Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Gustav Schwab - E-Book

Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums E-Book

Gustav Schwab

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Beschreibung

Die griechischen Sagen eröffnen eine Welt von monumentaler Dramatik: In gewaltigen Bildern entfalten sich Geschichten von Göttern und Helden, von Triumph und Tragödie, von Liebe, Verrat und der unbedingten Suche nach Erkenntnis. Gustav Schwabs spannende Nacherzählungen folgen Odysseus auf seiner gefahrvollen Irrfahrt durch das Mittelmeer und den mutigen Argonauten auf ihrer Quest nach dem goldenen Vlies. Sie schildern die übermenschlichen Kraftproben des Herkules, das düstere Schicksal des Ödipus und den epochalen Kampf um Troja, der das Schicksal einer ganzen Welt entscheiden wird. Diese Mythen führen in die Tiefen menschlicher Leidenschaften: In dramatischen Wendungen offenbaren sich Charaktere von faszinierender Komplexität. Ob im Kampf gegen Ungeheuer, im Wettstreit mit den Göttern oder in der Konfrontation mit der eigenen Hybris – stets geht es um elementare Entscheidungen von weitreichender Konsequenz. Schwabs Bearbeitung besticht durch ihre plastische Erzählkunst und sprachliche Brillanz. Seine Adaptionen bewahren die epische Kraft der antiken Quellen und laden ein zu einer fesselnden Reise durch die Mythologie der klassischen Antike. Diese E-Book-Ausgabe ist mit einem ausführlichen kommentierenden Vorwort ausgestattet.

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Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums

Griechische Mythen und Sagen - mit einführendem Kommentar

Copyright © 2024 Novelaris Verlag

ISBN: 978-3-68931-085-1

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Wie das Buch entstand

Die alten Geschichten und ihre neue Form

Wie das Buch aufgebaut ist

Was das Buch bewirkt hat

Warum die Geschichten uns heute noch fesseln

DIE KLEINEREN SAGEN

Prometheus

Die Menschenalter

Deukalion und Pyrrha

Io

Phaëton

Europa

Kadmos

Pentheus

Perseus

Ion

HERAKLES

Dädalos und Ikaros

Herakles-Sage: Herakles der Neugeborne

Die Erziehung des Herakles

Herakles am Scheidewege

Des Herakles erste Taten

Herakles im Gigantenkampfe

Herakles und Eurystheus

Die drei ersten Arbeiten des Herakles

Die vierte Arbeit des Herakles bis zur sechsten

Die siebente, achte und neunte Arbeit des Herakles

Die drei letzten Arbeiten des Herakles

Herakles und Eurytos

Herakles bei Admetos

Herakles im Dienste der Omphale

Die späteren Heldentaten des Herakles

Herakles und Deïanira

Herakles und Nessos

Herakles, Iole und Deïanira. Sein Ende

DIE ARGONAUTEN

Die Argonauten-Sage: Iason und Pelias

Anlaß und Beginn des Argonautenzuges

Die Argonauten zu Lemnos

Die Argonauten im Lande der Dolionen

Herakles zurückgelassen

Pollux und der Bebrykenkönig

Phineus und die Harpyien

Die Symplegaden

Weitere Abenteuer

Iason im Palaste des Aietes

Medea und Aietes

Der Rat des Argos

Medea verspricht den Argonauten Hilfe

Iason und Medea

Iason erfüllt des Aietes Begehr

Medea raubt das goldene Vlies

Die Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea

Weitere Heimfahrt der Argonauten

Neue Verfolgung der Kolcher

Letzte Abenteuer der Helden

Iasons Ende

THESEUS

Die Theseus-Sage: Bellerophontes

Theseus – Des Helden Geburt und Jugend

Seine Wanderung zum Vater

Theseus in Athen

Theseus bei Minos

Theseus als König

Der Amazonenkrieg

Theseus und Peirithoos. Lapithen- und Zentaurenkampf

Theseus und Phädra

Theseus auf Frauenraub

Theseus’ Ende

ÖDIPUS

Ödipus-Sage: Des Ödipus Geburt, Jugend, Flucht, Vatermord

Ödipus in Theben, heiratet seine Mutter

Die Entdeckung

Iokaste und Ödipus strafen sich

Ödipus und Antigone

Ödipus auf Kolonos

Ödipus und Theseus

Ödipus und Kreon

Ödipus und Polyneikes

TROJA

Die Troja-Sage: Trojas Erbauung

Priamos, Hekabe und Paris

Der Raub der Helena

Die Griechen

Botschaft der Griechen an Priamos

Agamemnon und Iphigenia

Abfahrt der Griechen. Aussetzung des Philoktetes

Die Griechen in Mysien. Telephos

Paris zurückgekehrt

Die Griechen vor Troja

TROJA (zweiter Teil)

Ausbruch des Kampfes. Protesilaos. Kyknos

Palamedes und sein Tod

Taten des Achill und Ajax

Polydoros

Chryses, Apollo und der Zorn des Achill

Versuchung des Volkes durch Agamemnon

Paris und Menelaos

TROJA (dritter Teil)

Pandaros

Die Schlacht. Diomedes

Glaukos und Diomedes

Hektor in Troja

Hektor und Ajax im Zweikampf

Waffenstillstand

Sieg der Trojaner

Botschaft der Griechen an Achill

Dolon und Rhesos

Zweite Niederlage der Griechen

Kampf um die Mauer

Kampf um die Schiffe

Die Griechen von Poseidon gestärkt

Hektor von Apollo gekräftigt

Tod des Patroklos

Jammer Achills

TROJA (vierter Teil)

Achill neu bewaffnet

Achill und Agamemnon versöhnt

Schlacht der Götter und Menschen

Kampf des Achill mit dem Stromgotte Skamander

Schlacht der Götter

Achill und Hektor vor den Toren

Der Tod Hektors

Leichenfeier des Patroklos

Priamos bei Achill

Hektors Leichnam in Troja

Penthesilea

Memnon

Der Tod des Achill

Leichenspiele zu Ehren Achills

TROJA (fünfter Teil)

Der Tod des großen Ajax

Machaon und Podaleirios

Neoptolemos

Philoktet auf Lemnos

Der Tod des Paris

Sturm auf Troja

Das hölzerne Pferd

Die Zerstörung Trojas

Menelaos und Helena. Polyxena

Abfahrt von Troja. Ajax des Lokrers Tod

DAS SCHICKSAL DER TANTALIDEN

Die Tantaliden-Sage: Agamemnons Geschlecht und Haus

Agamemnons Ende

Agamemnon gerächt

Orestes und die Eumeniden

Iphigenia bei den Tauriern

ODYSSEUS

Die Odyssee - Telemach und die Freier

Telemach bei Nestor

Telemach zu Sparta

Verschwörung der Freier

Odysseus scheidet von Kalypso und scheitert im Sturm

Nausikaa

Odysseus bei den Phäaken

Odysseus erzählt den Phäaken seine Irrfahrten (Kikonen. Lotophagen. Zyklopen. Polyphem)

Odysseus erzählt weiter (Der Schlauch des Äolos. Die Lästrygonen. Kirke)

Odysseus erzählt weiter (Das Schattenreich)

Odysseus erzählt weiter (Die Sirenen. Skylla und Charybdis. Thrinakia und die Herden des Sonnengottes. Schiffbruch. Odysseus bei Kalypso)

Odysseus verabschiedet sich von den Phäaken

ODYSSEUS (zweiter Teil)

Odysseus kommt nach Ithaka

Odysseus bei dem Sauhirten

Telemach verläßt Sparta

Gespräche beim Sauhirten

Telemach kommt heim

Odysseus gibt sich dem Sohne zu erkennen

Vorgänge in der Stadt und im Palast

Telemach, Odysseus und Eumaios kommen in die Stadt

Odysseus als Bettler im Saal

Odysseus und der Bettler Iros

Penelope vor den Freiern

Odysseus abermals verhöhnt

Odysseus mit Telemach und Penelope allein

Die Nacht und der Morgen im Palaste

Der Festschmaus

Der Wettkampf mit dem Bogen

Odysseus entdeckt sich den guten Hirten

Die Rache

Bestrafung der Mägde

Odysseus und Penelope

Odysseus und Laërtes

Aufruhr in der Stadt durch Athene gestillt

Der Sieg des Odysseus

WEITERE KLEINE SAGEN (Nachtrag)

Aktäon

Prokne und Philomela

Prokris und Kephalos

Äakos

Philemon und Baucis

Arachne

Midas

Hyakinthos

Atalante

Zethos und Amphion

Die Dioskuren

Melampus

Orpheus und Eurydike

Keyx und Halkyone

Cover

Table of Contents

Text

Einführung

Wie das Buch entstand

Im Jahre 1838 begann Gustav Schwab in Stuttgart mit der Arbeit an einem Werk, das die Mythologie der Antike einem breiten Publikum zugänglich machen sollte. Als Pfarrer und Gymnasiallehrer erkannte er die Notwendigkeit, die griechischen und römischen Sagen, die damals nur in schwer verständlichen Übersetzungen vorlagen, neu zu erschließen. Seine tägliche Erfahrung im Unterricht zeigte ihm, wie sehr diese Geschichten junge Menschen faszinierten – vorausgesetzt, sie wurden angemessen vermittelt.

