Sue Monk Kidd hat mit ihren Romanen »Die Bienenhüterin« und »Die Meerfrau« Millionen Leser weltweit begeistert. Mit »Granatapfeljahre« legt sie ihr bislang persönlichstes Buch vor. Gemeinsam mit ihrer Tochter Ann erzählt sie von ihren inspirierenden Reisen durch Griechenland und Frankreich. Sue steckte in einer Krise: Sie hatte Probleme mit dem Älterwerden, fühlte sich ausgelaugt. Und auch Ann, gerade frisch getrennt, den College-Abschluss in der Tasche, wollte ihr Leben neu ausrichten. Dieses Buch ist mehr als ein Reisebericht: Es ist eine Suche nach dem Glück, ein Plädoyer für die Weiblichkeit, das Zeugnis einer tiefen Mutter-Tochter-Verbindung. Es gibt uns ein Rezept an die Hand, wie wir den Weg zu uns selbst am besten beschreiten. Es handelt vom Glück, unterwegs zu sein.
SUE MONK KIDD, aufgewachsen in Georgia, USA, schrieb sich gleich mit ihrem ersten Roman in die Herzen eines Millionenpublikums. »Die Bienenhüterin« stand über zweieinhalb Jahre auf der New-York-Times-Bestsellerliste, wurde in 35 Länder verkauft und 2008 fürs Kino verfilmt. Auch Sue Monk Kidds zweiter Roman, »Die Meerfrau«, war ein internationaler Bestsellererfolg. Die Autorin lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann in Charleston, South Carolina.
ANN KIDD TAYLOR hat nach ihrem Abschluss am Columbia College Artikel für diverse Zeitschriften geschrieben. Sie lebt, wie ihre Mutter, in Charleston, South Carolina. Ann Kidd Taylor ist verheiratet und hat einen Sohn. »Granatapfeljahre« ist ihr erstes Buch.
SUE MONK KIDD BEI BTB:
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Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2010
Copyright © 2009 by Sue Monk Kidd Ltd. und Ann Kidd Taylor Ltd.
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.
This edition published by arrangement with Viking, a member of Penguin Group (USA) Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: mauritius images / Fresh Food
Karte: Jeffrey L. Ward
UB – Herstellung: SK
ISBN 978-3-641-04543-2V002
www.btb-verlag.de
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Traveling With Pomegranates. A Mother-Daughter Story« bei Viking, New York. Die Namen einiger Personen im Buch wurden zum Schutz der Persönlichkeitsrechte geändert.
Für Terry und Mandy Helwig
Besuchte Orte und Landkarten
VERLUST
Griechenland / Türkei / South Carolina
1998-1999
Sue
Archäologisches Nationalmuseum, Athen
Im Sommer 1998 sitze ich auf einer Bank des Archäologischen Nationalmuseums in Griechenland und beobachte, wie meine zweiundzwanzigjährige Tochter Ann ihre Kamera auf ein marmornes Flachrelief richtet, das Demeter und Persephone zeigt. Ihr ist nicht bewusst, dass sie dabei eine kleine Ballettchoreographie absolviert: langsame, präzise Schritte nach vorn, den Kopf geneigt, dann lässt sie sich auf ein Knie nieder, dreht den Oberkörper und lehnt sich dabei in das grelle Nachmittagslicht. Die Szene rührt etwas in mir auf, eine Erinnerung vielleicht, doch ich könnte nicht sagen, woran. Ich weiß nur, dass Ann schön und unfassbar erwachsen aussieht und dass mich aus unerfindlichen Gründen ein heftiges Gefühl von Verlust erfasst.
In ein paar Tagen feiere ich meinen fünfzigsten Geburtstag. Ann und ich befinden uns erst seit siebenundzwanzig Stunden in Athen, und den Großteil dieser Zeit lag ich wach in meinem Bett im Hotel Grand Bretagne und wartete sehnsüchtig auf den Tagesanbruch. Ich sage mir, dass das Gefühl des Verlusts, das mich gepackt hat, nichts zu bedeuten hat – dass mir bloß der Jetlag zu schaffen macht, sonst nichts -, aber sonderlich überzeugt davon bin ich nicht.
Ich schließe die Augen, und selbst im Getümmel dieses Museums mit seinen mindestens zwanzig Touristen pro Quadratmeter ist mir klar, dass diese Empfindung in Wahrheit alles bedeutet. Es ist der unausgesprochene Grund dafür, dass ich mit meiner Tochter ans andere Ende der Welt gereist bin. Ich habe nämlich das unerklärliche Gefühl, sie verloren zu haben – weil sie erwachsen ist, eine Fremde. Und ich vermisse sie so sehr, dass es fast körperlich schmerzt.
Ursprünglich war unsere Reise nach Griechenland als Geburtstagsgeschenk an mich selbst und als Geschenk für Ann zum College-Abschluss gedacht. Ich war ein halbes Jahr zuvor auf diese extravagante Idee verfallen, als die Tatsache, dass ich bald mein fünfzigstes Lebensjahr vollenden würde, immer deutlicher in mein Bewusstsein drang und ich zum ersten Mal eine Vorahnung vom Ende eines Lebensabschnitts hatte.
Damals stand ich häufig vor dem Badezimmerspiegel und betrachtete mit dem wachsamen Blick eines Seismologen, der die Verschiebung tektonischer Platten beobachtet, jede neue Falte, jeden Millimeter schlaffer Haut um Augen und Mund. Ich durchforstete Fotoalben, suchte nach Aufnahmen von meiner Mutter und meiner Großmutter, als sie um die fünfzig waren, erforschte ihre Gesichter und verglich sie mit meinem.
Das ist doch unter meiner Würde. Ich konnte unmöglich eine von diesen Frauen sein, die sich krampfhaft an die Fassade eines jugendlichen Aussehens klammern. Mir war unbegreiflich, weshalb ich auf die Aussicht des Älterwerdens mit derartiger Oberflächlichkeit und Angst reagierte. Ich wusste lediglich, dass es um mehr gehen musste als um die Spuren der Zeit auf meiner Haut. Fing ich nun etwa an, eitel zu werden, oder war ich so auf mein Gesicht fixiert, um mich nicht mit meiner Seele auseinandersetzen zu müssen? Außerdem schien es in jedem Raum, in dem ich mich befand, unnatürlich heiß zu sein. Nachts schleppte ich mich durch lange Perioden der Schlaflosigkeit. Mein neunundvierzig Jahre alter Körper legte ein unberechenbares, rebellisches Verhalten an den Tag.
Dies waren nicht die einzigen Hinweise darauf, dass ich im Begriff war, in unbekannte Sphären aufzubrechen. Während ich die Veränderungen an meinem Spiegelbild verfolgte, überkam mich das unbändige Bedürfnis, meine vertraute Welt – eine Kleinstadt im nördlichen South Carolina, in der wir zweiundzwanzig Jahre gelebt hatten – zu verlassen und in eine fremde Umgebung zu ziehen. Ich hatte eine Vision von einem abgeschiedenen, unkultivierten Stück Land irgendwo am Wasser. Ruhe, Sumpfgras und Gezeiten. In einem Anfall von Beherztheit oder Tollkühnheit, vielleicht war es auch eine perfekte Mischung aus beidem, verkauften mein Mann Sandy und ich unser Haus und zogen nach Charleston, wo wir fortan in äußerst beengten Verhältnissen wohnten, während wir diesen magischen, unverzichtbaren Ort suchten. Ich habe nie laut ausgesprochen, dass dieser Szenenwechsel für meine Seele und meine Kreativität unerlässlich war (wie sollte ich das auch erklären?), aber genau so empfand ich es.
Es war, als würde mein Schriftstellertalent dahinsiechen, ja, verkümmern. Ich konnte einfach nicht mehr wie früher schreiben. Es fühlte sich so an, als hätte ich eine Phase meines kreativen Lebens abgeschlossen, als wollte sich nun etwas Neues einen Weg bahnen. Ich hatte aberwitzige Ambitionen, einen Roman zu schreiben, obwohl ich so gut wie nichts über das Schreiben von Romanen wusste. Offen gesagt jagte mir das alles eine Heidenangst ein.
