Großstadtwunder -  - E-Book

Großstadtwunder E-Book

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Beschreibung

Mit den Wundern ist das so eine Sache. Die einen sehen sie in glücklichen Zufällen und unerwarteten Wendungen, die nächsten in unauffälligen Alltagsmomenten und flüchtigen Augenblicken, für manche existieren sie gar nicht und vielleicht haben sie alle recht - oder eben nicht. In 25 Texten ergründen Berliner Autor*innen die Wunder dieser Stadt. Sie folgen Eingebungen aus Träumen und Zeichen auf dem Boden, verlieren die Hoffnung darauf und finden sie wieder in Hinterhöfen, Rauchwolken oder in der Wohnung nebenan. Sie halten Ausschau nach Wundern, suchen nach ihnen und können ihnen dann doch nicht so recht glauben, auch wenn sie direkt vor ihrer Nase geschehen.

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Für alle, die mutig genug sind, an Wunder zu glauben. Und jene, die denken, es besser zu wissen.

Dieses Buch enthält Inhaltswarnungen / Content Notes am Ende des E-books.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Gisa Lore

Im Baumschatten

Hilo Alacali

Jesus von B.

Katharina Stein

An ungeraden Tagen 3

Nora Deetje Leggemann

Linde und Knoblauch

Juan Tramontina

Im freien Fall

Liv Modes

Coraline

Annabella Kittel

Zirkumhorizontalbogen

Paul Michels

Wilde Jungs fressen Brennnesseln

Manja Siber

Schlagschritt

Tim Sterniczuk

Wo es nach Zitronen duftet

Alina Dudek

Liebe in der Probatorik

Heinrich von der Haar

Nachtschatten

Arne Lehrke

Der Fremde

Lena Schnabl

Orange und Grün

Lukas Meisner

@NGST

S.M. Gruber

Am Ende ist es immer die Zeit

Nadja Kasolowsky

Club 27

Alexandra Resch

Der Filter

Ilja Bohnet

Gespenster in der Friedrichstadt

Nora Holinski

Zug & Zuhause

Maja Janina Heining

Schwarzer Nagellack

Carmine Jako

Lasst sie Luft essen

Rike Lorenz

Heidi

Alina Schad

Kreidezeichen

Sylvia Wage

Liebe ist kein Gefühl

Danksagung

Unsere anderen Anthologien

Die Autor *innen

Inhaltswarnungen / Content Notes

Vorwort

Wo könnte man sich über mehr Dinge wundern als in Berlin? Und doch wundert sich hier niemand mehr. Nicht über eigenartige Gerüche, nicht über das Verschwinden geliebter Orte oder Personen und schon gar nicht über die eigenbrötlerischen Nachbarinnen. Und am allerwenigsten wundern wir uns über die ganz unterschiedlichen Weisen, auf die wir hier lieben.

Zumindest behaupten wir das, wenn wir Besuch von außerhalb bekommen. »Ach du, mich wundert hier gar nichts mehr«, sagen wir dann und meinen eigentlich: »Ach du, ich habe verlernt, auf die Wunder zu achten, die mir jeden Tag begegnen.«

Wie können wir lernen, wieder zu staunen? Diese Frage haben sich knapp 170 Autorinnen gestellt, sie haben uns ihre Gedanken, Ideen und Geschichten dazu eingesendet und uns gelehrt, wieder genauer hinzusehen. Allein, dass wir es schafften, uns auf nur 25 Texte zu einigen, grenzt schon an ein Wunder.

Mit Sicherheit lädt dieses Thema zu einigen Absurditäten ein, die wir mit offenen Armen begrüßten, doch es sind nicht immer nur die klassischen Wunder, wie rätselhafte Heilungen und krasse Wetterphänomene, die den größten Effekt erzielen. Häufig waren es die alltäglichen Winzigkeiten, die uns in ihren Bann zogen, rätselhafte Synästhesien, unwahrscheinliche Wiedersehen oder auch das Ausbleiben eines dringend ersehnten Wunders.

Das verbindende Element der Wolken wählten wir, weil wir Euren Blick nach oben lenken wollten, nicht im religiösen Sinne, sondern im öffnenden. Lasst Euch von unseren Autorinnen auf Duftwolken durch die Straßen Berlins tragen, Euch Regenbogenwolken erklären und Euch mitnehmen in die Cloud eines Tech-Konzerns – oder nehmt einfach Platz unter den wohligen Schattenspendern und genießt die Lektüre.

Denn Ihr, liebe Leser*innen, haltet die letzte Anthologie unserer »Großstadt «-Reihe in Euren Händen. Für sie haben wir dieses besondere Thema gewählt, ist es doch ein gar nicht so kleines Wunder, dass wir mit dem Netzwerk Anfang 2019 starteten und es uns heute, fünf Jahre später, immer noch gibt. Trotz Pandemie, trotz Veränderungen im Team, trotz allem. Aber keine Sorge, diese Reihe war nur der Anfang. So schnell werdet Ihr uns nicht los.

Auf bald!

Sophie, Nadja, Liv und Katharina

Gisa Lore

Im Baumschatten

Vor dem Haus steht eine Linde.

