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»Sie sterben – wir kümmern uns um den Rest!« Seitdem Dietmar seine Brötchen als Trauerredner verdienen muss, holt er sich auf regelmäßigen Spaziergängen über den Friedhof seine Inspiration. Eines Abends beobachtet er zwei Männer, die einen dubiosen Sack in ein noch frisches Grab einbuddeln. Zu seinem Erstaunen erkennt Dietmar in den Männern zwei ehemalige Künstlerkollegen, die während der Coronazeit aus Existenzangst ins Bestattergewerbe gewechselt haben. Allerdings eher in den illegalen Zweig, der Bestattungen zu wahren Discounterpreisen verspricht. Dietmar klinkt sich begeistert in das Geschäft ein und hat auch bald eine mörderisch gute Idee, wie man den Kundenservice noch verbessern könnte …
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Seitenzahl: 222
Seit Dietmar seine Brötchen als Trauerredner verdienen muss, geht er auf Friedhöfen spazieren. Eines Nachts beobachtet er zwei Gestalten, die einen dubiosen Sack in ein frisches Grab versenken. Zu seinem Erstaunen erkennt er in den Männern zwei ehemalige Künstlerkollegen. In den Coronajahren durften sie nicht auftreten. Also sind sie in ein morbides Gewerbe gewechselt, in dessen illegalen Zweig. Dietmar will damit nichts zu tun haben! Und ist wenig später mittendrin im perfiden und schließlich mörderischen Business. Wie schön, dass seine Ideen das Start-up ankurbeln. Und dass er auch am Grab nicht den Humor verliert.
Von Dietmar Bittrich sind bei dtv u.a. außerdem erschienen:
Böse Sprüche für jeden Tag
Müssen wir da auch noch hin?
Zum Niedermähen schön
Dietmar Bittrich
Ein Bestatter-Krimi
In großen Städten werden die Friedhöfe mit der Abenddämmerung geschlossen. Wer um Mitternacht auf dem Père Lachaise Geister beschwören will, muss ein drei Meter hohes Staketentor oder die scherbengespickte Ziegelmauer überwinden. Ähnlich unzugänglich ist Highgate in London, vor allem der finstere Westteil; aus der hohen Mauerkrone wachsen geschmiedete Spieße und Speerspitzen.
Der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg ist von einem zwanzig Kilometer langen Eisenzaun umgeben. Doch am Abend des zweiten Mai im vergangenen Jahr stellte ich fest, dass ich nicht der Einzige war, der die Partien korrodierter Gitterstäbe kannte.
Es war kurz nach halb zehn. Die blaue Stunde war dem Dunkel gewichen, das dieses Labyrinth hundertjähriger Bäume und immergrüner Gebüsche früher erobert als die Straßen. Vom Regen am Vormittag war eine feuchte Kühle geblieben, mit den Düften von Erde, Kiefernharz und Hyazinthen. Gegen Abend hatte es aufgeklart. Ein paar Sterne spiegelten sich in dem kreisrunden Teich, der, im Gedenken an eine verlorene Wildnis, Prökelmoor genannt wird.
Genau dort, auf dem Uferweg, nahm ich eine Bewegung wahr. Zwei zielstrebige Schatten, untote Wanderer, dunkel gekleidet wie ich, schlichen hintereinander her, langsam, gebeugt unter einer Last, die sie schleppten, einem Sack Torf oder Blumenerde – aber das war es wohl nicht.
Ich stand regungslos wie die steinernen Engel ringsum. Es gibt pietätlose Räuber auf Friedhöfen. Die Totenruhe ist ihnen gleichgültig, die Ruhe der Lebenden ebenfalls, sofern die sich in den Weg stellen. Das würde ich nicht tun. Aber neugierig war ich.
Ich sah die beiden vom Rundweg abbiegen und einen schmalen Pfad westwärts einschlagen, in das Areal, das vor einigen Jahren zum Ruheforst geworden ist, nahe der Kapelle 9, in der ich am folgenden Tag eine Trauerrede halten sollte. Als die beiden hinter einer Gruppe von Wacholdern verschwanden, verstaute ich meine Schuhe im Rucksack und schlich auf Neoprensocken hinterher.
Warum war ich überhaupt hier? Weil ich Nachtwanderer war und weil ich Spaziergänge auf Friedhöfen liebte, nicht nur tagsüber. Und weil ich mein Einkommen aufbessern musste. Wie andere Freiberufler war ich in der Epidemie an die Schwelle zur Armut geraten. Schriftsteller verdienen nur zum Teil vom Verkauf ihrer Bücher. Auftritte bringen mehr. Doch die Buchhandlungen waren monatelang geschlossen gewesen. Lesungen hatte es zwei Jahre lang nicht gegeben.