Je länger wir so zusammengepfercht in unserer winzigen Wohnung lebten, desto eher kam ich zu dem Schluss, dass es vollkommen verrückt gewesen war, unser bequemes altes Leben auf den Kopf zu stellen. Bis ich eines Tages, als ich allein mit dem Auto unterwegs war, eine falsche Abzweigung nahm, die zu einem Flecken unbebauten Landes in einem Salzwiesengebiet führte. Bei einem »Zu verkaufen«-Schild hielt ich den Wagen an, stieg aus und ließ den Blick über die weite Fläche schweifen. Zwischen dem Schlickgras schlängelte sich ein Gezeitenfluss dahin. Es war gerade Ebbe. Austern glitzerten auf dem lehmigen Watt, Reiher senkten sich wie Dunstwolken hinab. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich gehöre hierher. Vielleicht würde meine Kreativität ja aufschnappen wie eine dieser Austern, wenn ich hier lebte, oder über mich hinwegspülen wie die schäumende, nährende Flut.
In solchen Augenblicken wurde meine Sehnsucht, etwas Neues hervorzubringen, einer frischen Stimme aus meinem Inneren Ausdruck zu verleihen, geradezu überwältigend.
Ich rief Sandy an. »Ich stehe auf dem Stück Land, auf dem wir leben müssen.«
Ich war ihm unendlich dankbar dafür, dass er nicht sagte: »Meinst du nicht, ich sollte es mir erst einmal ansehen?« oder: »Was soll das heißen, du weißt nicht, was es kostet?« Er hörte den Hunger und die Überzeugung in meiner Stimme. Er schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Nun, gut, wenn es unbedingt sein muss.«
Später erstand ich in einem Kaufhaus ein rotes, in Leder gebundenes Tagebuch. Mit dem leeren, jungfräulichen Tagebuch begab ich mich zu dem Grundstück, auf dem wir unser Haus bauen wollten. Die Arbeiten hatten noch nicht begonnen, erst in ein paar Monaten würde es so weit sein. Ich setzte mich auf ein ausgeblichenes Badetuch unter eine Sägepalme am Rande des salzigen Marschlands, um eine Liste zu verfassen: hundert Dinge, die ich vor meinem Tod noch erleben will. An oberster Stelle standen ein Zehn-Kilometer-Lauf und eine Heißluftballonfahrt über der Toskana, obwohl ich nicht gern laufe und keinerlei Lust auf einen Flug mit einem Heißluftballon verspürte. Ich blätterte um.
Ich begann über mein Älterwerden zu schreiben, über die Beklommenheit, die dieser Prozess in mir auslöste. Über die kleinen, verräterischen »Vertrauensbrüche« meines Körpers, über die beunruhigende Flaute in meiner schriftstellerischen Tätigkeit, begleitet von der Sehnsucht nach einer ungelebten Bestimmung. Ich schrieb über die quälenden, sprunghaften Gefühle, die mich heimsuchten, über mein Bedürfnis, auszumisten und umzuziehen, über den Drang, mein Leben radikal zu vereinfachen, damit sich eine neue, unbekannte Bedeutung herauskristallisieren konnte. Und warum, fragte ich mich, denke ich zum ersten Mal über meine eigene Sterblichkeit nach? Manchmal höhlte mir der Gedanke an den Tod schier das Herz aus, sodass mir beim Anblick all der kleinen, alltäglichen Gegenstände, die mir fehlen würden, Tränen in die Augen stiegen.
Schließlich notierte ich eine Reihe von Fragen.
Gibt es eine Odyssee, die die weibliche Seele durchmachen muss, wenn sie auf die fünfzig zugeht? Eine Odyssee, die in unserer heutigen Kultur, in der seelische Belange erschreckend wenig Beachtung finden, ausgeblendet wurde, ja, in Vergessenheit geraten ist? Und wenn dem so wäre, um welche Art von Reise müsste es sich handeln? Wohin würde sie mich führen?
Aus diesen Fragen heraus entstand der Impuls, nach Griechenland zu reisen. Er erfasste mich, ehe ich in die winzige Wohnung zurückkehrte. Griechenland.
Griechenland würde das Tor bilden. Ich wollte eine Pilgerreise antreten, auf der Suche nach einem Neuanfang.
Als ich einige Tage später in einer kleinen Anthologie blätterte, stolperte ich über die folgenden vier Zeilen von May Sartons Gedicht When a Woman Feels Alone:
Alte Frau, ich begegne dir tief in meinem Inneren.Dort, im Schoß der Fruchtbarkeit,Unendliche Welt, wie die Legende es überliefert.Unter den Worten bist du mein Schweigen.
Ich las sie ein halbes Dutzend Mal. Die Strophe betörte mich, saugte sich wie eine Napfschnecke an mein Herz. Das Bild der Alten Frau verfolgte mich, genau wie die Vorstellung, dass eine Begegnung stattfinden musste, im »Schoß« einer neuen Fruchtbarkeit. Wer war diese Alte Frau, der ich tief in meinem Inneren begegnen musste? Manchmal erwachte ich mitten in der Nacht und grübelte über sie nach. Über ihre dunkle Fruchtbarkeit. Über das Schweigen unter den Worten.
Als ich 1993 zu meiner ersten ²Griechenlandreise aufgebrochen war, hatte ich auf die erste Seite meines Reisetagebuchs ein Zitat des Theologen Richard Niebuhr geschrieben: »Pilger sind Poeten, und ihre Reisen sind ihre Poesie.« Diese Worte notierte ich in dem neuen roten Tagebuch. Was ich anstrebte – was ich zumindest von ganzem Herzen anzustreben versuchte -, war, in mir eine neue Dichtung entstehen zu lassen: eine Art spirituelle Verkörperung der Alten Frau, nicht in Form von Worten, sondern durch die auf Reisen gewonnenen Erkenntnisse.
Ich stellte mir vor, dass die Reise auch für Ann eine Pilgerfahrt sein würde. Sie hatte beinahe eineinhalb Jahre zuvor eine Studienfahrt nach Griechenland unternommen und sich in das Land verliebt. Die Reise war das perfekte Geschenk zum College-Abschluss, aber ich fragte mich, ob die Rückkehr nach Griechenland womöglich auch für Ann eine Art Initiationsritus werden würde. Sie war im Begriff, das Mädchenalter offiziell hinter sich zu lassen und eine junge Frau zu werden – eine weitere Schwelle, die weder genau definiert noch allgemein anerkannt ist -, und sie hatte in letzter Zeit einen eingeschüchterten Eindruck gemacht. Nicht, dass wir ausführlich darüber gesprochen hätten. Als ich mich nach dem Grund erkundigte, meinte sie, es sei alles bestens. Doch auf dem Flug hierher, in den Stunden, in denen sie neben mir saß und aus dem ovalen Fenster oder in den Skymall-Katalog oder auf den Bildschirm über uns starrte, auf dem laufend Filme gezeigt wurden, verströmte sie eine Traurigkeit. Es war, als würde sie undeutliche Morsezeichen aussenden, Punkt- und Strichkombinationen, die von einem heimlichen Kummer zeugten.
Mir wurde bewusst, dass wir womöglich beide gerade eine Krise durchlebten. Der Begriff Krise wird erstens definiert als entscheidende Phase oder Wendepunkt und zweitens als unsichere oder riskante Situation. Zumindest stand Ann etwas orientierungslos am Beginn ihres Daseins als Frau, während mir der Anfang vom Ende dieser Phase zu schaffen machte.
Jetzt jedoch sitze ich auf einer Museumsbank und denke überrascht über meine neueste Erkenntnis nach. Darüber, dass ich unsere Reise nach Griechenland monatelang als Pilgerfahrt betrachtet habe, bei der es um das Überschreiten einer Grenze, um das Vordringen in unbekannte Regionen der Seele geht. Um die Begegnung mit der Alten Frau. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass es auch um die Beziehung zwischen Mutter und Tochter gehen würde. Um Ann und mich. Um uns.
Ich verfolge, wie Ann ihr Teleobjektiv auf Persephones Gesicht einstellt, dem ein Teil der Nase fehlt. Wenn ich Ann beschreiben müsste, käme mir als Allererstes das Wort »intelligent« in den Sinn. Ihre Intelligenz war jedoch nie nur eine besondere rationale Auffassungsgabe, sondern sie hatte stets kreative, originelle Züge. Während andere Achtjährige eifrig Limonade verkauften, erteilte Ann an ihrem Stand »Ratschläge für Menschen mit Problemen«. Fünf Cent für kleine Probleme, zehn für große. Sie verdiente sich damit eine goldene Nase.