Die Konzeption des Werkes entwickelte sich aus seiner langjährigen pädagogischen Praxis. Als Lehrer beobachtete er die Schwierigkeiten seiner Schüler mit den Originaltexten, während er als Vater von fünf Kindern die ungebrochene Wirkung dieser Erzählungen erlebte. Diese Erfahrung führte zu der Erkenntnis, dass die antiken Sagen ihre Bedeutung nicht verloren hatten, sondern lediglich einer zeitgemäßen sprachlichen Form bedurften.

Die Entstehung des Werkes erstreckte sich über zwei Jahre intensiver Arbeit, von 1838 bis 1840. In dieser Zeit widmete sich Schwab dem Studium der Quellen und ihrer Übertragung in eine neue Form. Seine Intention war es, zwei scheinbar gegensätzliche Ziele zu vereinen: die Bewahrung der ursprünglichen Qualität der Texte bei gleichzeitiger Schaffung einer Fassung, die auch jüngeren Lesern zugänglich war.

Schwab konzipierte sein Werk sowohl für die häusliche Lektüre als auch für ein breiteres Publikum. Er sah die Sammlung als Instrument der Kulturvermittlung, das die Kluft zwischen der antiken Überlieferung und der Gegenwart des 19. Jahrhunderts überbrücken sollte. Seine Bearbeitung verband wissenschaftliche Genauigkeit mit narrativer Gestaltungskraft.

Die Resonanz auf das Werk übertraf die Erwartungen. Pädagogen berichteten von einer neuen Aufgeschlossenheit ihrer Schüler gegenüber der antiken Mythologie, während das Werk auch in der häuslichen Lektüre große Wirkung entfaltete. Die gebildete Leserschaft schätzte Schwabs ausgewogene Darstellung, die wissenschaftliche Präzision mit stilistischer Klarheit verband.

Schwabs didaktisches Konzept zielte auf mehr als bloße Unterhaltung. Er war überzeugt von der zeitlosen Relevanz der antiken Mythologie, deren existenzielle Themen er in einer Form vermitteln wollte, die sowohl bildend als auch unterhaltsam wirkte.

Das Resultat seiner Arbeit wurde zu einem Standardwerk der mythologischen Literatur im deutschen Sprachraum. Was als didaktisches Projekt begann, entwickelte sich zu einem Klassiker der Bildungsliteratur. Schwabs Nacherzählungen prägten das Verständnis der antiken Mythologie über Generationen hinweg.

Die anhaltende Bedeutung des Werkes, das seit fast zwei Jahrhunderten zum Kanon der deutschen Literatur gehört, liegt in seiner gelungenen Synthese von wissenschaftlicher Genauigkeit und literarischer Gestaltung. Gustav Schwabs bleibende Leistung besteht in der Schaffung eines Zugangs zur antiken Mythologie, der bis heute seine Gültigkeit bewahrt hat.

Die alten Geschichten und ihre neue Form

Gustav Schwabs Neugestaltung der antiken Sagen stellte eine methodische Herausforderung dar. Die Überlieferung lag in diversen Quellen vor, die zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt werden mussten. Als primäre Quellen dienten die klassischen Autoren: Homer mit “Ilias” und “Odyssee”, Ovid mit den “Metamorphosen” sowie Vergil mit der “Aeneis”.

Die Bearbeitung dieser Quellen erforderte ein differenziertes methodisches Vorgehen. Die antiken Texte entstammten einem anderen kulturellen Kontext und waren für ein anderes Publikum verfasst. Ihre komplexe Stilistik, ihre vielfältigen Anspielungen und ihre poetische Bildsprache stellten besondere Anforderungen an die Übertragung. Zudem existierten oft verschiedene Überlieferungsvarianten mit abweichenden Handlungsverläufen.

Schwabs Bearbeitungsmethode zeichnete sich durch philologische Sorgfalt aus. Er respektierte die Substanz der Überlieferung – die zentralen Ereignisse, die emotionale Tiefe und die zeitlosen Wahrheiten – während er eine sprachliche Form entwickelte, die seinem zeitgenössischen Publikum entgegenkam.

Diese Transformation erforderte differenzierte Entscheidungen. Bestimmte Aspekte der antiken Überlieferung, die den moralischen Konventionen des 19. Jahrhunderts widersprachen, wurden modifiziert, ohne sie zu eliminieren. Schwab fand einen Mittelweg zwischen der Unmittelbarkeit der antiken Darstellung und den Erwartungen seiner Zeit.

Besondere Aufmerksamkeit widmete er der narrativen Kohärenz. Wo die antiken Texte Diskontinuitäten aufwiesen oder spezifisches Vorwissen voraussetzten, schuf Schwab verbindende Übergänge. Seine Darstellung führte systematisch in die jeweiligen Erzählkontexte ein und erläuterte die handelnden Figuren.

Seine zentrale Leistung bestand in der Entwicklung einer Erzählweise, die Zugänglichkeit mit inhaltlicher Tiefe verband. Er bewahrte die Komplexität der Überlieferung, ihre Bedeutungsebenen und ihre poetische Qualität. Seine Darstellung vermittelte sowohl die dramatischen als auch die reflektierenden Dimensionen der Texte.

Schwab entwickelte eine differenzierte Methode im Umgang mit divergierenden Überlieferungen. Bei abweichenden Versionen wählte er meist die etablierte oder dramaturgisch überzeugendste Variante, verwies aber gelegentlich auf alternative Überlieferungen, um die Vielfalt der mythologischen Tradition zu dokumentieren.

Seine sprachliche Gestaltung erreichte eine ausgewogene Synthese. Sie entsprach der Dignität der Überlieferung und blieb zugleich für ein breites Publikum verständlich. Er vermied sowohl archaisierende als auch modernisierende Tendenzen. Seine Prosa entwickelte einen natürlichen Rhythmus, der sich für die mündliche Vermittlung eignete.

Bemerkenswert ist seine systematische Behandlung der mythologischen Nomenklatur. Die griechischen und römischen Namen wurden behutsam eingeführt und kontextualisiert, ohne den narrativen Fluss zu beeinträchtigen. Durch gezielte Wiederholung und Erläuterung wurden die ursprünglich fremden Namen zu vertrauten Elementen der Erzählung.

Schwabs Werk transzendiert die Kategorien der bloßen Übersetzung oder Nacherzählung. Es stellt eine eigenständige literarische Leistung dar, die die Qualitäten der antiken Überlieferung mit den Anforderungen moderner Rezeption verbindet. Seine Version der Sagen etablierte einen Standard für die Vermittlung antiker Mythologie im deutschen Sprachraum.

Wie das Buch aufgebaut ist

Die architektonische Qualität von Gustav Schwabs Sagensammlung manifestiert sich in ihrer durchdachten Struktur. Das Werk folgt einem systematischen Aufbau, der sowohl die Orientierung erleichtert als auch kontinuierliche Entdeckungen ermöglicht. Die Komposition folgt einem organischen Prinzip, das die einzelnen Erzählungen in größere Zusammenhänge integriert.

Den Ausgangspunkt bilden die kosmogonischen Mythen und die Theogonie. In systematischer Progression entwickelt Schwab die Entstehung der Welt aus dem Chaos, die Herrschaft der Titanen und die Etablierung der olympischen Götter unter Zeus. Diese fundamentalen Erzählungen konstituieren das mythologische Fundament und führen zentrale göttliche Akteure ein.

Es folgen die Sagen von den frühen Menschen und den ersten Heroen. Die Prometheus-Erzählung und der Deukalionische Flutsage markieren den Übergang von der göttlichen zur menschlichen Sphäre. Diese Narrationen thematisieren die Etablierung der Beziehung zwischen Menschen und Göttern sowie die Konsequenzen menschlicher Hybris.

Den Hauptkorpus bilden die heroischen Erzählungen. Schwab arrangiert sie in einer Weise, die narrative Verknüpfungen und thematische Korrespondenzen sichtbar macht. Die Perseus-Sage führt zur Herakles-Erzählung, diese wiederum zum Argonautenzyklus. Die genealogischen und narrativen Verbindungen zwischen den Sagenkreisen werden systematisch entwickelt.

Besondere Aufmerksamkeit gilt der Integration verschiedener Sagenkreise. Der Trojanische Zyklus wird durch vorbereitende Erzählungen – das Paris-Urteil, die Hochzeit von Peleus und Thetis – systematisch eingeleitet. Diese Kompositionstechnik erzeugt ein kohärentes narratives Gefüge.

Schwab gewährleistet dabei die Autonomie der einzelnen Erzählungen. Jede Geschichte ist in sich verständlich, während sich für den kontinuierlichen Leser zusätzliche Bedeutungsebenen erschließen. Diese Struktur ermöglicht verschiedene Lektüremodi.