In dieser beklemmenden Zeit hatte ich mich eines Angebots erinnert, das ich Jahre zuvor großspurig abgelehnt hatte. Es war von einem alternativen Bestattungsinstitut gekommen, Ewig und drei Tage, das eine frühere Kommilitonin führte, Marlis. Mit bunten Särgen, von Kindern bemalten Urnen und heiteren Beisetzungen voller Luftballons, Bier und Fischbrötchen hatte sie Sympathien und Kundschaft gewonnen. Auch würdevolle Trauerfeiern gehörten zum Repertoire. Und gehaltvolle Reden.
Ich hatte ausreichend Theologie studiert, um mich mit dem Trost der Propheten auszukennen, und war glaubensfern genug, freien Geistern ein Lächeln abzugewinnen. So war ich im ersten Coronajahr bei Marlis vorstellig geworden. »Du kannst bei kleinen Feiern anfangen«, gestand sie mir zu. »Aber fest anstellen werde ich dich nicht; du bleibst Freelancer.«
Anfangs hatte sie selbst ein paarmal in der Trauergemeinde Platz genommen. Mittlerweile hatte ich dreiundzwanzig Trauerreden ohne ihre Aufsicht hinter mir. Immer noch war ich vor jedem Auftritt unsicher. Zur Vorbereitung reichte manchmal ein Gespräch mit den Hinterbliebenen, meist aber nicht. Fast immer begab ich mich an den Ort, der für die Beisetzung vorgesehen war, an den sandigen Weg, an dem das Grab abgesteckt oder schon ausgehoben wartete. Dort spähte ich in alle Himmelsrichtungen, betrachtete die Bäume und Skulpturen, lauschte dem herüberwehenden Klanggewebe von Zügen, Autos, Schiffssirenen, versuchte die Aromen der Koniferen und Kräuter zu schnuppern, notierte Sprüche von benachbarten Steinen, und mitten in dieser Flut von Zeichen fiel mir gewöhnlich ein, was ich sagen würde.
Diesmal, um die Mittagszeit des folgenden Tages, sollte eine Kunstmalerin gewürdigt werden. Eine Frau, die es spät zur Staffelei gezogen und die dann ausschließlich Nachtbilder gemalt hatte, erleuchtete Fenster in Haussilhouetten, finstere Straßenfluchten mit zittrigen Lichtreklamen, vereinsamte Laternen und Rücklichter, die sich im nassen Asphalt spiegelten. Alles absichtsvoll verwischt, wie durch eine beschlagene Brille gesehen. Mit den Jahren war die Künstlerin, im Gleichschritt mit ihrer Vergesslichkeit, immer abstrakter geworden, bis die Bilder schwarz blieben bis auf letzte blitzende Farbspritzer. Diese Werke erzählten genug für eine kontemplative Gedenkrede. Doch es zog mich zu dem Platz, an dem die Trauergesellschaft sich sammeln sollte.
Die Grabräuber hatten dieselbe Richtung eingeschlagen. Ich tappte hinterher, in einem Abstand von vielleicht fünfzig Metern. Selbst bei Tag hätte ich unbemerkt folgen können, hinter den Wacholdern und Rhododendren, von Schatteninsel zu Schatteninsel huschend unter den Bäumen. Der Schirm der Basecap verdunkelte mein Gesicht, das in der Mondlosigkeit ohnehin kaum Helligkeit reflektierte. Die Lodenhosen machten kein Geräusch. Die Neoprensocken deckten Kiesel und kleine Steine ab, statt sie wegspringen zu lassen. Trockenes Laub raschelt nicht unter solchen Sohlen, es wird lautlos begraben.
Auch die Plünderer waren kaum wahrnehmbar. Sie bewegten sich als unscharfe Schattenrisse vor dämmrigem Hintergrund. Nun traten sie an den Rand eines Gräberfeldes, nah der Gedenkstätte für den Leiter des Postamtes Himmelpforten, der fünfzig Jahre lang Briefe an den Weihnachtsmann beantwortet hatte. Bei Tag herrschte hier eine Art morbider Tourismus, zumal der Eingang Linnestraße nahe war. Doch um diese Zeit waren alle Tore verschlossen. Die beiden konnten mit ihrer Beute nur durch die defekte Gitterpartie am Orionweg entkommen. Ihr Transporter musste in der stillen Straße dahinter geparkt sein, die Borstels Ende heißt.