Die Linde ist krank. Ihre Wurzeln pressen sich von unten gegen den Asphalt, sie werfen breite Risse in den Radweg und heben die Gehwegplatten an. Urin und Abgase haben ihre Rinde verätzt. Die Krone mit dem spärlichen Laub breitet sich genau vor meinem Balkon aus. Die dünnen Zweige werfen kaum Schatten.

»Was für eine traurige Aussicht«, sagt Leonie, die ihr Kind auf dem Schoß hält.

Es ist März, doch der Baum sieht aus wie Januar. Erst vor ein, zwei Tagen habe ich hier und da das erste zaghafte Grün an ihm entdeckt.

Leonie hat den beschwerlichen Weg in die Stadt auf sich genommen, um mir das Kind zu zeigen, das sie geboren hat. Sein Haar ist so hell, dass es aussieht, als wäre es kahlköpfig. Es hat das Gesicht und die Proportionen eines Säuglings, ist dafür aber schon viel zu groß.

»Ich mag es hier«, sage ich, aber sie sieht mich an, als könne ich das unmöglich ernst meinen: die kleine Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug, den Schimmel in der Ecke des Wohnzimmers, die klappernden Schranktüren in der Küche, den bröckelnden Putz auf dem Balkon, den sterbenden Baum vor dem Haus.

Leonie und Olaf wohnen jetzt am Rande des Dorfes, in dem wir aufgewachsen sind, in ihrem neuen Haus. Ich stelle mir vor, wie Leonie mit dem Kinderwagen durch das Dorf spaziert und sich eine Traube alter Menschen um sie versammelt, um einen Blick auf das Kind werfen zu können. Irgendjemand würde sicherlich die Züge von Leonies Eltern im Gesicht des Kindes ausmachen. Wie alle Mütter des Dorfes es seit jeher taten, würde auch Leonie dann auf dem Dorfplatz eine Pause machen und sich auf eine der Holzbänke setzen, die dort stehen. Beschattet von der großen, alten, kerngesunden Dorflinde.

»Komm uns doch mal besuchen«, schlägt Leonie vor. »Du kannst auch ein paar Tage bleiben. Ein bisschen frische Luft schnappen. Es ist wunderbar ruhig bei uns. Am Sonntagmorgen hörst du nur die Vögel. Es ist herrlich! «

Als wüsste ich das nicht selbst. Als könnte ich mich nicht an die Schwalben in der Luft, die Spatzen in den Büschen, die Tauben auf dem Dach erinnern.

»Ich überlege es mir«, sage ich, obwohl es seit Jahren nichts mehr zu überlegen gibt. Selbst jetzt nicht, da Leonie dorthin zurückgegangen ist, wo ich niemals wieder zu Hause sein kann.

Unten geht die Haustür auf. Leonie und ich recken gleichzeitig den Hals, um über das Balkongeländer zu spähen. Frau Simanowski kommt mit ihrem Einkaufswägelchen heraus. Ihr Haar ist noch voll und dunkelgrau, aber sie schlurft etwas beim Gehen. Sie zieht das Wägelchen über den Gehweg und stellt sich vor den Baum. Kratzt ein wenig im Boden herum, tätschelt ihm die Rinde.

»Komische Alte«, sagt Leonie.

In diesem Moment beginnt das Kind zu quengeln, eine gute Ausrede, um den kalt gewordenen Tee auszutrinken und sich von den Balkonstühlen zu erheben. Leonie trägt es die Treppe hinunter und freut sich laut darüber, dass der Kinderwagen, den sie im Hauseingang stehengelassen hat, noch unversehrt ist.

Als wir vor die Tür treten, ist Frau Simanowski längst weg. Ich winke Leonie, bis sie und der Kinderwagen hinter der Häuserecke verschwinden. Für die nächsten Monate werden sie verschwunden bleiben.

Mein Sonntagmorgen ist laut. Er hat einen Viervierteltakt, einen Bass, der allen Vogelgesang übertönt, und einen Puls von 130. Er hat Toljas sehnige Hände, die mich stützen, als wir zurück ins Licht taumeln. Wir wollten nicht so lang bleiben, aber es gibt nichts, das auf uns wartet, also ist es egal.

Tolja ist groß. Er schirmt mich von der Welt ab. Seine Jacke riecht nach kaltem Zigarettenrauch und feuchtem Beton. Sein Körper ist warm. Durch das zerkratzte S-Bahn-Fenster, die Arme um ihn geschlungen, sehe ich zu, wie die Sonne über der Spree immer höher steigt. Er streichelt mein Haar.

Es sind unsere schönsten Tage.

Auf meinem Balkon lehnt Tolja sich zurück und blinzelt in den Himmel, der von den Ästen der Linde in mundgerechte Stücke geschnitten wird. Das Grün an ihnen ist immer noch spärlich, aber es ist etwas kräftiger geworden.

Ich setze mich neben ihn auf die Bank und halte seine Hand. Mit ihm, denke ich, könnte selbst ich ein Haus bauen. Außerhalb der Stadt. Er könnte seine Bibliothek haben und ich meine Werkstatt. Eine Katze könnte durch die Räume schleichen und uns Gesellschaft leisten. Wir hätten ein großes, gemeinsames Sofa, auf dem wir abends sitzen und Wein trinken würden. Und zwei Schlafzimmer. Und kein Kinderzimmer.

