer übertreiben mussten, hatten das arme Mädchen Belladonna genannt, nach einer extrem giftigen Pflanze, die auch als Nachtschatten bekannt ist.
Die eigenartigen Namen waren auf der mütterlichen Seite ihrer Familie leider Tradition. Ihre Mutter hieß Juniper May Pradine und Bella Belladonna February Pradine. Ja, das sah zu Recht wie ein Trend aus. Ihre zweiten Vornamen bezogen sich auf die Monate, in denen sie, wie ihre Eltern schworen, gezeugt worden waren. Anscheinend hatte die merkwürdige Tradition mit ihrer Großmutter begonnen.
Und ihre Granny wusste ganz genau, dass sie nicht so angesprochen werden wollte.
Offensichtlich war es nicht Ian, der mit ihr in Kontakt treten wollte, aber wenn es ihre Granny war, wollte Rosie sich nicht beschweren. Sie hatte sich schon einmal gemeldet und Rosie erklärt, wo ihre Mutter eine von Grannys Halsketten finden würde, nach der sie seit Ewigkeiten suchte.
Langsam stieß Rosie den Atem aus und verfolgte, wie Sarah die Hand hinter ihr linkes Ohr legte, wie immer, wenn sie jemanden hörte. Sie würde an diesem Ohr herumnesteln, daran zupfen, die Finger dahinter aneinanderreiben oder den Kopf in die entgegengesetzte Richtung neigen.
»Wow. Moment mal.« Ruckartig hob Sarah den Kopf. »Da ist noch eine Stimme. Sie ist lauter. Sehr laut, und sie kommt durch.«
Rosie zog die Augenbrauen hoch. Das … Das war noch nie passiert. Sie beugte sich vor und erstarrte dann, als die Kerzenflammen in rascher Folge flackerten. Stirnrunzelnd schaute sie zwischen den Kerzen hin und her. Die Flammen hatten sich bewegt wie im Wind, obwohl nicht einmal ein Deckenventilator lief.
Ein kalter Schauer rann Rosie über den Rücken, und als sie Sarah ansah, meldete sich ihr sechster Sinn. Ganz anders als der von Sarah, der fein justiert war, doch die gleiche Empfindung, die sie bei Untersuchungen immer beschlich, kurz bevor etwas Verrücktes passierte.
Sarah rieb die Rückseite ihres Ohrs. »Es ist eine Männerstimme, und … und er sagt … er findet den Namen hübsch.« Sie schüttelte den Kopf. »Er redet ebenfalls über deinen Namen, aber …«
Rosie befahl der Hoffnung, die in ihr aufstieg, es langsam angehen zu lassen. Dass sich ein Mann meldete und wusste, dass sie ihren vollständigen Namen nicht mochte, hieß noch lange nicht, dass er Ian war. Ihr Großvater hatte einmal mit ihr kommuniziert, genau wie ihre Großmutter vor drei Jahren sowie eine Cousine.
Obwohl sie alle noch nie ihren Namen erwähnt hatten. Daher war das … merkwürdig.
Sarah schürzte die Lippen und zog die Nase kraus. »Wer …? Keine Ahnung. Ich höre immer wieder ein Wort … ›Pfingstrosen‹? Ja. Etwas hat mit Pfingstrosen zu tun.« Sie hob die Lider. »Sagen dir Pfingstrosen etwas?«
Rosie öffnete den Mund und sog scharf die Luft ein. »Pfingstrosen sind meine Lieblingsblumen.«
Sarah nickte langsam und schloss erneut die Augen. »Okay. Aber … war heute etwas mit Pfingstrosen?«
»Heute? Nein, ich … Warte mal. Doch.« Ihre Augen weiteten sich. Ach, du Heiliger … »Ich habe Pfingstrosen auf den Friedhof gebracht. Das mache ich immer, jedes Jahr.«
Sarah neigte den Kopf zur Seite. »Du hast etwas mit diesen Blumen gemacht, oder? Er sagt … langsamer«, befahl sie leise. »Ja. Okay. Hast du die Blumen jemandem geschenkt?«
Rosie fiel die Kinnlade hinunter. Ein Prickeln überlief ihre Haut. Nur, weil sie oft mit dem Übernatürlichen zu tun hatte, hieß das noch nicht, dass sie es nicht unheimlich fand.
