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Beschreibung

Wie lesen und deuten wir die Welt, in der wir leben? Wer ist der Mensch in Relation zu Natur und Technik? Welche Pointe liegt in den Selbstzuschreibungen »religiös« oder »gläubig«? Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie und einer Auflösung der klassischen Gegenüberstellung von Natur und Kultur ist das Denken Bruno Latours zu einer gefragten Ressource in gegenwärtigen Debatten geworden. Die Beiträger*innen des Bandes gehen seinem Anspruch nach, eine »symmetrische« Anthropologie zu entwerfen, in der Materiellem ein mitentscheidender Platz für die Theorie-, Wert- und Urteilsbildung zukommt — denn dieses Denken gibt auch der Theologie wertvolle Impulse für ihre intellektuelle Zeitgenossenschaft.

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Daniel Bogner, geb. 1972, ist Professor für Allgemeine Moraltheologie und Ethik an der Université de Fribourg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Rechtsethik, Religion und Moderne sowie Menschenrechte. Er absolvierte Forschungsaufenthalte in Paris, am Erfurter Max-Weber-Kolleg für sozial- und kulturwissenschaftliche Studien und am Exzellenzcluster für Religion und Politik der Universität Münster.

Michael Schüßler, geb. 1972, ist Professor für Praktische Theologie an der Katholisch- Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Er lehrt und forscht zur Analyse und Orientierung kirchlicher, religiöser und gesellschaftlicher Transformationsprozesse mit den Schwerpunkten veränderte Zeitverhältnisse, Gender/ Diversity/Religion, Caritas und Theologie sozialer Arbeit, Dekolonisierung europäischer Theologie und Pastoral.

Christian Bauer, geb. 1973, ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Innsbruck und lehrt und forscht zu Diskursen, Praktiken und Spiritualitäten christlicher Zeitgenossenschaft.

Daniel Bogner, Michael Schüßler, Christian Bauer (Hg.)

Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft

Theologie anders denken mit Bruno Latour

Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Daniel Bogner, Michael Schüßler, Christian Bauer (Hg.)

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: CONTEXTA, Osnabrück

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5869-9

PDF-ISBN 978-3-8394-5869-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-5869-9

https://doi.org/10.14361/9783839458693

Buchreihen-ISSN: 2703-142X

Buchreihen-eISSN: 2703-1438

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

 

Einleitung

I. Ander(e)s denken mit Latour:Erkenntnistheorie und Theologie

SI SCIRES DONUM DEI. AMBIVALENZEN DES BEOBACHTENS ODER: AN DER QUELLE DER SOZIALITÄTMaren Lehmann

IST DAS ALLES? DIE DINGE THEOLOGISCH DENKEN MIT BRUNO LATOURStefan Altmeyer

AMEISENWEGE UND LIGATUREN. PRAKTISCH-THEOLOGISCHE VERUNREINIGUNGSARBEIT NACH BRUNO LATOURS AKTEUR-NETZWERK-THEORIE. EIN ESSAYJörg Seip

DIE UNIVERSALITÄT LIEGT NICHT HINTER UNS, SIE STEHT UNS BEVOR. CHRISTLICHE THEOLOGIE IM DIALOG MIT LATOURDaniel Bogner

II. Gott, Gaia und eine digitale Gesellschaft: Latours Schöpfung(en)

THEOLOGIE DER ERDE? UMRISSE EINER TERRESTRISCHEN REDE VON GOTTChristian Bauer

LATOURS HYBRIDE SCHÖPFUNG: TRANSFORMATIONEN EINER THEOLOGIE DER DIGITALITÄTMichael Schüßler

IMPULSE AUS BRUNO LATOURS WISSENSCHAFTSFORSCHUNG FÜR DEN DIALOG ZWISCHEN NATURWISSENSCHAFT UND THEOLOGIESibylle Trawöger

»BIOPOLITIK ALS ANTHROPOPOLITIK«. THEOLOGISCHE ETHIK VOR DER HERAUSFORDERUNG DES TRANSHUMANISMUSAnna Maria Riedl

III. Wie (nicht) von Gott sprechen: Über religiöse Rede

DAS EVANGELIUM ALS LEGENDE. EINE PASTORALTHEOLOGISCHE LESART VON BRUNO LATOURSJUBILIERENTeresa Schweighofer/Andree Burke

PRÄSENZ IM RELIGIONSUNTERRICHT – MIT BRUNO LATOUR AN DER SEITEMatthias Gronover

Autor*innen

Einleitung

Dass es dieses Buch gibt, war nicht selbstverständlich. Es verdankt sich einer kleinen Tagung in Tübingen 2018 und einem anschließend in Fribourg geplanten Symposion, zu dem Bruno Latour sein Kommen bereits zugesagt hatte, das dann aber vorläufig verschoben werden musste. Die Frage einer Publikation war zunächst lange offengeblieben, zu anfänglich, zu tastend, zu wenig die theologischen und religionsbezogenen Fragestellungen vertiefend schienen unsere Diskussionen. Doch Latour hat die hier versammelten Autor*innen nicht mehr losgelassen. Die intellektuelle Auseinandersetzung ging und geht weiter, sodass im Nachgang die hier versammelten Texte entstanden sind. Sie schließen aus unterschiedlichen theologischen Fachdisziplinen an die produktive Irritation an, die Latours Denken auch für religionsbezogene Fragestellungen bedeuten können. Es handelt sich um eine Gesprächseröffnung, nicht mehr und nicht weniger.

Latour ist immer ein wenig betrübt gewesen, dass seine Texte zwar Science Wars zwischen Natur- und Sozialwissenschaften auslösen konnten, von der christlichen Theologie aber bisher weitgehend ignoriert wurden. Dabei zieht sich, nicht nur hierin vergleichbar mit Niklas Luhmann, die Beschäftigung mit Religion und damit die Unterstellung von deren basaler Relevanz für Welt und Gesellschaft von Beginn an durch sein Werk. Wobei er eben auch Religion »anders denkt« als viele in moderner Theologie und Religionswissenschaft. Man müsse heute »das Religiöse außerhalb der Religion suchen«1, könne dabei aber nicht »auf die Theologie rechnen«2. Zu technisch versuche diese per »Doppelklick« vom Abbild auf Erden über das Urbild einer jenseitigen Welt Gottes zu informieren. Bereits damit wird deutlich, dass es nicht »nur« um Religion geht, sondern um die Möglichkeit theologischer Sprache und Reflexion, um die Frage, wie überhaupt Sätze über Gott und das Verhältnis von Gott und Mensch heute möglich sein könnten.

Vor postkolonialem Hintergrund ist dabei zu beachten, dass Latour von einem westlichen, christlich formatierten3 und in seinem Fall katholisch gefärbten Religionsbegriff ausgeht. Im Buch über religiöse Rede, das seit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung 2011 eine Art Einfallstor für kursorische Rezeptionen in Theologie und Kirche darstellt, beschreibt er auf den ersten beiden Seiten schonungslos seine Erfahrungen als zerknirschter Kirchgänger: »Er schämt sich dessen, was sonntags, wenn er zur Messe geht, von der Höhe der Kanzeln herab ertönt; er schämt sich aber auch des ungläubigen Hasses oder der belustigten Gleichgültigkeit derer, die über die Kirchgänger spotten. Schämt sich, wenn er hingeht, schämt sich, wenn er nicht zu sagen wagt, dass er hingeht.«4 Das trifft bei all jenen auf Resonanz, die sich im Blick auf die Fragmente ihrer eigenen religiösen Sozialisation oder in einer latent neu entdeckten Sehnsucht, »vielleicht doch glauben zu können«, dann und wann an einem kirchlichen oder sakralen Ort wiederfinden und sich fragen, was sie dort eigentlich tun.

Gute Theologie5 beginnt mit solcher Zeitgenossenschaft, und hier finden sich auch die deutlichsten Spuren, die Latour in den religionsbezogenen Fächern bisher hinterlassen hat. Gregor Maria Hoff liest Jubilieren als den tastenden Atheismus eines Wissenschaftssoziologen.6 Er skizziert zentrale Passagen, schließt dann aber überraschend mit der skeptischen Einschätzung: »Latours Imperativ der Weltakzeptanz bleibt jedenfalls ohne Gründe blass und bietet wenig Anlass zum Jubilieren.«7 Wo Hoff aus der Theologie heraus auf religionsaffine Sozial- und Kulturphilosophie zugeht, nimmt Hartmut Rosa den umgekehrten Weg. Die religionssensible Resonanztheorie des Soziologen ist spätestens mit dem Buch über Unverfügbarkeit8, einem der neuzeitlichen Gottesattribute, zum Geheimtipp einer anspruchsvollen, auch theologisch interessierten Leserschaft geworden.9 Im Sammelband dieses Verlags zu Latours Existenzweisen übernimmt Rosa dann auch den Modus der Religion. Rosa schreibt zwar, ihm »fehlen die disziplinären Mittel, um Latours Konzeption aus religionswissenschaftlicher oder theologischer Perspektive zu beurteilen«, vermutet aber, »dass seine völlige Verabschiedung kognitiver und dogmatischer Gehalte – die Preisgabe aller religiöser ›Substanz‹ – in diesen Disziplinen auf wenig Gegenliebe stoßen, zumindest starke Widerstände hervorrufen wird«10.