Und alle im Dorf, da bin ich mir sicher, würden sich das Maul über uns zerreißen.

Leonie kommt im Sommer wieder. Das Kind sitzt immer noch im Wagen und der Wagen verändert das ganze Treppenhaus. Er ist zu groß und zu bunt.

»Bist du sicher, dass ihr wegen dem Baum nichts machen wollt?«, fragt sie mich, gleich nachdem wir uns begrüßt haben. »Am Ende fällt noch jemandem ein Ast auf den Kopf!«

Sie spricht weiter von Sommerstürmen, als würde ich keine Sommerstürme kennen. Wir kommen von dort, wo Sträucher zwischen die Felder gepflanzt werden, damit der Wind den Boden nicht wegträgt. Die Erde dort ist genauso sandig wie die, in der die Linde vor meinem Haus steht. Der Baum hat zwei Quadratmeter von der Stadt zugeteilt bekommen, abgasgetränkt, gespickt mit Zigarettenstummeln. Ab und an traut sich ein Grashalm, dort zu wachsen, und wird sofort von den Hunden niedergepinkelt.

Ich gebe der Linde topfweise Wasser, es ist ein heißer Juli. Die Blätter an den Ästen sind zwar ein wenig größer geworden, doch es scheint, als könnten sie sich nicht ganz entfalten. Es wirkt, als stecke der Baum im März fest. Manchmal treffe ich beim Gießen Frau Simanowski, die keinen Schritt vor die Haustür macht, ohne den Baum zu grüßen.

Die Sommer werden härter, sagt auch Leonie. Wenn sie mit dem Kinderwagen ihre Runden durch das Dorf macht, erzählt sie, kann sie dem Dorfteich dabei zusehen, wie er verdunstet. Wenn es richtig heiß wird, treiben Fische mit dem Bauch voran knapp unter der Wasseroberfläche.

Ich nicke und bemühe mich, das verschwindende Dorf zu bedauern. Im Gegenzug bedauert Leonie meine Einsamkeit.

Ich habe ihr nicht von Tolja erzählt. Er und ich sind kein Geheimnis, aber wie soll ich Leonie das mit ihm erklären? Ich wusste lange nicht, dass ich einen Menschen wie Tolja in meinem Leben haben kann. Mit dem ich alles teile und doch nur so viel, wie ich zu geben bereit bin.

Wenn ich Leonie von Tolja erzähle, wird es ihr nicht genug sein. Sie wird mir aufzählen, welche Dinge uns fehlen. Warum wir nicht funktionieren können. Leonie hält sich oft für klüger als mich. Das mag auch an dem Kind liegen. Das Kind, so will es die Tradition, gibt ihr eine Weisheit, die Menschen wie mir fehlt. Je älter ich werde, desto sicherer bin ich mir, auf diese Weisheit verzichten zu können.

Die Freundschaft zwischen Leonie und mir ist Jahrzehnte alt, also pflegen wir sie, so gut es geht. Es ist meine Schuld, dass sie spröde geworden ist. Also sage ich: »Komm gerne wieder!«, wenn Leonie geht.

Im August kaufen Tolja und ich Ringe. Sie sind schwarz, wir tragen sie am Mittelfinger der rechten Hand. Es ist nur ein kurzes Innehalten, bevor wir weiter durch die Stadt ziehen. Wir kriechen in die tiefsten Keller und steigen auf die höchsten Dächer. Über uns nichts als verästelte Wolken, durch die das Blau des Himmels scheint.

Zum ersten Mal hoffe ich, dass Tolja für immer bleiben kann, auch wenn alles, was ich gelernt habe, dagegenspricht. Das mit Tblja ist nicht dafür bestimmt, für immer zu dauern. Das mit Leonie und Olaf hingegen schon.

Ich beginne, mein Geheimnis mit der Linde zu teilen. Es ist kein schlimmes Geheimnis, aber ich weiß trotzdem nicht, wie ich es aussprechen soll:

Mir fehlt nichts.

Mir fehlt absolut nichts im Leben.

Ich habe Tolja. Und ich habe die kleine Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug, den Schimmel in der Ecke des Wohnzimmers, die klappernden Schranktüren in der Küche, den bröckelnden Putz auf dem Balkon.

So flüstere ich es dem sterbenden Baum vor dem Haus zu. Ich flüstere es so lange, bis es sich nicht mehr wie ein Geheimnis anfühlt.

An einem grauen Samstag im November kommt Leonie ein drittes Mal zu mir. Das Kind steckt in einem wattierten Anzug, es rudert ungeschickt mit den Ärmchen. Unter der Mütze kommen endlich richtige Locken hervor.

Ich setze das Teewasser auf. Das Kind auf Leonies Arm stößt Geräusche aus.

»Ich muss dir etwas erzählen«, fange ich an. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, wie es danach weitergehen soll. Ich habe meine Worte an der Linde geprobt, habe mich neben Frau Simanowski gestellt und das Holz mit meiner Stimme getränkt.

»Da ist ein Mensch in meinem Leben, der mich glücklich macht«, sage ich.

Das Kind quietscht, aber Leonie sagt nichts. Zum ersten Mal sagt sie nichts.