Und jetzt gerade gruselte sie sich ein wenig.
Auf keinen, gar keinen Fall hätte Sarah das wissen können. Nicht einmal Nikki hatte Rosie davon erzählt, dass sie auf dem Friedhof Devlin begegnet war und mit ihm gesprochen hatte.
»Ja«, meinte sie und legte die Hände im Schoß zusammen. »Ich habe die Blumen jemandem geschenkt …«
»Die Hälfte«, verbesserte Sarah sie.
Rosies Herz setzte einen Schlag aus.
»Er sagt, das sei nett von dir gewesen«, fuhr Sarah fort, die Augen jetzt auf. Doch sie sah nicht Rosie an, sondern starrte in eine der Kerzenflammen. »Er ist … Tut mir leid. Er ist ziemlich durcheinander, und die Hälfte von dem, was er erzählt, ergibt keinen Sinn.«
Nun schlug Rosies Herz schneller. Hatte Sarah endlich Kontakt zu Ian aufgenommen? »Er kann mich hören, oder?« Als Sarah zerstreut nickte, atmete sie flach. »Was ist unser Wort?«
Sarahs Blick wanderte zu ihr. »Das ist nicht Ian.«
»Was?«
»Er ist es nicht«, erwiderte Sarah. »Ich … Ich glaube nicht einmal, dass dieser Geist dich kennt.«
Okay. Das war ziemlich unheimlich. »Was?«
»Das kommt manchmal vor.« Sarah zuckte zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Flamme. Dann riss sie die Augen auf. »Er hat dich auf dem Friedhof gesehen. Das stimmt.«
Rosie beugte sich wieder vor. »Was sagt er?«
»Er wiederholt ständig, er gehöre nicht dorthin. Dass er nicht dort sein sollte.« Sie umfasste ihr Ohrläppchen. »Ich glaube, er meint … er sollte nicht tot sein.«
Tja, das war jetzt nicht vollkommen überraschend. Viele Verstorbene fanden, sie sollten nicht tot sein.
»Er ist zornig. Sehr wütend.« Erneut drehte sie den Kopf. »Was war mit den Pfingstrosen? Oh.« Sie wandte den Blick Rosie zu. »Er meint, du hättest ihm die Blumen nicht geben sollen.«
Ihr Magen zog sich zusammen. Okay. Noch ein Detail, das Sarah nicht kannte. Rosie hatte nie von einem Mann gesprochen. Redete dieser Geist von Devlin? »Und warum nicht?«
Sarah wurde ganz still. »Undankbar«, murmelte sie und presste die Lippen zusammen. »Fehler. Er hat einen Fehler gemacht. Das sagt er ein ums andere Mal.«
»Wer?«
»Keine Ahnung. Ich kann ihn nicht beruhigen. Er ist … Herrgott.« Sie fuhr sich mit der Hand über den Kopf und schob die kürzeren Haarsträhnen zurück. »Er ist völlig außer sich und schreit immer wieder, dass er nicht dorthin gehöre.« Sie holte tief Luft, sodass ihre Brust sich hob. »Tod.«
Rosie neigte den Kopf zur Seite.
»Tod«, wiederholte Sarah und stieß mit einem Mal einen erstickten Laut aus. »Er sagt … etwas über seinen Tod. Er hätte nicht passieren dürfen?«
»Wirklich?« Rosie seufzte.