Die narrative Gestaltung adaptiert sich an die jeweiligen stofflichen Anforderungen. Epische Breite bei komplexen Handlungsfolgen alterniert mit konziser Darstellung einzelner heroischer Episoden. Die stilistische Kohärenz bleibt dabei gewahrt.

Zwischen den großen narrativen Komplexen integriert Schwab kleinere Erzähleinheiten als retardierende Momente. Diese Alternation zwischen monumentalen und intimeren Narrationen erzeugt einen charakteristischen Rhythmus.

Die Figurencharakterisierung folgt einem differenzierten System. Zentrale Gestalten werden durch ausführliche Exposition und charakteristische Handlungen entwickelt, während Nebenfiguren prägnant konturiert werden. Es entsteht ein komplexes Beziehungsgeflecht von Charakteren.

Schwabs Kompositionstechnik arbeitet mit subtilen Vorausdeutungen und Rückbezügen. Prophezeiungen finden ihre spätere Erfüllung, scheinbar periphere Details gewinnen retrospektiv Signifikanz. Diese Technik fördert die aufmerksame Lektüre.

Den Abschluss bilden die Nostoi, die Heimkehrerzählungen nach dem Trojanischen Krieg. Diese Erzählungen synthetisieren verschiedene narrative Stränge und eröffnen mit der Aeneas-Sage den Übergang zur römischen Tradition.

Was das Buch bewirkt hat

Die Publikation von Gustav Schwabs “Die schönsten Sagen des klassischen Altertums” initiierte eine kulturelle Wirkung von außerordentlicher Reichweite. Das Werk entwickelte sich von einer zunächst begrenzten Leserschaft zu einem zentralen Medium der Vermittlung antiker Mythologie im deutschen Sprachraum.

Die primäre Rezeption erfolgte im pädagogischen Kontext. Lehrkräfte erkannten das didaktische Potential des Werkes, das die komplexe antike Überlieferung in einer zugänglichen Form präsentierte. An zahlreichen Gymnasien etablierte sich Schwabs Text als Grundlage des mythologischen Unterrichts. Sukzessive Schülergenerationen erschlossen sich durch seine Vermittlung die antike Sagenwelt.

Die Wirkung des Werkes transzendierte den schulischen Kontext. Es etablierte sich als Medium der familiären Lektüre und kulturellen Bildung. Eltern nutzten die Erzählungen nicht nur zur Unterhaltung, sondern zur Vermittlung fundamentaler Lebenserfahrungen. Die existenziellen Themen der Sagen – Mut und Hybris, Liebe und Verrat, Erfolg und Scheitern – bewahrten ihre zeitlose Relevanz.

Bemerkenswert ist die soziale Reichweite des Werkes. Schwabs Text überwand die traditionelle Segregation zwischen akademischer und populärer Kultur. Seine Darstellung vereinte wissenschaftliche Präzision mit allgemeiner Verständlichkeit und schuf damit ein Medium kultureller Integration.

Die Wirkung des Werkes manifestierte sich in der Prägung des kollektiven Vorstellungsraums. Schwabs Interpretationen und Formulierungen etablierten sich als Standard der mythologischen Rezeption im deutschen Sprachraum. Seine Darstellungsweise wurde zum Referenzpunkt späterer Adaptionen.

Das Werk stimulierte die künstlerische Produktion in verschiedenen Medien. Bildende Künstler, Literaten und Theaterschaffende adaptierten Schwabs Narrationen. Seine Texte fungierten als Inspirationsquelle künstlerischer Kreativität mit nachhaltiger Wirkung.

Die wissenschaftliche Rezeption profitierte von der vermittelnden Funktion des Werkes. Schwabs Darstellung generierte bei vielen Lesern ein nachhaltiges Interesse an der klassischen Antike, das sich in akademischen Studien fortsetzte. Das Werk trug zur Kontinuität der klassischen Bildungstradition bei.

Die internationale Resonanz manifestierte sich in zahlreichen Übersetzungen. Schwabs Version der antiken Mythologie etablierte sich in verschiedenen Kulturräumen als Standardwerk. Seine Darstellung beeinflusste die mythologische Rezeption über den deutschen Sprachraum hinaus.

Von besonderer Bedeutung war die Funktion des Werkes für die Tradierung des kulturellen Erbes. In einer Phase der Transformation klassischer Bildung sicherte Schwabs Text die Kontinuität mythologischer Überlieferung. Seine Darstellung bewahrte nicht nur die narrativen Strukturen, sondern auch die ethischen und philosophischen Dimensionen der Sagen.

Die sprachliche Qualität des Werkes erwies sich als zeitresistent. Während zahlreiche Texte des 19. Jahrhunderts heute antiquiert erscheinen, bewahrt Schwabs Prosa ihre kommunikative Kraft. Seine Konzentration auf die essentiellen Elemente der Überlieferung unter Vermeidung temporärer Stilisierungen sicherte die anhaltende Wirkung.

Die pädagogische Effizienz des Werkes basiert auf seiner methodischen Struktur. Schwabs Text vermittelt nicht nur mythologisches Wissen, sondern initiiert ethische und philosophische Reflexion. Die Narrationen stimulieren eigenständiges Denken ohne explizite Didaktik.

Warum die Geschichten uns heute noch fesseln

Die von Gustav Schwab tradierten antiken Sagen bewahren ihre Aktualität auch im 21. Jahrhundert. In einer Epoche beschleunigter Transformation gewinnen diese Überlieferungen sogar eine spezifische Relevanz. Sie artikulieren anthropologische Konstanten und thematisieren Erfahrungen von überzeitlicher Bedeutung.

Die Dädalus-Ikarus-Narration exemplifiziert diese persistente Aktualität. Was als antike Erzählung über einen Erfinder und seinen Sohn beginnt, entfaltet sich als komplexe Reflexion über die Ambivalenz technologischer Innovation, über intergenerationelle Konflikte und die Grenzen menschlicher Möglichkeiten. In einer Zeit exponentieller technologischer Entwicklung gewinnt diese Warnung vor der Hybris neue Signifikanz.

Die Odyssee-Überlieferung entwickelt in der Gegenwart zusätzliche Bedeutungsdimensionen. In einer Epoche globaler Migration resoniert die Erzählung von Heimatverlust und Heimkehr mit aktuellen Erfahrungen. Die Themen der kulturellen Identität, der Fremdheitserfahrung und der Reintegration korrespondieren mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen.

Die erotischen Narrationen der antiken Mythologie bewahren ihre emotionale Unmittelbarkeit. Die Orpheus-Eurydike-Erzählung oder die Penelope-Episode thematisieren fundamentale emotionale Erfahrungen. Sie demonstrieren die transhistorische Konstanz bestimmter affektiver Strukturen.

Die psychologische Komplexität der mythologischen Figuren korrespondiert mit modernem Bewusstsein. Die Charaktere präsentieren sich als multidimensionale Konstruktionen. Achilles’ Hybris, Medeas destruktive Passion oder die ödipale Konstellation repräsentieren verschiedene Aspekte menschlicher Existenz. In einer Zeit vereinfachender Deutungsmuster erinnern diese komplexen Figurationen an die Vielschichtigkeit menschlicher Natur.

Die ethische Dimension der Sagen gewinnt gegenwärtig besondere Relevanz. Die Midas-Erzählung liest sich als Parabel über die Konsequenzen ökonomischer Gier, während die Narziss-Narration mit zeitgenössischen Phänomenen der Selbstinszenierung korrespondiert.

Moderne Adaptionen dokumentieren die Adaptabilität der mythologischen Überlieferung. Verschiedene mediale Transformationen – in Literatur, Film, digitalen Medien und graphischer Gestaltung – demonstrieren die Übertragbarkeit der mythologischen Strukturen. Schwabs Version fungiert dabei häufig als vermittelnde Instanz zwischen antiker Tradition und zeitgenössischer Interpretation.

Im Bildungskontext bewahren die Sagen ihre integrative Funktion. In der multikulturellen Gesellschaft konstituieren sie einen gemeinsamen Referenzrahmen. Die mythologischen Metaphern und Narrative bilden ein interkulturelles Kommunikationssystem.

Schwabs Darstellungsweise entspricht modernen Rezeptionsbedürfnissen. Seine präzise, unprätentiöse Sprache bewahrt ihre kommunikative Effizienz. Die Konzentration auf narrative Essenz unter Verzicht auf temporäre Effekte sichert die anhaltende Wirkung.

Für die gegenwärtige Generation bieten die Sagen ein Gegengewicht zur beschleunigten Medienkultur. Sie initiieren contemplative Lektüreprozesse und stimulieren eigenständige Reflexion. Im Gegensatz zu monovalenten Narrationen eröffnen sie komplexe Interpretationsräume.

Die persistente Aktualität der Sagen basiert nicht zuletzt auf ihrer anthropologischen Authentizität. Sie präsentieren menschliche Natur in ihrer Ambivalenz, zeigen die Koexistenz von Schwäche und Größe. Diese realistische Anthropologie korrespondiert mit modernem Bewusstsein.