»Leonie?«, frage ich. Doch wieder kommt keine Antwort.

Ich blicke auf, gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie sie die Balkontür öffnet. Ein kalter Luftzug streicht um meine Knöchel.

Leonie steht draußen und starrt und friert. Zum ersten Mal ist sie sprachlos.

Ich folge ihr auf den Balkon. Ihr Blick geht hinauf in die Baumkrone, die jede Sicht versperrt. Die geparkten Autos, die Straßenlaternen, das Haus gegenüber – alles verdeckt vom Laub. Dichtes, sattgrünes, im Wind raschelndes Laub. Handtellergroße Blätter, die sich uns entgegenstrecken. Der Duft von frisch aufgesprungenen Knospen mischt sich unter die Kälte.

Es ist November und die Linde sieht aus wie im Sommer.

Das Kind streckt die Arme nach den Ästchen aus, die über das Balkongeländer klettern, und Leonie dreht sich zu mir.

»Wie ist das möglich?«, fragt sie.

Ich hebe die Schultern. Es gibt Dinge, nach deren Grund ich nicht mehr frage. Stattdessen bin ich dankbar für die Stille unter dem Laubdach.

Vielleicht ist es so einfach. Vielleicht reicht es, zu sagen, ich bin glücklich, und niemand stellt weitere Fragen. Niemand sieht so genau hin. Bin ich am Ende diejenige, die einfach viel zu ängstlich ist?

Ich drehe an dem Ring an meinem Finger und muss lächeln. Über Leonies Gesichtsausdruck und über die Freude des Kindes, das mit den Blättern spielen will.

»Ich kann es nicht erklären«, sage ich.

Hilo Alacali

Jesus von B.

In einer großen Stadt gab es ein Viertel voller Hochhäuser und unter diesen Hochhäusern gab es zwei, die nahe beieinander standen, und zwischen ihnen wartete ein Jugendlicher, der gerade achtzehn Jahre alt geworden war, und dieser Jugendliche war Jesus.

Seine Mutter Maryam war mit ihm hergezogen aus einem Dorf aus B., nachdem Jesus auf die Welt gekommen war. Da Maryam in jeder Hinsicht aktiv gewesen war, hatte die Tatsache einer ungeplanten Schwangerschaft keine größere Verwunderung in ihrer Umgebung hervorgerufen, aber durchaus Verstimmung in Maryam selbst. Nicht besonders gewillt, ihrem Leben neben Jesus einen weiteren Mann hinzuzufügen, hatte sie gar nicht erst begonnen, nach dem Vater zu suchen. Und so fiel ihr später auch nicht auf, dass Jesus keinem ihrer ehemaligen Verehrer besonders ähnlich sah.

Und als Jesus älter wurde, wurde er manche Nächte gequält von Träumen und Zeichen, das Kind eines Gottes zu sein, aber da niemand in seiner Umgebung darüber redete, solche inneren Vorgänge zu haben, schwieg auch er dazu.

Jesus wartete also vor den Hochhäusern A und B der Nummer 14. In Hochhaus A saß seine Freundin Yas gerade beim Essen und arbeitete mit Hochdruck an der elterlichen Zustimmung zu ihren Abendplänen. Ihr Vater Arafat mochte es nicht, wenn am Tisch geredet wurde, den Kopf gebeugt kaute er an Bohneneintopf. Aber Tochter Sein vom strengen Arafat, darin war Yas nun jahrelang geübt. Obwohl sie wieder beim Schule schwänzen erwischt worden war und es gestern sogar einen Brief des Lehrers dazu gegeben hatte, reichten ein »Baba...« oder vielleicht auch mehrere und ein bis zwei Versprechen von ihr, und Arafat ließ sie gehen, auch wenn er dafür von ihrer Mutter einen Blick erntete, den er höchstens zweimal pro Monat ertrug.

Jesus’ Mutter Maryam hatte wie gewöhnlich überhaupt nicht gefragt, wo ihr Sohn hinging; ein Umstand, der Jesus manchmal zu der Frage veranlasste, wer glücklicher dran war – er oder Yas.

Als Yas nun herausgelaufen kam, sagte sie mit einem Grinsen: »Nochmal Glückgehabt.«

Sie drückte Jesus so fest, dass er lachte. Sie hakten sich unter, das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren und der Junge mit den schwarzen Locken, und gingen zu ihrem besonderen Platz, einer grünen und verwilderten Ecke hinter dem U-Bahnhof. Dort steckten sie sich Zigaretten an.

Sie hatten einmal miteinander geschlafen, nachdem Yas geglaubt hatte, sie wäre sehr in ihn verliebt und es wäre äußerst dringend. Danach hatte es aber nicht lange gedauert, bis es abgeklungen war, und sie hatte ihm das auch so gesagt, und für Jesus war das in Ordnung, denn er mochte Jungs. Yas wollte mit ihm heute in seinen ersten Schwulenclub.

»Wir haben echt nicht viel Zeit«, klagte sie. »Bestimmt nur zwei Stunden, sonst rastet meine Mutter aus.« Sie sagte es nicht, aber sie war mindestens so neugierig wie Jesus auf die Schwulen.