»Warte mal.« Sarah griff sich in den Nacken. »Er sagt … oh mein Gott.« Ihre Augen weiteten sich. »Schluss. Das war’s. Ich kann nicht … Ich bin fertig. Ich breche die Verbindung ab.«
»Okay.« Rosie nickte zittrig. »Brich sie ab. Mach Schluss …«
Mit einem Mal fuhr Sarah von dem Couchtisch zurück und streckte die Hände aus. Sie riss die Augen auf. »Er ist hier.«
»Äh, ich kann dir nicht folgen.«
»Er … ist … hier, Rosie.« Sarah schaute sie eindringlich an. »Nicht im metaphysischen Sinn. Spürst du nicht …?«
Von oben erklang ein dumpfer Knall, als hätte eine Riesenhand gegen die Decke geschlagen. Beide zuckten zusammen.
Die Kerzen erloschen – jede einzelne Flamme.
»Heiliger Scheiß«, flüsterte Sarah, und Rosie hörte, wie sie aufsprang.
Während Rosie in die Finsternis starrte und ihr Herz heftig pochte, richtete sich jedes Härchen an ihren nackten Armen auf. Sie versuchte, etwas zu sehen oder zu hören, aber sie nahm nur wahr, wie Sarah zur Tür stürzte. Eine Sekunde später war das Wohnzimmer von hellem Licht erfüllt, und Rosie schaute auf die bunten Kissen hinunter, die überall auf Sarahs Couch lagen. Langsam drehte sie sich halb zu Sarah um.
Sarah erwiderte ihren Blick. »Rosie …«
»Das ist wirklich passiert.« Sie hatte das Gefühl, ihr würden gleich die Augen aus dem Kopf springen. »Das ist gerade echt passiert.«
Sarah atmete schnell und heftig und nickte. »Er hat immer wieder gesagt …«
»Was?«
»Er hat immer wieder gesagt … Gott, ich mag das nicht einmal laut aussprechen, doch ich muss.« Sichtlich bleich trat sie von der Wand weg. »Er hat ständig wiederholt … dass der Teufel kommt.«
3. KAPITEL
Die einzigen beiden Teufel, die Rosie kannte, waren die perfekt mit Zucker bestreuten Beignets, die an ihren runden Hüften schuld waren, und ein de Vincent.
Doch war es möglich, dass der Geist von einem de Vincent redete? Oder war er selbst ein de Vincent? Das klang reichlich weit hergeholt, aber …
Mit der Weinflasche in der Hand setzte Sarah sich neben Rosie auf das Sofa. Inzwischen brannten alle Lampen in ihrer Wohnung, und Sarah hatte jeden Versuch Rosies abgeschmettert, noch einmal mit dem Unbekannten zu kommunizieren, der Kontakt aufgenommen hatte. Sarah behauptete, der Geist sei jetzt fort, als Rosie jetzt an ihrem Weinglas nippte, während Sarah direkt aus der Flasche trank, war sie nicht sicher, ob sie ihr glaubte.
»Ist das schon einmal passiert?«, fragte Rosie und zog einen Fuß auf die Couch.
Sarah starrte vor sich hin; ihre blauen Augen auf einen rosa-blauen Wandbehang im Hippie-Stil gerichtet, der hinter dem Fernseher hing. »Ja. Nicht oft, aber manchmal … hängt sich ein Geist während des Kontakts an einen anderen dran. Ich habe schon Sitzungen erlebt, bei denen vollkommen Fremde aufgetaucht sind und reden wollten. Ich meine, manchmal kennt der Geist die Person, aber es hat auch schon Fälle gegeben, in denen ein beliebiger Geist per Anhalter gefahren ist.« Sie wandte sich Rosie zu, hob eine Hand an ihren Nacken und begann ihn wieder zu reiben. »Ich glaube … Ich glaube, er hat versucht, mich zu entern.«
Scharf sog Rosie den Atem ein. »Ist das dein Ernst?«
Sarah nickte.