Die vorliegenden Beiträge werden diese Erwartung zwar auch diskutieren, aber wohl eher enttäuschen. Latour ist kein Fachtheologe, weshalb der Vorwurf, es fehlten weitergehende dogmatische Entfaltungen, irgendwie kurios wäre. Spannender ist die Art, wie Latour insgesamt Welt- und Ding- und Religionsverhältnisse konzipiert. Es ist gerade der andere, der etwas ver-rückte Blick, der für theologische Diskurse inspirierende Wirkung entfalten kann. So wie Rosa dann Latour in seinen Theoriehorizont einbaut, nämlich als »die Erfahrung einer anderen, einer resonanten Art und Weise, auf die Welt bezogen zu sein«11, so stehen hier die Ähnlichkeiten, die Unterschiede, die Übergänge in die je eigenen Diskurse zur Debatte.

Einer der elaborierteren Versuche findet sich im englischsprachigen Bereich bei John D. Caputo. Die bekannteste Stimme kontinentaler Religionsphilosophie im angloamerikanischen Mutterland analytischen Denkens bezieht sich dabei auf die erkenntnistheoretischen Fragen nach Konstruktivismus und Realismus. Er folgt Latour darin, dass »the pertinent distinction is not between construction and reality, but between successful and unsuccessful constructions, experiments, theories«12. Wenn Latour den Akteuren und ihren Konstruktionen folgt, im Labor oder im Regenwald oder in der Kirche, dann gilt jeweils: »the more construction, the more reality«13. Die Vielfalt an Existenzweisen in ihrem ontologischen Gewicht ernst zu nehmen sei eine wichtige Entdeckung, so Caputo, als »practice of letting the real reveal itself, […] – and that goes for divinities as well as for lactic acids, Latour adds«14. Die Dekonstruktion moderner Binaritäten zu radikalisieren, um das Existierende jenseits von Geist/Natur oder Subjekt/Objekt neu zu versammeln, das inspiriert auch einen an Derrida wie an biblischen Texten gleichermaßen geschulten Philosophen: »What Latour does is immensely valuable and demands a wider hearing. But I will hazard the hypothesis that, on the level of theory, Latour has nothing to add to Derrida.«15Latour hat womöglich auch der Theologie nichts Neues hinsichtlich ihres Sachgehaltes hinzuzufügen. Aber er erinnert sie an die »Gewissheit, dass man die Wahrheit nur durch einen neuen Weg der Alterierungen, Erfindungen, Abweichungen gewinnt, die es erlauben oder nicht, gegen das endlose Wiederholen und die Abnutzung die getreue Erneuerung dessen zu gewinnen, was gesagt worden ist – mit dem Risiko, dabei seine Seele zu verlieren.«16 Oder in der biblischen Variante: »Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen« (Mt 10,39b).

Die Beiträge des Bandes sind insofern riskante Texte, als sie weniger die lange Tradition christlicher Theologie systematisiert ausbreiten, sondern im Gespräch mit Latour nach der Relevanz dieser Tradition für personale und globale Existenzprobleme der Gegenwart fragen. Denn wie andere akademische Disziplinen auch ist die Theologie nicht nur durch ihren Gegenstand, sondern auch durch eine methodisch nachvollziehbare Perspektive auf die Welt definiert. Theologie ist nicht allein auf die regionalen Felder von Religion, Kirche oder explizitem Glauben bezogen, sondern auf alle existenziellen (Überlebens-)Fragen von Mensch und Welt, aber eben im kontrollierten Kontakt mit den Archiven einer bestimmten, hier: der christlich-religiösen Überlieferung. Es wird allerdings rasch deutlich: Das Denken Latours kann ganz grundsätzlich auch als ein Beitrag zum wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der Theologie gesehen und zur Geltung gebracht werden. In einigen Beiträgen wird diese Perspektive einer theologischen Epistemologie deshalb im Vordergrund stehen.

Die Beiträge des Bandes sind in drei Themenfelder unterteilt. Zu Beginn geht es um grundsätzliche, vor allem erkenntnistheoretische Fragen: Wie lassen sich mit Latour Welt und Gesellschaft anders denken und welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch für die Theologie?

In der Soziologie sind die Arbeiten Latours bisher sicherlich am intensivsten diskutiert und rezipiert worden. Der Band startet insofern mit der Bestandsaufnahme aus einer an systemtheoretischem Denken geschulten17, zugleich aber auch religions- und kircheninteressierten Perspektive18 (Maren Lehmann). Die titelgebende lateinische Wendung ist in der deutschen Ausgabe der Existenzweisen auf eine einzelne weiße Seite nach der Gliederung gedruckt: »Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht« (Joh 4.10). Latour folgt nicht dem soziologischen Ordnungsfimmel, sondern versammelt Ungewissheiten, Übersetzungen, Konnektivitäten zu einer »next theory« im besten Sinne. Moderne Trennungen stellen sich als Verknüpfungen heraus, denen man zu folgen lernen kann. Zugleich warnt die Soziologie die Theologie bei der Rezeption vor »Oberflächenplausibilitäten«: Latours religiöse Existenzweise und konfessionelle Glaubensformen sind nicht identisch. Zugleich könnte es aber diese Differenz sein, die theologiegenerativ wirkt.

Latour ist bekannt geworden als Kritiker jener modernen »Reinigungsarbeit«, die sauber getrennte Sphären zwischen Natur hier und Kultur dort, Ursachen und Gründen auf der einen Seite, Folgerungen und Wirkungen auf der anderen Seite herstellen wollte, nicht aber sensibel ist für die »Mischwesen«, die sie bei aller Trennungsabsicht beständig produziert. Und auch die Welt des Religiösen ist auf dramatische Weise von »Mischwesen« bevölkert, in denen jeder Versuch einer strikten Trennung vergebens wäre: etwa indem die so oft reklamierte Transzendenz ohne ihre immanenzhaltigen Amalgamierungsformen kaum vorstellbar ist. Jeder noch so gründliche Reinigungsversuch macht umso deutlicher, dass die Dinglichkeiten, aus denen die religiöse Lebenswelt, aber auch der »hochkirchliche« Vermittlungsanspruch gewebt sind, nicht so einfach beiseitezuschaffen sind. Wie muss sich Theologie verändern, um dem Eigenleben der Dinge in der Welt des Glaubens gerecht zu werden? (Stefan Altmeyer)

Die damit aufgeworfenen Fragen irritieren eine moderne, an Max Weber und Jürgen Habermas geschulte (Pastoral-)Theologie. In der dazu alternativen, diskurskritischen Spur nach Foucault und Derrida19 zeigen sich hier Anschlüsse an eine sprach- und kontingenzbewusste Beobachtung von Kirche und Gottesrede, die um ihre Akteure, Aktanten und eine in Netzwerken zirkulierende Agency besser Bescheid weiß. Dabei kommt vor allem in den Blick, wie Latour seine Texte und Beobachtungen anlegt, welche Sprache dabei entsteht und wie Theologie davon affiziert werden könnte. Die Ameisenwege der ANT (den Akteuren folgen) hatten jedenfalls schon die Kirchenväter geschätzt. (Jörg Seip)

Das Religionsdenken Latours lässt sich auch über den von diesem selbst zentral verwendeten Begriff der Repräsentation rekonstruieren. Dass es im religiösen Geschehen des Christentums keine ursprungsidentische Vergegenwärtigung geben kann, sondern man zwingend auf Übersetzungen, Alterierungen und damit Transformationen des beanspruchten »Grundes« angewiesen ist, bildet hier den zentralen Gedanken. Es wird deutlich, wie sehr sich ein solches Denken einer bibelhermeneutischen Rezeptionsästhetik verdankt, und zugleich rückt die Religion als erkenntnistheoretische Triebfeder der Latour’schen Epistemologie generell in den Blick. Nach der Rekonstruktion wird skizziert, wie sehr Theologie und Christentum ihrerseits »Kinder der Moderne« sind und es nicht vermeiden können, in deren von Latour beschriebene Fallen zu gehen. Dadurch werden aber auch die Herausforderungen sichtbar, vor denen – am Beispiel der theologischen Ethik demonstriert – die Glaubenswissenschaft heute steht. (Daniel Bogner)

Der zweite Abschnitt des Bandes setzt bei einigen prominenten Themenschwerpunkten und Begriffsbildungen Latours an und erkundet von dort aus die religionshaltigen und theologiegenerativen Impulse im Pluriversum voller hybrider Schöpfungen.

