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100 Opfer. 100 Waffen. 1 Killer.
Detective Tallow hat einen richtig miesen Tag: Erst muss er mitansehen, wie sein Partner von einem Irren niedergeschossen wird, dann entdeckt er zufällig ein verrammeltes Apartment, das bis zur Decke mit Waffen vollgestopft ist. Zu allem Überfluss stellt sich heraus, dass jede einzelne davon einen Menschen getötet hat – und keiner dieser Morde wurde je aufgeklärt. Hunderte Fälle, die bereits bei den Akten lagen, müssen somit neu aufgerollt werden. Tallow soll sich der Sache annehmen. Doch der geheimnisvolle Killer ist nach wie vor aktiv ...
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Seitenzahl: 448
Das Buch
Detective Tallow hat einen richtig miesen Tag. Erst muss er mitansehen, wie sein Partner von einem Irren niedergeschossen wird, dann entdeckt er zufällig ein verrammeltes Apartment, das bis zur Decke mit Waffen vollgestopft ist. Zu allem Überfluss stellt sich heraus, dass jede einzelne davon einen Menschen getötet hat– und keiner dieser Morde wurde je aufgeklärt. Hunderte Fälle, die bereits bei den Akten lagen, müssen somit neu aufgerollt werden. Tallow soll sich der Sache annehmen. Doch der geheimnisvolle Killer ist nach wie vor aktiv…
Der Autor
Warren Ellis ist einer der produktivsten, meistgelesenen und innigst geliebten Comicautoren weltweit. Er gewann zahlreiche Preise und wurde für viele weitere nominiert. Mit seiner Frau Niki und der gemeinsamen Tochter Lilith lebt er in Südengland.
www.warrenellis.com
www.thisisgunmachine.com
Lieferbare Titel
Gott schütze Amerika
Warren Ellis
Gun Machine
Thriller
Aus dem Englischen
von Ulrich Thiele
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe Gun Machine erschien 2013
bei Mulholland Books, an Imprint of Little,
Brown and Company, New York.
Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2013
Copyright © 2013 by Warren Ellis
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2013
Redaktion: Babette Mock
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-10405-4
www.heyne.de
Für
Ariana und Molly
und
Lydia und Angela
und
Niki und Lili
Eins
Wenn man sich die Aufnahme des Notrufs anhörte, konnte man den Eindruck bekommen, die Tatsache, dass der Mann vor ihrer Apartmenttür nackt war, bereite Mrs. Stegman mehr Sorgen als die große Schrotflinte in seiner Hand.
Ein Notruf ist wie ein Schmerzsignal, das eine kleine Ewigkeit braucht, um vom Schwanz eines Dinosauriers hinauf zum Hirn zu wandern. Der träge Brontosaurus des NYPD-Informationsnetzwerks registriert die flinken, hoch entwickelten Säugetiere der Telefondaten, WLAN-Wellen und Finanzsektor-Transaktionen nicht mal, die im Territorium des 1st Precinct durch seine Füße huschen.
Und so dauerte es gut sieben Minuten, bis endlich jemandem auffiel, dass John Tallow und James Rosato, ihres Zeichens Detectives im 1st Precinct, keine siebenhundertfünfzig Meter vom nackten Schrotflintenmann entfernt waren, und bis dieser Jemand die beiden anwies, der Sache nachzugehen.
Tallow kurbelte das Beifahrerfenster des Streifenwagens herunter und spuckte sein Nikotinkaugummi auf die Pearl Street. »Das war eine ganz schlechte Idee«, sagte er zu Rosato, während er gelangweilt zusah, wie ihm ein Fahrradkurier in limettengrünem Lycra den Mittelfinger zeigte und ihn als Kriminellen beschimpfte. »Die ganze Woche jammerst du wegen deinen Knien rum, und dann reagierst du auf einen Notruf aus dem letzten Mietshaus ohne Aufzug an der ganzen Pearl.«
Jim Rosato war frisch verheiratet– mit einer griechischen Krankenschwester, während Rosato selbst zur Hälfte Ire und zur Hälfte Italiener war. Im 1st Precinct liefen Wetten, welcher der Eheleute den anderen in spätestens einem Jahr kleingekriegt haben würde. Die griechische Krankenschwester hatte bereits durchgesetzt, dass sich Jim verstärkt um seine Gesundheit kümmern musste; ein enormes Maßnahmenprogramm, das unter anderem Joggingrunden vor und nach jeder Schicht umfasste. Letzte Woche war Jim jeden Morgen mit steifen Beinen ins 1st getorkelt. Er hatte ein Gesicht gezogen wie eine Bulldogge, die auf einer Wespe herumkaut, und allen verfügbaren Zeugen versichert, dass seine Knie zu einer harten Masse verschmolzen seien und er nur noch wenige Tage zu leben habe.
Wenn Rosato fluchte, kam der Dubliner Akzent seiner Mutter durch. »Shite. Aber woher weißt du das mit dem Aufzug?«
Auf der Rückbank des Wagens hatten sich Sedimentschichten aus Büchern, Zetteln, Zeitschriften, einigen E-Readern und einem gecrackten, halblegalen iPad gebildet. Um einen Verdächtigen dahinten reinzuschieben, musste man schon mal mit dem Stiefel Platz schaffen. Tallow war eine Leseratte.