Schwabs “Schönste Sagen des klassischen Altertums” bewahren damit ihre Funktion als Medium kultureller Transmission. Die von ihm tradierten Narrationen bleiben relevant für das Verständnis fundamentaler menschlicher Erfahrungen. Ihre zeitlose Qualität manifestiert sich in ihrer kontinuierlichen Aktualität.

DIE KLEINEREN SAGEN

Prometheus

Himmel und Erde waren geschaffen: das Meer wogte in seinen Ufern, und die Fische spielten darin; in den Lüften sangen beflügelt die Vögel; der Erdboden wimmelte von Tieren. Aber noch fehlte es an dem Geschöpf, dessen Leib so beschaffen war, dass der Geist in ihm Wohnung machen und von ihm aus die Erdenwelt beherrschen konnte. Da betrat Prometheus die Erde, ein Sprössling des alten Göttergeschlechtes, das Zeus entthront hatte, ein Sohn des erdgeborenen Uranossohnes Iapetos, kluger Erfindung voll. Dieser wusste wohl, dass im Erdboden der Same des Himmels schlummre; darum nahm er vom Tone, befeuchtete denselben mit dem Wasser des Flusses, knetete ihn und formte daraus ein Gebilde nach dem Ebenbilde der Götter, der Herren der Welt. Diesen seinen Erdenkloß zu beleben, entlehnte er allenthalben von den Tierseelen gute und böse Eigenschaften und schloss sie in die Brust des Menschen ein. Unter den Himmlischen hatte er eine Freundin, Athene, die Göttin der Weisheit. Diese bewunderte die Schöpfung des Titanensohnes und blies dem halbbeseelten Bilde den Geist, den göttlichen Atem ein.

So entstanden die ersten Menschen und füllten bald vervielfältigt die Erde. Lange aber wussten diese nicht, wie sie sich ihrer edlen Glieder und des empfangenen Götterfunkens bedienen sollten. Sehend sahen sie umsonst, hörten hörend nicht; wie Traumgestalten liefen sie umher und wussten sich der Schöpfung nicht zu bedienen. Unbekannt war ihnen die Kunst, Steine auszugraben und zu behauen, aus Lehm Ziegel zu brennen, Balken aus dem gefällten Holze des Waldes zu zimmern und mit allem diesem sich Häuser zu erbauen. Unter der Erde, in sonnenlosen Höhlen, wimmelte es von ihnen, wie von beweglichen Ameisen; nicht den Winter, nicht den blütenvollen Frühling, nicht den früchtereichen Sommer kannten sie an sicheren Zeichen; planlos war alles, was sie verrichteten. Da nahm sich Prometheus seiner Geschöpfe an; er lehrte sie den Auf- und Niedergang der Gestirne beobachten, erfand ihnen die Kunst zu zählen, die Buchstabenschrift; lehrte sie Tiere ans Joch spannen und zu Genossen ihrer Arbeit brauchen, gewöhnte die Rosse an Zügel und Wagen; erfand Nachen und Segel für die Schifffahrt. Auch fürs übrige Leben sorgte er den Menschen. Früher, wenn einer krank wurde, wusste er kein Mittel, nicht was von Speise und Trank ihm zuträglich sei, kannte kein Salböl zur Linderung seiner Schäden; sondern aus Mangel an Arzneien starben sie elendiglich dahin. Darum zeigte ihnen Prometheus die Mischung milder Heilmittel, allerlei Krankheiten damit zu vertreiben. Dann lehrte er sie die Wahrsagerkunst, deutete ihnen Vorzeichen und Träume, Vogelflug und Opferschau. Ferner führte er ihren Blick unter die Erde und ließ sie hier das Erz, das Eisen, das Silber und das Gold entdecken; kurz, in alle Bequemlichkeiten und Künste des Lebens leitete er sie ein.

Im Himmel herrschte mit seinen Kindern seit kurzem Zeus, der seinen Vater Kronos entthront und das alte Göttergeschlecht, von welchem auch Prometheus abstammte gestürzt hatte.

Jetzt wurden die neuen Götter aufmerksam auf das eben entstandene Menschenvolk. Sie verlangten Verehrung von ihm für den Schutz, welchen sie demselben angedeihen zu lassen bereitwillig waren. Zu Mekone in Griechenland ward ein Tag gehalten zwischen Sterblichen und Unsterblichen, und Rechte und Pflichten der Menschen bestimmt. Bei dieser Versammlung erschien Prometheus als Anwalt seiner Menschen, dafür zu sorgen, dass die Götter für die übernommenen Schutzämter den Sterblichen nicht allzu lästige Gebühren auferlegen möchten. Da verführte den Titanensohn seine Klugheit, die Götter zu betrügen. Er schlachtete im Namen seiner Geschöpfe einen großen Stier, davon sollten die Himmlischen wählen, was sie für sich davon verlangten. Er hatte aber nach Zerstückelung des Opfertieres zwei Haufen gemacht; auf die eine Seite legte er das Fleisch, das Eingeweide und den Speck, in die Haut des Stieres zusammengefasst, und den Magen oben darauf, auf die andere die kahlen Knochen, künstlich in das Unschlitt des Schlachtopfers eingehüllt. Und dieser Haufen war der größere. Zeus, der Göttervater, der allwissende, durchschaute seinen Betrug und sprach: „Sohn des Iapetos, erlauchter König, guter Freund, wie ungleich hast du die Teile geteilt!“ Prometheus glaubte jetzt erst recht, dass er ihn betrogen, lächelte bei sich selbst und sprach: „Erlauchter Zeus, größter der ewigen Götter, wähle den Teil, den dir dein Herz im Busen anrät zu wählen.“ Zeus ergrimmte im Herzen, aber geflissentlich fasste er mit beiden Händen das weiße Unschlitt. Als er es nun auseinandergedrückt und die bloßen Knochen gewahrte, stellte er sich an, als entdeckte er jetzt eben erst den Betrug, und zornig sprach er: „Ich sehe wohl, Freund Iapetionide, dass du die Kunst des Truges noch nicht verlernt hast!“

Zeus beschloss, sich an Prometheus für seinen Betrug zu rächen, und versagte den Sterblichen die letzte Gabe, die sie zur vollendeteren Gesittung bedurften, das Feuer. Doch auch dafür wusste der schlaue Sohn des Iapetos Rat. Er nahm den langen Stängel des markigen Riesenfenchels, näherte sich mit ihm dem vorüberfahrenden Sonnenwagen und setzte so den Stängel in glosenden Brand. Mit diesem Feuerzunder kam er hernieder auf die Erde, und bald loderte der erste Holzstoß gen Himmel. In innerster Seele schmerzte es den Donnerer, als er den fernhin leuchtenden Glanz des Feuers unter den Menschen emporsteigen sah. Sofort formte er, da des Feuers Gebrauch den Sterblichen nicht mehr zu nehmen war, ein neues Übel für sie. Der seiner Kunst wegen berühmte Feuergott Hephaistos musste ihm das Scheinbild einer schönen Jungfrau fertigen; Athene selbst, die, auf Prometheus eifersüchtig, ihm abhold geworden war, warf dem Bild ein weißes, schimmerndes Gewand über, ließ ihr einen Schleier über das Gesicht wallen, den das Mädchen mit den Händen geteilt hielt, bekränzte ihr Haupt mit frischen Blumen und umschlang es mit einer goldenen Binde, die gleichfalls Hephaistos seinem Vater zulieb kunstreich verfertigt und mit bunten Tiergestalten herrlich verziert hatte. Hermes, der Götterbote, musste dem holden Gebilde Sprache verleihen und Aphrodite allen Liebreiz. Also hatte Zeus unter der Gestalt eines Gutes ein blendendes Übel geschaffen; er nannte das Mägdlein Pandora, das heißt die Allbeschenkte, denn jeder der Unsterblichen hatte ihr irgendein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben. Darauf führte er die Jungfrau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit den Göttern lustwandelten. Alle miteinander bewunderten die unvergleichliche Gestalt. Sie aber schritt zu Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das Geschenk des Zeus zu bringen. Vergebens hatte diesen der Bruder gewarnt, niemals ein Geschenk vom olympischen Herrscher anzunehmen, damit dem Menschen kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort zurückzusenden. Epimetheus, dieses Wortes uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden auf und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten die Geschlechter der Menschen, von seinem Bruder beraten, frei vom Übel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen. Kaum bei Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäß eine Schar von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zuunterst in dem Fasse verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rat des Göttervaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe sie herausflattern konnte, und verschloss sie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine Schar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod, früher nur langsam die Sterblichen beschleichend, beflügelte seinen Schritt.