»Das … Das ist nicht gut.« Und das war die Wahrheit. Entern war nicht dasselbe wie eine vollständige Übernahme, aber es konnte dennoch verheerende Auswirkungen auf den Verstand, den Körper und die Umgebung eines Menschen haben. Es geschah, wenn ein Geist in den Körper eines Menschen eindrang, um durch ihn zu kommunizieren. Dann stellte dieser möglicherweise fest, dass er Dinge sagte, die er normalerweise nicht von sich gab, mit einem fremdartigen Akzent sprach oder sogar Verhaltensweisen an den Tag legte, die ihm nicht ähnlichsahen. Wenn ein Geist einen enterte, erlebte man vielleicht sogar, wie er gestorben war, und das konnte einen ganz schön mitnehmen.
Außerdem wusste Rosie aus eigener Erfahrung mit Untersuchungen, dass nur ein sehr starker oder entschlossener Geist einen Lebenden entern konnte.
»Du weißt ja, ich habe bei Sitzungen schon oft Geister eingelassen, wenn sie auf meine Erlaubnis gewartet haben, doch dieser Kerl … hat nicht abgewartet. Er wollte herein, und er war stinkwütend.«
Rosie hatte ein schlechtes Gewissen. Sie berührte Sarahs Arm und zuckte zusammen, da diese leicht zusammenfuhr. »Tut mir leid. Ich …«
»Du kannst nichts dafür. Kein Grund, dich zu entschuldigen, aber ich muss dir das erzählen, und nicht nur, weil du meine Freundin bist.« Immer noch umklammerte sie die Weinflasche so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie ließ die Hand sinken und wandte sich Rosie zu. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Geist dich nicht persönlich kannte, allerdings habe ich das Gefühl, dass er keinen Fehler gemacht hat.«
Rosie zog die Augenbrauen hoch und biss sich auf die Unterlippe. So etwas wollte niemand hören. Nicht einmal sie.
»Hast du eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«, fragte Sarah und trank dann noch einen kräftigen Schluck Wein.
Vor allem angesichts der vielen Untersuchungen, die Rosie im Lauf der Jahre bei NOPE durchgeführt hatte, war es gut möglich, dass sie auf Geister wie ein Leuchtturm wirkte, aber sie glaubte nicht, dass der Geist einem dieser Fälle entstammte. Sie wandte den Blick von Sarah ab, denn sie war sich nicht sicher, ob ihre Vermutungen zutrafen.
»Was verschweigst du mir?«, verlangte Sarah zu wissen.
Rosie holte tief Luft, beugte sich vor und stellte ihr Weinglas auf dem Couchtisch ab. Sie hatte sich nicht wirklich die Zeit genommen, über ihr kurzes Zusammentreffen mit Devlin nachzudenken, weil das absolut sinnlos war, dennoch konnte sie nicht abstreiten, dass es für einen Moment eine … Verbindung zwischen ihnen gegeben hatte. Diese undefinierbare Verbindung, die selbst Fremde in kurzer Zeit zueinander aufbauen konnten.
»Okay, das wird jetzt noch verrückter klingen als das, was gerade passiert ist, aber als ich heute auf dem Friedhof war, habe ich gesehen, wie diesem Typ seine Blumen in eine Pfütze gefallen sind. Ich habe meine Pfingstrosen aufgeteilt und bin ihm nachgelaufen, um sie ihm zu geben, denn das war bestimmt ärgerlich, verstehst du?«
Sarah nickte langsam und trank noch einen Schluck.
»Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, wer er war, bis ich ihn vor dem Mausoleum der de Vincents angetroffen habe. Es war Devlin de Vincent.«
»Der Teufel.« Sarah lachte rau. »Der Geist könnte also den Spitznamen gemeint haben und nicht den richtigen Teufel. Da fühle ich mich direkt besser.«
Rosie quittierte das mit einem Schnauben.