Rosato schlug aufs Lenkrad, steuerte quer durch den Gegenverkehr und hielt vor dem Mietshaus an der Pearl Street, einem mächtigen, düsteren grauen Klotz, einer fossilierten Hülse von einem Gebäude, in der sich kleine Menschen verkriechen konnten. Alle anderen Gebäude auf dieser Seite des Blocks hatten sich zumindest eine Dermabrasion gegönnt und die Zähne richten lassen. Die beiden Nachbarn des alten Mietshauses standen da wie selbstgefällige Botox-Mittdreißiger, die einen gebrechlichen Verwandten stützten. Viele der Gebäude wirkten verwaist, und trotzdem liefen davor Schwärme junger Männer in teuren Anzügen und mit miesen Krawatten herum, jeweils mit einem an die Schläfe genagelten Handy, sowie eine bunte Parade hagerer Frauen, die mit spitzen Fingern SMS tippten.
Als der Knall der Schrotflinte aus dem alten Haus schallte, flatterten sie alle davon wie Flamingos.
»Das war deine Idee«, flüsterte Tallow, während er die Beifahrertür öffnete. Auf der Straße zog er die Glock unter dem Sakko aus dem Halfter und schob sie wieder rein, eine zwanghafte Angewohnheit. Rosato stakste schon steifbeinig zum Hauseingang.
Tallow wusste, dass viele Cops Krankenschwestern heirateten. Krankenschwestern hatten eine Ahnung von ihrem Leben: mörderische Schichten, endlose Phasen der Langeweile, plötzliche Adrenalinschübe, überall Blut. Als er seinem geschundenen Partner in den Hausflur folgte, lächelte er beinahe. Er stellte sicher, dass die Tür möglichst leise ins Schloss fiel, und zog erst dann die Waffe.
Es knarrte unter ihren Füßen. Hier und da gab das aufgerissene Parkett eine Unterlage aus vergammelten Zeitungen frei. Tallow entdeckte die Titelseite eines Blatts aus den Fünfzigern, die an der südlichen Mauer unter dem Bodenbelag hervorlugte. Uralte Nikotinflecken bildeten einen nassen Film auf der Plastiktapete. Die Luft war warm und feucht, die Treppe sah aus wie geteert.
»Shite«, sagte Rosato, als er die ersten paar Stufen nahm. Tallow wollte sich an ihm vorbeidrücken, doch Rosato pfiff ihn zurück. Rosato war länger Streife gefahren, ehe er es zum Detective gebracht hatte, was ihm in seinen Augen eine unanfechtbare Überlegenheit auf der Straße verlieh. Tallow sei viel zu verkopft, erklärte er den Leuten gern, während Big Jim Rosato eben ein echter Straßenbulle war.
Die Stimme des nackten Schrotflintenmanns hallte durchs Treppenhaus. Offenbar hatte sich der Nackedei nicht gerade über den Brief gefreut, den man ihm heute Morgen unter der Tür hindurchgeschoben hatte und der ihn darüber informierte, dass das Gebäude von einem Immobilienentwicklungsunternehmen aufgekauft wurde, das ihm ganze drei Monate gewährte, um sich eine anderweitige Unterkunft zu suchen. Der nackte Schrotflintenmann werde jedes Arschloch wegpusten, das ihm sein Zuhause wegnehmen wolle, weil das sein Zuhause sei und ihn niemand zwingen könne, irgendwas zu tun, was er nicht tun wolle, und davon abgesehen habe er eine Schrotflinte. Dass er nackt war, erwähnte er nicht. Vermutlich war er schlicht zu wütend für Klamotten.
Auf dem zweiten Treppenabsatz warfen sie einen Blick nach oben. »Der Wichser ist im zweiten Stock«, zischte Rosato.
»Der Typ ist nirgendwo mehr, Jim. Hör mal hin. Seine Stimme wandert die Tonleiter rauf und runter, und er brüllt immerzu den gleichen Mist. Vielleicht sollten wir einfach abwarten, bis ein Fachmann für Psychos auftaucht.«
»Oder du liest ihm eins deiner Geschichtsbücher vor. Dann pennt er vielleicht ein und fällt auf seine eigene Schrotflinte.«
»Im Ernst, Jim.«
»Im Ernst, shite. Wir wissen nicht mal, ob der Schuss wen erwischt hat.« Rosato marschierte weiter und lockerte die Finger um den Griff der Kanone, die er dicht am Oberschenkel hielt.
Leise stiegen sie die Treppe rauf. Die Stimme wurde lauter. Rosato erreichte den Treppenabsatz vor dem zweiten Stock, hob die Pistole, ging noch eine Stufe rauf und verkündete mit einem scharfen, festen Bellen, dass er von der Polizei sei. Dann nahm er die nächste Stufe.
Und sein Knie knickte ein.
Der nackte Schrotflintenmann trat oben an die Treppe und feuerte nach unten.
Der Schuss riss die linke obere Hälfte von Jim Rosatos Schädel weg. Mit einem feuchten Klatschen landete ein faustgroßer Hirnklumpen an der Wand des Treppenhauses.
Von seinem Standort aus, drei Schritte weiter hinten und rechts, konnte Tallow Rosatos Augapfel erkennen, der sich gut zehn Zentimeter außerhalb von Rosatos Kopf befand und noch immer durch ein Knäuel aus rötlichem Gewürm mit seiner Augenhöhle verbunden war. In dieser einen Sekunde wurde Tallow auf einer abstrakten Ebene klar, dass James Rosato seinen Mörder im letzten Moment seines Lebens aus zwei verschiedenen Winkeln zugleich sehen konnte.
Dann zerplatzte auch der Augapfel an der Wand.
Der Nachhall der Schrotflinte ließ die stickige Luft pulsieren.
Das Klackern, als Jim Rosatos Mörder die Schrotflinte durchlud, schien sich endlos in die Länge zu ziehen.