Mit dem Buch über die Gaia-Hypothese und dem terrestrischen Manifest ist Latour zu einem Vordenker für das tiefere Verständnis für Entstehen und Umgang mit der Klimakrise geworden. Im Sommer 2020 ist eine weitere große Ausstellung im Berliner Gropius-Bau wesentlich von ihm mitinspiriert: »Down to earth«. Welche Inspiration liegt darin für eine erdverbundene christliche Theologie, die an einen nicht nur zur Welt, sondern auch auf die Erde gekommenen Gott glaubt – God down to earth eben? Welche theologischen Resonanzräume gibt es für ein terrestrisches Denken im Angesicht der Klimakatastrophe? (Christian Bauer)

Zugleich werden die Texte von Bruno Latour immer wieder als wegweisendes Mindset für die digitale Gesellschaft angeführt. Jenseits von Technikutopie wie Digitalpessimismus werden die smarten Dinge der Technologie als gleichberechtige Mitspieler bei der ständigen Neuerschaffung einer gemeinsamen Welt analysierbar. Das fordert eine Theologie nach der anthropologischen Wende zum Mensch und Subjekt als Anker der (Gottes-)Erkenntnis heraus, das Evangelium als Ereignis in posthumanen Akteur-Netzwerk-Zusammenhängen denken zu können. Was würde eine solche schöpfungstheologische Wende mit Latour bedeuten und wie verändert es womöglich den kriteriologischen Horizont christlichen Denkens? (Michael Schüßler)

Latours erstes Wissenschaftsfeld, das ihm Reputation einbrachte, war bekanntlich die Ethnografie naturwissenschaftlicher Labore, die Science Studies. Welche Impulse ergeben sich aus Latours Laborstudien für den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie? Wissenschaftsforschung als Beobachtung von Performativität zu verstehen führt hier zu ganz ähnlichen Intuitionen, wie dies im Blick auf eine digitale Gesellschaft der Fall sein wird: Eine erneuerte Schöpfungstheologie rückt ins Zentrum. Und zwar jetzt nicht mehr als metaphysisch vorgegebene Einheits- und Ordnungsstruktur, sondern als ereignisbezogene Dynamik des Werdens. Latour ruft die Theologie zur Relativierung ihres Anthropozentrismus auf, ohne den Menschen und die Anliegen der Humanität zu degradieren. (Sibylle Trawöger)

Eine Disziplin wie die Theologische Ethik, die Antworten auf die Frage sucht, was wir tun sollen, ist herausgefordert, wenn sich die damit verbundene Frage, wer wir angesichts technologischer und transhumanistischer Zukunftsvisionen eigentlich sind, mit neuem Gewicht stellt. Der Dialog mit Latour kann womöglich gleichzeitig weniger und mehr austragen, als vielleicht erwartet wird. Weniger, weil eine klare ethische Position nicht sein primäres Anliegen ist. Und mehr, weil Latour im Zusammenhang mit Technologie oder Gaia doch nach so etwas wie politischer Verhandlung und Verantwortung fragt und dabei zugleich auf die Notwendigkeit des eigenen theologischen Sprechens verweist. (Anna Maria Riedl)

Kann Religion wirklich eine eigene Existenzweise sein, wie Latour vorschlägt? Dieser Frage widmen sich die beiden Beiträge des dritten Teils. Darin wird versucht, die Impulse des Latour’schen Religionsdenkens aufzugreifen und produktiv auf einzelne religiöse Handlungsfelder hin weiterzudenken.

Mit der 250-seitigen essayistisch verfassten Denkperformance Jubilieren ist Latour auch theologisch interessierten Kreisen ein Begriff geworden. Poetisch und doch präzise seziert er die Schwierigkeiten und das ständige Missglücken kirchlich verfasster Glaubenskommunikation, die aus dem Evangelium eine Legende macht, eine nette Geschichte von früher: Sie berichten von Rettung, aber sie retten nicht (mehr). Zur Legende kann religiöse Rede werden, wenn Melodie und Rhythmus wieder so stimmen, dass die transformative Kraft der alten Worte zum Ereignis wird. Für gläubige Menschen wird es zur Aufgabe, Worte und Taten zu finden, die je nach Situation Ankerbojen, Jetskis, Wasserbälle oder Rettungsringe sind. (Andree Burke/Teresa Schweighofer)

Im Religionsunterricht kann man nicht nicht von Gott sprechen. Der letzte Artikel diskutiert, was Präsenz im Religionsunterricht vor dem Hintergrund der Theorie Bruno Latours heißt. Nach Latour wäre religiöse Bildung immer ein »Angebot an Subjektivität«, also abhängig von Selbstzuschreibungen. Es zeigt sich, dass dies mit dem Verständnis von »Glaube« einhergeht, der nicht einfach zu haben und nach Latour auch nie adäquat zu versprachlichen ist. So erscheint Präsenz im Religionsunterricht mehrfach gebrochen und nur möglich, wenn das Angebot des Religionsunterrichts in actu und zögerlich in das Leben der Schülerinnen und Schüler und der Lehrenden übersetzt wird. (Matthias Gronover)

Als Herausgeber bedanken wir uns zunächst bei Lucas Gaa, studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl Praktische Theologie in Tübingen, der ebenso sorgfältig wie umsichtig die Manuskripte in Form gebracht hat, und bei Sophie Zimmermann, Mitarbeiterin am theologisch-ethischen Lehrstuhl in Fribourg, für ihre Unterstützung bei der Endredaktion. Ein großer Dank gilt dem transcript Verlag, vor allem Johanna Tönsing und Linda Dümpelmann, für die unkomplizierte und angenehme Zusammenarbeit.

1B. Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014, 415.

2Ebd., 421.

3Vgl. ebd., 422.

4B. Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2016, 7f.

5Vgl. Ch. Bauer, Christliche Zeitgenossenschaft? Pastoraltheologie in den Abenteuern der späten Moderne, in: International Journal of Practical Theology 20 (1/2016), 4-25. DOI: 10.1515/ijpt-2014-0050

6G. M. Hoff, Ein anderer Atheismus. Spiritualität ohne Gott?, Regensburg 2015, 8288.

7Ebd., 88.

8H. Rosa, Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 2019.

9Zu einer theologischen Würdigung und Kritik von Rosas Beschleunigungs- und Resonanztheorie vgl. Th. Kläden/M. Schüßler (Hg.), Zu schnell für Gott? Theologische Kontroversen zu Beschleunigung und Resonanz, Freiburg/Basel/Wien 2017 und J.-P. Wils (Hg.), Resonanz. Im interdisziplinären Gespräch mit Hartmut Rosa, Baden-Baden 2019.

10H. Rosa, Religion als Form des In-der-Welt-Seins. Latours andere Soziologie der Weltbeziehung, in: H. Laux (Hg.), Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen«. Einführung und Diskussion, Bielefeld 2016, 251-260, 258.

11Ebd.

12J. Caputo, Insistance of God. A Theology of Perhaps, Bloomington 2013, 203. Caputo diskutiert Latour in Auseinandersetzung mit dem spekulativen Realismus von Quentin Meillassoux und dessen Kritik am »Korrelationismus« als die bessere, weil anschlussfähigere Form realistischer Theoriebildung. Vgl. zu einer theologischen Rezeption von Meillassoux: M. Schüßler, Spekulativer Realismus bei Quentin Meillassoux. Eine Provokation theologischen Denkens nach der Postmoderne, ThQ 195 (4/2015), 361378.

13J. Caputo, Insistance, 201.

14Ebd., 205.

15Ebd., 209.

16B. Latour, Existenzweisen, 432.

17Vgl. M. Lehmann, Theorie in Skizzen, Berlin 2010

18Vgl. M. Lehmann, Zwei oder Drei. Kirche zwischen Organisation und Netzwerk, Leipzig 2018.

19Vgl. J. Seip, Der weiße Raum. Prolegomena einer ästhetischen Pastoraltheologie, Freiburg 2009.

I.Ander(e)s denken mit Latour: Erkenntnistheorie und Theologie

SI SCIRES DONUM DEI. AMBIVALENZEN DES BEOBACHTENS ODER: AN DER QUELLE DER SOZIALITÄT

Maren Lehmann

Das Motto zu Latours Existenzweisen, das ich hier auch zum Titel meines Beitrags gemacht habe, ist eine Herausforderung. Er erklärt es nicht, er greift es nicht auf, er stellt es dem Buch nur kommentarlos voran. Henning Schmidgen hat in seiner Rezension des Buches von einem für Latour typischen Pathos gesprochen, das sich in diesem Motto zeige.1 Aber man könnte auch von Eitelkeit sprechen und sagen, Latour weise in messianischem Sendungsbewusstsein auf den Ertrag seines Buches hin: Wenn sie sich nur einließe, habe die Leserin hier mehr zu holen als zu geben, mehr zu gewinnen als zu verlieren.