Auch wenn der Bewuchs hier lichter und die Wege breiter waren, durften die beiden sich unbehelligt fühlen. Eine Streife gab es in dem weitläufigen Park nur tagsüber. Für Überwachungskameras hatten Mittel nie zur Verfügung gestanden. Und wo sie privat installiert waren, gab es nichts mehr zu holen. Der hundertjährige Bronzelöwe vom Grab Carl Hagenbecks war demontiert und verschleppt worden, bevor Fotofallen angebracht wurden.
Büsten, Stelen und Madonnen waren mit den Jahren verschwunden, ebenso wie marmorne Leuchter, schlummernde Katzen, treue Hunde aus Bronze, die berühmte Venus in der Muschel, ein bronzenes Segelschiff, eine grünliche Sphinx, Kupferdächer und verwitterte Tore von Mausoleen, eine mannshohe Bronzeplatte mit antiken Motiven, gehämmerte Messingschalen, Metallbuchstaben, Grablaternen. Von der rührenden Figur der Eurydike standen nur noch die Füße, wie metallene Socken mit scharfen Sägezacken am Bund. Anderswo zeugten Aussparungen mit schrundigen Rändern von herausgebrochenen Namenstafeln; und ins Leere sich windende Schrauben beklagten den Verlust der Engel, die sie einst stützten.
Welche letzte wertvolle Skulptur schafften die beiden Nachtgesellen dort fort?
Kräftezehrend war die Last jedenfalls. Jetzt hatten sie das übergroße Paket schnaufend abgelegt. Die Statue einer trauernden Elfe kann siebzig Kilo schwer sein. Der oxidierte Freiheitsredner, der in einer Regennacht aus dem westlichen Ehrenhain abgeschleppt worden war, hatte zweihundert Kilo gewogen. Leichter ließen sich nur jene schmerzensreichen Madonnen fortschaffen, die galvanisiert waren, also aus Gips bestanden, der dünn mit Kupfer überzogen war. Auf so eine Täuschung waren diese Burschen nicht hereingefallen. Die Beute hatte ihre Muskeln strapaziert. Sie mussten pausieren. Mir schien sogar, als seien sie ein wenig zu alt für ihren zweifelhaften Beruf.
Doch sie rasteten nicht. Stattdessen taten sie etwas, das die Kühle dieser Mainacht gen Gefrierpunkt absenkte. Sie begannen zu graben. Nicht am Rand des kleinen Gehölzes, nicht unter den Rhododendren oder zwischen den Bäumen. Sondern unter freiem Himmel, geradewegs auf einem Grab. Sie machten sich daran, es zu öffnen. Was für ein Ritual wurde da vorbereitet?
Offenbar hatten sie kurzstielige Schaufeln auf dem Beutesack transportiert, handliche Klappspaten, mit denen sie jetzt die Erde aufwarfen. So eingespielt gingen sie vor, dass es kaum ihre erste solche Tat sein konnte. Die Störung der unterirdischen Ruhe wirkte abstoßend professionell. Der Boden schien locker. Was die beiden aushoben, konnte keine ehrwürdige Ruhestätte sein, deren Erde in Jahren gefestigt und abgesunken war. Es musste sich um ein frisches Grab handeln. Die Kränze waren vermutlich gerade erst abgeräumt, der Krumen noch locker, die Pflanzen noch nicht gesetzt.
Rasch hatten sie eine Grube ausgehoben, die einen halben Meter tief war. Das schien zu reichen. Der Sarg ruhte, wie nahezu überall, in einer Tiefe von einsachtzig. In der Höhe maß er normalerweise fünfundsechzig Zentimeter. Darüber lag gut ein Meter mäßig befestigtes Erdreich. Die zusätzliche Last einer kunstvollen Statue würde weder den Sarg noch seinen Inhalt beschädigen. Das Versteck war perfide gewählt.
Die beiden fassten den Beutesack und ließen ihn behutsam abwärts gleiten. Es wirkte beinahe feierlich. Der Abendwind hatte sich gelegt. Bis auf das ferne Rauschen des Verkehrs war alles still. Gesprochen wurde kein Wort. Einmal meinte ich, ein Ächzen zu hören. Dann war die Beute verschwunden. Die beiden schaufelten das ausgehobene Erdreich darüber, trampelten es zwischendurch fest, schaufelten aufs Neue, stampften abermals und bemühten sich um eine unauffällige Ordnung, indem sie mit behandschuhten Händen und einem Handfeger Erdbrocken und Krümel vom Weg kehrten.