Tallow hatte die Glock im Anschlag, beidhändig, mit vierzehn Schuss im Magazin und einem auf der Startbahn. Unbewusst hatte er den Abzug schon halb heruntergedrückt.
Jim Rosatos Mörder war ein ehemaliger Bodybuilder, dem Burger und lange Tage auf dem Sofa übel mitgespielt hatten. Er zitterte am ganzen Leib. Unter dem Schwabbelfleisch war der müde Rest seiner Muskeln zu erahnen. Sein Kopf war kahl und scheinbar zu klein für ein menschliches Hirn, sein Schwanz hockte zusammengeschrumpft auf seinen ausgebeulten Eiern wie eine ergraute Klitoris, und quer über seine Brust, verzerrt von seinen haarigen Titten, zog sich ein mieses Tattoo: Regina. In diesem Moment sah John Tallow keinen einzigen Grund, den Typen nicht einfach wegzuballern, und so durchlöcherte er Regina viermal und jagte dem Scheißkerl zu guter Letzt eine Kugel in den dämlichen Winzschädel.
Der Schuss schleuderte Jim Rosatos Mörder zurück. Ein dünner Pissefaden vollzog seine Flugbahn nach, während er umkippte, ein letztes Mal reflexartig nach Luft schnappte, keuchte und starb.
John Tallow stand stocksteif da und zwang sich, die stickige, bittere Luft voll Schwarzpulverrückständen und Blut einzuatmen.
Ansonsten war der Flur leer. In der Wand hinter dem Toten gähnte ein Loch. Vielleicht hatte er wahllos auf die Mauer gefeuert, um Aufmerksamkeit zu erregen. Oder er war einfach wahnsinnig.
Tallow war es egal. Er meldete den Vorfall.
Und da fragten sich die Leute noch, warum John Tallow sich nicht mehr groß anstrengte, ein guter Cop zu sein.
Zwei
John Tallow stand dabei, als die Sanitäter den Mann, der vier Jahre lang sein Partner gewesen war, vom Boden kratzten, aufklaubten, eintüteten und wegbrachten. Dann hockte er sich schweigend auf die Treppe, sodass sie Rosatos Mörder über ihn hinwegwuchten mussten, um ihn rauszuschaffen.
Leute redeten auf ihn ein, doch durch den Schusswechsel auf engem Raum war sein Gehör beeinträchtigt, und es interessierte ihn ohnehin nicht sonderlich, was sie sagten. Irgendwer erklärte ihm, die Lieutenant sei losgefahren, um Rosatos Frau die schlechte Nachricht zu überbringen. Das machte die Lieutenant öfter, um ihren Leuten diese Last abzunehmen. Soweit Tallow wusste, hatte sie das in den letzten paar Jahren drei- oder viermal getan.
Nach einiger Zeit fiel ihm auf, dass jemand versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Cop in Uniform. Dahinter wuselten die Forensiker des Crime Scene Unit herum wie die Käfer.
»Das Apartment da«, sagte die Uniform.
»Was?«
»Wir haben alle Apartments überprüft, um sicherzugehen, dass niemand verletzt wurde. Aber das Apartment da hat ein riesiges Einschussloch in der Wand und keiner geht an die Tür. Haben Sie denn das Apartment überprüft?«
»Nein. Aber… Moment mal. Das Loch ist doch ziemlich weit unten. Glaube kaum, dass es wen erwischt hat.«
»Vielleicht ist der Bewohner auf Arbeit. Wobei er da wohl die große Ausnahme in diesem Haus wäre.«
Tallow zuckte mit den Schultern. »Dann brecht halt die Tür auf.«
»Die Tür bewegt sich keinen Milimeter. Keine Ahnung, was das für ein Schloss ist, aber sie gibt nicht nach.«
Tallow stand auf. Gebäude wie dieses hier waren nun wirklich kein Fort Knox, aber wenn die Uniform meinte, dass die Tür nicht nachgab, hatte es keinen Sinn, sich selbst abzumühen. Die Tür war nicht das eigentliche Problem. Sondern das Loch. Er ging vor dem Loch in die Hocke. In derartigen Häusern konnte man die Zwischenwände im Allgemeinen kaum als Wand bezeichnen. Meist waren es bloß Rigipsplatten. In alten Zeiten, als das Gebäude noch voller Leute war, musste es sich hier gelebt haben wie in einem Bienenstock.
Das Loch hatte einen Durchmesser von dreißig Zentimetern. Tallow spähte hinein. Totale Dunkelheit. Er rückte ein bisschen zur Seite, um mehr Licht vom Flur ins Innere fallen zu lassen. Die Uniform sah ihm zu, wie er angestrengt die Augen zusammenkniff.
»Gib mir mal deine Taschenlampe«, sagte Tallow.
Er drehte die Lampe an und ließ den Lichtkegel durchs Loch huschen. Im Dunkeln glitzerte es, als würde er die Zähne eines Tiers tief in seiner Höhle anleuchten.
»Geh die Ramme holen.«
Als die Uniform runterlief, hockte Tallow sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Die Beschwerden der Forensiker wischte er mit einem Mittelfinger weg, was selbstverständlich Folgen haben würde. Im Rumjammern waren die vom CSU ganz groß, und wenn er ihnen nicht zuhören wollte, würden sie sich eben jemand anders suchen.
Andererseits hatte er heute vielleicht einen gut.