Darauf wandte sich Zeus mit seiner Rache gegen Prometheus. Er übergab den Verbrecher dem Hephaistos und seinen Dienern, dem Kratos und der Bia (dem Zwang und der Gewalt). Diese müssten ihn in die skythischen Einöden schleppen und hier, über einem schauderhaften Abgrund, an eine Felswand des Berges Kaukasus mit unauflöslichen Ketten schmieden. Ungerne vollzog Hephaistos den Auftrag seines Vaters, er liebte in dem Titanensohne den verwandten Abkömmling seines Urgroßvaters Uranos, den ebenbürtigen Göttersprößling. Unter mitleidsvollen Worten und von den roheren Knechten gescholten, ließ er diese das grausame Werk vollbringen. So musste nun Prometheus an der freudlosen Klippe hängen, aufrecht, schlaflos, niemals imstande, das müde Knie zu beugen. „Viele vergebliche Klagen und Seufzer wirst du versenden“, sagte Hephaistos zu ihm, „denn des Zeus Sinn ist unerbittlich, und alle, die erst seit kurzem die Herrschergewalt an sich gerissen, sind hartherzig.“ Wirklich sollte auch die Qual des Gefangenen ewig oder doch dreißigtausend Jahre dauern. Obwohl laut aufseufzend und Winde, Ströme, Quellen und Meereswellen, die Allmutter Erde und den allschauenden Sonnenkreis zu Zeugen seiner Pein aufrufend, blieb er doch ungebeugten Sinnes. „Was das Schicksal beschlossen hat“, sprach er, „muss derjenige tragen, der die unbezwingliche Gewalt der Notwendigkeit einsehen gelernt hat.“ Auch ließ er sich durch keine Drohungen des Zeus bewegen, die dunkle Weissagung, dass dem Götterherrscher durch einen neuen Ehebund mit der Thetis Verderben und Untergang bevorstehe, näher auszudeuten. Zeus hielt Wort; er sandte dem Gefesselten einen Adler, der als täglicher Gast an seiner Leber zehren durfte, die sich, abgeweidet, immer wieder erneuerte. Diese Qual sollte nicht eher aufhören, bis ein Ersatzmann erscheinen würde, der durch freiwillige Übernahme des Todes gewissermaßen sein Stellvertreter zu werden sich erböte.

Jener Zeitpunkt erschien früher, als der Verurteilte nach dem Spruch des Göttervaters erwarten durfte. Als er viele Jahre an dem Felsen gehangen, kam Herakles des Weges, auf der Fahrt nach den Hesperiden und ihren Äpfeln begriffen. Wie er den Götterenkel am Kaukasus hängen sah und sich seines guten Rates zu erfreuen hoffte, erbarmte ihn sein Geschick, denn er sah zu, wie der Adler, auf den Knien des Prometheus sitzend, an der Leber des Unglücklichen fraß. Da legte er Keule und Löwenhaut hinter sich, spannte den Bogen, entsandte den Pfeil und schoss den grausamen Vogel von der Leber des Gequälten hinweg. Hierauf löste er seine Fesseln und führte den Befreiten mit sich davon. Damit aber Zeus’ Bedingung erfüllt würde, stellte er ihm als Ersatzmann den Zentauren Chiron, der erbötig war, an jenes statt zu sterben; denn vorher war er unsterblich. Auf dass jedoch des Kroniden Urteil, der den Prometheus auf weit längere Zeit an den Felsen gesprochen hatte, auch so nicht unvollzogen bliebe, so musste Prometheus fortwährend einen eisernen Ring tragen, an welchem sich ein Steinchen von jenem Kaukasusfelsen befand. So konnte sich Zeus rühmen, dass sein Feind noch immer an den Kaukasus angeschmiedet lebe.

Die Menschenalter

Die ersten Menschen, welche die Götter schufen, waren ein goldenes Geschlecht. Diese lebten, solange Kronos (Saturnus) dem Himmel vorstand, sorgenlos und den Göttern selbst ähnlich, von Arbeit und Kummer entfernt. Auch die Leiden des Alters waren ihnen unbekannt; an Händen, Füßen und allen Gliedern immer rüstig, freuten sie sich, von jeglichem Übel frei, heiterer Gelage. Die seligen Götter hatten sie lieb und schenkten ihnen auf reichen Fluren stattliche Herden. Wenn sie verscheiden sollten, sanken sie nur in sanften Schlaf. Solange sie aber lebten, hatten sie alle möglichen Güter; das Erdreich gewährte ihnen alle Früchte von selbst und im Überfluss, und ruhig, mit allen Gütern gesegnet, vollbrachten sie ihr Tagewerk. Nachdem jenes Geschlecht dem Beschlusse des Schicksals zufolge von der Erde verschwunden war, wurden sie zu frommen Schutzgöttern, welche, dicht in Nebel gehüllt, die Erde rings durchwandelten, als Geber alles Guten, Behüter des Rechts und Rächer aller Vergehungen.

Hierauf schufen die Unsterblichen ein zweites Menschengeschlecht, das silberne; dieses war schon weit von jenem abgeartet und glich ihm weder an Körpergestaltung noch an Gesinnung. Sondern ganze hundert Jahre wuchs der verzärtelte Knabe noch unmündig an Geist unter der mütterlichen Pflege im Elternhause auf, und wenn einer endlich zum Jünglingsalter herangereift war, so blieb ihm nur noch kurze Frist zum Leben übrig. Unvernünftige Handlungen stürzten diese neuen Menschen in Jammer; denn sie konnten schon ihre Leidenschaften nicht mehr mäßigen und frevelten im Übermute gegeneinander. Auch die Altäre der Götter wollten sie nicht mehr mit den gebührenden Opfern ehren. Deswegen nahm Zeus dieses Geschlecht wieder von der Erde hinweg; denn ihm gefiel nicht, dass sie der Ehrfurcht gegen die Unsterblichen ermangelten. Doch waren auch diese noch nicht so entblößt von Vorzügen, dass ihnen nach ihrer Entfernung aus dem Leben nicht einige Ehre zum Anteil geworden wäre, und sie durften als sterbliche Dämonen noch auf der Erde umherwandeln.

Nun erschuf der Vater Zeus ein drittes Geschlecht von Menschen; das hieß das eherne. Das war auch dem silbernen völlig ungleich, grausam, gewalttätig, immer nur den Geschäften des Krieges ergeben, immer einer auf des andern Beleidigung sinnend. Sie verschmähten es, von den Früchten des Feldes zu essen, und nährten sich vom Tierfleische; ihr Starrsinn war hart wie Diamant, ihr Leib von ungeheurem Gliederbau; Arme wuchsen ihnen von den Schultern, denen niemand nahekommen durfte. Ihre Wehr war Erz, ihre Wohnung Erz, mit Erz bestellten sie das Feld; denn Eisen war damals noch nicht vorhanden. Sie kehrten ihre eigenen Hände gegeneinander; aber so groß und entsetzlich sie waren, so vermochten sie doch nichts gegen den schwarzen Tod und stiegen, vom hellen Sonnenlichte scheidend, in die schaurige Nacht der Unterwelt hernieder.

Als die Erde auch dieses Geschlecht eingehüllt hatte, brachte Zeus, der Sohn des Kronos, ein viertes Geschlecht hervor, das auf der nährenden Erde wohnen sollte. Dies war wieder edler und gerechter als das vorige. Es war das Geschlecht der göttlichen Heroen, welche die Vorwelt auch Halbgötter genannt hat. Zuletzt vertilgte aber auch sie Zwietracht und Krieg, die einen vor den sieben Toren Thebens, wo sie um das Reich des Königs Ödipus kämpften, die andern auf dem Gefilde Trojas, wohin sie um der schönen Helena willen zahllos auf Schiffen gekommen waren. Als diese ihr Erdenleben in Kampf und Not beschlossen hatten, ordnete ihnen der Vater Zeus ihren Sitz am Rande des Weltalls an, im Ozean, auf den Inseln der Seligen. Dort führen sie nach dem Tode ein glückliches und sorgenfreies Leben, wo ihnen der fruchtbare Boden dreimal im Jahr honigsüße Früchte zum Labsal emporsendet.

„Ach wäre ich“, so seufzet der alte Dichter Hesiod, der diese Sage von den Menschenaltern erzählt, „wäre ich doch nicht ein Genosse des fünften Menschengeschlechtes, das jetzt gekommen ist; wäre ich früher gestorben oder später geboren! denn dieses Menschengeschlecht ist ein eisernes! Gänzlich verderbt, ruhen diese Menschen weder bei Tage noch bei Nacht von Kümmernis und Beschwerden; immer neue nagende Sorgen schicken ihnen die Götter. Sie selbst aber sind die größte Plage. Der Vater ist dem Sohne, der Sohn dem Vater nicht hold; der Gast hasst den ihn bewirtenden Freund, der Genosse den Genossen; auch unter Brüdern herrscht nicht mehr herzliche Liebe wie vorzeiten. Dem grauen Haar der Eltern selbst wird die Ehrfurcht versagt, Schmachreden werden gegen sie ausgestoßen, Misshandlungen müssen sie erdulden. Ihr grausamen Menschen, denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, dass ihr euren abgelebten Eltern den Dank für ihre Pflege nicht erstatten wollet? Überall gilt nur das Faustrecht; auf Städteverwüstung sinnen sie gegeneinander. Nicht derjenige wird begünstigt, der die Wahrheit schwört, der gerecht und gut ist, nein, nur den Übeltäter, den schnöden Frevler ehren sie; Recht und Mäßigung gilt nichts mehr, der Böse darf den Edleren verletzen, trügerische, krumme Worte sprechen, Falsches beschwören. Deswegen sind diese Menschen auch so unglücklich. Schadenfrohe, misslaunige Scheelsucht verfolgt sie und grollt ihnen mit dem neidischen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der Scham und der heiligen Scheu, welche sich bisher doch noch auf der Erde hatten blicken lassen, verhüllen traurig ihren schönen Leib in das weiße Gewand und verlassen die Menschen, um sich wieder in die Versammlung der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den sterblichen Menschen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und keine Rettung von diesem Unheil ist zu erwarten.“