»Weißt du, buchstäblich jeder scheint seinen Spitznamen Devil zu kennen, aber niemand weiß, warum er so genannt wird und wie es damit angefangen hat.«
Sie zog eine Schulter hoch. »Keine Ahnung. Schätze, alle Brüder haben sich ihre Spitznamen eingefangen, während sie im Norden auf dem College waren. Aber ich würde schon gern wissen, warum man ihn so nennt.«
»Ich auch«, murmelte Sarah. »Was ist passiert, als du ihm die Blumen gegeben hast?«
»Wir haben uns ein paar Minuten unterhalten, und dann bin ich gegangen. Ich dachte, er wäre wegen seines Vaters dort. Du weißt schon, er ist kürzlich gestorben.«
Sarah senkte die Lider. »Hat er sich nicht …?«
»Ja, er hat sich umgebracht. Ich habe Devlin gesagt, dass mir das mit seinem Vater leidtut, und er hat mich verbessert und mir erklärt, die Blumen seien für seine Mutter«, fuhr Rosie fort. »Ich habe mir gedacht, dass er einfach noch nicht so weit war, sich den Tod seines Vaters überhaupt einzugestehen, und ich verstehe das total. Jedenfalls kommt die ganze Sache mit den Pfingstrosen daher. Ich habe nicht einmal Nikki davon erzählt, als ich sie heute Abend gesehen habe, und du weißt, dass sie als Haushälterin für die de Vincents arbeitet. Glaubst du, dass er der Geist war – Lawrence de Vincent?«
»Gott.« Sarah lehnte sich gegen das Kissen und stellte die Flasche auf ihren Bauch. »Möglich ist das, weißt du. Er hätte sich in Devlins Nähe oder auf dem Friedhof herumtreiben können, und kaum hat er dich entdeckt, hat er sich an dich gehängt.«
»Aber wieso? Ich habe ihn nicht gekannt, und Devlin kenne ich auch nicht. Ich habe ihn heute zum ersten Mal in Person gesehen.«
»Manchmal erfährt man nie, warum sich ein Geist jemandem anschließt.«
Rosie schürzte die Lippen. »Also, das ist nicht cool.«
Sarah warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Die meisten Menschen würden angesichts dieser Möglichkeit stärker ausrasten.«
»Die meisten Leute sind auch keine Geisterjäger.« Rosie zuckte die Achseln, aber sie war dennoch ein wenig beunruhigt. Vor allem, weil dieser spezielle Geist wütend war. Damit wollte sie nichts zu tun haben. »Ich meine, hey, wenn mir schon ein Geist erscheinen muss, dann schätze ich, dass ein de Vincent so etwas wie das Nonplusultra ist.«
Sarah lachte und schlug sich dann die Hand vor den Mund. »Das ist nicht komisch.«
»Doch.« Rosie grinste. »Irgendwie schon.«
Sarah legte den Kopf an die Rückenlehne des Sofas. »Ernsthaft jetzt, ich habe keine Ahnung, ob das Lawrence war oder jemand anderer, aber ich weiß, dass er zornig war, und … ich glaube … ich glaube, er hat noch etwas anderes gesagt, kurz bevor ich die Verbindung beendet habe.« Zittrig stieß sie den Atem aus. »Keine Ahnung, ob ich ihn richtig verstanden habe. Er hat versucht, mich zu übernehmen, und das kann ich nicht gebrauchen, daher habe ich ihn unterbrochen, doch wenn er Lawrence war …«
»Was? Was glaubst du, hat er gesagt?«
Sarah wandte Rosie den Kopf zu. »Ich glaube, er hat behauptet, dass er ermordet wurde.«
Wie nicht anders zu erwarten, fiel Rosie an diesem Abend das Einschlafen schrecklich schwer.
Zurück in ihrer Wohnung, in ihrem eigenen Bett, schaute sie zu den phosphoreszierenden Sternen auf, die sie an ihre Decke geklebt hatte. Sie glühten nicht grün, sondern in einem weichen sanften Weiß, aber kitschig waren sie dennoch.
Rosie liebte sie.