Alles sollte so aussehen wie zuvor, und das schien zu gelingen, zumindest von weitem gesehen, in dieser vom Baumbestand vervielfältigten Dunkelheit, die vom Streulicht der Stadt kaum aufgehellt wurde. Der eine Kerl, der hagere, machte ein Foto mit seinem Handy, als Gedächtnisstütze oder als Vollzugsnachricht an einen wartenden Auftraggeber. Dann eines vom Nachbargrab, wiederum ohne Blitz, dann eines vom Pfad zwischen den Gräbern und von der Umgebung, nun in weitere Richtungen, sogar in meine, der ich hinter einer Eibe verborgen war, dankbar, dass kein Flash die Knöpfe der Jacke aufblinken ließ.
Vermutlich hatten die beiden die Lage des Grabes im Friedhofsplan eingezeichnet. Die Fotos mochten als zusätzlicher Anhalt dienen, für sie selbst oder für einen Dritten, der die Beute bergen würde.
Der die Beute bergen würde!
Jetzt erst verstand ich. Jetzt klickte es, in dem Moment, als die beiden sich zum Gehen wandten. Ein Signal wehte vom Hafen herüber, wie ein Hinweis, den ein schusseliger Quizkandidat wie ich benötigt hatte: der Klang einer Schiffssirene, fern und gebieterisch, ein scharfer Ton, der den Nebel der Begriffsstutzigkeit aus meinem Gehirn blies. Ein Gruß vom Meer war das, von Übersee, aus Kolumbien, Bolivien, Peru. Ein Gruß für die Engel hier von den Engeln dort, von den Engeln, die in abgelegenen Plantagen Angel Dust produzierten, himmlisch reines Kokain.
Aber ja! Ich war Zeuge eines Aktes von Drogenkriminalität geworden! Ich hatte dem Versenken eines Schatzes beigewohnt. Und wer auch immer diesen Schatz heben würde, wäre auf einen Schlag reich. Ich hätte mir an die Stirn schlagen können. Ich tat etwas Schlimmeres. Wie um dieser bestürzenden Erkenntnis auszuweichen, machte ich einen Schritt rückwärts. Die Stille zerbarst. Ich war auf einen brüchigen Ast getreten. Den konnten auch Socken nicht dämpfen. Das trockene Krachen zerfetzte die Stille. Eben hatten die beiden den Weg zum Friedhofszaun eingeschlagen. Jetzt erstarrten sie. Sie wandten sich geduckt um. Der Hagere hob sein Handy. Es blitzte auf. Der Lichtkegel huschte in meine Richtung.
In dem Augenblick gab es eine Explosion im Gebüsch. Zweige splitterten. Etwas brach durchs Dickicht, dass die Blätter tosten, wuchtig, keine zehn Meter entfernt. Ein Tier! Es floh über den Weg, setzte über die Gräber, die Steine, die Buchsbaumeinfassungen. Der dünne Scheinwerfer haschte danach und versuchte zu folgen. Doch so panisch sprang es davon, dass sich gerade noch ausmachen ließ, was es war, als es am gegenüberliegenden Rand des Gräberfeldes im Dickicht verschwand: ein Reh.
Der Lichtkegel suchte einen Moment noch die Stelle, an der es entwischt war, irrte dann über Grabsteine, streifte immergrüne Trauerpflanzen, wischte über die Eibe, hinter der ich zum Standbild der Furcht geworden war, und wurde ausgeschaltet.
Alles versank wieder in Dunkel und Stille. Nach einer Weile wechselten die Männer ein paar Worte, die nicht zu verstehen waren, und schlurften davon. Jedenfalls der eine von beiden schlurfte, der dickere; der Lange schritt lässig aus.
Ich bewegte mich nicht. Meine Lebenserwartung war um ein paar Jahre geschrumpft. Zugleich war ich dankbar. Mochten die arglosen Retter ewig leben, die Tiere, die in diesem von Verwesung genährten Dschungel siedelten, die Wiesel, Marder, Waschbären, die Hasen, Igel, Füchse und vor allem die Rehe. Mochten sie immer ausreichend Rosenblätter finden, genügend schmackhafte Knospen und knackfrischen Grabschmuck.
Eine Weile verharrte ich hinter der Eibe, ohne Empfindung für Zeit und Temperatur; ich stand bang und starr. Jenseits des Friedhofszaunes war das Schlagen von Autotüren zu hören, ein entschwindendes Motorengeräusch. Ich bewegte die Finger, die Zehen. Und wenn ich jetzt mutig war? Wenn ich dort drüben die lockere Erde aufgrub? Wenn ich den Sack emporzog und aufschlitzte? Wenn ich mir einen Teil nahm, als Schadensersatz für das erlittene Trauma? Wenn ich mir bescheiden die Taschen füllte oder unbescheiden den ganzen Rucksack?
