Gurkensalat - Hans Wuhrst - E-Book

Gurkensalat E-Book

Hans Wuhrst

4,7

Beschreibung

Richard J. Bond, 33 Jahre alt, Single, in Köln lebend, Prolet und Macho, resümiert sein Dasein zwischen Scheinwelt und Realität. Er ist ein zwischenmenschlicher Chaot, selbsternannter Philosoph und Beobachter seiner vielseitigen Umgebung, der sich selbstherrlich über Beziehung, Erotik, Familie, Kunst, Kultur und Klischees auslässt, um sich und anderen die Welt zu erklären. Eine Komödie zum Lachen und Nachdenken zugleich, ein leichtes Buch, ein Lesespaß, der mit einem erstaunlichen Ende aufwartet. www.hanswuhrst.de

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Inhalt

Prolog

Kapitel: Erkenntnisse

Kapitel: Wochenende

Kapitel: Alltag

Kapitel: Urlaub

Kapitel: Happy End

Prolog

Dislozierte intraartikuläre Calcaneusfraktur, Typ Sanders III links.

Klingt super, oder?

So also die medizinische Bezeichnung und Ursache meiner saumäßigen Schmerzen.

Zertrümmertes Fersenbein klingt dennoch plausibler.

Unglaublich, was ein Sturz aus nur 72 cm Höhe verursachen kann!

Diese bescheuerte Klappleiter. Nur weil ich Schwager Hubert mal eben helfen wollte, eine Gardinenleiste anzubringen. Verdammt! Und das im Urlaub.

Aber wann ist schon der richtige Zeitpunkt für einen Unfall?

Meinen linken Fuß umgibt eine sich in regelmäßigen Abständen selbst aufblasende Pumpe. Diese hat, außer einem rhythmischen Geräusch von sich zu geben, das nach asthmakrankem Elefanten klingt, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: und zwar die Schwellung zurückzubilden.

Faszinierend, wie gewaltig ein Fuß anschwellen kann.

In einem Dreibettzimmer der chirurgischen Abteilung des Klinikums Passau lasse ich mir von einem der Ärzte, die mein Röntgenbild staunend begutachten und mich loben, dass ich ganze Arbeit geleistet hätte, erklären, was mich erwarten wird: eine Titanleiste mit zehn Schrauben, um die Trümmer in meinem Fuß wieder zu richten, wenn alles gut geht.

Ich solle mich aber auf einen langwierigen Heilungsprozess einstellen und auf mögliche Folgen.

Was langwierig bedeute?

Drei Monate.

Was Folgen bedeute?

Möglicherweise Einlagen im Schuh tragen zu müssen.

Was sind schon drei Monate? Was bedeutet schon Einlagen tragen zu müssen? Scheißspiel!

Vor meinem geistigen Auge spielen sich viele Szenen gleichzeitig ab … mein Job: ob ich die Stelle behalten kann? … meine Wohnung: den dritten Stock nenne ich nicht gerade behindertengerecht … meinen Urlaub: wie komme ich wieder nach Hause in mein geliebtes Köln … und: warum ich?

Der Arzt will mich mit der Tatsache beruhigen, dass ich mit einem Spezialschuh, einer sog. Orthese, schon nach der Operation auf Krücken gestützt, gehen könne.

Großartig! Ein kleines Licht am großen dunklen Horizont.

Ich lehne mich an das aufgerichtete Rückenteil des Krankenhausbettes und schaue aus dem Fenster. Der Himmel ist fast wolkenlos blau. Also doch kein dunkler Horizont.

Ein kleiner Trost. Könnte ich am Fenster stehen und herunter schauen, müsste der Blick auf den Inn möglich sein, denn Donau und Ilz liegen auf der anderen Gebäudeseite.

Jetzt auf einem der Dampfer sitzen und dort den restlichen Urlaub mit Conny verbringen … Ach, Conny … Weine ich? Unsinn, mein Auge schwitzt bloß.

Warum ich?