Eine Weile saß er bloß da und dachte an seinen Partner. Daran, dass er nicht mal dessen Frau kennengelernt hatte. Dass er ihr sogar bewusst aus dem Weg gegangen war, wenn er ehrlich war. Er erinnerte sich an seine Erleichterung, als Jim im Urlaub geheiratet hatte, da er dadurch bei den Feierlichkeiten nicht dabei sein konnte und musste. Ein einziges Mal hatte er eine fremde Frau informieren müssen, dass ihr Mann im Dienst gestorben sei, durch drei fette Kugeln in die Eingeweide. Die Frau war völlig am Ende; danach stand für Tallow fest, dass das Verheiratetsein nichts für ihn war. Er wollte nicht bei einer Hochzeit rumstehen und übers Verheiratetsein nachdenken. Er wollte nicht an Jim Rosatos Tisch sitzen und übers Verheiratetsein nachdenken.
Die Uniform hatte eine weitere Uniform aufgetrieben. Missmutig schleppten die beiden die Ramme hoch, ein Ding aus blauem Metall mit abgeplatztem schwarzem Lack.
Ohne aufzustehen, deutete Tallow mit dem Daumen auf die Tür.
Die Uniformen ließen die Ramme gegen die Tür krachen. Die Tür wölbte sich, sprang aber nicht auf. Die beiden sahen sich an, holten weiter aus, donnerten sie erneut dagegen. Holz splitterte, doch die Tür hielt.
Tallow stand auf. »Weg mit der Wand.«
»Sicher?«
»Ja. Geht auf meine Kappe. Weg damit.«
Die Ramme zertrümmerte die Wand. Drinnen landete irgendwas mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden, während die Forensiker ihre Mütter verfluchten, weil es haufenweise Staub raussprengte. Nach drei weiteren kurzen Hieben war das Loch so groß, dass Tallow hindurchschlüpfen konnte. Wieder plumpste irgendwas auf den Boden. Er schaltete die geliehene Taschenlampe ein und schwenkte sie langsam herum.
Das Zimmer war voller Schusswaffen.
An allen Wänden hingen Waffen. Ein halbes Dutzend lag vor Tallows Füßen. Er drehte sich um, die Taschenlampe auf Schulterhöhe. Auch an der Wand, durch die er gekommen war, hingen Waffen. Manche waren in Reihen angebracht, doch zu seiner Rechten bildeten sie komplexe Wirbel, und am anderen Ende des Raums waren sie zu einem Gebilde auf dem Boden angeordnet, aus dem er kein bisschen schlau wurde. Auf diesen Waffen glänzten Farbspritzer.
Außerdem nahm er Gerüche wahr, die er nicht identifizieren konnte. Vielleicht Weihrauch. Moschus. Fell oder Haut.
Wellenartige Muster aus Metall, vom Boden bis zur Decke. In der abgestandenen, leicht parfümierten Luft des Zimmers fühlte Tallow sich beinahe wie in einer Kirche.
Abgesehen von ihm war niemand im Apartment. Er richtete die Taschenlampe auf die Tür– sie war mit dicken Stahlriegeln und schweren Schlössern gesichert. An einem Schließmechanismus flackerte eine rote LED. Tallow hatte keinen Schimmer, wie man dieses Apartment durch die Tür betreten konnte, aber die Ramme war offenbar keine Lösung.
Vorsichtig schlich er durch den Flur und überprüfte die Zimmer, ohne etwas zu berühren.
In jedem Zimmer waren Waffen.
Im hintersten Raum klaffte ein Spalt in der schweren Gardine vor dem einzigen Fenster. Ein einsamer Lichtstrahl fiel in das waffenverkrustete Zimmer, Staubkörner hingen im unbewegten Licht. Tallow stand ein paar Sekunden mit angehaltenem Atem da. Und verließ das Zimmer langsam und lautlos.
Er lächelte beinahe, als er den Kopf aus dem Loch steckte, auf den nächstbesten Forensiker deutete und sagte: »Ich hab da was für euch.«
Drei
Die Lage im Mietshaus kochte rasch zu einem brodelnden Chaos hoch. Im Gedrängel der Uniformen und der paar eilig rekrutierten Detectives, die eine erneute Befragung der Bewohner über die Nachbarn aus Apartment 3A durchführen sollten, glitt Tallow unauffällig die Treppe hinab.
Die Sonne versteckte sich bereits hinter den langen verchromten Armen des Bankenviertels. Als er in den fahlen Himmel blickte, fragte Tallow sich kurz, wohin der Tag verschwunden war. Er stieg in seinen Wagen. Selbst vom Fahrersitz aus kam ihm das Auto leer vor. Er zwängte sich in den immer dichteren Verkehr und schlug sich nach Osten durch, zurück in den tiefsten 1st Precinct.
Fünfzehn Minuten später stand der Wagen vor seinem Lieblingscafé, einem Café mit Tischen auf dem Gehsteig, wo sich keiner über Raucher beschwerte. Er kaufte sich eine Schachtel Zigaretten und ein Wegwerffeuerzeug im Laden an der Ecke, setzte sich mit einem großen Pappbecher mit Kartonbanderole an einen Blechtisch, nahm einen Schluck teuflisch schwarzen Kaffee, zündete sich mit gar nicht mal so zittrigen Fingern die erste Kippe an und nahm die Sache in Angriff: Er musste den Autopiloten abschalten und die Welt an sich heranlassen.
Er ließ die Welt Schritt für Schritt an sich heran. Er ließ zu, dass er das leichte Zwicken des Sakkos unter den Achseln registrierte. Dabei trug er das einzige Sakko, das er hatte umarbeiten lassen, um darin Platz für sein Schulterhalfter zu haben. Das bedeutete, dass er um die Brust herum zugenommen hatte. Als er die Augen einen Moment lang schloss, spürte er ein winziges Ziehen am Schädel. Getrocknetes Blut auf seiner Haut.