Deukalion und Pyrrha

Als das eherne Menschengeschlecht auf Erden hauste und Zeus, dem Weltbeherrscher, schlimme Sage von seinen Freveln zu Ohren gekommen, beschloss er, selbst in menschlicher Bildung die Erde zu durchstreifen. Aber allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die Wahrheit. Eines Abends in später Dämmerung trat er unter das ungastliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon, welcher durch Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch einige Wunderzeichen merken, dass ein Gott gekommen sei; und die Menge hatte sich auf die Knie geworfen. Lykaon jedoch spottete über diese frommen Gebete. „Lasst uns sehen“, sprach er, „ob es ein Sterblicher oder ein Gott sei!“ Damit beschloss er im Herzen, den Gast um Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm lastete, mit ungeahntem Tode zu verderben. Noch vorher aber schlachtete er eine arme Geisel, den ihm das Volk der Molosser gesandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder in siedendem Wasser oder briet sie am Feuer und setzte sie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tisch. Zeus, der alles durchschaut hatte, fuhr vom Mahle empor und sandte die rächende Flamme über die Burg des Gottlosen. Bestürzt entfloh der König ins freie Feld. Der erste Wehlaut, den er ausstieß, war ein Geheul, sein Gewand wurde zu Zotteln, seine Arme wurden zu Beinen: er war in einen blutdürstigen Wolf verwandelt.

Zeus kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den Göttern Rat und gedachte das ruchlose Menschengeschlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder die Blitze verstreuen; aber die Furcht, der Äther möchte in Flammen geraten und die Achse des Weltalls verlodern, hielt ihn ab. Er legte die Donnerkeile, welche ihm die Zyklopen geschmiedet, wieder beiseite und beschloss, über die ganze Erde Platzregen vom Himmel zu senden und so unter Wolkengüssen die Sterblichen aufzureiben. Auf der Stelle ward der Nordwind samt allen andren die Wolken verscheuchenden Winden in die Höhlen des Äolos verschlossen und nur der Südwind von ihm ausgesendet. Dieser flog mit triefenden Schwingen zur Erde hinab, sein entsetzliches Antlitz bedeckte pechschwarzes Dunkel, sein Bart war schwer von Gewölk, von seinem weißen Haupthaare rann die Flut, Nebel lagerten auf der Stirne, aus dem Busen troff ihm das Wasser. Der Südwind griff an den Himmel, fasste mit der Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an, sie auszupressen. Der Donner rollte, gedrängte Regenflut stürzte vom Himmel; die Saat beugte sich unter dem wogenden Sturm, darnieder lag die Hoffnung des Landmanns, verdorben war die langwierige Arbeit des ganzen Jahres. Auch Poseidon, des Zeus Bruder, kam ihm bei dem Zerstörungswerke zu Hilfe, berief alle Flüsse zusammen und sprach: „Lasst euren Strömungen alle Zügel schießen, fallt in die Häuser, durchbrechet die Dämme!“ Sie vollführten seinen Befehl, und Poseidon selbst durchstach mit seinem Dreizack das Erdreich und schaffte durch Erschütterung den Fluten Eingang. So strömten die Flüsse über die offene Flur hin, bedeckten die Felder, rissen Baumpflanzungen, Tempel und Häuser fort. Blieb auch wo ein Palast stehen, so deckte doch bald das Wasser seinen Giebel, und die höchsten Türme verbargen sich im Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterschieden; alles war See, gestadelose See. Die Menschen suchten sich zu retten, so gut sie konnten; der eine erkletterte den höchsten Berg, der andere bestieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach seines versunkenen Landhauses oder über die Hügel seiner Weinpflanzungen hin, dass der Kiel an ihnen streifte. In den Ästen der Wälder arbeiteten sich die Fische ab; den Eber, den eilenden Hirsch erjagte die Flut; ganze Völker wurden vom Wasser hinweggerafft, und was die Welt verschonte, starb den Hungertod auf den unbebauten Heidegipfeln.

Ein solcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phokis über die alles bedeckende Meerflut hervor. Es war der Parnassos. An ihm schwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den dieser gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit seiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein Mann, kein Weib war je erfunden worden, die an Rechtschaffenheit und Götterscheu diese beiden übertroffen hätten. Als nun Zeus, vom Himmel herabschauend, die Welt von stehenden Sümpfen überschwemmt und von den vielen tausendmal Tausenden nur ein einziges Menschenpaar übrig sah, beide unsträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nordwind aus, sprengte die schwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde und die Erde dem Himmel wieder. Auch Poseidon, der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die Flut. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folgten, endlich breitete sich auch wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.

Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet und in Grabesstille versenkt. Tränen rollten bei diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha: „Geliebte, einzige Lebensgenossin! Soweit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander das Volk der Erde, alle andren sind in der Wasserflut untergegangen. Aber auch wir sind unsres Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. Jede Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen wir Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, dass mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt hätte, Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzugießen!“ So sprach er, und das verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie vor einem halb zerstörten Altar der Göttin Themis sich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehen: „Sag uns an, o Göttin, durch welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Menschengeschlecht wieder her? O hilf der versunkenen Welt wieder zum Leben!“

„Verlasset meinen Altar“, tönte die Stimme der Göttin, „umschleiert euer Haupt, löset eure gegürteten Glieder und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.“

Lange verwunderten sich beide über diesen rätselhaften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das Schweigen. „Verzeih mir, hohe Göttin“, sprach sie, „wenn ich zusammenschaudre, wenn ich dir nicht gehorsame und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine kränken will!“ Aber dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem freundlichen Worte: „Entweder trügt mich mein Scharfsinn, oder die Worte der Götter sind fromm und verbergen keinen Frevel! Unsere große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine; und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!“

Beide mißtrauten indessen dieser Deutung noch lange. Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie. So gingen sie denn seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine hinter sich. Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deutlich, sondern rohen Gebilden oder einer in Marmor vom Künstler erst aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den Steinen Feuchtes oder Erdichtes war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame, Feste ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewannen mit Hilfe der Götter in kurzer Frist die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe geworfenen weibliche.

Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.

Io

Inachos, der uralte Stammfürst und König der Pelasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io. Auf sie war der Blick des Zeus, des olympischen Herrschers, gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna der Herden ihres Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in Menschengestalt und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen: „O Jungfrau, glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner wert, und du verdientest des höchsten Gottes Braut zu sein! Wisse denn, ich bin Zeus. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Haines, der uns dort zur Linken in seine Kühle einlädt; was machst du dir in der Glut des Tages zu schaffen? Fürchte dich doch nicht, den dunklen Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin doch ich da, dich zu schirmen, der Gott, der den Zepter des Himmels führt und die zackigen Blitze über den Erdboden versendet.“ Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht mißbraucht und das ganze Land in Finsternis gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu rennen oder in einen Fluß zu stürzen. So kam die unglückliche Io in die Gewalt des Gottes.