»Das kriegen wir hin«, sagte Jesus. »Zum Glück ist es nicht so weit.«

Sie hatten sich beide so hübsch gemacht, wie sie es sich angesichts der Umstände getraut hatten: Yas mit großen Ohrringen und rotem Lippenstift, das glatte Haar geöffnet, ganz in heller Viskose gekleidet, Jesus in weißen Sneakers, einer seiner besten Jogginghosen und weißem T-Shirt. Sie fuhren mit der U-Bahn; Yas las dabei die Nachrichten auf der Anzeige, und Jesus beobachtete die anderen Mitfahrenden. Als eine alte Frau sich mit schwankendem Körper an ihm und anderen Fahrgästen vorbeidrückte, legte er kurz die Hand auf sie, um sie zu stützen. Beide wussten es nicht, aber er heilte sie dabei von hartnäckigen Rückenschmerzen. Sie würde am Abend in ihrem Bett liegen und weinen vor Erleichterung.

In der Warteschlange zum Club warf Yas immer wieder die Haare zurück und betrachtete die Leute um sie herum. Jesus starrte geradeaus, wegen all den Blicken. Als sie vor dem Türsteher standen, einem Mann mit schönen Augen und rötlichbraunem Afro, und ihre Ausweise zeigten, lächelte der Jesus an, und der konnte nicht anders und lächelte zurück.

Sie gingen hinein.

Es war noch früh, aber die Clubräume hatten sich bereits gefüllt, der Andrang an der Bar war groß und die ersten Gruppen schwitzten auf den Tanzflächen. Es war ein gemischtes Publikum, Männer und Frauen, nur der Fokus war deutlich verschoben: Die Männer nahmen die anderen Männer in den Blick, und Jesus bemerkte sofort, wenn er gewogen, gemessen und für genau richtig befunden wurde. Männer mit Gelfrisur und glänzenden Stirnen, Fußballerjungs in seinem Alter, langhaarige Studenten mit Lippenpiercings, ein paar Goths in schwarzen Mänteln und mit dunklen, prüfenden Blicken – Jesus konnte sich kaum satt sehen.

»Hier gibt’s ja auch Lesben!«, rief Yas und war selber erschrocken, wie laut sie das gesagt hatte. Sie stellte sich ein wenig in Pose, als eine größere Gruppe von kurzhaarigen Frauen an ihr vorüberlief. Yas wusste nicht, ob sie auch auf Frauen stand, aber sie wusste, dass ihr Aufmerksamkeit gefiel. »Wir müssen auf jeden Fall tanzen!«

Sie sahen sich ein paar der Räume an, flohen vor der Musik von Taylor Swift und entschieden sich für den Floor mit dem erträglichsten Techno. Beide schoben sich durch die Menge auf die Tanzfläche und die Musik hatte sie schnell in ihrem Bann. Lichter streiften pulsierend über ihre Haut, tanzten über ihre Körper. Es war so laut, dass sie nicht mehr reden konnten, den Bass in der Brust.

Bald bemerkte Yas, dass Jesus’ Blick immer wieder nach rechts glitt und sie sah dort einen dicken Blonden mit Bart, der Jesus anlächelte. Er hatte ein offenes und hübsches Gesicht, war vielleicht nur wenig älter als die beiden. Auch er tanzte, das Hemd aufgeknöpft, ein bemerkenswerter Anblick.

Yas signalisierte dem Freund: Auf geht’s!

Jesus schüttelte lachend den Kopf.

Sie bewegte sich in die Nähe des Blonden und zog ihn dabei mit.

Jesus war ganz schüchtern geworden, aber der Blonde kam näher, legte die Arme um ihn und nach wenigen Minuten Tanzen knutschten sie herum.

Yas blieb noch eine Weile neben ihnen und ließ sich dann weiter in die Mitte des Raumes treiben. Rotes Flimmern zog über ihr Gesicht. Sie wusste, sie mussten bald los. Ein wenig noch, dachte sie.

Hinterher liefen sie lachend durch die lange Straße zurück zur U-Bahn.

»Gott, er war so süß«, sagte Jesus. Er hatte die Nummer des Blonden bekommen, und sie überlegten, auf welcher App er ihn kontaktieren könnte.

»Oder du rufst ihn einfach an«, sagte Yas. »Oldschool.«

Was will denn ein Gott von mir?, dachte Jesus zum zweiten Mal in dieser Nacht. Seine Träume ließen ihm seit Wochen keine Ruhe: eine rotschwarze Apokalypse, ein Tier, eine Dunkelheit ohne Ende. Ein Gott, der von einer neuen Welt sprach, einer Welt ohne Sünde.

Jesus tastete nach seinem Smartphone und blinzelte, als der Bildschirm grell aufleuchtete. Es war vier Uhr dreißig. Er warf sich noch eine Weile herum, aber der Schlaf kam nicht. Also zog er sich an, steckte die Füße in Sportschuhe und verließ das Hochhaus. Über kleine Trampelpfade kam er durch hohes Gras auf das Feld. Der Morgen war dunkel und einsam. Jesus trabte los, zwanzig Minuten, dann wurde er langsamer und spazierte durch die Dunkelheit, das Ohr weit offen in die atmende Stille um ihn. Er schaute nicht mehr auf die Uhr und irgendwann überraschte ihn der erste Spaziergänger.