Schritt für Schritt. Die naturbelassene Kartonbanderole um den Venti-Plus-Becher, vollgestempelt mit biologischer Tinte, die verkündete, wie stolz das Café auf seine Unabhängigkeit sei, wobei der simple schwarze Druck auf der fleckigen Pappe ein eigenes Statement in Sachen Authentizität war. Der schimmernde Blechtisch, der die Sonne so grell spiegelte, dass man hier tagsüber nicht allzu lange verweilen konnte, insbesondere nicht mit einem Notebook oder Tablet, wodurch sichergestellt wurde, dass die Plätze auf dem Gehsteig nie über Gebühr von denselben Personen in Beschlag genommen wurden. Das Aroma der Zigarette, Holz und Öl. Die tröstliche Wärme in Tallows Brust, als er den Rauch tief einsaugte und durch die Nasenlöcher ausatmete. Der chemische Nachgeschmack auf seiner Zunge, gefolgt vom unwillkürlichen Griff nach dem süßen, starken Kaffee, um die Rückstände der Kippe wegzuwaschen und seinen Schädel vor noch mehr Schwindelgefühl zu bewahren. Tallow hatte seit neun Monaten nicht mehr geraucht. Und seiner Meinung nach hatte er auch nicht wieder angefangen. Diese Zigarette hatte medizinische Gründe. Wenn er vom Tisch aufstand, würde er die Schachtel und das Feuerzeug wegschmeißen.
Die nächsten Schritte. Die Musik, die aus der offenen Tür des Cafés auf die Straße waberte– Glo-fi aus Brooklyn von vor ein paar Sommern, Kids aus den Randbezirken von Park Slope, die sich die Strände Kaliforniens ausmalten. Und die zwei Mädchen auf der anderen Seite des Ladenfensters, beide mit zu Quasi-Iros hochgegeltem Haar, beide in ärmellosen Kapuzenpullis, die unfertige Oberarmtattoos einrahmten; das unfertigere war schöner. Dieses Mädchen hatte offensichtlich weniger Geld, aber ein besseres Auge für Künstler.
Hinter ihnen, auf einem Gestell neben der Theke, ratterte ein Drucker, ein Verkaufsautomat, der Print-On-Demand-Dokumente oder Schnappschuss-Aggregate aus sozialen Netzwerken raushustete.
Stufen. Ein Bus röhrte vorüber. Ein schwarzer Ausschlag aus toten Pixeln zog sich über die dynamische Anzeigetafel an seiner Seite– Werbung für ein computeranimiertes Dings mit drei Versionen von Arnold Schwarzenegger in den Hauptrollen, darunter ein Arnold mit Mitte zwanzig und einer mit Mitte dreißig. Auf den Bus folgte ein ungeduldig hoppelndes Auto, ein nigelnagelneuer Wagen frisch aus dem Verkaufsraum, aber mit stolz geschwungenen Heckflossen wie aus den Fünfzigern. Ein strahlend roter Sportschlitten, mit einem Mann am Steuer, der bereits an der Fünfzig kratzte und sein ebenso strahlendes, rot-weiß gestreiftes Hemd sorgfältig hochgekrempelt hatte, um einen gut gepflegten Pelz aus grauer Unterarmbehaarung zu präsentieren.
Schritte. Jim Rosato war tot, und nichts konnte den Kupfergeschmack vertreiben, der Tallow immer wieder in die Zunge stach. Als hätte er ein paar Atome von Jims verdampftem Blut eingeatmet, als die Schrotflinte seinem Partner den halben Kopf weggedonnert hatte. Tallow hatte alles abgeblockt, aber jetzt waren die Vorhänge runter, und er sah Jims Tod in einer erbarmungslosen HD-Endlosschleife.
Er würgte am Kippenqualm.
»Wusste ich’s doch, dass ich Sie hier finde. Darf ich mich setzen?«
Seine Augen schnappten auf. Auf der anderen Seite des Tischs stand die Lieutenant, einen Kaffee in der Hand. Tallow fragte sich, wie lange er schon so vor ihr gehockt, seinem Partner beim Sterben zugesehen und nichts mitbekommen hatte.
»Bitte«, sagte er.
Die Lieutenant hatte eine eigentümliche, gemächliche Art, sich hinzusetzen und aufzustehen, wie ein präzises Klappmesser. Kopf und Schultern bewegten sich dabei kaum, und ihr schwarzes Kostüm warf makellose Falten, als sie Beine in Schlaghosen ausfuhr. Der Vater der Lieutenant war Schneider und flickte ihr Maßklamotten zum Selbstkostenpreis zusammen. Wenn sie neu eingekleidet war, ging man ihr bekanntlich lieber aus dem Weg. Das Abholen eines neuen Kostüms folgte nämlich einem strengen Ritual, bei dem ihr Vater sie lang und breit wegen ihres Aufstiegs zum »Oberarsch« beschimpfte.
Sie taxierte Tallow mit ihren scharfen, hellen Augen. »Ich habe mit Jims Frau gesprochen«, sagte sie schließlich, während sie den Kaffeebecher mit ihren Klarlack-Nägeln vom Deckel befreite.