Hera, die Göttermutter, war längst an die Treulosigkeit ihres Gatten gewöhnt, der sich von ihrer Liebe ab- und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber sie vermochte ihren Zorn und ihre Eifersucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen beobachtete sie alle Schritte des Gottes auf der Erde. So schaute sie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr Gemahl ohne ihr Wissen wandelte. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie plötzlich, wie der heitere Tag auf einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde und wie dieser weder einem Strome noch dem dunstigen Boden entsteige, noch sonst von einer natürlichen Ursache herrühre. Da kam ihr schnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; sie spähte rings durch den Olymp und sah ihn nicht. „Entweder ich täusche mich“, sprach sie ergrimmt zu sich selbst, „oder ich werde von meinem Gatten schnöde gekränkt!“ Und nun fuhr sie auf einer Wolke vom hohen Äther zur Erde hernieder und gebot dem Nebel, der den Entführer mit seiner Beute umschlossen hielt, zu weichen. Zeus hatte die Ankunft seiner Gemahlin geahnt, und um seine Geliebte ihrer Rache zu entziehen, verwandelte er die schöne Tochter des Inachos schnell in eine schmucke, schneeweiße Kuh. Aber auch so war die Holdselige noch schön geblieben. Hera, welche die List ihres Gemahls alsbald durchschaut hatte, pries das stattliche Tier und fragte, als wüßte sie nichts von der Wahrheit, wem die Kuh gehöre, von wannen und welcherlei Zucht sie sei. Zeus, in der Not und um sie von weiterer Nachfrage abzuschrecken, nahm seine Zuflucht zu einer Lüge und gab vor, die Kuh entstamme der Erde. Hera gab sich damit zufrieden, aber sie bat sich das schöne Tier von ihrem Gemahl zum Geschenke aus. Was sollte der betrogene Betrüger machen? Gibt er die Kuh her, so wird er seiner Geliebten verlustig; verweigert er sie, so erregt er erst recht den Verdacht seiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann rasches Verderben senden wird! So entschloß er sich denn, für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und schenkte die schimmernde Kuh, die er noch immer für unentdeckt hielt, seiner Gemahlin. Hera knüpfte, scheinbar beglückt durch die Gabe, dem schönen Tier ein Band um den Hals und führte die Unselige, der ein verzweifelndes Menschenherz unter der Tiergestalt schlug, im Triumphe davon. Doch machte der Göttin dieser Diebstahl selbst Angst, und sie ruhte nicht, bis sie ihre Nebenbuhlerin der sichersten Hut überantwortet hatte. Daher suchte sie den Argos, den Sohn des Arestor, auf, ein Ungetüm, das ihr zu diesem Dienste besonders geeignet schien. Denn Argos hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweise sich schloss und der Ruhe ergab, während die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten. Diesen gab Hera der armen Io zum Wächter, damit ihr Gemahl Zeus die entrissene Geliebte nicht entführen könne. Unter seinen hundert Augen durfte Io, die Kuh, des Tags über auf einer fetten Trift weiden; Argos aber stand in der Nähe, und wo er sich immer hinstellen mochte, erblickte er die ihm Anvertraute; auch wenn er sich abwandte und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, schloss er sie ein und belastete den Hals der Unglückseligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub waren ihre Speise, ihr Bett der harte, nicht einmal immer mit Gras bedeckte Boden, ihr Trank schlammige Pfützen. Io vergaß oft, dass sie kein Mensch mehr war; sie wollte, Mitleiden erflehend, ihre Arme zu Argos erheben, da ward sie erst daran erinnert, dass sie keine Arme mehr hatte. Sie wollte ihm in Worten rührende Bitten vortragen, dann entfuhr ihrem Munde ein Brüllen, dass sie vor ihrer eigenen Stimme erschrak, welche sie daran mahnte, wie sie durch ihres Räubers Selbstsucht in ein Tier verwandelt worden sei. Doch blieb Argos mit ihr nicht an einer Stelle, denn so hatte es ihn Hera geheißen, die durch Veränderung ihres Aufenthalts sie dem Gemahl um so gewisser zu entziehen hoffte. Daher zog ihr Wächter mit ihr im Lande herum, und so kam sie auch mit ihm in ihre alte Heimat, an das Gestade des Flusses, wo sie so oft als Kind zu spielen gepflegt hatte. Da sah sie zum ersten Mal ihr Bild in der Flut; als das Tierhaupt mit Hörnern ihr aus dem Wasser entgegenblickte, schauderte sie zurück und floh bestürzt vor sich selbst. Ein sehnsüchtiger Trieb führte sie in die Nähe ihrer Schwestern, in die Nähe ihres Vaters Inachos; aber diese erkannten sie nicht; Inachos streichelte wohl das schöne Tier und reichte ihm Blätter, die er von dem nächsten Strauche pflückte; Io beleckte dankbar seine Hand und benetzte sie mit Küssen und heimlichen menschlichen Tränen. Aber wen er liebkoste und von wem er geliebkost wurde, das ahnete der Greis nicht. Endlich kam der Armen, deren Geist unter der Verwandlung nicht gelitten hatte, ein glücklicher Gedanke. Sie fing an, Schriftzeichen mit dem Fuße zu ziehen, und erregte durch diese Bewegung die Aufmerksamkeit des Vaters, der bald im Staube die Kunde las, dass er sein eigenes Kind vor sich habe. „Ich Unglückseliger“, rief der Greis bei dieser Entdeckung aus, indem er sich an Horn und Nacken der stöhnenden Tochter hing, „so muss ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder gesucht habe! Wehe mir, du hast mir weniger Kummer gemacht, solange ich dich suchte, als jetzt, wo ich dich gefunden habe! Du schweigst? Du kannst mir kein tröstendes Wort sagen, mir nur mit einem Gebrüll antworten! Ich Tor, einst sann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Eidam zuführen könnte, und dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun bist du ein Kind der Herde…“ Argos, der grausame Wächter, ließ den jammernden Vater nicht vollenden, er riß Io von dem Vater hinweg und schleppte sie fort auf einsame Weiden. Dann klomm er selbst einen Berggipfel empor und versah sein Amt, indem er mit seinen hundert Augen wachsam nach allen vier Winden hinauslugte.

Zeus konnte das Leid der Inachostochter nicht länger ertragen. Er rief seinem geliebten Sohne Hermes und befahl ihm, seine List zu brauchen und dem verhaßten Wächter das Augenlicht auszulöschen. Dieser beflügelte seine Füße, ergriff mit der mächtigen Hand seine einschläfernde Rute und setzte seinen Reisehut auf. So fuhr er von dem Palaste seines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er Hut und Schwingen ab und behielt nur den Stab; so stellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an sich und trieb sie auf die abgelegenen Fluren, wo Io weidete und Argos die Wache hielt. Dort angekommen, zog er ein Hirtenrohr, das man Syrinx nennt, hervor und fing an, so anmutig und voll zu blasen, wie man von irdischen Hirten zu vernehmen nicht gewohnt ist. Der Diener Heras freute sich dieses ungewohnten Schalles, erhob sich von seinem Felsensitze und rief hernieder: „Wer du auch sein magst, willkommener Rohrbläser, du könntest wohl bei mir auf diesem Felsen hier ausruhen. Nirgends ist der Graswuchs üppiger für das Vieh als hier, und du siehst, wie behaglich der Schatten dieser dicht gepflanzten Bäume für den Hirten ist!“ Hermes dankte dem Rufenden, stieg hinauf und setzte sich zu dem Wächter, mit welchem er eifrig zu plaudern anfing und sich so ernstlich ins Gespräch vertiefte, dass der Tag herumging, ehe Argos sich dessen versah. Diesem begannen die Augen zu schläfern, und nun griff Hermes wieder zu seinem Rohre und versuchte sein Spiel, um ihn vollends in Schlummer zu wiegen. Aber Argos, der an den Zorn seiner Herrin dachte, wenn er seine Gefangene ohne Fesseln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn sich auch der Schlummer in einen Teil seiner Augen einschlich, so wachte er doch fortdauernd mit dem andern Teile, nahm sich zusammen, und da die Rohrpfeife erst kürzlich erfunden worden war, so fragte er seinen Gesellen nach dem Ursprunge dieser Erfindung. „Das will ich dir gerne erzählen“, sagte Hermes, „wenn du in dieser späten Abendstunde Geduld und Aufmerksamkeit genug hast, mich anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe), mit Namen Syrinx. Die Waldgötter und Satyrn, von ihrer Schönheit bezaubert, verfolgten sie schon lange mit ihrer Werbung, aber immer wusste sie ihnen zu entschlüpfen. Denn sie scheute das Joch der Vermählung und wollte, umgürtet und jagdliebend wie Artemis, gleich dieser in jungfräulichem Stande verharren. Endlich wurde auf seinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott Pan der Nymphe ansichtig, näherte sich ihr und warb um ihre Hand, dringend und im stolzen Bewußtsein seiner Hoheit. Aber die Nymphe verschmähte sein Flehen und flüchtete vor ihm durch unwegsam Steppen, bis sie zuletzt an das Wasser des versandeten Flusses Ladon kam, dessen Wellen doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Übergang zu wehren. Hier beschwor sie ihre Schwestern, die Nymphen, ehe sie in die Hand des Gottes fiele, ihrer sich zu erbarmen und sie zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer Zögernde; aber wie staunte er, als er, statt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; seine lauten Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr und wiederholten sich mit tiefem, klagendem Gesäusel. Der Zauber dieses Wohllautes tröstete den getäuschten Gott. ›Wohl denn, verwandelte Nymphe‹, rief er mit schmerzlicher Freude, ›auch so soll unsre Verbindung unauflöslich sein!‹ Und nun schnitt er sich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte sie mit Wachs untereinander und nannte die lieblich tönende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade; und seitdem heißt dieses Hirtenrohr Syrinx…“

So lautete die Erzählung des Götterboten, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgesetzt im Auge behielt. Die Märe war noch nicht zu Ende, als er sah, wie ein Auge um das andere sich unter der Decke geborgen hatte und endlich alle die hundert Leuchten in dichtem Schlaf erloschen waren. Nun hemmte der Götterbote seine Stimme, berührte mit seinem Zauberstabe nacheinander die hundert eingeschläferten Augenlider und verstärkte ihre Betäubung. Während nun der hundertäugige Argos in tiefem Schlafe nickte, griff Hermes schnell zu dem Sichelschwerte, das er unter seinem Hirtenrocke verborgen trug, und hieb ihm den gesenkten Nacken, da wo der Hals zunächst an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und Rumpf stürzten nacheinander vom Felsen herab und färbten das Gestein mit einem Strome von Blut.