» Servus, Jesus.«

Jesus kannte den Mann nicht. Er blieb stehen, die Hände tief in den Taschen, und registrierte das fahle Licht am Horizont. Die Sonne würde bald aufgehen.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

»Ein Freund«, sagte der Mann und lächelte. Er hatte silbergraues Haar, trug eine Brille und einen grauen Mantel. »Können wir eine kurze Runde gehen? «

Sein Name war Paul Simon. Wie sich herausstellte, kannte der Mann Jesus schon länger. Er erforschte ihn sogar.

»Ich will nicht sagen, dass das nicht merkwürdig ist«, sagte er, auch wenn er nicht selbstkritisch klang, »aber uns sind ein paar interessante Dinge an dir aufgefallen. Weißt du, wovon ich spreche?«

»Nein«, log Jesus. Er log bei Erwachsenen sehr häufig, als Vorsichtsmaßnahme.

Paul Simon ließ nicht ab mit seinem Lächeln.

»Deine Berührungen heilen Menschen, Jesus, Ich würde verstehen, wenn diese Vorstellung dir Angst macht, aber ich glaube, dein Spitzname kommt nicht von ungefähr. Andere Menschen nehmen deine Kräfte nämlich wahr. Der Unfall mit dem Kind – du weißt, dass das Video im Netz gelandet ist? Dadurch sind wir erst auf dich gestoßen.«

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte Jesus.

»Ich würde gerne einige Gespräche mit dir führen«, sagte Paul Simon. »Keine Angst, ich habe ein ganzes Team an der Universität hinter mir. Du kriegst ein gutes Honorar, kommst ein oder zwei Monate regelmäßig zu uns und kannst danach ganz normal dein Leben weiterführen.«

Das klang nach einer Lüge.

»Das ist eine lange Zeit«, sagte Jesus nach einer Weile. »Ich muss meine Mutter fragen, ob das mit der Schule klargehen würde.« Er hatte nicht vor, sie zu fragen.

Das Lächeln auf Paul Simons Gesicht fror ein. »Denk daran, dass du eine besondere Verantwortung trägst. Wir könnten dir helfen, deine Kräfte so einzusetzen, dass du sie maximal zum Guten nutzen kannst. Das ist ein Angebot. Aber ja, frag deine Mutter.« Er wedelte mit der Hand. »Hoffentlich überfordert es sie nicht.«

Er verabschiedete sich und ließ einen verwirrten Jugendlichen auf dem Feld zurück

Maryam wurde krank. Sie wurde ins Krankenhaus eingewiesen mit der Diagnose Krebs und Jesus gewöhnte sich daran, mit Yas in Maryams Krankenzimmer zu sitzen, die Rücken an den Bettrahmen gelehnt, und ihre Hausaufgaben auf dem Boden zu machen.

Seine Mutter fand das furchtbar.

»Das ist doch kein Zustand mit euch auf dem Fußboden«, blaffte sie und fragte die Pflegekräfte alle zwei Tage nach einem größeren Zimmer oder wenigstens einem Tisch. Diese wichen ihr geübt aus.

Der Umgang mit ihr war schwierig. Maryam saß wie ein großes rotes Tier in ihrem Bett, bereit, alles in Frage zu stellen, was sich ihr zu offen, zu unschuldig präsentierte.

»Hör auf, dich immer um alles zu kümmern«, fauchte sie Jesus an, wenn er die Pflegekräfte bei ihrer Arbeit unterstützen wollte, und: »Das mach’ ich selber!«

Yas fand dieses Aufbrausen wunderbar, aber Yas hatte auch Angst vor dem Tod, und die wütende Maryam wirkte nicht wie eine Todgeweihte.

»Heute hat sie wieder den Pfleger herumgescheucht«, erzählte sie abends ihren Eltern und wenn ihr Vater die Stirn runzelte, redete sie schnell über etwas anderes. Über Maryam hatte ihr Vater eine klare Meinung, wie über alleinerziehende Frauen im Allgemeinen.

Jesus versuchte, seine Mutter zu heilen, doch das Problem begann schon damit, dass er nicht wirklich wusste, wie seine Fähigkeiten funktionierten. Außerdem mochte Maryam Berührungen nicht.

»Heute mag ich keine Umarmung«, sagte sie schnell, wenn er näherkam. Als ob es sonst anders wäre. Also griff er meist nach ihrer Hand, aber er wusste nie, ob das eine Wirkung hatte, und sie drückte seine Hand immer nur kurz und ließ dann los.

Jesus saß nach einem solchen Versuch eines Abends auf seinem Bett, starrte auf seine Hände und versuchte sich all die Zeiten in Erinnerung zu rufen, in denen er gedacht hatte, spürbar jemanden geheilt zu haben.

Es hatte mit Yas’ Menstruationsbeschwerden begonnen, die so stark geworden waren, dass sie drei Jahre lang regelmäßig schwänzen musste, denn sie traute sich nicht, ihrem Vater davon etwas zu sagen. Sie lag dann zusammengekrümmt im Bett und starrte mit hartem Gesichtsausdruck ins Nichts. In der Zeit, als sie in Jesus verliebt gewesen war, hatte er einmal die Hände auf ihren Bauch gelegt, und sie hatte gesagt, die wären wunderbar warm, und dann war sie eingeschlafen.