Im Vormonat hatten Zollfahnder im Hafen elf Tonnen Kokain in Blechkanistern beschlagnahmt, deklariert als Spachtelmasse, geschmuggelt in Containern aus Paraguay. Eine viel größere Menge auf einem anderen Schiff mochte derweil unentdeckt geblieben sein. Von indigenen Bauern an den Hängen der Anden mit Liebe geerntet und zu Paste verarbeitet, bei Nacht auf staubigen Trassen von rotäugigen Fahrern weitertransportiert, auf Schiffe verladen in den Häfen des Rio Paraguay, der später Rio de la Plata heißt und nahe Buenos Aires in den Südatlantik mündet, endlich in Hamburg aus dem Hafen verbracht, in Achtzig-Kilo-Chargen an Großhändler ausgegeben, von Zwischenhändlern in Empfang genommen und sicher verwahrt und gelagert, zum Beispiel in frisch angelegten, noch lockeren Gräbern.
Keine Chance auf weiße Entschädigung. Mir fehlte es an geeignetem Gerät. Ich war zur Kontemplation hergekommen, nicht als Schatzgräber. Die Friedhofsgärtnerei befand sich drei Kilometer entfernt am Haupteingang. Ich konnte nicht einmal sicher sein, dass dort ein Spaten an der Schuppenwand lehnte. Und wenn ich mich hier niederkniete und mit den Händen graben würde, stände morgen an dieser Stelle die Drogenfahndung und ich könnte meine Trauerrede nur stotternd vorbringen. In jedem Zuspätkommer, der an der Rückwand der Kapelle stehen blieb, würde ich einen Ermittler vermuten. Dazu fehlte mir die Kaltblütigkeit.
Jedenfalls fehlte sie mir in dieser Nacht. Das sollte sich ändern.
Ich würde all das nicht erzählen, hätte es sich nicht wenig später noch einmal ereignet – und wäre ich nicht so verhängnisvoll in die Geschichte verstrickt worden.
Zunächst fand ich mich am folgenden Tag eine Stunde vor Beginn der Trauerfeier an der Kapelle 9 ein. Ich ließ mich kurz sehen, machte meine Aufwartung bei den Vertretern von Ewig und drei Tage – Marlis, die wachsame Leiterin, war freundlicherweise nicht dabei –, begrüßte die Arrangeure des Blumenschmucks und die Hüter des Kondolenzbuches und entschuldigte mich zu einem meditativen Spaziergang.
Ich ging die paar hundert Meter zum Schauplatz des bereits ins Unwirkliche driftenden Geschehens der vergangenen Nacht. Das Grab sah makellos aus. Ich machte ein Foto. Nur Eingeweihte, und dazu musste ich mich nun zählen, konnten die Spuren verbotener Arbeiten erkennen: den Abdruck einer Spatenkante, verwischten Sand, einige dunklere, noch von der Tiefe halbfeuchte Krumen, eine verrutschte rubinrote Kranzschleife, deren goldgeprägter Name samt letztem Gruß (»Wir werden dich nicht vergessen«) erst wieder zu lesen war, als ich sie zurechtgezupft und glattgestrichen hatte.
Warum tat ich das? Rückblickend kommt es mir vor, als habe diese Geste mich unmerklich zum fördernden Mitglied der Bande gemacht, als sei die fürsorgliche Korrektur eine Art unbewusster Aufnahmeantrag gewesen. Ich hatte beim Verwischen der Spuren geholfen, und womöglich nicht nur aus Ordnungsliebe. Ich machte noch ein Foto von meiner sorgsamen Retusche.
Die Trauerrede auf die verblichene Malerin Uschi D. gelang mitfühlend und seriös. Eine kokette Kurzbiographie hatte sie noch eigenhändig verfasst. Die verlas ich. Doch in ihren Gemälden, erklärte ich dann, habe sie tiefer blicken lassen, vor allem in ihren Nachtbildern. Mit denen lade sie uns ein – ja, fordere sie uns heraus – zu einer intensiven, beinahe schmerzhaften Begegnung. Zu einer Begegnung mit etwas, das wir gewöhnlich verleugnen: mit der dunklen Nacht der Seele.
Durch Uschis Kunst, behauptete ich, werde diese Begegnung erträglich. Uschi habe das Schattenreich der Seele nicht verleugnet, sondern in behutsamer Annäherung erforscht. Die düsteren Tiefen, die uns (ich sagte: »uns Menschen«) ängstigten, habe sie ausgelotet und malerisch gebannt. Wer sich einlasse auf eines ihrer Werke, zum Beispiel auf das berühmte Finsternis IV, wo aus der Dunkelheit kein Entkommen mehr möglich scheint, ja, wo ein kaum sichtbarer Strudel den Betrachter hineinzuziehen droht in einen bodenlosen Brunnen – wer sich darauf einlasse, mache eine existenzielle Erfahrung: die Erfahrung des Sterbens des eigenen Ichs und zugleich der Befreiung davon.