Tatsächlich stimmt das, auch wenn die Existenzweisen für diese Einsicht gar nicht das geeignetste Buch sein dürften. Ich werde mich auf den Text konzentrieren, den auch der vorliegende Band im Titel zitiert: Latours Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Zu fragen wäre zweierlei: erstens, worauf sich einlässt, wer sich auf das mit dem Konjunktiv angedeutete Problem des Nichtwissens einlässt; und zweitens, welche Folgen dieses Sicheinlassen auf Nichtwissen hätte für Begriff und Alltag der Gesellschaft allgemein und damit auch für Theologie und Praxis der Religion der Gesellschaft im Besonderen. Ich beginne mit einigen ausführlichen Notizen zu Latours soziologischem Konzept, die das Problem des Nichtwissens als praktisches Problem verständlich machen sollen, und stelle danach einige assoziative Überlegungen zu den theologischen Implikationen dieses Konzepts an.

*

Was geschieht eigentlich, wenn die Sicherheit verloren geht, dass mit einmal getroffenen Unterscheidungen auch endgültige Entscheidungen getroffen werden? Was geschieht, wenn Unterscheidungen keine stabilen, verlässlichen Unterschiede darstellen, sondern instabile, unzuverlässige Kontexte entwerfen?

Bruno Latour nennt das, was dann geschieht, eine »Krise«2, und er entwickelt aus dieser Krise – man müsste sagen: im Kontext dieser Krise – seine »neue Soziologie für eine neue Gesellschaft«3. Es handelt sich um eine Soziologie, die mit den genannten instabilen, unzuverlässigen Kontexten bzw. Unterscheidungen arbeitet, indem sie jede Unterscheidung, die irgendein Beobachter trifft, als »Quelle der Unbestimmtheit« beschreibt (und dies in fünf Varianten).4 Jeder Versuch einer Bestimmung von ›etwas‹ (das kann eine Person ebenso sein wie ein Ding, ein Prozess ebenso wie ein Ereignis) durch Beobachtung und Bezeichnung überführt dieses ›etwas‹ durch den Bestimmungsversuch selbst in eine Unbestimmtheit. Alles, was wir zu bestimmen versuchen, wird genau durch diesen Versuch (und genau in dem Moment, da wir dies versuchen) unbestimmt. Alle Verhältnisse, Umstände, Kontexte, die wir zu klären, aufzuräumen, zu ordnen versuchen, werden genau durch diesen Versuch unklar, unaufgeräumt, unordentlich. Bestimmung, so Latour, schafft Verwirrung.

Latour erläutert dieses Problem am Beispiel der Unterscheidung von Natur und Kultur (= »erste Dichotomie«5). Mit dieser Unterscheidung geht die Aufklärung ›reinigend‹ um; sie versucht also die Infektion (bzw. die Ansteckung; beides Begriffe von Gabriel Tarde6) der einen durch die andere Seite zu vermeiden. Folgeeffekt dieser ›Reinigungen‹ sind zum Beispiel die scharfen Exklusionen, wie Foucault sie beschrieben hat.7 Eine solche Praxis der ›Reinigung‹ muss sich allerdings gegen jede Form sozialen Alltags, schlechthin gegen jede Form von Kommunikation zur Wehr setzen (= »zweite Dichotomie«8), weil dieser Alltag ›wild‹ ist: Er ›übersetzt‹ die beiden Seiten laufend ineinander, er ist ›unordentlich‹ im Sinne von ›unrein‹, ›unsauber‹, ›irre‹, ›infiziert‹ oder eben ›unordentlich‹. Diese Unordnung ist der Raum der Netzwerke.

»Solange wir die beiden Praktiken der Übersetzung und der Reinigung getrennt betrachten«, notiert Latour9, »sind wir wirklich modern … sobald wir unsere Aufmerksamkeit dagegen gleichzeitig auf die Arbeit der Reinigung und der Hybridisierung [der Übersetzung, M. L.] richten, hören wir sofort auf, gänzlich modern zu sein, unsere Zukunft beginnt sich zu verändern. Im selben Moment hören wir auf, modern gewesen zu sein – im Perfekt –, weil uns rückblickend bewusst wird, dass die beiden Ensembles von Praktiken … schon immer am Werk gewesen sind. Unsere Vergangenheit beginnt sich zu verändern.«

Wenn also die Modernität unserer Gesellschaft darin besteht, dass sie mithilfe klarer Unterscheidungen das Unbestimmte bestimmt, dass sie also jede Unordnung ordnet und jede Unklarheit aufklärt, dann hat diese unsere Gesellschaft doch damit immer nur neue und immer komplexere Unordnungen und Unklarheiten produziert. Folglich sind wir, die wir so stolz auf unsere ordentliche Modernität sind, überhaupt nie modern gewesen. Aber was (und wie) sind »wir«, wenn wir nicht sind, wofür wir uns halten, und dies auch noch genau dann, wenn wir ›alles richtig machen‹ – wenn wir unterscheiden, bestimmen, ordnen, aufklären? Was sind ›wir‹, wenn wir ausgerechnet in dem Moment, in dem wir genau so sind, wie wir sein wollen, sollen und zu sein meinen – entschieden, bestimmt, ordentlich, aufgeklärt –, gerade nicht sind, was wir sind? Wie kann man denn, ließe sich Luhmanns berühmte Frage aufnehmen, unter diesen Verhältnissen »Mensch bleiben«?10 Vielleicht ist diese Frage die Grundfrage jeder ›nächsten Soziologie‹.

Das Erstaunlichste an Latours soziologischer Theorie ist gar nicht, dass sie mit der Unterscheidung von Natur und Gesellschaft arbeitet (das tut, in Variationen, die gesamte europäische Tradition und mit ihr die Soziologie), sondern: wie sie dies tut. Sie verwirft nämlich diese Unterscheidung, genauer: Sie löst sie auf und erfindet sie neu – ›next theory‹ im besten Sinne.11 Alles, so Latour, ändert sich, wenn das, was wir für eine stabile, sauber trennende Unterscheidung gehalten hatten, sich als instabile Verknüpfung herausstellt. Alles ändert sich, wenn wir nicht mehr unterscheiden, um zu reinigen, sondern unterscheiden, um zu übersetzen. Jede Bestimmung erweist sich dann als ›Quelle der Unbestimmtheit‹, als nicht-rein, und brauchbar für eine ›neue Soziologie‹ einer ebenso ›neuen Gesellschaft‹ sind für Latour eben nicht jene ›reinen‹, sondern ausschließlich diese ›nicht-reinen‹ Bestimmungen.

Die klassische soziologische Frage, ›wie soziale Ordnung möglich ist‹, verschiebt Latour in die Gegenfrage, ›wie soziale Unordnung möglich ist‹. Denn die interessiert ihn viel mehr (einem soziologischen ›Ordnungsfimmel‹ oder ›Putzzwang‹ folgt er jedenfalls nicht, oder er behauptet es zumindest). Latour verweist dafür nicht nur auf Gabriel Tarde und dessen Theorie der Ansteckung durch Nachbarschaft, sondern auch auf Michel Serres und dessen Theorie der Mitbewohnerschaft des Beobachters12 (der daher ›Parasit‹ – und dessen Beobachtungsgegenstand, weil er selbst Beobachter und Beobachtetes, Subjekt und Objekt ist, ›Quasi-Objekt‹ – genannt wird). Parasit und Quasi-Objekt, auchJoker bezeichnen bei Serres genau das, was bei Latour durch den aus der Grammatik stammenden Ausdruck des Hybrids (einer Mischform, einer Verwirrung) bezeichnet und dann mit dem Kunstwort Aktant beschrieben wird: eine mehrdeutige semantische Einheit, der ein Prädikat zugeordnet werden kann. Das braucht nicht unbedingt ein Mensch zu sein, denn auch »ein Rechner spinnt«, »eine Maschine läuft«, »Geld verschwindet« usw. In einem Glossar notiert Latour einmal: »Aktant ist ein semiotischer Begriff, der gleichzeitig Menschen und nicht-menschliche Wesen umfasst«, also ein weiterer Begriff als der klassische Akteursbegriff, der personal grundiert ist.13 Wenn Latour also fortsetzt: »Akteur ist alles, was einen anderen in einem Versuch verändert; von Akteuren lässt sich nur sagen, dass sie handeln; ihre Kompetenz leitet sich aus ihren Performanzen ab; die Handlung wird stets im Verlauf eines Versuchs und in einem Versuchsprotokoll – wie rudimentär auch immer – aufgezeichnet«14, dann wird deutlich, dass er den Ausdruck Aktantnur als Brückenkonzept braucht, um von Dingen, Sachen, Objekten wie von Menschen, Personen, Individuen als Akteuren sprechen zu können. Er muss auf diese Weise das zurechenbare, verändernde, relationale Handeln nicht für den Menschen reservieren; oder anders gesagt: Er kann Verläufe und Geschehen auch dann als sozial beschreiben, wenn sie dem menschlichen Handeln und Erleben nicht zugänglich oder nicht begreiflich sind.