Da ist sie wieder, diese Frage, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigt.

Aber immer der Reihe nach.

Die Geschichte der aufregendsten anderthalb Jahre meines Lebens beginnt viel früher …

1. Kapitel: Erkenntnisse

Mögen Sie Gurkensalat?

Ich liebe Gurkensalat! Aber nur im Sommer. Und nur jenen, den man mit der Dillkräuter-Fertigmischung unter Hinzufügung von drei Esslöffeln Öl anrühren kann.

Gurkensalat birgt die interessante Kaumischung zwischen Biss und Schleim.

Letzteres besonders, wenn man die übrig gelassene Hälfte des einen Tages in einer Frischhaltebox für den nächsten Tag im Kühlschrank aufbewahrt. Die Bezeichnung Frischhaltebox halte ich übrigens für ein wenig hoch gegriffen.

Wie auch immer, der Kühlschrank bewirkt wahre Wunder.

Wenn ich mir zum Beispiel die Stullen für den nächsten Arbeitstag aus Knäckebrot bereite, also bereits am Vorabend schmiere und belege, erlebe ich regelmäßig, dass das Knäckebrot tags darauf in der Mittagspause unappetitlich biegsam und klamm ist. Dieser von mir als Kühlschrankphänomen bezeichnete Vorgang tritt besonders dann auf, wenn ich es mit Schnittkäse belege und, um den Knackbiss meiner saisonalen Leibspeise Gurke auf dem Käse verspüren zu wünsche, dieselbe darauf in dünnen Scheiben verteile. Tags drauf in der Mittagspause, voller Vorfreude das Wasser im Munde zusammenlaufend, muss ich dann feststellen, dass der in der Kühlschranknacht entstandene Gummifizierungsvorgang meine Stulle … ach wissen Sie, das müssen Sie einfach selbst mal ausprobieren!

Mit 33 Jahren, männlich, berufstätig, in Maßen sportlich, beliebt, humorvoll, aufgeschlossen, gebildet, kulturell interessiert …Ä-hem ja. Also vollkommen normal und in der Blüte meines Lebens stehend, stelle ich mir neuerdings die eine Frage des Lebens:

Warum ich?

Diese Erkenntnis ist wirklich neu und wurde von mir ganz allein entdeckt.

Die meisten Menschen stellen sich Fragen, wie:

Warum bekomme ich keinen freien Parkplatz in Nähe meiner Wohnung?

Wieso sagt mir keiner, dass die in der öffentlichen Toilette im Abroller vorhandene Toilettenpapierrolle nur noch zwei Blätter aufweisen wird, nachdem ich den WC-Sitz mit reichlich Papier ausgelegt habe und die andere Rolle, die von mir bevor ich mich niedergelassen habe, vorausschauend als potentielle Ersatzrolle in Betracht gezogen wurde, feucht ist?

Warum stehe ich regelmäßig an der längsten Schlange einer Supermarktkasse an, um dann bei Öffnung einer weiteren Kasse dort unter Missachtung sämtlicher Vorfahrtsregeln, den Versuch starte, mich möglichst vorne am hoffentlich gleich abfahrenden Band zu positionieren, jedoch feststellen muss, dass die Kassiererin noch gar nicht Platz genommen hat, sondern im Schneckentempo erst durch den ganzen Supermarkt getrottet kommt.

Da ich mir vor Kassenschlangenwechsel stets die vor mir stehende Person einpräge, um einen Vergleich zu haben, wer nachher schneller dran gekommen ist, stelle ich nach reichlich gesammelter Erfahrung auf dem Supermarktkassenwechsel-Schlachtfeld und deren Auswertung die mutige These auf, dass es zu 82% effizienter ist, in der alten Schlange stehen zu bleiben.

Ich habe nie Untersuchungen hierzu gelesen, einer muss eben den Anfang machen. Also: bitte sehr!

Ich beschäftigte mich vormals immer mit diesen Einzelproblemen, der einzelnen Frage.