Das war wagemutig hochgestochen, und ich selbst glaubte kein Wort davon. Die Frau konnte nicht malen und hatte deshalb alles schwarz gepinselt. Uschis Erben hatten allerdings eine anspruchsvolle Würdigung bestellt, die sie auf Wikipedia verwenden wollten. Die überhöhenden Worte sollten den Wert der hinterlassenen Bilder steigern, für eine bald fällige Auktion. Derselben Art Preistreiberei dienten die zahlreichen Trauergäste, die mehrheitlich von Ewig und drei Tage gestellt worden waren, fingierte Follower, bezahlte Statisten, die für uneingeweihte Anwesende und auf publizierbaren Fotos den Eindruck einer eindrucksvollen Schar trauernder Sammler erwecken sollten.
»Nun also«, schloss ich, »ist Uschi aufgenommen worden in die unendlichen Galerien des Himmels. Und früher oder später, Uschi«, ich blickte zur Decke der Kapelle, »werden wir uns alle da oben bei dir zur Vernissage einfinden. Natürlich zu freiem Eintritt, und, ehrlich gesagt, besonders viel kaufen werden wir vermutlich auch nicht mehr!«
Ein aufhellender Scherz gehört ans Ende einer gelungenen Trauerrede. Ich war zufrieden. Die Erben ebenfalls. Die Erwähnung eines Himmels hatte ich mir im obligatorischen Trauergespräch von ihnen genehmigen lassen, ebenso wie die liturgischen Formeln in konfessionsfreier Form. Ich durfte eine Aussegnung vornehmen: »Die Göttin der Künste segne und behüte dich, sie lasse ihr Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, die Göttin der Künste nehme dich auf und gebe dir Frieden.«
So sprach ich mit dem Behagen eines satten Landpfarrers und segnete den von Kindern mit farbigen Handabdrücken verzierten Sarg. Sechs Erbberechtigte schulterten ihn und trugen ihn hinaus ins windige Frühlingslicht, luden ihn auf den Katafalk und schoben ihn in gemessenem Tempo über die Kieswege zur frisch ausgehobenen Grabstelle. Würdevoll schritt ich voran. Als Einziger hier kannte ich mich aus in der Quadratur des Friedhofs, im Wegeraster der Bestattungsfelder. Ich wies nicht den kürzesten Weg, wie es sich gehört hätte, sondern leitete den Trauerzug vorbei am in der Nacht illegal geöffneten und wieder verschlossenen Grab. Es zog mich an wie der Schauplatz eines Frevels, an dem ich beteiligt war. Niemand bemerkte den Umweg. Allein mir kam es vor, als steige aus dem Erdreich eine pulsierende Unruhe, als schüttelten sich die Büsche und als müssten die alten Zweige ihre jungen Maitriebe vor dem Anblick dieser Stätte bewahren.
»Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub« – der alte Zauberspruch war mir zugestanden worden. Aber als die Erde schaufelweise auf den Sargdeckel prasselte, drängte sich eine andere Formel auf: Wie viele Kubikmeter Stauraum stehen über einem Sarg zur Verfügung? Wie viel Kilogramm Kokain ließen sich über dem Deckel von Uschi D. platzieren? Würden die beiden Nachtgestalten demnächst das Grab dieser Künstlerin nutzen? Könnte ich die Angehörigen überreden, eine bewegungsempfindliche Wildkamera an diesem Grab zu installieren, mit unsichtbarem Infrarotblitz?
Natürlich nicht. Eine unverdächtige Begründung wäre mir nicht eingefallen. Persönlich Wache halten konnte ich erst recht nicht. Die Ehe mit Caroline war nach dem Auszug Leonies in eine Phase der Gewohnheit gedriftet und erforderte erhöhte Aufmerksamkeit, wenn nicht sogar selbst eine bewegungsempfindliche Kamera, zumindest an den Abenden meiner Abwesenheit. Ich konnte nicht gut jede Mitternacht auf einem Friedhof verbringen.
»Du neigst zur Nekrophilie«, hatte sie geäußert.
»Einigen wir uns auf Philosophie«, hatte ich zurückgegeben.