Auf der anderen Seite muss angemerkt werden, dass Anns herausragendste Eigenschaft ihr freundliches Gemüt ist. Und zwar nicht im Sinne von Höflichkeit, sondern vielmehr Herzensgüte. Schon als Kind echauffierte sie sich über Tierquälerei, fand selbst den Gedanken, ein Käfer könnte zerquetscht werden, unerträglich und bestand darauf, dass wir sämtliche Insekten mit der Kehrschaufel ins Freie beförderten. Sobald sich ihr einfühlsames, ungestümes Herz einmal für etwas erwärmt hatte, hegte sie eine große Leidenschaft dafür, ob es nun Käfer, Hunde, Pferde, Bücher, Puppen, Comics oder Filme waren, die Umweltschutzbewegung, Hello Kitty oder Star Wars.
Die Liste ihrer Passionen wurde laufend überarbeitet, davon zeugen die unzähligen Gedichte und Geschichten, mit denen sie von Kindesbeinen an unablässig ein Schulheft nach dem anderen füllte.
Das Einzige, das sie seit jeher in ihrem Enthusiasmus bremste, ist ihre zweite dominierende Eigenschaft, nämlich ihre angeborene Zurückhaltung, die nicht selten in Verunsicherung umschlug.
Die Arme vor dem Bauch verschränkt, wende ich den Blick von ihr ab, spähe in den Raum, den wir gerade verlassen haben und der wie dieser hier einem vor Skulpturen und Mythen überquellenden Fundbüro gleicht. Ich verspüre den völlig absurden Drang zu weinen.
Das Gefühl des Verlusts traf mich nicht ganz unangekündigt, bislang jedoch war es lediglich ein im Hintergrund vorbeihuschender Schatten gewesen, der sich meist rasch wieder verflüchtigt hatte. Nachdem Ann ausgezogen war, ging ich hin und wieder in ihr Zimmer und öffnete den Schrank, um den Duft nach getrockneten Anstecksträußchen zu schnuppern, oder ich drehte das alte Foto von unseren Beagles um und starrte auf Anns Handschrift auf der Rückseite: »Caesar und Brutus 1990«. Einmal fiel mir ihr Gedicht Ode an einen Teddybär in die Hände, ein andermal blätterte ich in einem Kochbuch, in dem sie am Rand eine ihrer detailgenauen Pferdekopfskizzen hinterlassen hatte. In solchen Augenblicken hatte sich diese Finsternis bereits abgezeichnet.
Ich sage mir, es ist ganz natürlich, dass diese Emotionen jetzt an die Oberfläche steigen, da wir in der Gegenwart der anderen gefangen sind, aneinandergekettet, wie wir es schon seit … nun, seit einer Ewigkeit nicht mehr waren. Einmal, als Ann zwölf war, sind wir nach San Francisco gefahren, nur wir zwei, doch das lässt sich wohl kaum mit dieser Reise vergleichen. Mit zwölf war Ann vier Jahre lang nicht von zu Hause weg gewesen, und in dieser Zeit hatte sie sich in eine junge Lady verwandelt, die ich inzwischen kaum wiedererkenne.
Sie hat ihren Rucksack auf den Boden plumpsen lassen, und dort steht er nun, offen, zwischen ihren Füßen, während sie von einem Schild, das seitlich an dem Halbrelief angebracht ist, etwas in ein blaues Spiralnotizbuch abschreibt. Mir ist nicht entgangen, dass Demeter und Persephone ihre Aufmerksamkeit erregt haben.
Wir sind bereits an ein paar Tausend Antiken vorbeigelaufen, wenn nicht mehr. Fresken aus Santorin, Gold aus Mykene, Bronzestatuen aus Attika, Töpferware aus sämtlichen Ecken und Winkeln des historischen Griechenlands, aber genau hier, vor dem Flachrelief von Demeter und Persephone, an der Schnittstelle zwischen Müttern und Töchtern, habe ich Ann mitgeteilt, dass ich eine Pause brauche, weil meine armen, gepeinigten Füße streiken.
Ich schlendere zu der in Marmor gehauenen Darstellung der beiden sich gegenüberstehenden Frauen in griechischen Gewändern. Der Mythos, der sich um sie rankt, ist mir bekannt.
Persephone pflückt Blumen auf einer Wiese, als sich plötzlich die Erde auftut und Hades, der Gott der Toten, erscheint, der das Mädchen in die Unterwelt entführt. Persephones Mutter Demeter, die mächtige Göttin des Getreides, der Ernte und der Fruchtbarkeit, macht sich mit einer Fackel auf die Suche nach ihrer Tochter, kann sie aber nicht finden. Nach neun Tagen vergeblichen Forschens wendet sich Hekate, Göttin der Wegkreuzungen und des dunklen Mondes und zugleich Inbegriff der ehrwürdigen Greisin, an sie und berichtet ihr von Persephones Entführung.
Darauf vernachlässigt Demeter, von Gram und Zorn erfüllt, ihre göttlichen Pflichten, sodass die Ernten verdorren und die Erde zum Ödland verkommt. Als alte Frau verkleidet begibt sie sich in die Stadt Eleusis, wo sie sich verzweifelt an einem Brunnen niederlässt. Zeus versucht, sie zur Vernunft zu bringen. Hades werde einen guten Schwiegersohn abgeben, sagt er, sie solle nicht mehr traurig sein und die Früchte der Erde wieder gedeihen lassen. Doch Demeter will nichts davon wissen.
Bald steht es so schlecht um die Erde, dass Zeus aufgibt und die Rückkehr der Persephone zu ihrer Mutter befiehlt. Ehe Persephone von Hades Abschied nimmt, verzehrt sie jedoch nichtsahnend einige Granatapfelsamen, woraufhin sie dazu verdammt ist, künftig ein Drittel des Jahres in der Unterwelt zu verbringen.
Am ersten Frühlingstag werden Mutter und Tochter wieder vereint, ein Ereignis, bei dem interessanterweise auch Hekate zugegen ist, die der Sage nach Persephone fortan auf Schritt und Tritt begleitet. (Ein merkwürdiges Detail am Rande, das kaum je Beachtung findet.) Als Demeter von den verhängnisvollen Granatapfelkernen erfährt, ist ihre Freude zunächst getrübt, doch sie beendet ihr Wehklagen und gestattet der Erde, wieder zu grünen. Schließlich ist ihre Tochter zurückgekehrt, wenngleich Persephone nach dieser Erfahrung kein unschuldiges Mädchen mehr ist, das auf den Wiesen Blumen pflückt. Sie hat sich in eine Frau verwandelt.
Später erfuhr ich, dass es für die Wiedervereinigung von Mutter und Tochter eine Bezeichnung gibt: Die Griechen nennen sie Heuresis.
Ich krame in meiner Tasche nach dem Stadtplan, breite ihn auf der Bank aus und suche Demeters Tempel. Er befindet sich an einer uralten Stätte namens Eleusis, die in einem Industriegebiet etwas außerhalb des heutigen Athen liegt. Ich spiele mit dem Gedanken, ihrem Heiligtum einen Besuch abzustatten, ehe wir Griechenland verlassen. Nachdem ich den Plan wieder in meiner Tasche verstaut habe, erhebe ich mich, um Ann zu folgen, die im nächsten Flügel verschwunden ist.
Gebt mir meine Tochter zurück.
Ich entdecke Ann im Museumsshop, an einem Ständer mit Ansichtskarten. In der Hand hält sie eine Postkarte, die eine Statue der Göttin Athene zeigt.
»Ist sie nicht wunderschön?«, fragt Ann und hält sie mir hin. Dann kramt sie in ihrer Handtasche nach den Drachmen, gegen die wir am Flughafen unsere Dollars eingetauscht haben.
Einige Minuten später treten wir hinaus ins gleißende Sonnenlicht, schweigend, vielleicht auch geschockt angesichts der Hitze und der plärrenden Autohupen. Als wir vorhin das Hotel verließen, hatte es vierzig Grad Celsius. Es fühlt sich an, als würden wir durch Pudding waten. Der Hochsommer in Athen ist nichts für Zartbesaitete, aber ich liebe es, wie er sich in die Straßen ergießt – die zahllosen Marktstände auf den Bürgersteigen, die förmlich überquellen vor Aprikosen, Loquats, Nektarinen und Melonen, die knallig pinkfarbenen Bougainvilleen, die sich wie Sonnensegel über die Straßencafés spannen, die von Weinranken überzogenen weißen Wohnhäuser.