Aufgabe der Soziologie (genauer: der ›neuen Soziologie‹) ist nicht mehr und nicht weniger als eben diese Aufzeichnung der sozialen Unterscheidungen in ihrer Funktion (oder besser: in ihrer Praxis) als Mehrdeutigkeits-, Unverständlichkeits-, Unbestimmtheitsquellen; also: nichts anderes als die Aufzeichnung der Mitbewohnerschaft von Natur und Gesellschaft, von Subjekt und Objekt, von Mensch und Ding, kurz, mit Latour: der ›Kollektivität‹ von Aktanten im selben Kontext. »Das Kollektiv […] vereint sodann die alten Gewalten von Natur und Gesellschaft in einem einzigen Raum, bevor es sich von neuem wieder differenziert in unterschiedliche Gewalten [Einbeziehung, Ordnen, Verlaufskontrolle]. Trotz seiner Verwendung im Singular verweist der Begriff nicht auf eine bereits geschaffene Einheit, sondern auf ein Verfahren, um Assoziationen von Menschen und nicht-menschlichen Wesen zu [ver]sammeln«.15 Wenn angenommen werden kann (das eben war Tardes These, auf die Latour sich beruft), dass Mitbewohnerschaft bzw. Nachbarschaft auch Assoziation bzw. Verknüpfung bedeutet (weil Nachbarn einander beobachten, im Lichte wie im Schatten des je anderen stehen und dies reflektieren), dann geht es um nichts anderes als Aufzeichnung der Assoziation von Quasi-Objekten, Hybriden, Aktanten, um Aufzeichnung von Netzen.

Wonach es soziologisch also zu suchen gilt, sind die Reinigungs- bzw. Ordnungs- bzw. Kontrollversuche der beiden Seiten dieses Kontextes (die Natur versucht das soziale Natürliche vom asozialen Natürlichen zu unterscheiden, während gleichzeitig die Gesellschaft das natürliche Soziale vom unnatürlichen Sozialen zu unterscheiden sucht; beide versuchen das, was sie als asozial bzw. als unnatürlich deklarieren, zu diskreditieren und zu exkludieren). Was es soziologisch nachzuweisen – aufzuzeichnen – gilt, sind die Übersetzungsprozesse, die diese Reinigungsprozesse begleiten, also: die Hybriden, die Aktanten, und ihre Verwebung. Exakt deshalb ist Soziologie Netzwerkforschung: Sie zeichnet die Verwebungen auf, die sich aus der Komplementarität von Reinigung und Übersetzung ergeben. Sie fischt, könnte man sagen16, in den Strömen, die aus sozialen Unterscheidungen als den ›Quellen der Unbestimmtheit‹ fließen, nach den Vernetzungen dieser Unterscheidungen. Soziologie ist ›Berichterstattung‹ von Vermittlungsprozessen, und sie ist dann ›gut‹, wenn sie »jede[n] Beteiligte[n] als vollwertige[n] Mittler behandelt«.17 Oder kurz: »Einen guten Bericht« – das ist nichts anderes als eine gute soziologische Theorie – »würde ich definieren als einen, der ein Netzwerk aufzeichnet«.18 Es ist klar, dass solche Berichte riskant sind; sie entziehen der Gesellschaft schließlich ihre Sicherheiten. Insofern widerspricht Latour der geläufigen Annahme, dass Soziologie Zeit- bzw. Gegenwartsdiagnosen anzubieten habe; denn Diagnosen sind Problembeschreibungen (oft sogar einfach: Namen für Probleme), die Sicherheit und gerade nicht Unsicherheit geben sollen. Es ist auch klar, dass solche Berichte mit den Unterscheidungen arbeiten müssen, die einerseits bereinigend und andererseits übersetzend praktiziert werden; deshalb muss eine solche Soziologie empirisch arbeiten. Und ebenso ist klar, dass solche Berichte weder der Reinigung noch der Übersetzung einseitig anheimfallen dürfen; deshalb muss eine solche Soziologie einem »Symmetrieprinzip« folgen.19 Sie muss überall dort weiter nachfragen, wo sich Verhältnisse als bloße Behältnisse verstehen bzw. in Räume einsortieren lassen, zwischen denen keine Brücken bestehen – denn solches Sortieren ist empirisch immer nur auf den ersten Blick richtig und praktisch daher völlig unbrauchbar. Gesucht sind Unterscheidungen, nicht Trennungen, weil Unterscheidungen stets Verbindungen sind – unsicher, mehrdeutig, aber eben doch (oder besser: eben deshalb) tragend.

Fünf »Quellen der Unbestimmtheit« zieht Latour20 schließlich als Konsequenz dieser Symmetrie – man müsste vielleicht sagen: als Hybriden, als Aktanten des soziologischen Berichts über die sozialen Netze – in Betracht:

1.»Keine Gruppen, nur Gruppenbildungen« (50ff.): also keine einseitige Festlegung auf stabil und unbeweglich festgelegte Gruppen oder Gruppierungen, sondern zweiseitige (hybride) Beobachtung der »Spuren«, die »die »Aktivität der Gruppenbildung und -auflösung hinterlässt« (53, vgl. 55ff.), sodass es »keine relevante Gruppe gibt, von der man sagen könnte, nur sie bilde soziale Aggregate, keinen feststehenden Bestandteil, der als unbestreitbarer Ausgangspunkt gelten könnte« (ebd.)

2.»Handeln wird aufgehoben« (76ff.): eine Beschäftigung mit der Möglichkeit der »Verwechslung« des »sozialen Stoffs« mit »physischen, biologischen oder ökonomischen Bausteinen«, also mit der »heterogenen Natur« dieser »Bestandteile«: »Wenn wir handeln, wer handelt außerdem noch? Wie viele Handlungsträger sind außer uns noch präsent? Wie kommt es, dass wir nie tun, was wir wollen? Wieso werden wir alle von Kräften gehalten, die wir nicht selber gemacht haben?« (76); wieso »[sind] wir nie allein [], wenn wir eine Handlung ausführen«? (77). Das Handeln wird ›aufgehoben‹ in dem Sinne, dass es von diesen hybriden Anderen »anders aufgenommen« wird, als wir erwarten: »Wir sind nicht allein auf der Welt. ›Wir‹, wie auch ›ich‹, ist ein Wespennest« (79) – und »Akteur ist, wer von vielen anderen zum Handeln gebracht wird«, »das bewegliche Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hin strömen« (81).

3.»Welche Aktion für welche Objekte?« (109ff.): Der »Begriff ›sozial‹ […] bezeichnet keinen Realitätsbereich und keinen bestimmten Gegenstand, sondern ist eher die Bezeichnung für eine Bewegung, eine Verschiebung, eine Transformation, eine Übersetzung, eine Anwerbung. Er bezeichnet eine Assoziation zwischen Entitäten, die in keiner Weise als sozial erkennbar sind, außer in dem Moment, in dem sie neu zusammengruppiert werden.« (111f.; Hervhg. i. O.) Gerade eine dem ›Symmetrieprinzip‹ folgende »Soziologie der Assoziationen« (110) muss erklären können, woher Asymmetrien kommen »und woraus [...] sie gebildet worden [sind]« (ebd.); sie muss daher »das Spektrum der Akteure erweitern« (11121). Aber »wie lange kann man einer sozialen Verbindung folgen, ohne dass Objekte dazwischentreten?« (134) Genau dieser Moment ist interessant, auf ihn wartet, nach ihm forscht man. Soziologische Berichte von Assoziationen haben also nach den »Situationen« zu suchen (und diese zu notieren), »in denen die Aktivität eines Objekts sichtbar wird« (136) – ebenso sichtbar wie (und doch anders sichtbar als) die Aktivität eines Subjekts. Sie haben also nach der Sichtbarkeit, dem Hervortreten, der Quasi-Objekte zu suchen; sie müssen »die Objekte zum Reden [...] bringen« und »Skripte von dem [...] produzieren, wozu sie [die Objekte, M. L.] andere – Menschen oder Nicht-Menschen – bringen.« (137)