»Ha, ha.«
»Meinetwegen Trauerphilie. Und damit verdiene ich Geld für uns.«
»Träum weiter.«
Sicher, viel war es nicht. Ein Trauerredner bekommt vierhundert Euro pro Auftritt, es sei denn, er ist eine ruhmvolle Ausnahme. Das war ich nicht. Ich bekam dreihundert. Ich stand noch am Anfang. Es gibt Koryphäen, die ehemalige Bundeskanzlerinnen und erschossene Clanchefs zu Grabe reden dürfen. Denen winken vier- und fünfstellige Beträge. Dahin würde ich nicht so bald kommen. Vorläufig war mir der verarmende Mittelstand zugewiesen. Die folgenden Auftritte hatte ich an den Rändern der Stadt, dort, wo sie in die Provinz ausfranst, auf den kreisrunden Rasengrabfeldern von Öjendorf und im täglich geharkten Bergstedt.
Als ich eine Woche später nach Ohlsdorf zurückkehrte, fand ich Uschis Beet noch in unwirtlichem Zustand, das andere jedoch, das unerlaubt geöffnete, war lieblich bepflanzt. Lagerten achtzig Kilo begehrte Ware noch immer im Erdreich? Oder war der Schatz mittlerweile fortgeschafft worden, zum Beispiel von einem verbündeten Angestellten der Friedhofsgärtnerei? Gärtner wissen eine leichte Trance zu schätzen. Bei Studentenjobs in versunkenen Jahren hatte ich zahlreiche kiffende Kollegen kennengelernt, immer ein wenig entrückt, stets noch knapp arbeitsfähig. Waren die Ansprüche dieser Zunft an erleuchtenden Rohstoff mittlerweile gewachsen?
Ich musste keine drei Tage auf Antwort warten. Gegeben wurde sie mir zwanzig Kilometer westlich, auf dem Hochufer der Elbe, im Villenvorort Nienstedten, nahe der noch unter dänischer Herrschaft erbauten Fachwerkkirche, die bei Hochzeiten und Trauerfeiern stets verlässlich gefüllt war.
Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang, und wieder war ich nicht der Einzige, der beruflich am finsteren Ort unterwegs war. Der zweihundertjährige Friedhof wurde wie die anderen städtischen nachts verschlossen. Doch nicht weit vom ehemaligen Haupttor an der Elbchaussee gab es eine Lücke. Eine mächtige Zypresse war dort so dicht am Zaun gewachsen, dass der schrundige Stamm mit der Zeit das Eisen besiegt hatte. Die Gitterstäbe waren verbogen, stellenweise gebrochen. Ohne viel Mühe konnte man sich hindurchzwängen.
Dem Bannkreis der Straßenlaternen entkommen, gewöhnten die Augen sich rasch an das flüsternde Dunkel der alten Bäume und Rhododendren. Das Licht der Airbuswerft vom anderen Elbufer beleuchtete die niedrigen Wolken; deren Widerschein wiederum erhellte milde die sandigen Pfade.
Mein Ziel war die würdevolle Grabstätte der Familie Sjöberg. Deren jüngst auf dem Golfplatz zusammengesacktes Oberhaupt war Makler für Schiffsversicherungen gewesen. Ihm etwas Gediegenes, zugleich Heiteres nachzurufen, schien nicht schwer. Der Mann hatte außer wohlfrisierten Bilanzen einiges Gereimte hinterlassen. Seine selbstverlegten sogenannten Schmunzelverse verlangten danach, gewürdigt zu werden. »Aus Sparsamkeit bin ich dagegen, mich allzu häufig zu bewegen« und »Einen Satz trag in den Ohren: Wer nicht gewinnt, hat schon verloren.« In dergleichen Erkenntnissen würde ich bei der Trauerrede höhere Weisheit entdecken.
Ich rief mir den Lageplan des Geländes ins Gedächtnis. In diesem Hain der Reeder und Kaufleute gab es nur wenige auffallende Wegmarken, ein paar in sich gekehrte Engelsstatuen, zwei Grüfte, drei Mausoleen, ein mächtiges keltisches Kreuz; doch gediegene Bescheidenheit überwog. Wenige rote Grabkerzen und trübe Solarleuchten mühten sich als kleine Leuchttürme gegen die Wogen immergrüner Bodendecker.
Auch hier gab es vernachlässigte und ungenutzte Grabstellen. Die überwucherten Karrees schienen sich durch Ansteckung zu vermehren. Das lag nicht nur an den in Mode gekommenen Bestattungen in Wäldern, Alpentälern, auf dem Meer. Ein neuerdings wieder geduldeter uralter Brauch beförderte den Leerstand: Witwen und Familien stellten die Urnen ihrer verblichenen Granden auf den Kaminsims.