Wir schleppen uns einige Häuserblocks dahin auf der Suche nach einem Taxi. Die Rettung naht an der Kreuzung der Straßen Voulis und Ermou in Form eines Mercedes Benz mit Klimaanlage. Ann und ich fächeln uns auf dem Rücksitz mit den Lageplänen des Museums Luft zu. Beim Aussteigen bitte ich den Fahrer um seine Karte.
In unserem Zimmer scherzen wir darüber, auf dem Altar der Klimaanlage ein Opfer darzubringen. Wir bestellen beim Zimmerservice und essen griechischen Salat, eine Konstruktion aus Feta, Tomaten- und Gurkenscheiben, die an den schiefen Turm von Pisa erinnert. Danach ziehen wir die Vorhänge zu und gehen sofort ins Bett. Es ist halb vier Uhr nachmittags.
Ich liege in meinem schmalen Bett, starre auf den Lichtstreifen unter dem Vorhang und grüble über meine Beziehung zu meiner Tochter nach. Mir kommen Begriffe wie »innig«, »unproblematisch«, »auf derselben Wellenlänge« in den Sinn. Es ist keines dieser explosiven Verhältnisse, die am Ende so oft und gern in Büchern breitgetreten werden.
Natürlich war auch bei uns nicht immer alles eitel Wonne. Man denke nur an die Phase gemäßigter Rebellion, die Ann mit vierzehn durchlebte – eine Zeit, in der des Öfteren mit Türen geknallt wurde. Abgesehen davon gab es die typischen Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten. Ich vermute, wir haben uns wie so viele Mütter und Töchter den klassischen Kampf geliefert: die Mutter, die versucht, ihre Tochter loszulassen, und sie dennoch als Teil ihrer selbst betrachtet, und die Tochter, die sich, dem Einfluss der Mutter unterworfen, genötigt fühlt, sie zufriedenzustellen und ihrem Vorbild nachzueifern, zugleich jedoch bemüht ist, eine eigene Identität zu entwickeln.
Zum überwiegenden Teil war unsere Beziehung allerdings geprägt von Herzlichkeit. Ich würde sogar behaupten, in Anbetracht der natürlichen Zwänge, denen heranwachsende Mädchen und ihre Mütter ausgesetzt sind, standen wir uns nahe. Und doch habe ich nun das Gefühl, dass sich meine Beziehung zu Ann hauptsächlich an der Oberfläche abspielt. Es fällt mir schwer, die Distanz zwischen uns zu beschreiben. Wir reden miteinander, aber nicht über essenzielle Themen. Es ist, als befände sich unser Verhältnis in einem seltsamen Übergangsstadium. Unsere Rollen waren lange genau definiert als Mutter und Tochter, als Erwachsene und Kind. Doch jetzt, da Ann das College verlassen hat, scheinen wir beide zu ahnen, dass sich diesbezüglich ein Ende abzeichnet. Sie verändert sich und ich ebenfalls, aber wir wissen nicht so recht, wie wir diesen Wandel auf die Gesprächsebene umlegen sollen. Wie wir unsere Verbindung entsprechend umgestalten sollen.
Ansatzweise fühle ich mich verantwortlich für diese wachsende Distanz zwischen uns. Ich wälze mich im Bett herum und sinne über ihre Zeit am College nach, in der sie sich in jene junge Frau verwandelt hat, die ich kaum kenne. Ich war damals sehr mit einem Buchprojekt beschäftigt und bemerkte kaum, dass sie weg war. Ihr Auszug von zu Hause stellte kein Problem dar – jedenfalls nicht im mütterlichen Schützengraben, wo diese Schlachten im Allgemeinen geschlagen werden. Und damit nicht genug, ich war sogar stolz darauf. »Ich weiß gar nicht, warum alle so ein Drama darum machen, wenn die Kinder flügge werden. Ich finde es eigentlich wunderbar«, behauptete ich meinen Freundinnen gegenüber leichthin.
Im Nachhinein betrachtet schwingt in diesen Worten ein selbstgefälliger Unterton mit: Seht her, ich bin immun, ich habe nämlich mein eigenes Leben, gesondert von meinem Mutterdasein, eine Karriere. Ich kann meine kreative Begeisterung ausleben, und ich befinde mich auf einer spirituellen Wanderschaft. Ann war mir mit Fug und Recht entführt worden, und zwar von ihrem Leben, und ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um mich damit auseinanderzusetzen und herauszufinden, was es bedeutete – was es bedeuten sollte.
Ich richte mich auf. Ann schläft tief und fest.
Auf Zehenspitzen schleiche ich zu meinem Koffer, nehme mein Tagebuch heraus und husche damit zurück ins Bett, wo ich die Gedankenströme aufzeichne, die im Museum ihren Anfang genommen haben. Dann schlummere ich ein und habe einen Traum.
Ich stehe in meiner Küche am Herd und rühre in einem Topf. Als ich mich umdrehe, klafft rätselhafterweise mitten im Fußboden ein großes, gähnendes, zerklüftetes Loch, wie nach einem Erdbeben. Ich starre in die Dunkelheit hinab, und mir wird mit erschreckender Gewissheit klar, dass Ann in das Loch gefallen ist. Ich sinke auf die Knie und rufe ihren Namen in die Finsternis hinunter, immer wieder, bis mir die Stimme versagt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Schließlich suche ich eine Taschenlampe, um in das Loch hineinzuleuchten.
Als ich erwache, ist meine Kehle ausgetrocknet und schmerzt. Ich schlage die Laken zurück, gehe um das Bett herum und betrachte meine schlafende Tochter. Ich habe noch immer ein wenig Herzklopfen und kann kaum fassen, dass der Mythos jetzt sogar in die privaten Sphären meiner Träume vorgedrungen ist.
Seit zwölf Jahren schreibe ich nun schon meine Träume auf. Sie sind für mich Momentaufnahmen, die vom Boden eines geheimnisvollen Gefäßes heraufgeschwemmt werden, metaphorische Manifestationen der Vorgänge in meinem Inneren. Zuweilen deuten die Bilder an, wohin meine Seele mich führen will, manchmal auch, wovon sie mich fernhalten will. Sie liefern mir Anregungen und Hilfe bei allfälligen Entscheidungen. Für mich hat die Seele keine unsterbliche Qualität, wie allgemein angenommen wird. Vielmehr verkörpert sie für mich das reiche Innenleben der Psyche, deren ureigenster Impuls es ist, nach Ganzheit zu streben.
Im Gegensatz zu den meisten meiner Träume ist dieser nicht sonderlich rätselhaft. Der Zusammenhang mit dem Mythos ist so offensichtlich, als wollte sich mein Traum-Choreograph bewusst gnädig zeigen, um sicherzustellen, dass ich auch wirklich verstehe, worum es geht.
Ich finde es interessant, dass sich das Loch, in das Ann gefallen ist, im Küchenboden befindet. Schließlich ist die Küche einer der Räume im Haus der Psyche, mit denen man weibliche Fürsorglichkeit assoziiert. Für mich ist die Küche gleichbedeutend mit Feuerstelle, sprich, sie ist das symbolische Zentrum, das Herzstück. Es ist fast, als würde der Traum ein Loch in meinem Herzen bloßlegen.
Ich frage mich, ob mein Auf-die-Knie-Sinken, meine Hilflosigkeit und mein Kummer im Traum auf den Niedergang meiner bisherigen Beziehung zu Ann hindeuten. Ann, Ann, Ann. Im Traum rufe ich den Namen meiner Tochter, als hätte ich mich in die in größter Verzweiflung wehklagende Demeter verwandelt. Gegen Ende des Traumes bin ich verwirrt, dann folgt ein Hinweis darauf, was zu tun ist: eine Taschenlampe suchen. Mit anderen Worten: Erleuchtung, ein neues Bewusstsein erlangen – eine gänzlich unsubtile Anspielung auf Demeter, die in der Sage eine Fackel entzündet.