Sie erinnerten sie an die Unendlichkeit des Weltraums. Es war vielleicht komisch, daran erinnert werden zu wollen, aber sie fand irgendwie Trost in dem Gedanken, dass sie nur ein winziges Häufchen Fleisch und Knochen auf einem riesigen Fels war, der um die Sonne raste.
Außerdem halfen ihr die Sterne beim Einschlafen. Meistens. Allerdings nicht heute Abend. Heute konnte sie nur an die Sitzung mit Sarah und die Frage denken, die ihre Freundin ihr gestellt hatte, bevor sie gegangen war.
»Hast du vor, etwas zu sagen?«
In dem fast völlig dunklen Schlafzimmer schnaubte Rosie wegwerfend. Ob sie etwas sagen würde? Zu wem? Zu Devlin? Tja, daraus würde nichts. Rosies Zögern hatte nichts damit zu tun, dass sie Sarah nicht geglaubt hätte. Sie nahm ihr das hundertprozentig ab. Sarah war in Verbindung zu jemand sehr Wütendem getreten, bei dem gut möglich war, dass man ihn ermordet hatte, aber – und das war ein großes Aber – wer in aller Welt würde Rosie glauben, wenn sie so etwas behauptete?
Es war eine Sache, dass sie Sarah bereitwillig abkaufte, was sie ihr erzählte, denn Rosie hatte schon genug bizarres Zeug erlebt. Doch jemand, der wahrscheinlich nicht an das Übernatürliche glaubte, obwohl es in seinem Haus zu spuken schien, würde einer praktisch Fremden, die auf ihn zukam und eine solche Bombe platzen ließ, wahrscheinlich nicht offen gegenüber sein.
Denn das würde wirklich klingen, als wäre sie übergeschnappt.
Stöhnend rollte sich Rosie auf die Seite und ließ den Blick durch das Zimmer zu den dicken Vorhängen vor dem Fenster schweifen. Es war das einzige Fenster im Raum. Sie war froh darüber, dass sie in diese Verdunklungsvorhänge investiert hatte, die die hellen blinkenden Lichter des French Quarters daran hinderten, einzudringen.
Rosie seufzte.
Auf keinen Fall konnte sie etwas über die Ereignisse von heute Abend erzählen. Die de Vincents kannte sie nicht gut genug, um sie anzusprechen, allerdings konnte sie Nikki davon erzählen. Obwohl ihre Freundin an das Übernatürliche glaubte, bezweifelte sie ernsthaft, dass sich Nikki dabei auch nur annährend wohlfühlen würde, einem der de Vincents weiterzugeben, was Rosie gehört hatte, denn auch das würde sich ein wenig verrückt anhören.
Abgesehen von alldem – und all das reichte, damit Rosie den Mund hielt – konnten Sarah und sie nicht sicher sein, dass Lawrence derjenige war, der sich kurz gemeldet hatte. Schließlich hatte der Geist kein Namensschild getragen. Allerdings sah es schon so aus, als wäre er es gewesen. Es war nur logisch. Rosie war auf dem Friedhof gewesen und hatte Devlin Pfingstrosen geschenkt. So unheimlich das auch klang, war es denkbar, dass Lawrence entweder in der Nähe seines Sohns oder auf dem Friedhof verharrt und sich dann an Rosie gehängt hatte.
Sie drehte sich wieder auf den Rücken, schloss die Augen und atmete aus.
Möglich war alles, was hieß, dass der Geist wirklich Lawrence gewesen sein könnte, doch es bedeutete auch, dass er vielleicht jemand war, der überhaupt nichts mit den de Vincents zu tun hatte, und das Ganze nur einen merkwürdigen Zufall darstellte, oder es könnte ein anderer de Vincent als Lawrence gewesen sein. Diese Familie wurde seit Jahren von Todesfällen und allen möglichen Tragödien geplagt. Ein Fluch lag auf ihnen; viele Mitglieder der Familie waren gestorben, viele davon unter eigenartigen und bizarren Umständen.