Doch das ist jetzt Gott sei Dank vorbei!

Alle diese Fragen lassen sich durch die einzige Frage zusammenfassen:

Warum ich?

Genial, was?

Nie mehr mit Einzelproblemen befassen.

Problemglobalisierung ist die Lösung!

Diese Erkenntnis bekommen Sie von mir völlig gratis überlassen, so wie meine Supermarktkassenwechselauswertung.

Ich gebe gern! Ich helfe gern!

Aber ein Dankeschön würde ich schon erwarten. Ich hasse es nämlich, wenn meine Hilfsbereitschaft nicht gewürdigt wird.

Frau Sauer, meine ältere Nachbarin, musste die Rache für ihre mangelnde Dankbarkeit mir gegenüber bereits mehrfach spüren. Einmal hielt ich ihr die Haustür auf, als ich sie auf dem Bürgersteig – mit reichlich Einkaufstüten bepackt – kommen sah. Obwohl die Dame noch etwa acht Meter vom Haus entfernt war, lächelte ich ihr freundlich zu und winkte eine Gib-Gas-Oma - Geste.

Nachdem sie die Haustür endlich erreicht und völlig erschöpft ihre Taschen im Treppenhaus abgestellt hatte, bedankte sie sich nicht einmal bei mir!

Dabei sind es doch gerade die Alten, die sich beschweren, dass die Jugend keine Erziehung und Höflichkeit mehr zeigt.

Nach zweimaligen selbigen Verhaltens meiner Nachbarin, passe ich sie neuerdings ab und warte, bis sie ca. 2,7m von der Haustür entfernt ist, um diese dann versehentlich aber rechtzeitig zufallen zu lassen. Sozusagen als erzieherische Maßnahme.

Es bedurfte einiger Übung, um die Zeitachse, also die Dauer des exakten Eintreffens der Nachbarin an der Haustür und Zeitpunkt des Zufallens der Tür ins richtige Verhältnis zu setzen. Letzteres ist sogar saisonal bedingt. Im Sommer braucht die Tür etwas länger.

Also bedanken Sie sich lieber!

2. Kapitel: Wochenende

Freitag

Köln-Ehrenfeld im Sommer, Gurkensalatzeit.

Mich erwartet später die von gestern übrig gelassene Hälfte dieses wunderbaren Gaumengenusses, heute gepaart mit Frikadellen und Kartoffelpüree. Himmlisch!

Gestern kredenzte ich mir die erste Hälfte des Gurkensalates mit Fischstäbchen, Kartoffeln und Rahmspinat. Überhaupt eignet sich Gurkensalat zu allen Kartoffelgerichten als sommerliche Salatbeilage.

Sommer? Da war doch was? Ach ja: Urlaub!

Nein, ich habe noch keinen Urlaub. Einige Kollegen haben Urlaub, obwohl die Aufträge der Firma sich momentan nur so überschlagen. Mein Kfz.-Mechaniker hat Urlaub, obwohl mein alter Golf existenzielle Nöte aufweist. Meine Nachbarn haben Urlaub (außer Frau Sauer) und alle Paketdienste dieser Welt bitten ständig um Annahme von Päckchen für die ausgeflogenen Nachbarn. Warum bestellen die überhaupt noch etwas, wenn sie wissen, dass sie in den Urlaub fahren? Mein Flur gleicht inzwischen einem Speditionslager.

Und mein Friseur hat Urlaub. Würde ich jetzt jedoch einen anderen Friseur aufsuchen, um meinen gewohnten Rhythmus von achteinhalb Wochen einzuhalten, verschöbe sich der elfte kostenlose Haarschnitt, den ich mir mit zehn regelmäßigen Treuebesuchen erarbeitet hätte, um weitere achteinhalb Wochen. Rausgeschmissenes Geld. Ich muss durchhalten.

Mein Trost: der Bäcker hat noch auf. Hier fehlen mir nur noch vier Zweipfünderbrote zu meinem elften Bonusbrot.