»Die Schmerzen sind weg!!!«, hatte sie ihm später geschrieben.

Nach weiteren unauffälligen Testläufen hatte er sich zumindest bei ihr der Wirkung seiner Hände versichert und versteckte seine regelmäßige Hilfe hinter dem Hantieren mit einer Wärmflasche oder dem Bringen von heißem Tee. Yas schwänzte die Schule nur noch, wenn sie Lust darauf hatte.

Und da war noch die Sache mit Nico gewesen, einem Klassenkameraden. Der hatte im Sportunterricht die Stange eines zersprungenen Trampolins ins Gesicht bekommen. Es war so schnell gegangen: Nico hatte auf dem Boden gelegen, das Gesicht blutverschmiert, Jesus und sein bester Freund Gio hatten ihn gehalten, die anderen Jungs dicht um sie herum. Als der Arzt kam, hatte der sofort erkannt, dass eine Menge Blut aus Nicos Mund geflossen war. Aber das Loch, das vorher in Nicos Wange geklafft hatte, das war nicht mehr da. Vier Jungs schworen später, die Wunde gesehen zu haben, und fünf andere sagten, sie wäre nie da gewesen; am auffälligsten vertreten von Gio. Nico wurde zur Untersuchung noch einmal ins Krankenhaus gebracht; die Ursache für das viele Blut wurde nicht mehr gefunden.

Und schließlich – in Jesus zog sich hier etwas zusammen – das kleine Kind an der Ampel an einer Verkehrsstraße in Mitte. Jesus hatte sein Fahrrad zu der einen kleinen Werkstatt dort gebracht, mit der Absicht, danach Gio zu treffen.

Er griff nach seinem Handy und rief das Video auf, das noch in seiner Browsergeschichte gespeichert war. Das Bild war nicht besonders gut, das Video war aus der Ferne aufgenommen worden, aber das Wesentliche war zu sehen.

Das Kind wurde von einem Auto getroffen und vielleicht zehn Meter die Fahrbahn entlanggeschleudert. Sein Körper schlitterte über den Boden und lag dann still. Eine Gestalt tauchte im Video auf, rannte zu dem Kind. Einen Moment passierte nichts, die Kamera hatte Schwierigkeiten zu fokussieren. Dann stand das Kind plötzlich auf, man konnte sein lautes Weinen hören. Aber es schien ohne jede Verletzung zu sein. An der Hand der Gestalt lief es aus dem Winkel der Kamera.

Jesus hatte für ein Gespräch mit der Polizei an der Unfallstelle bleiben müssen. Als Gio ihn abgeholt hatte, hatte Jesus so mitgenommen ausgesehen, dass sie das Fitnessstudio ausfallen ließen und direkt zu Gio fuhren. Spät abends, die Decke bis zum Kinn gezogen, hatte er ihm von seiner Angst erzählt: dass das Kind hätte tot sein können, hätte tot sein müssen. Sein Freund hatte ihm lange zugehört, das hübsche Gesicht konzentriert. Sie hatten Theorien ausgetauscht, warum das Kind am Leben geblieben war.

»Es war so hässlich, dass Gott es wieder zurückgeschickt hat«, hatte Gio gesagt. Jesus hatte lachen müssen. Die Anspannung in ihm hatte sich gelöst.

Peter, wie der Blonde hieß – wenn es nach Yas ging, hätte er auch ,der Blonde’ bleiben können –, lag quer über dem Bett, ein breites, haariges Bein über Jesus’ Körper gelegt, und so wachte Jesus auf. Mit Peters Nähe war das Bett eine Spur zu warm; er schob sich vorsichtig aus der Beinschere und setzte sich auf. Sein Kopf tat weh, Jesus massierte sich die Schläfen.

Wie gut es sich angefühlt hatte, mit Peter für ein paar Wochen zu verschwinden, dachte er. Die Wohnung für uns, die Schule weiß Bescheid wegen Mama, kein Erwachsener nervt. Er sah zu dem anderen Mann im Bett. Keine Ahnung, wo das hingeht mit uns. Er mochte Peter sehr gern, aber im Grunde war er gerade eben in sein Leben gefallen.

Außerdem hatte Jesus einmal geträumt, dass ... na ja. Einmal hatte er von Gio geträumt.

Er griff nach einem zerknitterten Zettel auf dem Nachttisch.

Komm endlich wieder raus

Deine Mama will dich sehen

Ich will dich sehen!!!

Yas

Jesus lächelte.

Sie hatten gestern Maryam kurz besucht. Diese hatte sich bei Peters Anblick an ein paar Herrenwitzen versucht, aber dann aufgegeben und über Kopfschmerzen geklagt. Peter hatte es gelassen hingenommen.

Maryam ging es schlechter. Die Gespräche mit den Ärzten wurden eindeutiger.

»Hospiz«, sagte Maryam. »Jetzt guck doch nicht so!«

Draußen ballten sich grau die Wolken zusammen; es sah nach einem Gewitter aus. Jesus stieg in seine Laufklamotten und verließ die Wohnung.