Aber was … was, wenn es Lawrence gewesen war? Was, wenn er sich bei der Sitzung zu Wort gemeldet hatte und mitteilen wollte, dass er keinen Selbstmord begangen hatte? Dass er umgebracht worden war? Das war wichtig. Würden die de Vincents das nicht erfahren wollen?
An ihrer Stelle hätte sie es gern gewusst. Wahrscheinlich wurde sie dabei von ihrer eigenen Erfahrung beeinflusst, doch hier ging es nicht um sie.
»Verdammt«, stieß sie seufzend hervor, rollte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen.
»Der Teufel kommt.«
Ihr Gedankenkarussell drehte sich weiter, doch nach einer gefühlten Ewigkeit und nachdem sie die Hälfte der Decken weggetreten hatte, schlummerte sie schließlich ein. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, bevor sie vom schrillen Klingeln ihres Handys aus ihren Träumen gerissen wurde, in denen es um Zitronensorbet ging.
Stöhnend tastete sie auf ihrem Nachttisch herum und suchte blindlings nach dem Telefon. Mit der Hand stieß sie gegen einen leeren Plastikbecher und warf ihn zu Boden.
»Mist«, murrte sie und hob den Kopf vom Kissen. Sie pustete sich eine dicke Haarsträhne aus der Stirn, reckte sich und schnappte sich das Handy. Aus zusammengekniffenen Augen sah sie Nikkis lächelndes Gesicht auf dem Bildschirm. Es war gotterbärmlich früh, Rosies Meinung nach konnte man diese Zeit nicht einmal als Morgen bezeichnen.
Sie nahm den Anruf an und ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken. »Hallo?«, brachte sie krächzend hervor und zuckte dann zusammen. Sie klang, als hätte sie fünfzig Päckchen Zigaretten auf Lunge gequalmt.
»Rosie? Hier ist Nikki. Ich weiß, dass es früh ist, und es tut mir leid«, meldete sich Nikki. Selbst in ihrem halb schlafenden Zustand fand Rosie, dass ihre Stimme merkwürdig klang und die Worte verwaschen wirkten. »Doch ich brauche deine Hilfe. Ich bin im Krankenhaus.«
Noch nie im Leben war Rosie so schnell aufgewacht. In dem Moment, in dem sie das Gespräch wegdrückte, sprang sie praktisch aus dem Bett. Vor Angst verkrampfte sich ihr Magen. Sie entdeckte eine schwarze Leggings, die einigermaßen sauber aussah, und zog sie an, zusammen mit ihrem Oversize-Shirt mit dem Aufdruck Got Ghosts! Ihr Haar war viel zu zerwühlt, um damit etwas anzufangen, daher schnappte sie sich einen Schal und band sich die Locken aus dem Gesicht.
Dem Herrgott und allen anderen Gottheiten, die ihr einfielen, sei Dank bewahrte sie in ihrem Corolla einen Vorrat an Einmal-Zahnbürsten auf, sodass sie sich auf dem Weg zum Krankenhaus die Zähne putzen konnte. Sie wartete draußen auf Nikki, und als die Sonne gerade am Himmel aufging, erhaschte sie den ersten Blick auf das mit Prellungen übersäte, zerschlagene Gesicht ihrer Freundin, und der Anblick brach ihr das Herz.
Während sie Nikki ins Auto bugsierte, traute sie ihren Augen kaum und konnte kaum glauben, was sie hörte; und erst, nachdem sie Nikki schließlich in ihrem Schlafzimmer untergebracht hatte, setzte sie sich und versuchte richtig zu verarbeiten, was passiert war.
Niemand sollte durchmachen müssen, was Nikki Besson erlebt hatte.
»Gott«, flüsterte sie und starrte ihren unberührten Kaffeebecher an. Sie rieb sich mit den Händen übers Gesicht und stieß stockend den Atem aus.
Nikki hätte sterben können – sie war beinahe umgebracht worden.