Und jetzt auch noch Wochenende, also Freitagnachmittag und Dienstschluss. Ich hätte Zeit zum Friseurbesuch aber ich reiße mich zusammen. Braucht nur etwas Haargel und die Frisur sitzt. Werbung ist es etwas ganz Wunderbares. Haben Sie schon die neue Hornhautreduzierungscreme? Einfach klasse.

Auf der Heimfahrt beschließe ich für meine Wochenendplanung folgende Schwerpunkte:

Einkauf der Lebensmittel (Gurke habe ich noch), Jeanskauf in der Innenstadt, Wohnungsputz, Ausflug am Sonntag. Am Freitag- und Samstagabend: Ausgehen.

Ausgehen … Was für ein Wort? Man geht aus. Für mich ein Synonym für saufen gehen. Ich gehe saufen, nicht aus.

Und wenn ich Glück habe, werde ich von einem weiblichen Wesen begleitet, das meine Interessen teilt. Diesem Glück muss ich für dieses Wochenende unbedingt noch die Chance geben. Rita oder Conny?

Sie merken gerade, dass ich Single bin, richtig?

Gut! Sollten Sie weiblich, vollbusig, schlank, zwischen 23 und 29 Jahren, trinkfest sein und mich einmal treffen wollen, geben Sie sich bitte zu erkennen!

Um Missverständnisse zu vermeiden: Rita und Conny sind auch Singles. Beide Mitte zwanzig und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Ich helfe den beiden dabei. Meistens am Wochenende. Meistens nachts. Natürlich nicht gleichzeitig.

Die beiden kennen sich zwar, können sich aber nicht so richtig leiden. Und das ist auch gut so, allein schon wegen mir.

Neulich hatte ich eine Partyeinladung absagen müssen, als ich zufällig aber vor allem rechtzeitig erfuhr, dass sowohl Rita als auch Conny ebenfalls eingeladen wurden. Das wäre eine Katastrophe geworden.

Ich freue mich über einen freien Parkplatz direkt vor der Haustür. Das muss bestimmt schon zwei Jahre her sein, als ich das letzte Mal dieses Glück hatte und überlege noch Lotto zu spielen. Mich erwartet bestimmt ein Glückswochenende. Dann kann Frau Sauer auch nicht weit sein?

Nein, schade, auch in den beiden Nebenstraßen kann ich sie nicht entdecken. Dann eben doch kein Lotto.

Also, wen jetzt?

Rita oder Conny?

Bürokauffrau oder Altenpflegerin?

Rita ist etwas knochiger, dafür eben wirklich schlank und ein richtiger Blickfang. Die langen, braunen Haare trägt sie meist als Pferdeschwanz zusammengebunden. Leider ist sie drei Zentimeter größer als ich. Barfuss.

Wenn sie mich ärgern will, steckt sie ihr Haar hoch und trägt auch noch Stöckelschuhe.

Ihre einzige Gemeinsamkeit zu Conny sind die braunen Augen. Conny ist ein wenig rundlicher, aber nicht dick. Vielleicht ist kräftiger und ausgeprägter gebaut die passende Beschreibung. Außerdem geht sie mir nur bis zum Kinn. Barfuss.

Sie trägt ihr dunkelblondes Haar als Pagenschnitt. Meinen Wunsch, sich die Haare lang wachsen zu lassen, will sie sich überlegen und verlangte im Gegenzug ein Foto von mir. Immerhin.

Leider redet sie sehr viel, besonders nach dem dritten Kölsch.

Rita schweigt meistens und lässt mich reden. Ich rede auch viel. Auch ohne Kölsch.

Also was jetzt? Reden oder reden lassen?

Meine Überlegungen werden unterbrochen: das Handy klingelt.

Matze fragt, ob ich ihm morgen früh beim Umzug helfen könne. Ihm seien Franziska und Olli abgesprungen. Ich erinnere ihn an mein Rückenleiden, weshalb ich ihm schon letzte Woche nicht zugesagt hatte. Vielleicht ginge es meinem Rücken ja jetzt besser?