Nun war Io befreit, und obwohl noch unverwandelt, rannte sie ohne Fesseln davon. Aber den durchdringenden Blicken Heras entging nicht, was in der Tiefe geschehen war. Sie dachte auf eine ausgesuchte Qual für ihre Nebenbuhlerin und sandte ihr eine Bremse, die das unglückliche Geschöpf durch ihren Stich zum Wahnsinn trieb. Diese Qual jagte die Geängstigte mit ihrem Stachel landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Skythen, an den Kaukasus, zum Amazonenvolke, zum Kimmerischen Isthmos und an die Mäotische See; dann hinüber nach Asien, und endlich nach langem, verzweiflungsvollem Irrlaufe nach Ägypten. Hier am Strande des Nilufers angelangt, sank Io auf ihre Vorderfüße nieder und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre stummen Augen zum Olymp empor, mit einem Blicke voll Haders gegen Zeus. Den jammerte dieses Anblickes; er eilte zu seiner Gemahlin Hera, umfing ihren Hals mit den Armen, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen, das schuldlos an seiner Verirrung war, und schwor ihr beim Wasser der Unterwelt, bei dem die Götter schwören, von seiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulassen. Hera hörte während dieser Bitte das flehentliche Brüllen der Kuh, das zum Olymp emporstieg. Da ließ sich die Göttermutter erweichen und gab dem Gemahle Vollmacht, der Mißgestalteten den menschlichen Leib zurückzugeben. Zeus eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier strich er der Kuh mit der Hand über den Rücken. Da war es wunderbar anzuschauen: die Zotteln flohen vom Leibe des Tieres, das Gehörn schrumpfte zusammen, die Scheibe der Augen verengte sich, das Maul zog sich zu Lippen zusammen, Schultern und Hände kehrten wieder, die Klauen verschwanden, nichts blieb von der Kuh übrig als die schöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Gestalt erhob sich Io vom Boden und stand aufrecht, in menschlicher Schönheit leuchtend. Am Nilstrome gebar sie dem Zeus den Epaphos, und weil das Volk die wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte, so herrschte sie lange mit Fürstengewalt über jene Lande. Doch blieb sie auch so nicht ganz von Heras Zorne verschont. Diese stiftete das wilde Volk der Kureten auf, ihren jungen Sohn Epaphos zu entführen, und nun trat sie aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an, den Geraubten aufzusuchen. Endlich, nachdem Zeus die Kureten mit dem Blitz erschlagen, fand sie den entführten Sohn an der Grenze Äthiopiens wieder, kehrte mit ihm nach Ägypten zurück und ließ ihn an ihrer Seite herrschen. Er heiratete die Memphis, und diese gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen erhielt. Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke nach beider Tode mit Tempeln geehrt und erhielten, sie als Isis, er als Apis, göttliche Verehrung.

Phaëton

Auf herrlichen Säulen erbaut stand die Königsburg des Sonnengottes, von blitzendem Gold und glühendem Karfunkel schimmernd; den obersten Giebel umschloß blendendes Elfenbein, gedoppelte Türen strahlten in Silberglanz, darauf in erhabener Arbeit die schönsten Wundergeschichten zu schauen waren. In diesen Palast trat Phaëthon, der Sohn des Sonnengottes Phöbos, und verlangte den Vater zu sprechen. Doch stellte er sich nur von ferne hin, denn in der Nähe war das strahlende Licht nicht zu ertragen. Der Vater Phöbos, von Purpurgewand umhüllt, saß auf seinem fürstlichen Stuhle, der mit glänzenden Smaragden besetzt war; zu seiner Rechten und seiner Linken stand sein Gefolge geordnet, der Tag, der Monat, das Jahr, die Jahrhunderte und die Horen; der jugendliche Lenz mit seinem Blütenkranze, der Sommer mit Ährengewinden bekränzt, weinfarben der Herbst, der eisige Winter mit schneeweißen Haaren. Phöbos, in ihrer Mitte sitzend, wurde mit seinen allschauenden Augen bald den Jüngling gewahr, der über so viele Wunder staunte. „Was ist der Grund deiner Wallfahrt“, sprach er, „was führt dich in den Palast deines göttlichen Vaters, mein Sohn?“ Phaëthon antwortete: „Erlauchter Vater, man spottet mein auf Erden und beschimpft meine Mutter Klymene. Sie sprechen, ich heuchle nur himmlische Abkunft und sei der Sohn eines dunklen Vaters. Darum komme ich, von dir ein Unterpfand zu erbitten, das mich vor aller Welt als deinen wirklichen Sprössling darstelle.“ So sprach er; da legte Phöbos die Strahlen, die ihm rings das Haupt umleuchteten, ab und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und sprach: „Deine Mutter Klymene hat die Wahrheit gesagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr verleugnen. Damit du aber ja nicht ferner zweifelst, so erbitte dir ein Geschenk! Ich schwöre beim Styx, dem Flusse der Unterwelt, bei welchem alle Götter schwören, deine Bitte, welche sie auch sei, soll erfüllt werden!“ Phaëthon ließ den Vater kaum ausreden. „So erfülle mir denn“, sprach er, „meinen glühendsten Wunsch, und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.“

Schrecken und Reue ward sichtbar auf dem Angesichte des Gottes. Drei-, viermal schüttelte er sein umleuchtetes Haupt und rief endlich: „O Sohn, du hast mich ein sinnloses Wort sprechen lassen! O dürfte ich dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du verlangst ein Geschäft, dem deine Kräfte nicht gewachsen sind; du bist zu jung; du bist sterblich, und was du wünschest, ist ein Werk der Unsterblichen! Ja, du erstrebest sogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt ist. Denn außer mir vermag keiner von ihnen auf der glutensprühenden Achse zu stehen. Der Weg, den mein Wagen zu machen hat, ist gar steil, mit Mühe erklimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch frisches Rossegespann. Die Mitte der Laufbahn ist zuoberst am Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in solcher Höhe stehe, da kommt mich oft selbst ein Grausen an, und mein Haupt droht ein Schwindel zu erfassen, wenn ich so herniederblicke in die Tiefe und Meer und Land weit unter mir liegt. Zuletzt ist dann die Straße ganz abschüssig, da bedarf es gar sicherer Lenkung. Die Meeresgöttin Thetis selbst, die mich in ihren Fluten aufzunehmen bereit ist, pflegt alsdann zu befürchten, ich möchte in die Tiefe geschmettert werden. Dazu bedenke, dass der Himmel sich in beständigem Umschwunge dreht und ich diesem reißenden Kreislaufe entgegenfahren muss. Wie vermöchtest du das, wenn ich dir auch meinen Wagen gäbe? Darum, geliebter Sohn, verlange nicht ein so schlimmes Geschenk und bessere deinen Wunsch, solange es noch Zeit ist. Sieh mein erschrecktes Gesicht an. O könntest du durch meine Augen in mein sorgenvolles Vaterherz eindringen! Verlange, was du sonst willst von alle Gütern des Himmels und der Erde! Ich schwöre dir beim Styx, du sollst es haben! – Was umarmst du mich mit solchem Ungestüm?“

Aber der Jüngling ließ mit Flehen nicht ab, und der Vater hatte den heiligen Schwur geschworen. So nahm er denn seinen Sohn bei der Hand und führte ihn zu dem Sonnenwagen, Hephaistos’ herrlicher Arbeit. Achse, Deichsel und der Kranz der Räder waren von Gold, die Speichen Silber; vom Joche schimmerten Chrysolithen und Juwelen. Während Phaëthon die herrliche Arbeit beherzt anstaunte, tat im geröteten Osten die erwachte Morgenröte ihr Purpurtor und ihren Vorsaal, der voll Rosen ist, auf. Die Sterne verschwanden allmählich, der Morgenstern ist der letzte, der seinen Posten am Himmel verläßt, und die äußersten Hörner des Mondes verlieren sich am Rande. Jetzt gibt Phöbos den geflügelten Horen den Befehl, die Rosse zu schirren; und diese führen die glutsprühenden Tiere, von Ambrosia gesättigt, von den erhabenen Krippen und legen ihnen herrliche Zäume an. Während dies geschah, bestrich der Vater das Antlitz seines Sohnes mit einer heiligen Salbe und machte es dadurch geschickt, die glühende Flamme zu ertragen. Um das Haupthaar legte er ihm seine Strahlensonne, aber er seufzte dazu und sprach warnend: „Kind, schone mir die Stacheln, brauche wacker die Zügel; denn die Rosse rennen schon von selbst, und es kostet Mühe, sie im Fluge zu halten; die Straße geht schräg in weit umbiegender Krümmung; den Südpol wie den Nordpol mußt du meiden. Du erblickst deutlich die Gleise der Räder. Senke dich nicht zu tief, sonst gerät die Erde in Brand; steige nicht zu hoch, sonst verbrennst du den Himmel. Auf, die Finsternis flieht, nimm die Zügel zur Hand; oder – noch ist es Zeit; besinne dich, liebes Kind; überlaß den Wagen mir, laß mich der Welt das Licht schenken, und bleibe du Zuschauer!“