Acht Jahre vor diesem Traum, der die zunehmende Entfremdung zwischen Ann und mir versinnbildlicht, hatte ich ein Erlebnis, das ebenfalls eine kleine Explosion in meinem Leben verursachte. Auch damals war meine Tochter mit im Spiel. Eines Nachmittags betrat ich den Drogeriemarkt, in dem Ann nach der Schule jobbte, und sah sie vor einem Regal knien, das sie mit Zahncremetuben bestücken musste. Sie war vierzehn. Kaum hatte ich sie erblickt, bemerkte ich zwei Männer, die neben ihr stehen blieben. Der eine stieß den anderen an und sagte etwas, das meine Welt gehörig erschütterte: »So sehe ich eine Frau am liebsten – auf Knien.« Der andere Mann lachte.
Ich beobachtete den Ausdruck, der über Anns Gesicht huschte, als sie den Kopf hob. Später sollte ich diesen Augenblick frei nach Kafka als »Axt für das gefrorene Meer in mir« bezeichnen. Ann war in diesem Moment für mich weit mehr als meine Tochter. Sie war meine Mutter, meine Großmutter und ich in Personalunion. Sie war viele Töchter zugleich. Zitternd vor Wut baute ich mich vor den beiden Männern auf. »Das ist meine Tochter…«, fauchte ich. Sie hatten Demeters Zorn geweckt.
Damals war mir nur vage bewusst, dass ich selbst auf den Knien lag und darum rang, mir meine weibliche Seele zurückzuerobern.
Nach dieser Begebenheit ging ich auf Kollisionskurs mit der patriarchalischen Ausrichtung meiner Kirche, meiner Glaubenstradition, meiner Kultur, meiner Ehe und, was am erhellendsten war, meiner selbst. Ich begab mich auf die Suche nach der weiblichen Dimension Gottes und läutete eine spirituelle Umwälzung ein. Mein altes Leben löste sich auf, an seine Stelle trat ein neues Leben in einem neuen Bewusstsein.
Ich beschrieb all diese Erfahrungen in meinem Buch The Dance of the Dissident Daughter, zu deutsch etwa »Der Tanz der abtrünnigen Tochter«, das 1996 herauskam, nur wenige Jahre vor dieser Reise. Während ich ins Bad tappe und mir das Gesicht wasche, denke ich über diesen Wendepunkt in meinem Leben nach, und über das Buch. Eine Textstelle daraus bahnt sich einen Weg in mein Bewusstsein … über eine ganz bestimmte Melodie der weiblichen Seele, deren Nachhall mich hartnäckig beharrlich in den Wachzustand versetzt hat.
Ich stehe im Hotelbadezimmer, betrachte mich im Spiegel über dem Waschbecken und kann mir nicht erklären, weshalb mir diese Gedanken jetzt kommen. Nun, vielleicht höre ich ja wieder die Melodie.
Ich kehre ins Zimmer zurück, ziehe meiner Tochter die Decke über die Schulter und stecke sie fest, als wäre Ann wieder sechs oder zehn oder vierzehn. Es ist ein Rückfall in alte Angewohnheiten, ein Ritual mütterlicher Fürsorglichkeit, das ich früher praktisch jede Nacht vollzogen habe. Ehe ich selbst zu Bett ging, stattete ich meinen beiden Kindern stets einen kurzen Besuch in ihrem Zimmer ab und sah zu, wie sie schliefen, vom Säuglingsalter an, bis sie Teenager waren und sich David Lettermans Show ansahen. Manchmal deckte ich sie im Rahmen dieses Rituals auch zu, manchmal nicht. Ich redete mir ein, es handle sich dabei um Kontrollbesuche, dabei waren es in Wahrheit kleine Dankesgebete meiner Liebe. Ich gestattete mir auf diese Weise, für einen Augenblick die Unermesslichkeit dessen zu spüren, was mein Herz empfand. Es waren Momente von einer innigen Zuneigung, wie ich sie in meinem Alltag als Mutter und Autorin angesichts von Konflikten und nervlicher Anspannung eher selten erlebte.
Möglicherweise verbindet mich mit Demeter ja mehr, als ich dachte. Ich hatte angenommen, ich würde mich eher in den Sphären der sogenannten »jungfräulichen« Göttinnen wie Artemis und Athene bewegen, deren Verkörperung des Weiblichen im Streben nach einem unabhängigen Selbst besteht. Sie sind diejenigen, die die Jagdbeute nach Hause bringen und sie in der Pfanne braten können. Bislang hatte ich von mir nie das Bild einer typischen Muttergottheit. Meine Kinder hatten zwar stets unangefochten oberste Priorität und standen im Mittelpunkt, sozusagen im Herd oder im Herzen meiner selbst. Aber ich lag im Clinch mit den gewaltigen Anforderungen des Mutterseins und grämte mich bisweilen, wenn sie dem Leben, das nur mir gehörte, in die Quere kamen; wenn ich nicht wusste, wie ich die Balance finden sollte zwischen der Mutterschaft und meinem damit unvereinbaren Bedürfnis nach Alleinsein und schöpferischem Ausdruck. Konnte es sein, dass ich der Mutterschaft auch einen geringeren Stellenwert beimaß?
In einer Galerie stieß ich einmal auf das Bildnis einer Madonna mit einem Säugling im Arm, die in der freien Hand ein aufgeschlagenes Buch hält. Ihr Blick ruht auf dem Kind, als hätte es sie gerade genötigt, sich von ihrer Lektüre loszureißen. Ihre Lider wirken schwer, in ihren Augen spiegeln sich Zärtlichkeit und Zuneigung, aber auch eine Spur Wehmut ob der Ablenkung, ein heimliches Verlangen nach den Seiten ihres Buches. Ich erkannte darin den Konflikt im Zentrum meiner Existenz: Baby oder Buch. Kinder oder Schreiben. Mutterschaft oder Karriere. Ich kaufte das Bild und hängte es gut sichtbar im Wohnzimmer auf. Insgeheim sympathisierte ich mit jener Madonna, die nach Selbstverwirklichung trachtet und sich dabei von den Bedürfnissen ihres Kindes gestört fühlt.
Meine eigene Mutter hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt und ist noch bei guter Gesundheit. Sie arbeitete eine Weile als Sekretärin in der Firma meines Vaters, verkörperte allerdings perfekt den Demeter-Frauentypus. Ich kann mich weder in meiner Kindheit noch später, als erwachsene Frau, entsinnen, dass sie jemals eine auch nur ansatzweise feministische Einstellung zum Ausdruck gebracht hätte. Das Bild, das sie in mir heraufbeschwört, ist nicht das der hin- und hergerissenen Madonna, sondern eindeutig das der Maria lactans, also der stillenden Muttergottes, die ihrem Kind zufrieden die Milch des Lebens darbietet. Ich fragte sie einmal: »Was wolltest du werden, als du ein kleines Mädchen warst?« »Mutter«, erwiderte sie, ohne zu zögern. Sie hat vier Kinder zur Welt gebracht, und falls sie je unzufrieden mit ihrem Leben als Mutter war, dann hat keiner von uns es je gespürt. Es lässt unzweideutige Rückschlüsse auf meine Mutter und mich, vielleicht auch auf unsere jeweiligen Generationen zu, dass sie den Preis als »Mutter des Jahres« erhielt, während ich die »Karrierefrau«-Plakette verliehen bekam. Ich habe meine Mutter stets verehrt, habe ihre opulente Mütterlichkeit förmlich aufgesogen. Und doch wollte ich mich von ihr differenzieren. Als ich in den sechziger Jahren an der Schwelle zum Erwachsenenleben stand, wusste ich, dass ich Mutter sein wollte. Ja, zweifellos. Aber anders.
Ich trete ans Fenster unseres Hotelzimmers und spähe durch einen Spalt zwischen den Vorhängen auf die andere Straßenseite hinunter zum Syntagma-Platz und dann zum griechischen Parlament etwas weiter östlich. Ich kann gerade noch die Präsidentengarde ausmachen. Ann hat mir vorhin erklärt, dass die kurzen weißen Röcke, die die Männer tragen, Fustanella genannt werden. Das hat sie bestimmt in einem Buch gelesen, vermutlich vor zwei Jahren. Ann vergisst nichts. Ihr Gedächtnis klickt wie eine Kamera, speichert jede Erinnerung, jedes winzige Detail. Weißt du noch, wie ich einmal mit drei Jahren am Strand beinahe auf eine Qualle getreten wäre? Du hattest einen roten Bikini an. Wenn ich eine derart minutiöse Beschreibung höre, starre ich sie an und denke: Was für ein roter Bikini? Was für eine Qualle?