»Ich hab was weggelassen, als wir vorhin geredet haben«, erwiderte Tallow. »Als Jim in Schussposition gegangen ist, ist ihm ein Knie weggeknickt. Wegen der vielen Joggerei. Ich wollte nicht, dass Sie ihr davon erzählen.«
»Das können Sie gerne auch im schriftlichen Bericht weglassen.« Die Lieutenant versuchte sich an einem Lächeln. Sie hatte ein markantes, attraktives Gesicht, und wenn sie lächelte, glaubte Tallow jedes Mal, hinter der harten Maske und unter dem zweckmäßigen Kurzhaarschnitt ein kleines Mädchen hervorlinsen zu sehen. »Wegen der Schüsse bekommen Sie natürlich keine Probleme. Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen. Sie müssen eine Vorladung und eine offizielle Befragung über sich ergehen lassen, aber man wird Ihnen keinen Ärger machen.«
»Darüber hatte ich mir auch keine Gedanken gemacht.«
Ihr Blick glitt über Tallows Gesicht, als würde sie nach irgendetwas suchen. Doch sie fand es nicht, und so atmete sie enttäuscht aus und führte den Becher an die Lippen.
Tallow zog ein letztes Mal an der Zigarette. Drehte sich zur Straße und schnippte den Stummel zielgenau über den Gehsteig in einen Gulli. Und kippte sich etwas Kaffee in die Kehle, um den Geschmack wegzuspülen.
Die Lieutenant beobachtete ihn weiter. »Sie haben mir noch gar nicht von dem Apartment erzählt, das Sie durchlöchert haben.«
Er sog die Backen ein, um den ätzenden Geschmack ganz hinten an seiner Zunge mit Kaffeespeichel zu ersticken. »Gibt nicht viel zu erzählen. So was hab ich noch nie gesehen. Wird ein spannender Zeitungsartikel, wenn’s durchsickert.« Tallow fiel auf, dass sie ihn immer noch beäugte. »Was ist los, Lieutenant? Hab ich was falsch gemacht?«
»Ich fürchte, Sie verkriechen sich gerade tiefer in Ihrem Kopf, als mir recht sein kann. Tiefer als sonst. Ich muss wissen, dass Sie sich mit dem heutigen Tag auseinandersetzen, John.«
»Mir geht’s gut.«
»Das finde ich ja so beunruhigend. Ich habe Jim und Sie vor Jahren zu einem Team gemacht, weil sich Ihr persönlicher Wahnsinn gegenseitig ergänzt hat. Der eine hat den anderen in Schach gehalten. Jetzt will ich, dass Sie sich nicht wieder in sich zurückziehen und die Welt da draußen nur noch aus der sicheren Deckung heraus mit dem Fernrohr beobachten. Im letzten Jahr war es schon schlimm genug.«
»Ich kann nicht ganz folgen.«
Die Lieutenant stand auf. »Doch, können Sie. In Ihrem Alter ist der Kick bei unserem Job weg und die endlose Plackerei zur Gewohnheit geworden, und da fragt man sich schon mal, ob es so schlimm wäre, sich um nichts mehr zu scheren, die Sache nur noch laufen zu lassen und möglichst wenig zu investieren. Ich verordne Ihnen eine Auszeit von achtundvierzig Stunden. Wenn Sie zurückkommen, sind Sie ein Detective, den ich gebrauchen kann.« Sie machte eine Pause und versuchte noch einmal, ihr Lächeln auszupacken. »Das mit Jim tut mir leid.« Das Lächeln schlug nicht an. Sie ging.
Fünf Minuten lang saß Tallow bloß da und drehte eine zweite Zigarette zwischen den Fingern. Dann steckte er sie zurück in die Schachtel. Schob Schachtel und Feuerzeug in die Tasche. Betrat das Café, rannte auf die Toilette und kotzte den Kaffee und seine beiden letzten Mahlzeiten mit einem dünnen Schrei in die Kloschüssel.
Vier
Jim Rosato hatte mal angemerkt, dass Tallow sein Apartment benutzte, um das Zeug aus seinem Kopf abzuladen.
Ein Zimmer war vollgestopft mit Büchern, Zeitschriften und Papier. Die Tür fehlte, der Damm war gebrochen, und so hatten die bedruckten Massen das Wohnzimmer geflutet, wo sie sich an einem Tisch stauten, auf dem zwei alte Laptops und ein externes Laufwerk hausten. Zwei hohe Lautsprecher ragten aus dem Meer wie Leuchttürme. Das andere Zimmer war zur Hälfte zugemauert mit CDs, Kassetten und Vinyl. In der Ecke stand ein Kleiderständer, den Tallow aus einem Müllcontainer stibitzt hatte. Das war sein Kleiderschrank, doch die meisten Klamotten häuften sich darunter auf dem Boden.
Tallow rammte sich mit einem Ellenbogen ins Apartment, die heutigen Zeitschriften unter dem Arm. Das war nicht mehr der fette Stapel, den er sich noch vor fünf Jahren zum Monatsanfang besorgt hätte. Viele gute Sachen waren ins Netz abgewandert. Noch mehr gute Sachen waren auf Nimmerwiedersehen hinter dem Horizont der digitalen Morgendämmerung verschwunden.
Statt die Hefte aufzuschlagen, legte er sie auf die nächstbeste stabile Fläche. Er zog das Sakko aus und wand sich aus dem Schultergurt. Hängte den Gurt an den Kleiderständer, ließ das Sakko auf den Boden fallen. Und setzte sich auf einen seiner zwei Stühle.
Er versuchte, an das Apartment voller Waffen zu denken. Wie es zu so einem Ort kommen konnte. Doch alles, was in seinem Kopf bleiben wollte, war sein Partner und einziger echter Freund, dem eine Schrotflinte eine Handvoll Hirn wegblies.
Achtundvierzig Stunden. Tallow wusste, dass er hier drinnen den Verstand verlieren würde.