„Nein!“

Er hätte mir ja auch bei meinem Umzug geholfen.

„Na-hein!“

Och bitte. Es würde nur eins, vielleicht zwei Stündchen dauern, nur eben die paar Kisten in den Transporter – als Student hätte er ja nicht viel – und um die Ecke wieder ausladen. Erdgeschoss, also ohne große Anstrengung. Und wenn der Rücken schmerzen würde, könne ich sofort aufhören.

„Na gut.“

„Danke! Dann bis morgen früh um acht. Ab zehn Uhr wird nämlich die Straße zur neuen Wohnung wegen Filmaufnahmen gesperrt! Tschüß, Richie, schönen Abend!“

Vollidiot! Nein, nicht Matze, sondern ich. Hab ich mich wieder breit klopfen lassen. Um acht Uhr, tolle Wurst!

Dann werde ich wohl doch Rita anrufen, damit es, der geringen Redezeit wegen, nicht zu spät wird. Conny könnte ich dann vielleicht für morgen Abend … Wieder klingelt das Handy: Rita!

„Abmelden? … Lach doch nicht so blöd, Rita… Wer kichert denn da noch im Hintergrund? … Du fährst wohin? … last minute Teneriffa? … Ja, dann schönen Urlaub … Mit wem? … Conny? … Ich denke, ihr könnt Euch nicht leiden? … Ach so…Seit der Party neulich…Sie hat dir mein Foto gezeigt? … Was meinst du mit: ihr habt Euch über mich ausgetauscht? … Ich bin ein was? … Bisher hat sich keine von euch beiden beschwert! … Ja, ich lösche eure Telefonnummern auch!“

Warum ich?

Hätte ich damals Heike geheiratet … Ach lassen wir das.

Okay, aber nur kurz: dann säße jetzt höchst wahrscheinlich ein sabbernder Balg auf meinem Schoß, dem ich ein Unterhaltungsprogramm von backe backe Kuchen über Vorlesen bis Pferdchen spielen bieten müsste, bis die Teppichratte irgendwann so müde wird, wie ich es vermutlich schon sechs Stunden vor ihm wäre.

Ein Mann ohne Kinder ist wie ein Baum ohne Blätter.

Ja, Heike, jetzt hast du ja deinen Laubbaum. Ronny, den alten Sack.

Warte, bis der Herbst kommt.

Ronny ist Heikes Vermieter, mindestens doppelt so alt wie sie und war immer schnell zur Stelle, wenn der Abfluss verstopft war oder die Heizung knarrte. Besonders die im Schlafzimmer. Na ja, wenn es sich halt ergibt.

Um eines klar zu stellen: ich habe nichts gegen Kinder!

Da missverstehen Sie mich aber jetzt.

Schließlich habe ich eine vierjährige Nichte.

Schau ich eben Glotze-Comedy und lach mich kaputt.

Ausgehen, also Saufen kann ich auch zu Hause. Außerdem muss ich morgen früh raus. Dämlicher Umzug.

Der Flaschenöffner zelebriert mein Lieblingsgeräusch. Prost!

Haben Sie ein Lieblingsgeräusch?

Heikes Lieblingsgeräusch ist ein lachendes Kind. Das ist Glückseeligkeit und tiefster Frieden, gepaart mit Harmonie in Vollendung.

Connys Lieblingsgeräusch ist ihre eigene Stimme.

Ritas Lieblingsgeräusch ähnelt meinem sehr. Bei ihr ist es allerdings der Korken einer Champagnerflasche. Bei mir reicht eine Kölschflasche. Hin und wieder, wenn Rita nach unserem Ausgehen nicht gleich mit zu mir wollte, musste ich im Vorfeld – durch meine hellseherischen Fähigkeiten erahnend – in eine solche investieren, also Champagnerflasche. Überredungskunst nannte sie das. Ich nannte das ein 29,99€-Argument.