Ein Schwarm Tauben flattert von einer Grünfläche des Platzes auf. Ich sehe ihnen nach und denke daran, dass Ann alles noch vor sich hat. Alles ist im Werden, über ihr der erhabene weiße Mond, der allmählich zunimmt, während mein Mond nun bald in die lange Phase des Abnehmens eintreten wird. Es ist ein perfider, erniedrigender Vergleich, der düstere Einblicke offenbart, innere Verstrickungen und Neid. Es ist eine erschreckende Wahrheit.
Mein Blick fällt auf mein Tagebuch auf dem Bett. Ich setze mich und notiere meinen Traum. Während ich beschreibe, wie ich auf die Knie falle, schwirren meine Gedanken zurück zum Museum, zu Anns kleiner Tanzeinlage mit der Kamera. Wie sie das Knie beugte, ehe sie auf den Auslöser drückte, erinnerte mich an etwas, aber ich konnte mich nicht entsinnen, was es war. Vielleicht hat mich die Szene ja an meine vierzehnjährige Tochter erinnert, die im Drogeriemarkt kniete?
Plötzlich eröffnet sich mir eine neue Interpretationsmöglichkeit des Traums. Genau wie ich mich damals in Ann wiedererkannte, die vor dem Regal im Drogeriemarkt kauerte, erkenne ich mich nun in der Tochter wieder, die durch den Spalt im Küchenboden verschwunden ist. Der Traum handelt zwar von Ann und mir, aber er ist auch eine Momentaufnahme von mir angesichts meines unmittelbar bevorstehenden fünfzigsten Geburtstags – verstört vom drohenden Verlust meines jüngeren Selbst, dem drohenden Verlust der anderen Persephone, deren Entführung sich bereits abzeichnet.
Persephone ist die Quelle der regenerativen Energie, die Dylan Thomas die »grüne Kapsel« der Seele nannte: das klare, unsichtbare Mark in meinem Inneren, die Kraft, die nach dem fünfzigsten Geburtstag ihre Wirkung entfalten muss. Doch wie genau das vor sich gehen soll, das weiß ich nicht.
Gänzlich unerwartet sehe ich auf einmal das Gesicht meiner Mutter vor mir, und mir dämmert, dass ich nicht nur Demeter auf der Suche nach Persephone bin, sondern auch Persephone auf der Suche nach Demeter.
Ich schickte meiner Mutter ein Exemplar von The Dance of the Dissident Daughter, nachdem es erschienen war. Es dauerte zwei Monate, bis sie sich dazu äußerte. Ich wusste nicht, was ich von dieser Verzögerung halten sollte, obwohl ich mir lebhaft vorstellen konnte, dass die abenteuerliche Reise, die ich in dem Buch beschreibe, befremdlich auf sie wirken musste. Seltsamerweise hat mich genau das beim Schreiben des Buches am meisten beschäftigt – nicht die Tatsache, dass ich einer ganzen religiösen Tradition den Kampf ansage, sondern wie wohl meine Mutter unten in Georgia darauf reagieren würde.
Dann kam ein Brief von ihr. Meine Mutter schreibt mir sonst nie Briefe. In dem Brief berichtete sie von ihrem Leseerlebnis. Sie schrieb, mein »Tanz der Abtrünnigen und meine Suche nach mir selbst« seien für sie anfangs schwer nachzuvollziehen gewesen, doch sie habe die Wahrhaftigkeit dahinter gespürt. Ihre Schlussworte habe ich mir eingeprägt: »Ich bin jetzt fünfundsiebzig Jahre alt«, schrieb sie, »und ich denke ständig, dass ich gut auf meine Gesundheit achtgeben muss, damit ich möglichst alt werde. Oh, Sue, ich will auf keinen Fall den ›Tanz‹ verpassen.«
Ich muss den Tatsachen ins Auge blicken und mir eingestehen, dass ich die Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ. Mein Verhältnis zu meiner Mutter war, genau wie das zu meiner Tochter, seit jeher sehr harmonisch, von diversen unvermeidlichen Querelen einmal abgesehen. Es ist von Zuneigung und geistiger Eintracht geprägt, und doch wünsche ich mir auch eine innigere Verbindung mit meiner Mutter.
Ann
Akropolis, Athen
Auf dem Weg zur Akropolis hinauf bleibt Mom mit ihrem Reiseführer in der Hand alle fünf Minuten stehen, um etwas in der Ferne zu bestaunen – den Tempel des Olympischen Zeus, das Dionysostheater, den Musenhügel. Sie hat sich ein in rotes Leder gebundenes Tagebuch unter den Arm und einen Stift zwischen die Zähne geklemmt, und als sie fragt: »Ist da der Berg der Nymphen?«, klingt es, als würde sie »Werg der Lymphe« sagen.
»Ja, der Werg der Lymphe«, bestätige ich lachend.
Als wir gestern aus dem Archäologischen Nationalmuseum kamen, war die Hitze derart unerträglich, dass wir nur noch ins Hotel zurückgefahren und gleich ins Bett gegangen sind. Heute ist es etwas besser, aber nicht viel. Ich spähe zur Hügelkuppe hinauf und versuche abzuschätzen, wie lange es noch dauern wird, bis wir oben angelangt sind. Ich habe es nicht eilig. Die Aussicht, wieder dort droben zu stehen, wühlt mich auf.
Ich war vor siebzehn Monaten schon einmal hier, eine einundzwanzigjährige Geschichtsstudentin auf Griechenland-Exkursion. Es war eine Erfahrung, die mich verändert hat. Dergleichen hört man ständig, das ist mir klar, aber ich war nach dieser Reise wirklich ein völlig neuer Mensch. Was als einfache Studienfahrt begonnen hatte, um ein paar Scheine fürs College zu machen, geriet unversehens zu einer Forschungsreise der völlig anderen Art. Am Höhepunkt meiner Selbstentdeckung befand ich mich auf der Akropolis. Ich nenne diesen Augenblick der Erkenntnis schlicht meinen Augenblick, weil ich keine Ahnung habe, wie ich ihn sonst nennen soll. Ich weiß nur, dass es mir so vorkam, als hätte jemand all die lose herunterhängenden Drähte meines zukünftigen Lebens zusammengeführt, und dabei war ein Funke übergesprungen, von dem ich damals annahm, er müsste bis in alle Ewigkeit erstrahlen. Als ich von der Akropolis herunterkam, hatte ich eine Vision, wie mein Leben verlaufen sollte. Ich hielt mein Schicksal in der Hand, und ein riesiges, loderndes Freudenfeuer wärmte mein Inneres.
Mittlerweile ist davon allerdings nicht mehr viel übrig. Meine Mutter ahnt von alledem nichts, und meine Gefühle im Zusammenhang damit sind derart verworren und von Schmerz geprägt, dass ich bislang selbst noch nicht in der Lage war, mich damit auseinanderzusetzen. Ich habe sie vorerst in einem finsteren kleinen Tresor tief in meiner Brust eingeschlossen. Während ich hinter Mom den Hügel hinaufstapfe, frage ich mich, wie lange ich wohl dort oben bleiben kann, ehe die Tresortür aufspringt und alles herauspurzelt.
Wir nähern uns dem Ziel, und auf den Stufen, die zu den Propyläen führen, staut es sich zusehends. Wir lassen uns weiterschieben im Strom der mit bunten Hüfttaschen bewehrten Massen, sind im Gedränge gezwungen, winzige Schritte zu machen. Als ich mich schließlich durch den Säulengang schiebe und einen Blick auf den Parthenon erhasche, der im Sonnenlicht erstrahlt und lange, symmetrische Schatten wirft, bekomme ich beinahe weiche Knie.
»Ich glaube, ich werde mich ein bisschen allein umsehen«, sage ich zu Mom, weil ich nicht will, dass sie bemerkt, wie traurig ich plötzlich bin. Sie mustert mich argwöhnisch, also füge ich hinzu: »So soll man es doch laut unserem Reiseführer machen.« Dort steht in der Tat ein ganzer Absatz darüber, dass man unbedingt einen Moment für sich sein sollte, um den Anblick des Parthenon auf sich wirken zu lassen.