Diese Tradition widersprach dem Friedhofszwang. Doch um den zu umgehen, reichte es, die Existenz eines Urnengrabes in der Schweiz nachzuweisen. Sofern dieses ferne Grab bezahlt und beurkundet war, durfte es leer bleiben. Die gut verpackte Asche wurde der Familie überreicht. Trendbewusste Bestatter erhoben dafür ein erhöhtes Honorar. »Du sollst, musst du zu viel bezahlen, nicht knirschend mit den Zähnen mahlen«, hatte der verblichene Sjöberg gereimt. Das ließ sich passend zitieren, auch in Bezug auf unterfinanzierte Trauerredner. Bei dem Auftritt galt es allerdings, unfreiwillige Komik zu vermeiden; nur freiwillige war erlaubt.
Ich tappte voran zwischen Ligusterhecken und Nadelbäumen, die in der warmen Nacht südlich dufteten. Zweige von Hasel und Holunder rankten über den Weg. Die Wege waren schmaler als in Ohlsdorf, der Bewuchs noch dichter. Einen größeren Platz gab es nur um ein Ehrenmal. Sonst eröffneten sich nirgends weite Flächen. Keine Sichtachse gewährte einen Blick in die Ferne. Und doch, als ich auf dem Weg zu den Sjöbergs einen der Erschließungswege überquerte, blitzte von fern etwas herüber, vom westlichen Ende des Weges – ein verbotenes Licht.
Ich erschrak. Schon war es wieder erloschen. Patrouillierte dort ein Wächter? Allein? Mit meiner Nachtwanderung beging ich einen Verstoß gegen die Friedhofsordnung. Als Ausrede würde die Vorbereitung auf eine Trauerrede nicht reichen; ohne kostenpflichtige Verwarnung käme ich nicht davon. Man würde Marlis von Ewig und drei Tage eine Mitteilung schicken. Aber leistete sich diese betuchte Gemeinde überhaupt Nachtwächter für den knickerigen Grabschmuck? Oder hatte dort hinten, gut zweihundert Meter entfernt, ein anderer obskurer Wanderer nach Orientierung gesucht? Ich kannte das Gelände gut genug, um seinen Standort zu lokalisieren. Das Licht hatte sich auf das Schröder-Mausoleum zubewegt.
Ein Held würde ich nicht mehr werden, aber zu einem Kalle Blomquist reichte es. Auf schmalen Seitenpfaden parallel zur Hauptachse näherte ich mich dem vermuteten Punkt. Die Trauerbuche kam in Sicht. Dann das kleine Arboretum exotischer Koniferen. Schließlich die scharfkantige Silhouette des Schröder-Mausoleums, ein aus Sandsteinquadern erbauter Tresor für schwärzliche Mumien. Keine geisterhafte Bewegung dort, kein Huschen von Schatten. Ich blieb stehen.
Waren da nicht Stimmen zu hören von jenseits des Totenhauses? Gedämpfte Gespräche? Raunen, Tuscheln, unterdrücktes Gelächter? Ja! Und nun das Knirschen auf Kies, von Schritten, die sich entfernten. Ich drückte mich am geschmiedeten Gitter entlang um das Gemäuer, hielt inne, weil die Laute zu nah waren, und spähte um die Ecke.
Da, kaum zwanzig Meter entfernt, gingen zwei. Die zwei. Ich erkannte sie am Gang. Der Dickere schlurfte, als habe er keine Lust, die Füße zu heben; der andere schritt aus wie ein Wandergeselle in einem alten Bilderbuch. Sie unterhielten sich leise, ohne dass ein Wort zu verstehen war. Etwas Heiteres schwang mit in dem Tonfall, wie bei Angestellten, die zum Feierabend aus dem Büro kommen. Und diesmal schleppten sie nichts.
Hatten sie die Mühen gerade hinter sich? Und fühlten sich also befreit von Arbeit und Last? Unter ihren leichten Jacken musste das Werkzeug verborgen sein, Klappspaten, Handfeger, Harke. Und wohin zog es sie jetzt?
Auf einem schmalen, mäandernden Parallelpfad tappte ich hinter ihnen her, in angemessenem Abstand, den Boden absuchend, so gut es in der Dunkelheit ging, um nur ja nicht auf einen Ast zu treten. Die beiden schlugen nicht die Richtung zum ehemaligen Haupttor ein, das einst unter dänischen Herzögen für Kutschen angelegt worden war; sie suchten nicht die Lücke, durch die ich geschlüpft war. Sie wandten sich auch nicht nach Osten, wo neben einem kleinen Werkhof das Haus der Verwaltung lockende Möglichkeiten für nächtliche Kletterer bot. Sie bogen nordwärts ab zur stillen Rupertistraße. Dort gab es nach meiner Kenntnis keinen Durchlass. Stand dort ihr Auto?