Fünf
Tallows Schlaf war gespickt mit unspektakulären, kupferfarben glänzenden Albträumen. Bis ihn das Handy auf dem Bücherstapel neben dem Bett weckte.
Die Frauen in seinem Leben hatten ihn ausnahmslos darüber informiert, dass er regelmäßig mit einer Art Tourette erwachte. In der ersten Morgenstunde war es ihm unmöglich, auf Zurückhaltung, Geduld oder Sozialkompetenz zurückzugreifen.
»Scheiße was?«, fiel er über das Telefon her.
»Kommen Sie ins Büro.«
»Verfickte Auszeit von achtundvierzig Stunden scheiße noch mal verordnet! Warum verdammt noch mal werd ich geweckt?«
»Das CSU ist gerade mit einer Stichprobe Ihrer Waffen fertig geworden. Tut mir leid, John, ich weiß, achtundvierzig Stunden. Aber ich brauche Sie jetzt.«
»Fuck. Aber okay. Okay. Scheiße! Bin in einer Stunde da.«
»In dreißig Minuten. Und bitte tauchen Sie in halbwegs menschlicher Verfassung auf. Ich lasse Ihnen im Moment einiges durchgehen, aber wenn Sie sich noch mal dermaßen im Ton vergreifen, setze ich Ihnen einen dicken, dampfenden Scheißhaufen auf die Personalakte.«
»Ja. Okay. Die Lieutenant hat zu tun. Und ich wache auf. Alles klar.«
»Dreißig Minuten.«
Fünfunddreißig Minuten später absolvierte Tallow den unvermeidlichen Spießrutenlauf durch die Reihen der Kondolierenden am Eingang der Mordkommission im 1st-Precinct-Revier am Ericsson Place. Zehn Minuten peinliche Handschläge und peinliches Gerede, nur um zum Büro der Lieutenant vorzudringen. Jim war der Beliebte gewesen. Keiner wusste so recht, was er zu Tallow sagen sollte, aber die meisten versuchten es trotzdem. Es war eine Tortur.
Die Lieutenant begutachtete ihn mit säuerlicher Miene. »Dreißig Minuten, hatte ich gesagt.« Sie trug ein Kostüm aus kühlem bleigrauem Kammgarn, das er noch nie gesehen hatte.
»Ich wurde aufgehalten. Was ist los?«
»Ich könnte Ihnen jetzt erzählen, dass Sie ein paar Forensiker derart verärgert haben, dass ich ihnen Gefälligkeiten versprechen musste, damit die Waffen noch an die Nachtschicht weitergegeben wurden und ich leise hoffen durfte, die Ballistik heute zu bekommen. Aber das erspare ich Ihnen.«
Ohne Aufforderung sackte Tallow auf die einzige Sitzgelegenheit auf seiner Seite des Schreibtischs, einen Hartplastikstuhl, der sich nicht für ein längeres Verweilen im Büro der Lieutenant anbot. Genau deshalb hatte sie ihn ausgesucht. »Bin ich froh, dass ich deswegen gerade keinen Anschiss bekommen habe.«
»Falsche Antwort. Ich bin sehr unzufrieden, John. Das müssten Sie als Detective doch bemerkt haben.«
»Tut mir leid«, log er.
»Also. Das CSU hat eine Stichprobe der Waffen aus dem Apartment in der Pearl Street untersucht, das Sie durchgelüftet haben. Vier Waffen. Sind vor zwei Stunden zurückgekommen.«
Sie nahm einen dünnen, zusammengeklammerten Papierstapel vom Tisch, überflog das oberste Blatt und warf ihn wieder zurück. »Ich kann kaum glauben, was für eine Palette voll Scheiße Sie da vor meiner Tür abgeladen haben!«
»Was stimmt denn nicht mit den Waffen?«
»Was damit nicht stimmt? Mit den Waffen wurden Menschen umgebracht. Mit jeder einzelnen.«
Tallow meinte zu spüren, wie die Vorboten brutaler Kopfschmerzen in seinem Schädel anlandeten. »Geht’s auch etwas genauer, Lieutenant?«
Sie griff sich den Papierstapel. »Waffe eins: eine Bryco Model 38, Kaliber .32. Ungewöhnliche Riefenmuster infolge vorsätzlicher Manipulation des Innenlaufs. Tatwaffe im Mord an Matteo Nardini, Lower East Side, 2002. Das ist übrigens ein ungelöster Fall. Waffe zwei: eine .380er Lorcin Halbautomatik, stark modifiziert. Testschüsse ergeben eine Übereinstimmung mit dem Projektil, das aus Daniel Garvie, Avenue A, 1999, gepult wurde. Ungelöst. Waffe drei: ein Ruger Neun Millimeter, verschrammter Schlagbolzen, Marc Arias, Williamsburg, 2007, ungelöst. Nummer vier überlasse ich Ihrer Vorstellungskraft.«
»Das war eine Zufallsprobe der Waffen aus dem Apartment? Das CSU hat nicht nur Waffen von einer Stelle mitgehen lassen?«
»Reiner Zufall.«
Tallow stand abrupt auf. Mit vernebeltem Blick trat er hinter den Stuhl, stützte sich auf die Lehne und stellte wieder auf die Lieutenant scharf. »Das ist unmöglich.«
»Nein, John. Unmöglich finde ich, dass Sie gestern etwas sehr Seltsames entdeckt haben, das ein anderes Department im Precinct monatelang bei Laune hätte halten sollen. Gestern war das Ganze noch eine Kuriosität und nicht mein Problem.«
»Jede einzelne Waffe…«
»Exakt. Alles deutet darauf hin, dass Sie mehrere Hundert Mordfälle wiedereröffnet und vor meiner Tür abgeliefert haben.«
»Ich?«
»O ja, Sie. Das geht auf Ihre Kappe, Detective Tallow. Sie haben das Loch in die Wand kloppen lassen. Und Sie mussten ja unbedingt den Kopf reinstecken.«
»Ach, kommen Sie…«
»Wenn Sie’s kaputt machen, müssen Sie’s auch bezahlen. So läuft das in der ganzen Stadt.«
»Das können Sie nicht machen.«
»Abwarten. Sie haben ein Apartment voller Waffen gefunden, und bald werden wir wissen, dass jede dieser Waffen benutzt wurde, um genau eine Person zu töten. Sie haben den Auftrag, den Ergebnissen der Ballistik nachzugehen, herauszufinden, wie die Waffen ins Apartment gelangt sind, den oder die Besitzer aufzuspüren und ihm oder ihnen jeden einzelnen Fall anzuhängen. Denn ich schwöre Ihnen, ich lasse mir den Scheiß nicht ans Bein binden.«
Tallow riss den Stuhl nicht hoch und warf ihn nicht auf den Schreibtisch.