4.»unbestreitbare Tatsachen versus umstrittene Tatsachen« (150ff.): »Die Liste der Akteure und Handlungsträger muss erweitert werden; die Konflikte über praktische Metaphysiken vertiefen sich; die künstliche Trennung zwischen einer sozialen und einer technischen ›Dimension‹ einer gegebenen Situation muss fallengelassen werden; es müssen Gebiete durchquert werden, die man bislang kaum besucht hat; man muss sich daran gewöhnen, dass Kontroversen lohnender und letztlich stabiler sind als absolute Ausgangspunkte; und schließlich muss man die erstaunliche neue Gewohnheit entwickeln, Metasprache, Sozialtheorie und Reflexivität mit den Akteuren zu teilen, die nicht länger als bloße ›Informanten‹ betrachtet werden können.« (150)

5.»Das Verfassen riskanter Berichte« (211ff.): »Die Lösung besteht […] darin zu lernen, wie man von Unbestimmtheiten zehrt, statt im Vorhinein zu entscheiden, wie das Mobiliar der Welt auszusehen hat.« (201): »Wir schreiben Texte, wir schauen nicht durch eine Fensterscheibe.« (212) Latour resümiert: »Ein Netzwerk besteht nicht aus Nylonfäden, Wörtern oder irgendeiner dauerhaften Substanz, sondern es ist die Spur, die ein sich bewegendes Transportmittel hinterlässt […] Es muss […] aufgezeichnet werden« (230), immer neu.

*

Die Fruchtbarkeit vernetzten Denkens für Theologie und Kirche liegt nach all dem auf der Hand. Allerdings warnt auch jede ernst zu nehmende Soziologin vor solchen Offensichtlichkeiten; es könnte sich um Oberflächenplausibilitäten handeln, um manipulative Verführungen, um Allzueinleuchtendes. Latour kokettiert mit dieser Möglichkeit, auch wenn er manipulativ-verführendes Verhalten eher als einladend-inklusives Verhalten bezeichnen würde. Aber wir haben doch Anlass, sein Konzept anzufragen, wir könnten zu der Einschätzung kommen, dass es (ich bleibe im Bild) für eine Affäre geeignet ist, für eine Ehe aber nicht; wir könnten sagen, es biete zahlreiche erhellende Perspektiven, sei aber begrifflich doch vage und daher zwar für theoretisch-spekulative Interessen und auch den akademischen Diskurs, der davon ja sehr stark lebt, von großer Attraktivität, es orientiere aber gerade die empirische Forschung nicht oder nicht hinreichend, und es sei auch für Fragen (hier, in unserem Fall) der kirchlichen Glaubenspraxis weniger einleuchtend, als es zu sein scheint. Die gesuchte Irritation, die dieser Band ja debattieren möchte, bietet Latour demnach in jedem Fall; die Frage muss aber auch sein, ob diese Irritation ein anderes Schicksal haben kann, als sich (in ihrem eigenen Sinne) zu assoziieren, zu verzweigen, zu verlieren, zu versanden.

Vernetzungen sind, um das systemtheoretisch zu formulieren, nur leistungsfähig, wenn auch Entnetzungen möglich sind; ohne Interdependenzunterbrechungen ergeben sich sonst ungebremste Wachstumsprozesse nach innen und nach außen, das Soziale (hier: die kirchlich-kommunikative Praxis) würde zugleich uferlos und eng. Wir haben jedenfalls ernst zu nehmen, dass Latours Konzept religiöser, prinzipiell beliebige Sinnformen vernetzender Kommunikation nicht nur nicht ohne weiteres, sondern gar nicht mit konfessionellen Glaubensformen in Übereinstimmung zu bringen sein dürfte. Denn Konfessionen unterbrechen Interdependenzen, sie unterbrechen sie existenziell, und vermutlich lassen sich nicht alle Formen des Glaubens unter den Begriff des Sozialen bringen. Die Kirche müsste sonst dem Imperativ sozialer Netzwerke folgen, und das heißt: Sie würde zu einer mit ökonomischen Anreizen handelnden (nämlich an Bedürfnisse appellierenden und Bedürfnisse auch allererst weckenden) und mit scharfer Sozialkontrolle beobachtenden, blasenartigen Sphäre werden. Netze in Latours Sinne können auf jegliche Kommunikation immer nur mit Mehr desselben reagieren, mit weiterer Vernetzung, mit Wachstum. Sie sind – der Begriff des Aktanten zeigt es – totalinklusiv, weil sie alles einschließen können, worauf sie referieren; sie haben also weder eine soziale noch eine naturale noch eine materiale oder psychische Umwelt. Der Mensch kann sich in ihnen verlieren »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«22, aber er kann sich nicht von ihnen distanzieren.

Vor allem Niels Werber hat herausgearbeitet, wie sehr Bruno Latours PolitischeÖkologiemit Carl Schmitts PolitischerTheologieverbunden ist, genauer: wie sehr Latour Schmitts Konzept modernisiert (ausdrücklich: ohne dessen realpolitisch-ideologische Haltung zu übernehmen).23 Das Netz des Sozialen ist für Latour von kollektiven Aktanten bevölkert, die dieses Netz als ihr Habitat bewohnen. Sein wichtigstes Interesse dabei gilt den Praxisvarianten dieses Habitus; er nimmt nicht an, dass sich daraus stabile Identitätsgewissheiten ergeben, sondern – wie oben bereits beschrieben – dass ihr Geflecht in komplexen Ungewissheiten und Unbestimmtheiten gegründet ist, die ständig neu austariert werden müssen, die ständig in Bewegung sind (und von den Praxisformen dieses ständigen Bewegens, dieser lebendigen Praxis berichten die Erzählungen, die Berichte der Netzwerkforscher). Diese Kollektive können insofern bedroht werden, als sie von innen, aus sich selbst heraus in Frage gestellt werden können – und dies, so Latour in ausdrücklichem Hinweis auf Schmitt, sei ein Beitrag zum Kollektiv, nicht dessen Ende. Das Soziale bei Latour ist damit wie der Souverän bei Schmitt bestimmt durch das, was seine Bestimmungen bestreitet, in Frage stellt, negiert – das Soziale wehrt sich gegen seine Anfechtungen, gegen seine Zerstörungen, und es wehrt sich auf seine Weise: durch Vernetzungen. Die meisten Infragestellungen seiner selbst (etwa durch scharfe Kontroversen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, zum Beispiel in Klima- und Ressourcenfragen) vermag das Soziale auf diese Weise zu integrieren. Aber dabei entsteht ein Wachstum nach innen, ein Aufwand an Kommunikation und Relationierung, der die internen Spannungen fieberhaft steigen lassen kann. Um dies zu moderieren und die Temperaturen der weltweiten Konflikte wieder erträglich sinken zu lassen, müssten alle Aktanten und alle Kollektive mobilisiert werden; sie führen einen kriegerischen Kampf um ihre Existenz, und sie führen diesen Kampf in ihrem eigenen Raum, sie versuchen also die zerstörerischen Kräfte ihrer selbst durch sich selbst aus sich selbst zu vertreiben. Es ist ein immunologischer Kampf, der hier geführt werden muss: Treten negative, dissoziativ-entnetzende Kräfte auf, müssen sie in ihrem Aktionsradius beschränkt, relativiert, unterdrückt werden. (In allen Netzwerktheorien übrigens indizieren, soweit ich sehe, bestimmte kommunikative Verdichtungen das Vorliegen eines Bestandsproblems, einen Riss oder einen Bruch, einen Dissens oder einen Konflikt, eine noch nicht in Inklusivität übersetzte Exklusivität.) Werber weist ausdrücklich auf die diabolische Interpretation des Dissenses durch Latour hin, der die Ökologie (Gaia) ebenso säkularisiert, wie Schmitt die Politik säkularisiert habe – Latours Verständnis dieser globalen ökologischen Auseinandersetzung sei »im Kern eschatologisch motiviert«.24

Das Si-scires-Motto wird dadurch möglicherweise doch erhellt. Die Kontingenz jeglicher Vernetzung versteht Latour als Ermöglichung von Kommunikation, und dies gerade auch im religiösen Sinne. Aber es ist eine säkulare, ökologische Form des Religiösen, so wie ja auch Latours eher erotische als karitative Vorstellung religiöser Liebeskommunikation25 säkularisiert ist. Die romantische Vorstellung von Liebe hatte Personen ermutigt, sich als Individuum zu verstehen, und sie hatte sie dann an der kommunikativen Praxis dieser Individualisierung zwar bitter scheitern lassen, zu neuen Versuchen aber dadurch stets und immer wieder ermutigt. Gerade in der verzweifelten Infragestellung des Selbst durch Liebe sollte eine umfassende, vollendete Bestätigung des Selbst ermöglicht werden. Ganz ähnlich sieht Latour die Ökologie, die das Soziale zu sich selbst bringt, indem es sich selbst infrage stellt. Dass als Individuum jetzt auch andere als nur menschliche Beobachter in Betracht kommen, ist theologisch mutmaßlich keine große Überraschung und schon gar keine Komplikation. Dass aber mit dem globalen Kommunikationsnetzwerk eine Ökologie ohne jede Transzendenz entsteht, die im strengstmöglichen Sinne umweltlose Welt ist: Das ist eine theologische Komplikation. Religiöse Kommunikation muss sich, wenn sie Latour folgt, säkularisieren.