»Natürlich«, sagt sie. »Gute Idee.« Sie entfernt sich ein, zwei Schritte, dann bleibt sie stehen und dreht sich noch einmal um. »Freust du dich, dass du wieder hier bist?«
Ich lächle sie an. »Na, was meinst du wohl?«
Mein ganzes Leben lang war ich das stille, glückliche Mädchen. Jetzt bin ich das stille Mädchen, das so tut, als wäre es glücklich. Jeder Tag Schauspielunterricht.
Während ich zur Westseite des Parthenon eile, werfe ich einen Blick über die Schulter und stelle fest, dass Mom in die entgegengesetzte Richtung unterwegs ist. Wem versuche ich hier eigentlich etwas vorzumachen? Sie weiß Bescheid.
Es ist nicht weiter schwierig, die dicke Marmorplatte ausfindig zu machen, auf der ich saß, als ich das letzte Mal hier war. Bis vor kurzem stand ein Foto davon auf meinem Schreibtisch. Die Platte ist lang und schmal, und wegen ihrer leichten Schieflage erinnert sie mich wie schon beim letzten Mal an ein Surfbrett, das gerade von einer Welle erfasst wurde.
Ich lasse mich darauf nieder. Der Marmor fühlt sich kühl an auf der nackten Haut meiner Beine.
Unmittelbar vor besagter Studienreise nach Griechenland rief mich mein damaliger Freund an und machte aus heiterem Himmel mit mir Schluss. Wir waren vier Jahre zusammen gewesen. Ich hatte angenommen, ich würde ihn heiraten.
»Du wirst einen anderen finden, und er wird der größte Glückspilz der Welt sein«, sagte er, wohl, weil er hoffte, das würde mich trösten. Der größte Glückspilz der Welt, soso. Und warum wollte er nicht dieser Glückspilz sein? So kam es, dass ich, statt mit Edding-Stift auf meinem Kalender die verbleibenden Tage bis zum Abflug zu streichen, statt Kosmetika in Reisegröße zu kaufen und Shirley Valentine und Alexis Sorbas zu gucken, geschockt und ungläubig auf dem blauen Sofa der Wohnung saß, die ich mir mit meiner besten Freundin Laura teilte. So muss es sich für einen Vogel anfühlen, wenn er im Flug gegen eine Fensterscheibe geprallt ist. Es folgte eine Phase heftigen Liebeskummers. Ich hörte auf, mir die Wimpern zu tuschen, und suchte Zuflucht in Vorlesungen, im Tratsch und Klatsch in der Cafeteria oder in den Folgen der geradezu grotesk unrealistischen, aber süchtig machenden Seifenoper Days of our Lives – Zeit der Sehnsucht, die im Aufenthaltsraum für die Studenten gezeigt wurden. Ich registrierte, wie sich mein Leben an der Routine rieb, am Leben meiner Mitmenschen, und fühlte mich dennoch seltsam isoliert von allem. Laura versuchte, mich aufzumuntern und mich wieder in den Alltag zurückzulocken.
Auf dem Gipfel dieses erbärmlichen Zustands rief ich meine Mutter an und äußerte Zweifel daran, ob ich noch nach Griechenland wolle. »Wozu soll ich um die halbe Welt fliegen, um dort einsam zu sein, wenn ich genauso gut hier einsam sein kann?«, fragte ich sie, was natürlich jeglicher Vernunft entbehrte.
Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, mit meinem gebrochenen Herzen durch Griechenland zu fahren. Dass ich zudem die Vorstellung, mit lauter Mädchen unterwegs zu sein, die ich kaum kannte, reichlich beunruhigend fand, behielt ich für mich. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich ein introvertierter Mensch bin. Es bedeutet lediglich, dass ich von Natur aus dazu neige, meine »Energie« aus dem Inneren zu schöpfen, statt sie außerhalb zu suchen. Außerdem ist meine Mutter ebenfalls introvertiert, wie viele andere ganz normale Menschen. Das Problem ist, dass ich zusätzlich schüchtern bin. Und es ist allgemein bekannt, wie sehr die Welt Menschen liebt, die schüchtern und introvertiert sind. Diese Kombination begleitet mich auf Schritt und Tritt, ähnlich wie der Schmutzfink Pigpen von den Peanuts auf Schritt und Tritt von einer Staubwolke begleitet wird. Es gab nur eines, das ich noch beklemmender fand, als mit vierzig Kommilitoninnen auf Reisen zu gehen, nämlich die Frage, worüber ich mit ihnen reden sollte.
Mom bekundete ihr Mitgefühl, dann sagte sie: »Ich kann mir vorstellen, wie schwierig das für dich sein muss, Ann, aber ich habe den Verdacht, dass du es später bereuen könntest, wenn du nicht fährst. Überleg es dir, ja?«
Kaum hatte sie es ausgesprochen, da war mir klar, dass es stimmte – ich würde es mein Leben lang bereuen, wenn ich absagte. Es war typisch Mom, mir die Wahrheit vor Augen zu führen, die Entscheidung jedoch mir zu überlassen. Mom erteilt so gut wie nie unaufgefordert Ratschläge, und genau deshalb höre ich normalerweise auf sie, wenn sie es doch einmal tut.
Also fuhr ich mit.
Im Flugzeug hatte ich eine ganze Sitzreihe für mich, und irgendwo über dem Atlantik beobachtete ich, wie etwas weiter vorn ein paar Mädchen aus unserer Gruppe eine Party steigen ließen, mit nichts weiter als einer Packung Jelly Beans und einem Cosmopolitan-Quiz. Von da an nannte ich sie die Fungirls.
Ich nahm mir vor, wenigstens eine fleißige Studentin zu sein, wenn ich schon kein Fungirl sein konnte.
Im gecharterten Bus nach Delphi – unsere erste Station auf der Reise – hatte ich (wieder) keine Sitznachbarin. Also breitete ich Karten und Bücher neben mir aus und machte mir ausführlich Notizen, während unsere griechische Reiseführerin Kristina referierte: »Delphi befindet sich an einem zerklüfteten Steilhang des Parnass und war nicht nur über Jahrtausende eine Pilgerstätte, sondern für die alten Griechen sogar der Nabel der Welt.«
Die Menschen kamen in Scharen herbeigeströmt, um das Orakel von Delphi zu befragen, bei dem es sich um eine Priesterin des Apollon handelte, die – vermutlich durch »Dämpfe«, wie Kristina bemerkte -, in einen tranceartigen Zustand versetzt, die drängendsten Fragen der Besucher beantwortete.
»Durch Dämpfe? So wie die Klebstoff-Schnüffler?«, wollte eines der Fungirls wissen.
Kristina nickte.
Was auch immer den tranceartigen Zustand der Priesterin verursacht hat, sie scheint etwas von ihrem Handwerk verstanden zu haben. Sie prophezeite Ödipus, dass er seinen Vater ermorden und seine Mutter ehelichen würde, und wir wissen alle, wie die Geschichte ausging. Ich kam zu dem Schluss, dass ich mich eingereiht hätte in die langen Schlangen der Pilger, um zu hören, was die Priesterin über meine Zukunft zu sagen hatte. Wird mich jemals wieder jemand lieben? Werde ich je meine Verschlossenheit, meine Zaghaftigkeit überwinden? Was soll ich mit einem Bachelor in Geschichte anfangen? Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.
Wir stiegen aus dem Bus und folgten der Heiligen Straße hinauf zum Tempel des Apollon. Es war März. Kalte, kompakte Nebelschwaden hingen tief über unseren Köpfen. Ich schlenderte wie verzaubert an den weißen Ruinen vorüber, mit denen der gesamte Berghang übersät war. Auf halbem Weg begann es zu schneien, und die Flocken schwebten zwischen den Zypressen hindurch den wässrig blauen Silhouetten der umliegenden Berge entgegen. Ich drehte mich einmal im Kreis, versuchte, das alles in mich aufzunehmen, und spürte, wie etwas in mir aufsprang, wie eine winzige Blüte. Ich glaube, das war der Augenblick, in dem ich der Magie Griechenlands erlag und aufhörte, ständig über mein armes gebrochenes Herz nachzudenken.