Doch die Lieutenant sah, wie seine Finger zuckten. »Darüber hinaus ist die Truppe sowieso zu dünn besetzt, und eine idiotische Schießerei, zu der es niemals hätte kommen dürfen, hat mich soeben meinen besten Mann gekostet. Deshalb arbeiten Sie bis auf Weiteres allein. Noch Fragen?«
Tallow glotzte sie nur an.
»Gut.« Die Lieutenant hielt ihm den Papierstapel zwischen Daumen und Zeigefinger hin und zappelte dabei so nervös herum, dass es raschelte, als Tallow danach griff. »Jetzt gehen Sie heim, ziehen sich um und machen sich verdammt noch mal an die Arbeit. Sie haben Blut am Sakko.«
Er zuckte zusammen, blickte an sich hinab wie ein Aussätziger und entdeckte einige dunkle Kleckse auf seinem linken Ärmel. Ein paar Partikel Jim Rosato zu seiner Linken. Jim Rosato war immer zu seiner Linken gewesen. Er hatte ihn nie hinters Steuer gelassen.
Obwohl Tallow noch keine volle Stunde wach war, fand er die Kraft, gewisse Worte herunterzuschlucken und das Büro umgehend zu verlassen.
Sechs
Auf der Fahrt vom Ericsson Place nach Hause fing Tallow an zu rechnen. New York City brachte es auf bis zu zweihundert ungelöste Mordfälle im Jahr. Seit 1985 hatten sich einige Tausend ungelöste Fälle angesammelt.
Der älteste Mord im Zusammenhang mit den drei Waffen, von denen die Lieutenant berichtet hatte, datierte aus dem Jahr 1999.
Er wusste nicht, wie viele Waffen im Apartment waren. Zweihundert? Nein, mehr. Doch er beschloss, erst mal mit zweihundert anzufangen. Zweihundert gescheiterte Fälle, mindestens über ein gutes Jahrzehnt hinweg, bei einem Gesamtvolumen von weit über tausend ungelösten Fällen…
Tallow hatte bereits Gelegenheit gehabt, die Asservatenkammer in der Bronx zu besuchen und durch die dämmrigen Flure des zweiten Untergeschosses zu streifen, wo das Beweismaterial nie aufgeklärter Mordfälle in meterhohen braunen Tonnen lagerte, jeweils vier übereinander, mit Aktenzeichen in schwarzer Sprühfarbe. Er beabsichtigte nicht, sich dort unten bei den Grabbeigaben der ungerächten Toten New Yorks häuslich einzurichten.
Er brauchte einen Plan.
Es war ein seltsames Gefühl, um diese Tageszeit in seinem Apartment zu sein– als wäre er in eine fremde Zeitzone gereist. Er stellte sich im engen Bad vor den großen, rußumrandeten Spiegel und betrachtete sich und seinen Anzug. Er legte den Anzug ab und musterte sich weiter. Legte auch die graue Krawatte und das weiße Hemd und alles andere ab und knäulte es mit dem Fuß unter das Waschbecken. Danach unterzog er sich einer schmerzhaften, siedend heißen Dusche. Verkrampft und zusammengekauert zwang er sich unter das sengende Prasseln und klatschte die Handflächen auf die Wände, um sich an Ort und Stelle festzunageln, bis das Wasser alles aus ihm herausgeprügelt hatte.
Nachdem er seine brennende Haut abgetrocknet hatte, ging er ins Schlafzimmer. Unter dem Bett lag ein Koffer, in dem Koffer lag ein schwarzer Anzug. Der Anzug, den er zu Beerdigungen trug. Im Wohnzimmer trieb er noch ein olivgrünes Hemd und eine schmale schwarze Krawatte auf. Sein altes Gürtelhalfter befand sich in der zweiten Schachtel von oben in einem Stapel in der hintersten Zimmerecke, einer Amazon.com-Schachtel, die zur Hälfte mit CDs gefüllt war (mehrere Nummern der Charly Blues Masterworks Compilations, die er ganz vergessen hatte). Tallow legte das Halfter an, strich das schwarze Sakko mit dem Handrücken zurück und ließ die Glock hineingleiten, zog sie einen Zentimeter heraus und schob sie wieder rein.
Der Anzug hob unvorteilhaft hervor, dass er allmählich nicht mehr schlank, sondern hager wirkte, je weiter er sich von der Dreißig zur Vierzig vorarbeitete. Tallow beschloss, dass es ihm egal war.
In seinem Trauerkostüm kehrte er in die Welt zurück.
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