Literatur

Baecker, D., Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007.

Foucault, M., Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 121996.

—, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974.

Latour, B., Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M. 2001.

—, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007.

—, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2016.

—, On Actor-Network Theory. A Few Clarifications, in: Soziale Welt 47 (1996), 369-381.

—, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008.

Luhmann, N., Funktionen und Folgen formaler Organisation, mit einem Epilog 1994, Berlin 41995.

Schmidgen, H., Bruno Latour’s »Inquiry into Modes of Existence«, in: Isis 105/3 (2014).

Serres, M., Der Parasit, Frankfurt a.M. 1987.

Tarde, G., Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2009.

Werber, N., Gaias Geopolitik, in: Merkur 69/792 (2015), 59-67.

1Vgl. H. Schmidgen: Bruno Latour’s »Inquiry into Modes of Existence«, in: Isis (2014), 105/3, 673675.

2B. Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008, 7ff.

3B. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007.

4Vgl. B. Latour, Neue Soziologie, 50ff., 76ff., 109ff., 150ff., 211ff.

5B. Latour, Nie modern gewesen, 20 (Abb. 1).

6G. Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2009.

7M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 121996.

8B. Latour, Nie modern gewesen, 20 (Abb. 1).

9Ebd.

10N. Luhmann (1995): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994, Berlin 41995, 382 (Luhmanns Frage lautete, »wie der Mensch in formalen Systemen, die nach einer eigenen Logik organisiert sind, Mensch bleiben, das heißt, im Sinne seiner Bestimmung vernünftig handeln kann«).

11Ich spiele an auf D. Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007.

12Vgl. G. Tarde, Nachahmung und M. Serres, Der Parasit, Frankfurt a.M. 1987.

13B. Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M. 2001, 285; vgl. auch ders., On Actor-Network Theory: A Few Clarifications, in: Soziale Welt 47 (1996), 369381.

14Ebd. (kursiv M. L.)

15B. Latour, Parlament, 29.

16Vgl. für die Metapher des Fischens B. Latour, Neue Soziologie, 229f.

17B. Latour, Neue Soziologie, 223.

18Ebd.

19B. Latour, Nie modern gewesen.

20B. Latour, Neue Soziologie (Zitate in der hier folgenden Aufzählung alle nach diesem Text als Angabe in Klammern).

21Latours Einwand illustriert seine die Durkheim-Soziologie beschreibende Lektüreerfahrung: »Nicht unähnlich dem Sex während des Viktorianischen Zeitalters sind Objekte überall, doch nirgendwo ist von ihnen die Rede« (127).

22Ich spiele selbstverständlich an auf den Schlusssatz von M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974 (»[…] kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«)

23Vgl. N. Werber, Gaias Geopolitik, in: Merkur 69/792 (2015), 59-67. Latour selbst weist, was auch Werber zitiert, in B. Latour, Parlament, Anm. 54, 346f. auf diese Referenz hin.

24N. Werber, Geopolitik, 66.

25Ich spiele an auf B. Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2016.

IST DAS ALLES? DIE DINGE THEOLOGISCH DENKEN MIT BRUNO LATOUR

Stefan Altmeyer

1.Das Problem der Materialität

Die Welt des Religiösen ist auf skandalöse Weise voll mit Dingen. Da gibt es Steine, Kerzen, Bücher, Kreuze, Rosenkränze und Monstranzen, da brennt es und raucht es, es wird gegessen, gesalbt und mit Wasser übergossen. Was eigentlich mit Transzendenz befasst ist, kann immanenter kaum vorgestellt werden. Wie in den Wohnungen westlicher Überflussgesellschaften nehmen denn auch im Haus der Religion die Dinge manchmal überhand und es kommt zu Prozessen der Reinigung: Goldene Kälber werden eingeschmolzen, Bilder verboten und gestürmt, Tempel leergefegt und die geerbte Herz-Jesu-Figur aus Gips verschwindet vorerst auf dem Speicher. Doch jede noch so gründliche Reinigung macht nur umso deutlicher, dass die Dinge nicht wegzukriegen sind. Auf das Kalb folgen Steintafeln, alte Bilder werden durch neue ersetzt und an der Stelle der Gipsfigur steht ein Regal mit zahlreichen illustrierten Bibelausgaben.

Ausgehend von diesen Beispielen könnte man wohl leicht einen pragmatischen Konsens darüber erzielen, dass die Vorstellung einer von allen Dingen gereinigten Religion nichts anderes als eine Illusion ist. Und auch das moderne Projekt, den christlichen Glauben so lange entmythologisierend zu reinigen, bis seine eigentliche Identität zutage tritt, kann wohl inzwischen als theologische Sackgasse bezeichnet werden. Sehr viel schwieriger und auch spannender ist aber die an einen solchen Konsens anschließende Frage: Wenn man die Dinge definitiv nicht loswerden kann, welche theologische Bedeutung kommt ihnen dann zu?

Ein kleines Beispiel mag das theologische Problem der Materialität illustrieren, um das es hier geht. Von Ambrosius von Mailand (ca. 334-397) ist überliefert, wie er in einer mystagogischen Katechese die Neugetauften in das christliche Verständnis dessen einführt, was sie während der Taufe in der Osternacht erlebt haben. Er bittet sie, sich an den Eintritt in das Baptisterium zu erinnern, und fragt nach, was sie dort gesehen haben. Das Erlebte aufgreifend, antwortet er: »Du bist hineingestiegen, du hast das Wasser gesehen, du hast den Bischof gesehen, du hast den Leviten gesehen.«1 So nüchtern ist das: Zu sehen sind Dinge – ganz normales »Wasser, wie ich es täglich gesehen habe«2 – und Menschen, die dort Dinge tun – Fragen stellen, Gebete sprechen, Gesten ausführen. Die Frage, die sich zwangsläufig stellt, ist doch: Soll das alles sein? Und genau diese naheliegende Frage greift Ambrosius auf, indem er fortfährt:

»Es sage nur ja niemand: ›Ist das alles?‹ Gewiss ist das alles, wirklich alles, wo die ganze Unschuld, wo die ganze Frömmigkeit, die ganze Gnade, die ganze Heiligung ist. Du hast das gesehen, was du mit deinen körperlichen Augen und den menschlichen Blicken erfassen konntest. Du hast das nicht gesehen, was unsichtbar ist, sondern was sichtbar ist.«3

Was also die Täuflinge gesehen (und gespürt, gehört und gerochen) haben, war »alles, wirklich alles«. In der Materialität des Taufrituals steckt die gesamte Wirklichkeit der Taufe. Ist das wirklich alles? Ja. Ist, was ich wahrnehme, die ganze Wirklichkeit? Nein.

Ich stelle mir vor, Bruno Latour hätte an dieser frühen Sakramententheologie bei Ambrosius seine wahre Freude.4 Gilt Latour doch nicht nur als einer der wichtigsten Denker der Materialität, sondern zugleich auch als einer der schärfsten Kritiker des modernen Gestus der Reinigung. Was ihn viel stärker umtreibt als die analytische Trennung, sind die Vermischungen zwischen scheinbar streng zu trennenden Wirklichkeiten: zwischen Mensch und Ding, Kultur und Natur, zwischen dem Sozialen und dem Materiellen, zwischen Subjekt und Objekt. Mit seinen Arbeiten seit Ende der 1970er Jahre war Latour wesentlich daran beteiligt, die Sozialwissenschaften für das Problem der Materialität zu sensibilisieren und einen sogenannten material turn einzuleiten. Die hier verhandelte Frage besteht im Wesentlichen darin, wie der »Begriff des ›Sozialen‹ so zu öffnen [wäre], dass auch Dinge als Handlungsträger begriffen werden können.«5

Latour hat im Laufe der Jahre mehr als eine Lösung für dieses Problem vorgeschlagen. Henning Laux rekonstruiert insgesamt vier Lösungswege, deren Reichweite und Anspruch immer weiter zunehmen, bis am Ende das Materialitätsproblem schließlich ganz verschwindet.6 Diese Unterscheidung möchte ich aufgreifen und nach einer kurzen Darstellung jeweils nach theologischen Anschlüssen fragen. Wie muss sich Theologie verändern, um ihrem eigenen Problem der Materialität gerecht zu werden? Welche Umbaumaßnahmen am Theoriegebäude und welche statischen Neuberechnungen werden nötig? Welchen Mehrwert verspricht eine entsprechende Investition? Mit wachsendem Anspruch der Lösung bei Latour wächst auch die Radikalität der theologischen Implikationen. Es verspricht also nach und nach spannend zu werden.