Zu Hause am College hatte ich mich wochenlang mit griechischer Geschichte, Kultur, Kunst, Architektur und Mythologie beschäftigt, aber als ich dann vor Ort war, erschien mir all das mit einem Mal viel lebendiger und präsenter. Sie führten mir vor Augen, wie viel es noch für mich zu erleben und zu sehen gab, wie riesig alles war. In Griechenland zu sein gab mir das Gefühl, ebenfalls lebendig und präsent zu sein. Es kam mir so vor, als gäbe es Ereignisse, die mir nur hier widerfahren konnten.
Fröstelnd blickten wir zu der Stelle am Eingang des Apollon-Tempels, an der laut Kristina einmal die Inschrift ERKENNE DICH SELBST zu lesen war, und plötzlich ging mir ein Licht auf. Diese Aufforderung musste die verborgene Bedeutung des Orakels gewesen sein: Suche die Antwort in dir. Was, wenn das Orakel eine Metapher war, ein Symbol für eine innere Quelle der Erkenntnis?
Während ich mit den anderen Mädchen auf das Amphitheater zusteuerte, fragte ich mich, ob der Schlüssel zur Selbsterkenntnis wohl in mir zu finden war, und da kam mir ein Gedanke, der nur an einem Ort wie diesem entstehen kann.
Ich habe in der letzten Beziehung viel zu viel von mir aufgegeben.
Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber ich wusste, dass es den Tatsachen entsprach und dass es von größter Bedeutung war. Vielleicht, weil ich weit weg von zu Hause, von meiner gewohnten Umgebung war, mehr oder weniger zum ersten Mal in meinem Leben allein. Ich hatte quasi eine erste Verabredung mit mir selbst, was mir ein leichtes Unbehagen verursachte. In meiner Beziehung hatte ich gewusst, wer ich war. Ich hatte viel Zeit in meine Rolle als Freundin investiert, hatte mich jahrelang angepasst und versucht, den mutmaßlichen Vorstellungen meines Exfreundes zu entsprechen, hatte als sein Jupitermond friedlich meine psychologischen Bahnen gezogen. Doch in der Zurückgezogenheit und Ruhe, die die Griechenlandreise mit sich brachte, wurde mir bewusst, dass ich mich verloren hatte.
Nachts im Hotel Amalia in Delphi erwachte ich mehrere Male und spürte, dass es am Wahrheitsgehalt dieser Erkenntnis nichts zu rütteln gab. Außerdem verspürte ich Sehnsucht. Sehnsucht nach mir selbst.
Tags darauf folgten wir einem Kiesweg zu einer kleinen kreisrunden Ruine, die Tholos genannt wird und ursprünglich als Tempel für Athene errichtet worden war. Die Form gab den Archäologen Rätsel auf. Man weiß bis heute nicht, wozu der Tempel diente. Alle vierzig wagten wir nur noch zu flüstern, während wir begutachteten, was davon übrig war.
Um an der Reise teilnehmen zu dürfen, hatten wir im Vorfeld einige Arbeiten schreiben müssen, und in einer davon hatte ich mich mit der Göttin Athene auseinandergesetzt. Seither war ich von ihr fasziniert. In meiner Vorstellung trat sie vornehmlich als Kriegerin in Erscheinung, dabei war sie, ehe man sie mit Helm und Speer ausgestattet hatte, lange eine nährende Fruchtbarkeitsgöttin sowie eine Göttin der Weisheit und der Künste gewesen. Mich begeisterten beide Seiten an ihr, die kluge Ernährerin wie die unerschrockene Kämpfernatur. Das Attribut der Jungfräulichkeit umfasste viel mehr als bloß die Tatsache, dass sie unverheiratet war. Es symbolisierte auch ihre Autonomie, ihre Fähigkeit, »sich selbst zu gehören«. Ich hatte in meiner Arbeit eine kurze Passage dazu verfasst, ohne zu ahnen, wie viel ich damit über mich verriet.
Inmitten von Marmorfragmenten entdeckte ich eine Tafel, auf der auf Griechisch und Englisch »Tempel der Athene« stand. Jemand hatte zwei gelbe Wildblumen daraufgelegt, deren Stängel sorgfältig miteinander verknotet waren. Eine Opfergabe für Athene. Ich war ganz sicher. In diesem Moment erkannte ich, dass Athene auch heute noch geliebt und verehrt wird. Die Zeit vergeht, die Welt dreht sich weiter, aber Athene und ihre Macht bestehen fort.
Ich ließ suchend den Blick über den Boden gleiten und hob dann einen der Kieselsteine auf, die zu Millionen auf dem Ausgrabungsgelände herumliegen. Den knetete ich ein Weilchen zwischen den Fingern, während ich Athene bat, mich mit den Eigenschaften auszustatten, für die sie verehrt wird – Weisheit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit.
Dann deponierte ich den Stein unauffällig neben den beiden gelben Blumen. Es sollte möglichst niemand bemerken, was ich tat, ich wollte nicht als schrullig abgestempelt werden. Sieh zu, dass du dich nie wieder verlierst, ermahnte ich mich.
Kurz darauf stand ich im nahe gelegenen Museum fasziniert vor dem Wagenlenker von Delphi, einer Bronzestatue aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, naturgetreu wiedergegeben bis hin zu den drahtigen Wimpern. Angeblich haben französische Archäologen wegen der Ausgrabungen ein ganzes Dorf geräumt. Eine alte Griechin weigerte sich standhaft, ihre Behausung zu verlassen, bis sie von einem eingeschlossenen jungen Mann träumte, der sie anflehte: »Befreie mich! Befreie mich!« Unter ihrem Haus wurde dann der Wagenlenker gefunden.
»Ob der wohl eine Freundin hat?«, scherzte eines der Fungirls, und ich lachte, obwohl ich ihre Frage nachvollziehen konnte. Der Knabe sah umwerfend aus. Das Weiß seiner Augen wirkte unglaublich echt, und seine Lippen umspielte der Ansatz eines Lächelns. Kristina erklärte, die Darstellung zeige ihn unmittelbar nach seinem Sieg im Wagenrennen, auf dem Gipfel des Triumphs, und die ersten Anzeichen seines Jubels sind – in Bronze gegossen – auf ewig für die Nachwelt festgehalten. Als ich ihm und Delphi, dem Nabel der Welt, den Rücken kehrte, glaubte ich, den Klang seiner Stimme tief in mir zu spüren. Befreie mich, befreie mich.
Als uns Kristina einige Tage später allerdings im antiken Stadion in Olympia zu einem Wettlaufen antreten ließ, hörte ich lediglich die panischen Ausflüchte meines Selbstbewusstseins. Um uns wimmelte es von Touristen. Das ist doch kindisch.
Ich fragte Dr. Gergel, die begleitende Dozentin, ob die Teilnahme an dem Wettrennen verpflichtend sei. »Sie werden es bereuen, wenn Sie es nicht tun«, sagte sie lächelnd. Warum hörte ich das bloß ständig?
Ich begab mich zu den anderen Mädchen an den Start und fixierte die zweihundert Meter entfernte Ziellinie. Obwohl wir von einer Menschentraube umgeben waren, schien es auf einmal mucksmäuschenstill zu werden. »Sie befinden sich exakt an der Stelle, an der im antiken Griechenland die Athleten standen. Sie atmen in demselben Stadion«, rief Kristina. Sobald der Pfiff aus ihrer Trillerpfeife ertönte, spurtete ich los. Ich gab alles. Ich rannte, wie ich nicht mehr gerannt war, seit ich in South Carolina am Strand barfuß gegen meinen Bruder Bob angetreten war. Ich atmete in demselben Stadion. Ich konnte es nicht glauben, als ein Mädchen in Keds-Stoffturnschuhen an mir vorbeizog, dass der Sand spritzte, nahm es mir jedoch nicht groß zu Herzen, weil ich zu diesem Zeitpunkt bereits derart verblüfft über mich war. Ich wurde Zweite.
Nach dem Rennen mussten sich die vier schnellsten Läuferinnen auf die vier steinernen Podeste stellen, auf denen einst die Sportler geehrt wurden, und dann legte Kristina jeder von uns einen Olivenkranz auf den Kopf, während der Rest der Gruppe die amerikanische Hymne sang. Jemand machte ein Foto, auf dem ich schmunzle wie der Wagenlenker. Über meinem Auge hängt eine Traube schwarzer Oliven.