Die Werbung verspricht, dass auch Bier im Bauchnabel prickeln kann. Rita hat sich über die Sauerei und den Gestank im Bett so aufgeregt, dass sie mich samt Bier hinausgeworfen hat.

Aus meinem eigenen Bett!

In der männlichsten aller Fernsehgrundhaltungen, links die Flasche, rechts die Fernbedienung, nehme ich auf der Couch Platz. Ich freue mich auf die Frikadellen mit Kartoffelpüree und, wie bereits erwähnt, den Gurkensalat.

Das Fernsehprogramm steht also fest, ich habe noch 32 Minuten Zeit, bis der erste erträgliche Comedy-Beitrag anfängt.

Das reicht locker, um die Frikadellen in der Mikrowelle aufzuwärmen und den Kartoffelpüree anzurühren.

Habe ich mich eigentlich schon vorgestellt?

Mein Alter kennen Sie ja bereits. Mit 1,78m, braunen, kurz geschnittenem Haar, braunen Rehaugen und nur wenig Bauchansatz, sehe ich meinem Namensvetter James nicht unähnlich, also dem aus den Sechzigern.

Ich heiße Bond. Richie Bond.

Verdammt noch mal, ich heiße wirklich Bond und ich liebe diesen Spruch. Nur Richie ist nicht ganz richtig. Wie Sie erahnen, lautet mein Vorname korrekt Richard. Und um noch genauer zu sein: Richard Joseph, nach Onkel Joseph, dem Bruder meines Vaters. Onkel Joseph ist der Held in der Familie. Eventuell erzähle ich Ihnen später darüber, wenn es sich ergibt. Ich muss jetzt den Püree anrühren.

Ach, vielleicht sei noch erwähnenswert, dass ich kein Kölner bin. Ich stamme aus Kassel in Nordhessen. Dort, wo man Kartoffelsalat Gorduffelsolot nennt und wo es Ahle Worscht gibt.

Dort, wo man Worten, die mit Au beginnen, das A vorenthält und den nach dem u folgenden Konsonanten verdoppelt. Können Sie mir folgen?

Aus dem Wort Auftritt wird also das Wort Ufftritt. Der Klassiker aber ist: Kennen Sie eine Kasseler Wurstsorte mit U? Uffschnitt!

Kassel wäre damals fast Bundeshauptstadt geworden, wussten Sie das?

Ich bin froh, dass Adenauer sein Bonn durchgesetzt hat. Die mittelstädtische Idylle wäre dahin gewesen. Flughäfen, Bürohochhäuser, Sicherheitstruppen, Staatsdiener zuhauf.

Nein, nicht in meinem Kassel! Danke, Konrad!

Ansonsten sprechen wir Nordhessen eine gepflegte, dem Hochdeutsch recht nahe kommende Aussprache, wenn wir unsere Grenzen verlassen.

Nicht so wie der Kölner, der seinen ch – sch- Sprachfehler mit seltsamen Stolz in der ganzen Welt herausposaunen muss.

Und machen Sie einem Kölner mal klar, dass er eine unklare Aussprache hat, ja sogar einen Sprachfehler!

Einmal hätte es mich fast meinem Job gekostet. Man sollte seinen Chef nicht ständig korrigieren.

Ich muss jetzt aber wirklich den Püree anrühren.

Nach zweieinhalb Stunden Comedy-Gelaber mit 51 Minuten Werbeunterbrechung habe ich mich doch nicht kaputt gelacht. Auch die vier Kölsch haben mich nicht zugrunde gerichtet.

Ich stelle den Wecker und gehe schlafen.

Gute Nacht!

Samstag:

Um Sieben Uhr 56 stehe ich überpünktlich vor Matzes Haustür. Es sind bereits 21°C, dieser Sommer hat es wirklich in sich. Nicht mal ein Wölkchen am Himmel.