2.Die Dinge integrieren

Die erste Stufe, das Materialitätsproblem zu adressieren, besteht darin, sich der Bedeutung der Dinge erst einmal gewahr zu werden und diese in die Reflexion des Sozialen im Sinne einer »thematische[n] Öffnung«7 zu integrieren. Auf wissenschaftstheoretischer Ebene sind dazu lediglich »Modifikationen des soziologischen Instrumentariums«8 notwendig, ohne dass am Theoriegebäude insgesamt gewerkelt werden müsste.

Bei Latour lässt sich diese Perspektive in seinen frühen ethnografischen Studien verorten. In aufwendigen Feldstudien beschäftigt er sich zum Beispiel mit der Frage, wie in einem naturwissenschaftlichen Labor Wissen erzeugt wird.9 Dabei tritt die zentrale vermittelnde Rolle von Dingen zutage: Technische Versuchsaufbauten ermöglichen Messungen, diese werden in Tabellen und Diagrammen dargestellt, Hypothesen zirkulieren als Visualisierungen und Schemata, Paper werden geschrieben und vielfach überarbeitet. Am Ende einer langen Kette von Transformationen steht das sogenannte naturwissenschaftliche Faktum, dem man diesen Entstehungsprozess nicht mehr ansehen und das in andere Forschungen und Anwendungen einfließen kann. Entscheidend ist: Latour geht es hier nicht um eine sozialkonstruktivistische Relativierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Gerade umgekehrt möchte er zeigen, dass die akribisch kontrollierte Kette von Übersetzungen zwischen unterschiedlichen materiellen »Inskriptionen«10 gerade die Garantie für die Gültigkeit des so entstandenen Wissens darstellt. Ohne die vielfältigen Dinge eines Labors wäre das gar nicht möglich. An diesen und weiteren fallspezifischen Beispielen macht Latour deutlich, dass Dinge einen Anteil an der Wissensgenese und an menschlicher Praxis insgesamt haben, der nur um den Preis einer verzerrenden Reduktion vernachlässigt werden kann und daher in die Reflexion des Sozialen integriert werden muss. Das naturwissenschaftliche Labor ist in diesem Sinne die »Gründungsszene«11 der Aufmerksamkeit für das Materielle bei Latour.

Theologische Anschlüsse liegen auf der Hand und scheinen im Sinne einer Perspektivenerweiterung relativ leicht möglich. Dazu müssen die Dinge in der Welt von Religion, Glaube und Theologie wahr- und ernstgenommen werden: Welche Dinge gibt es in der Praxis des Glaubens und in religiösen Lernprozessen, und welche Rolle spielen sie? Was wäre darüber hinaus ihre Bedeutung für so zentrale systematische und historische Themen wie Offenbarung, Überlieferung oder Tradition? Und parallel zu den Laborstudien Latours: Wie geht und welche Dinge braucht eigentlich die Generierung von verlässlichem Wissen in der Wissenschaftspraxis der Theologie? Das eingangs zitierte Beispiel bei Ambrosius zeigt, dass die Theologie in Sakramentenlehre und Liturgiewissenschaft zwei klassische Orte hat, um ›die Dinge‹ zu reflektieren. Mit Blick auf die übrigen Felder und auch insbesondere die Praktische Theologie wäre wohl allerdings einiger Nachholbedarf zu konstatieren. Die Dinge wahrnehmen und als Perspektive integrieren, lautet damit ein erster theologischer Imperativ mit Latour.

3.Mischwesen reflektieren

Die zweite Antwort auf das Materialitätsproblem hebt die Schnittstellen zwischen Mensch und Ding, zwischen Natur und Kultur ins Zentrum des Interesses. Die materiellen Phänomene bilden dann mehr als nur eine zusätzliche Perspektive, die ohne größeren Aufwand »in ein anthropozentrisches Forschungsdesign eingebaut«12 werden könnte. Sie formulieren vielmehr einen gänzlich neu zugeschnittenen Gegenstand der Soziologie, der in sogenannten hybriden Phänomenen besteht. In Phänomenen wie bspw. dem Smartphone oder dem Klimawandel vermischen sich die Grenzen zwischen Mensch und Ding, weil die typisch moderne Trennung zwischen stummen Objekten und intentional handelnden Subjekten nicht länger funktioniert.

Nach Latour hat es diese fein säuberliche Trennung in der sozialen Realität trotz aller anderslautenden Beteuerungen zudem nie gegeben. »Niemand ist je modern gewesen. Die Moderne hat nie begonnen. Es hat nie eine moderne Welt gegeben.«13 Im Mittelpunkt der zweiten Antwort auf das Materialitätsproblem steht also Latours Kritik der Moderne und die damit verbundene Hybridisierungsthese, die dieser aus einer theoretischen Generalisierung seiner auf Einzelfälle bezogenen ethnografischen Studien entwickelt hat. Latour interpretiert die Moderne als ein Denkgebäude, das auf dichotomischen Grenzziehungen aufbaut, die in allen Bereichen wirksam sind, mit einer scharfen Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Werten und Fakten korrespondieren Trennungen zwischen Kultur und Natur, Politik und Wissenschaft, zwischen Mensch und Gott. Das erkenntnistheoretische Projekt der Moderne besteht für ihn entsprechend in einer umfassenden »Reinigungsarbeit«14, die alle »Vermischungen«15 zwischen den Bereichen systematisch zu tilgen versucht. Hat dieses Projekt der Reinigung in den letzten Jahrhunderten unzweifelhaft eine ungeheure Produktivität entfalten können, so beruht es nach Latour doch auf einer umfassenden »Selbsttäuschung«16 und verliert spätestens heute endgültig seine unhinterfragte Plausibilität: Denn je konsequenter das Projekt der Reinigung vorangetrieben wird, desto stärker treten hybride Phänomene zutage, die sich der klaren Trennung Innenwelt vs. Außenwelt, Subjekt vs. Objekt entziehen. Bei vielen aktuellen Phänomenen wie etwa dem Klimawandel oder Epidemien kann niemand mehr strikt auseinanderhalten, was daran natürlich oder kulturell, Fakt oder Deutung ist, einfach aufgrund der komplexen Vermischung unterschiedlichster Perspektiven.17 Die Aufgabe der Reinigung lässt sich nicht mehr durchhalten. Vielmehr müssen diese Phänomene gerade in ihrer multiperspektivischen Realität in den Blick genommen werden, um aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen und Risiken ernsthaft zu reflektieren.

Die theologische Rezeption dieser Diagnose birgt einigen Sprengstoff, verweist sie doch auf blinde Flecken einer ausdrücklich ›modernen‹ Theologie. Welchen Einfluss haben dichotome Unterscheidungen wie Gnade/Natur, Offenbarung/Erfahrung, Transzendenz/Immanenz, Kirche/Welt auf die Fähigkeit der Theologie, jene hybriden Phänomene wahrzunehmen und reflexiv aufzunehmen, die heutige religiöse Lebenswelten und öffentliche Diskurse ausmachen? Familienmenschen, die sich gleichermaßen mit Hausbibel und Yogamatte identifizieren; Jugendliche, die Taizékreuz und Lourdesmadonna selbstverständlich gleichzeitig tragen; Zeitgenossen, die öffentliche Debatten um Kopftücher in Schulen und Kreuze in Behörden als religiöse Identitätsfragen wahrnehmen. Es ließe sich folgende These aufstellen: Das zentrale Problem moderner Theologie ist es, die Hybriden zu denken! Angesichts der genannten und unzähliger anderer Phänomene fehlen ihr die Instrumente, die Gegenwart anders denn als Krise wahrzunehmen, das heißt als Abweichung von einer sauber geordneten Welt, die dem modernen Dualismus entspricht. Ein zweiter theologischer Imperativ mit Latour könnte daher lauten: die Vermischungen denken.

4.Menschen und Nichtmenschen symmetrisieren

Der dritte Lösungsweg besteht darin, die Theorie des Sozialen so zu verändern, dass menschliche und nichtmenschliche Akteure gleichberechtigt in den Blick genommen werden. »Die Soziologie ist dann keine Menschenwissenschaft mehr, die gelegentlich materielle Phänomene in die Analyse einbezieht«18