Dem seltsamen Paul Simon war Jesus nicht mehr auf dem Feld begegnet. Stattdessen hatte er noch mehrere Briefe von ihm bekommen, die manchmal wie Bitten klangen und manchmal wie Drohungen: Er müsse seine Verantwortung vor der Welt erkennen. Jesus hatte Maryam nichts von alledem erzählt.

Er lief los; in der Ferne rollte der Donner. Wenige Minuten später war das Gewitter über ihm. Weiß rannen Blitze über den Himmel. Jesus’ Herz schlug hart und er wurde schneller, er begann zu sprinten –

Gott kam zu ihm in Wolken und Donner. Jesus hatte den Takt seiner rennenden Füße gerade noch auf dem Boden gespürt und jetzt spürte er ihn nicht mehr. Eine Stimme sprach zu ihm, während ein Teil seines Gehirns sich noch fragte, ob er gerade stürzte.

»Du bist mein Sohn.«

Ich würde gerne hinunter, war das einzige, woran Jesus denken konnte, aber er wusste nicht, wo unten war. Finsternis und Licht hatten sich um ihn verdichtet. Seine Füße hatten wieder Halt gefunden, aber er wusste nicht, worauf.

»Die Welt ist voller Sünden«, sagte die Stimme. »Sie muss beendet werden, um einer neuen Welt Platz zu machen. Ich habe dich erschaffen, geboren von einer menschlichen Frau, um diese Welt von ihren Sünden zu reinigen, um sie zu heilen. Ich habe mich dir in Träumen und Zeichen angekündigt, um dich vorzubereiten. Willst du nun endlich verstehen, wer du bist?«

Jesus sagte nichts; ihm war schwindelig. Er dachte an seine Träume, die das Ende seiner Welt heraufbeschworen hatten, Szenen der Verwüstung und Szenen einer Wiederneumachung, wie eine weiße Seite, auf der noch nichts stand, fehlerfrei.

»Gab es das nicht alles schon?«, fragte er endlich. »Den ganzen Plan, vor zweitausend Jahren, mit dem richtigen Jesus?«

Er war nicht sehr bewandert in christlicher Religion, aber auch er kannte Weihnachten und Ostern. Er traute sich endlich, den Kopf zu heben, und blickte auf etwas, das mehr Licht war und mehr Dunkelheit, als er fassen konnte.

Was er sah, kam direkt aus seinen Träumen.

»Ich habe einen neuen Plan«, sagte Gott/Licht/Dunkelheit. »Er ist gründlicher, er ist allumfassend und allbeendend. Alles wird vergehen, was sich mir nicht ergibt.«

Jesus schloss die Augen.

Ich habe auch noch andere Träume, vergewisserte er sich im Stillen. Träume von Mama, von Peter, Yas, Gio. Wo bleiben sie in diesem Plan?

»Ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin«, sagte er. »Ich bin gerade mal achtzehn. Ich gehe zur Schule, ich habe Freunde, die mir wichtig sind.«

Er hatte das Gefühl, er müsste in dem Licht vergehen. Und dann traf ihn plötzlich eine Erkenntnis.

»Wenn all das stimmt«, begann Jesus, »wenn du Gott bist und ich dein Sohn bin, und ich kann in deinem Auftrag Menschen heilen ... Können wir dann auch meine Mutter heilen?« Jesus' Herz raste. Er war nicht bereit, er hatte Angst, er wollte seine Freunde nicht verlieren. Aber die Vorstellung, Maryam könnte am Leben bleiben, wuchs in ihm heran und wurde zum Maul eines Tieres, das an dem riss, was er für die drohende Wahrheit gehalten hatte.

»Alle Wunder geschehen mir zur Ehre«, sagte Gott, und Jesus fühlte sich an einer Schwelle stehen, an der Schwelle von – was auch immer. Seine Anspannung drohte ihn zu überwältigen. Er wusste im Grunde nicht, wozu er bereit und willens war. Er wusste nur, dass er eine bestimmte Sache hören wollte, nur eine.

Der Gott der Schwelle, des Lichts, der Dunkelheit hielt ihn in seiner Umklammerung. Aber es kam nichts mehr von ihm, kein Laut, kein Wort, keine beruhigend-beunruhigende Vergewisserung.

Die Schwelle verschwand. Der Schwindel traf Jesus mit voller Wucht.

»Meine Mutter wird also sterben«, sagte er.

Eine Stille trat ein, in der er das Rauschen seines Blutes in den Ohren hörte.

»Das kann nicht sein«, flüsterte Jesus.

Seine Kehle schwoll zu und er riss die Hand zum Gesicht, aber er konnte die Tränen nicht aufhalten. In dem Versuch sich zusammenzureißen kämpfte er damit, noch etwas zu sagen. Eine Klage brach aus ihm heraus.

Der Gott des Todes fiel aus seiner Welt. Das Licht verging, die Dunkelheit übernahm und schloss den Jugendlichen in ihre Arme.

Jesus erwachte und er lag auf dem Feldweg, auf seinem rechten Knie eine frische rote Schramme und Salzgeschmack im Mund. Die Sonne ging auf.

Katharina Stein

An ungeraden Tagen