Matze öffnet nicht. Mir tut jetzt schon der Rücken weh, nur vom Warten bis 8 Uhr 12, als er mit dem Miettransporter um die Ecke kommt und mich hupend begrüßt. Bis 8 Uhr 24 habe ich durch gezielte Fragen feststellen können, dass wir für den anstehenden Umzug zu zweit bleiben und bereits eine knappe halbe Stunde Zeit verloren haben.

Warum ich?

Mensch, Matze! Ich entschließe mich, nicht zu gehen und schleppe schweigend den ersten Umzugskarton in den Transporter. Auch beim Zweiten schweige ich noch, als ich bemerke, dass Matze erst einen Karton geschafft hat.

Er riecht stark nach Schweiß.

Bei meinem Vierten und Matzes Zweiten breche ich mein Schweigen und versuche es mit Humor: „Na, Matze, wo kein Schnee liegt, kannst du schneller gehen!“

Matze sieht sich ratlos um und schüttelnd den Kopf. Dabei verstreut er seine Schweißperlen im Hausflur.

Wortlos stampft er die Treppe hinauf. Er ist fix und fertig.

Oben in der Wohnung finde ich ihn heulend auf dem Sofa sitzend vor, den nass geschwitzten Kopf in die Hände gestützt.

Bis neun Uhr 16 hat er mir erklärt, dass sein Leben aus den Fugen geraten sei. Dieser Umzug sei keine Lösung, sondern ein Weglaufen. Aber vor sich selbst könne man nicht wegrennen. Überhaupt hätte er alles falsch gemacht. Sein dritter Studienanlauf – Sozialpädagogik – sollte ihn, nach versautem Sprachstudium für chinesisch und kisuaheli, vom abgebrochenen Maschinenbaustudium trösten und mit Selbstfindung erlösen. Seine Familie stünde nicht mehr hinter ihm, er erhielte keine Unterstützung mehr und der Gitarrenunterricht an der VHS bringe nicht genügend ein, um seine Schulden zu tilgen.

Zu dem hätte er es versäumt, einen richtigen Freundeskreis aufzubauen.

Um ihm aufzumuntern gab ich ihm im letzten Punkt Recht und lobte sein Erkenntnisreichtum.

Bei einem Umzug weiß man, ob man richtige Freunde hat.

Ich wisse jetzt wenigstens, dass ich sein einziger echter Freund sei!

Warum ich?

Um Zehn Uhr zwei kniet er dankend vor mir.

So kommen wir mit dem Umzug jedenfalls überhaupt nicht weiter. Außerdem schmerzt mein Rücken.

Ich ergreife die Initiative und rufe zwei Kollegen an, hoffend, dass sie schon auf sind. Die Hoffnung erfüllt sich, Micha und Müischa haben sogar schon gefrühstückt.

Micha(-el) kommt aus Leipzig und spielt das Weibchen in der Beziehung mit Müischa. Müischa ist, wie der Name vermuten lässt, Kölner und heißt auch Micha-el. Er hat seine große Liebe übers Internet kennen gelernt. Ich schätze beide auf Ende dreißig, aber das ist wirklich schwer zu sagen. Am liebsten tragen die beiden, rank und schlanken Glatzenträger Partnerlook, bevorzugt Overalls.

Durch seine guten Verbindungen zum Chef, konnte Müischa seinen Micha ebenfalls in unserer Firma unterbringen. Beide arbeiten nun glücklich und vereint in unserer Warenannahme.

Durch Nennung eines nicht unerheblichen Geldbetrages am Telefon, erkaufe ich mir die Hilfe der beiden Kollegen.

Um Elf Uhr elf – Kölle Alaaf! – geht der Umzug weiter.

Während ich in der Wohnung die Reihenfolge, der herunter zu tragenden Kartons und Einrichtungsgegenstände, festlege, schleppen Micha und Müischa im Dauerlauf. Das erspare das Fitness-Studio und mache einen knackigen Po.

Aha, daher die knappen Trainingsanzüge im Partnerlook.

Matze wartet seit einer viertel Stunde, dass jemand mit am Sofa anpackt. Ich erteile meinen beiden Knackpopos den Auftrag, als nächstes das Sofa herunter zu tragen. Matze drücke ich eine Stehlampe in die Hand und schicke ihn mit den aufmunternden Worten hinter her, sich ein Beispiel zu nehmen; gebe ihm einen freundschaftlichen Klaps auf dem Po und rufe „hopp hopp“, um ihm die Richtung zum Treppenhaus zu weisen.

Genau in diesem Moment des Klapses erscheinen –scheinbar völlig ausgeruht – Micha und Müischa im Zimmer. Sie grinsen erst sich, dann uns an. Müischa ruft „Aha!“

Und Micha ergänzt: „Du hast dir nie was anmerken lassen!“

Ich schupse Matze ins Treppenhaus, verschränke meine Arme vor der Brust und schließe die Augen.

Warum ich?

Mein „ich möchte jetzt nicht darüber reden!“ und „es ist anders, als ihr denkt!“ lässt die beiden Kollegen mit den letzten zwei Umzugsgütern und „jaja“ vor sich hin murmelnd und schmunzelnd im Treppenhaus verschwinden.

Egal. Ich mache mir Gedanken um Matze. Er braucht eine starke Hand, am besten die einer Frau. Aber eine verfettete, rote Lockenpracht, die er Frisur nennt, seine ihm zu klein geratenen, abgetragenen, muffigen Klamotten, die er vermutlich aus der Kleiderkammer des Roten Kreuzes gestohlen hat und der wackelnde Entengang auf langen, dünnen Beinchen?

Ne, für nicht mal dreißig sieht er schon ziemlich verbraucht aus. Welche Frau will so was? Armer Matze!

Kurz darauf zahle ich Micha und Müischa aus und bedanke mich nochmals für die schnelle Hilfe. Matze will die beiden noch nicht entlassen und sieht mich fragend an. Ich verabschiede meine Kollegen erneut und wünsche ein schönes Wochenende.

Außer Hörweite der Beiden, erkläre ich Matze die Situation. Erstens: Geld (ich musste Micha und Müischa 80,00€ geben), zweitens: Straße zur neuen Wohnung gesperrt, drittens: mein Rücken.

Ich schlage vor, mit dem Transporter und meinem Wagen erst einmal zu mir zu fahren. Von dort aus kommt man später wegen des Einbahnstraßensystems besser zu Matzes neuer Wohnung. Samstagmittag finde ich immer einen Parkplatz für meinen Golf. Natürlich nicht vor der Haustür. Dieses Glück wird mir, dem Gesetz der Serie entsprechend, wohl erst wieder in zwei Jahren widerfahren. Matze muss den Transporter vier Straßen weiter parken, um für das long vehicle einen geeigneten Platz zu finden. Abgehetzt kommt er an.

Inzwischen sind es 24°C und nach einer Dusche freue ich mich auf mein Lieblingsgeräusch: Prost!

Matze wäscht sich wenigstens die Hände. Er fragt nach Tee und wie es jetzt weiter gehen soll.

„Mit dir?“

„Nein, mit dem Umzug!“.

Gott sei Dank!

Ich motiviere ihn dazu, selbst mal eine Lösung zu finden, da ich noch einzukaufen habe und meine Bekleidungswünsche in der Innenstadt realisieren möchte. Im nahe gelegenen Cafe gäbe es übrigens Tee. Als sein fragender Blick mir andeutet, er könne erneut anfangen zu heulen, drücke ich ihm fünf Euro und meinen Wohnungszweitschlüsselsatz in die Hand.

Ich sei ja spätestens um Fünf wieder da und dann schauen wir mal nach der Straßensperrung vor seiner neuen Wohnung, die jedoch bis 20 Uhr angekündigt war.

„Tschüß, Matze, bis dann!“

Die schwüle, drückende Luft lädt nicht wirklich zum Einkauf in der Innenstadt ein aber die Alternative hieße Matze.

Nein, man kann nicht vor sich selbst weglaufen, aber vor ihm.