Gutmanns Reisen - Wilhelm Raabe - E-Book

Gutmanns Reisen E-Book

Wilhelm Raabe

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Beschreibung

Der Autor hatte 1860 persönlich an einer Tagung des Deutschen Nationalvereins in Coburg teilgenommen. Herzog Ernst, dazumal unter den Fürsten Deutschlands einer der ganz wenigen Förderer liberal Gesinnter, hatte sein Reithaus am Coburger Schlossplatz als Tagungsort für diesen Verein, der "keine reale Macht besitzt", zur Verfügung gestellt. Seine Erlebnisse und Eindrücke hat Raabe in dem Text mit freien Erfindungen verquickt. Erzählt wird, wie sich ein junges Paar findet. Die Glücklichen - mit niedersächsischen und oberfränkischen Wurzeln - sind der Herr Kameralsupernumerar Wilhelm Gutmann - genannt Willi - aus H. und das Fräulein Klotilde Blume aus Jean Pauls Geburtsort Wunsiedel. In der Erzählung werden die erfolglosen Bemühungen der gemäßigten Demokraten um die deutsche Einheit liebevoll-nachsichtig verspottet. Raabe macht in dem Zusammenhang aus seiner Sympathie für den späteren Reichsgründer Bismarck kein Hehl ...

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Gutmanns Reisen

Wilhelm Raabe

Inhalt:

Wilhelm Raabe – Biografie und Bibliografie

Gutmanns Reisen

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Fünfzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Siebenzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Gutmanns Reisen, W. Raabe

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Germany

ISBN:9783849633561

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Wilhelm Raabe – Biografie und Bibliografie

Namhafter Romanschriftsteller, der zuerst unter dem Namen Jakob Corvinus auftrat, geb. 8. Sept. 1831 zu Eschershausen im Herzogtum Braunschweig, studierte in Berlin seit 1855 Philosophie und widmete sich unmittelbar nach seinen Studienjahren der Literatur, in die er mit dem lebendigen, jugendfrischen Idyll »Die Chronik der Sperlingsgasse« (Berl. 1857; 41. Aufl. 1905, auch illustriert) und den Erzählungen und Phantasiestücken »Halb Mähr, halb Mehr« (das. 1859) eintrat. Es folgten dann großenteils in mehreren Auflagen: »Ein Frühling« (Braunschw. 1858); »Die Kinder von Finkenrode« (Berl. 1859); »Nach dem großen Kriege«, Geschichte in zwölf Briefen (das. 1861); »Der heilige Born. Blätter aus dem Bilderbuche des 16. Jahrhunderts« (Prag 1861); »Unsers Herrgotts Kanzlei«, historischer Roman (Braunschw. 1862, 2 Bde.); »Verworrenes Leben«, Skizzen und Novellen (Glog. 1862); »Die Leute aus dem Walde« (Braunschw. 1863, 3 Bde.); »Drei Federn« (Berl. 1865); »Der Hungerpastor«, Roman (das. 1864, 3 Bde.; 25. Aufl., das. 1906); »Ferne Stimmen«, Erzählungen (das. 1865); »Abu Telfan, oder die Heimkehr vom Mondgebirge« (Stuttg. 1867, 3 Bde.); »Der Regenbogen«, sieben Erzählungen (Stuttg. 1869, 2 Bde.); »Der Schüdderump«, Roman (Braunschw. 1870, 3 Bde.); »Der Dräumling« (Berl. 1872); »Deutscher Mondschein«, vier Erzählungen (Stuttg. 1873); »Christoph Pechlin, eine internationale Liebesgeschichte« (Leipz. 1873, 2 Bde.); »Meister Autor, oder die Geschichten vom versunkenen Garten« (das. 1874); »Horacker« (Berl. 1876, 11. Aufl. 1906); »Krähenfelder Geschichten« (Braunschw. 1879, 3 Bde.); »Wunnigel« (das. 1879); »Deutscher Adel« (das. 1880); »Alte Nester« (das. 1880); »Das Horn von Wanza« (das. 1881); »Fabian und Sebastian« (das. 1882), »Prinzessin Fisch« (das. 1883); »Villa Schönow« (das. 1884); »Pfisters Mühle« (Leipz. 1884); »Zum wilden Mann« (das. 1885); »Unruhige Gäste« (Berl. 1886); »Im alten Eisen« (das. 1887); »Das Odfeld« (Leipz. 1888); »Der Lar, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte« (Braunschw. 1889); »Stopfkuchen, eine See- und Mordgeschichte« (Berl. 1891); »Gutmanns Reisen« (das. 1892); »Kloster Lugau« (das. 1894); »Die Akten des Vogelsangs« (das. 1896); »Gesammelte Erzählungen« (das. 1896–1900, 4 Bde.); »Hastenbeck« (das. 1899). In seinen größern wie seinen kleinern Erzählungen verbindet R. frischen und echten Humor mit einer elegischen und bittern Darstellung des Lebens, einen energischen Realismus mit einer gewissen phantastischen, traumhaften Erfindung. Am stärksten treten seine Eigentümlichkeiten wohl in den Romanen: »Der Hungerpastor«, »Abu Telfan« und »Der Schüdderump« hervor; wahrhafte Genialität des Humors offenbart auch die kleine Meistererzählung »Horacker«. In den spätern Dichtungen (»Pfisters Mühle«, »Stopfkuchen« u. a.) liebte er eine barocke Einkleidung, Einschachtelung der Erzählung, die ihren tiefen und gediegenen dichterischen Gehalt mehrverhüllte als heraushob. R. siedelte 1862 von Wolfenbüttel nach Stuttgart über und nahm 1870 seinen dauernden Wohnsitz in Braunschweig; 1901, zu seinem 70. Geburtstag, der ihm viele Auszeichnungen brachte, wurde er von der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen zum Ehrendoktor ernannt. Vgl. Gerber, Wilhelm R. (Leipz. 1897); Schriften von W. Jensen (Berl. 1901), W. Brandes (2. Aufl., Wolfenb. 1906), Eug. Wolff (Berl. 1902), Hans Hoffmann (das. 1906).

Gutmanns Reisen

»Nach dreißig Jahren begreift es kein Mensch mehr, wie man sich hat plagen müssen, um die lieben Kleinen zusammenzubringen!«

Michels Mutter.

Wo hat die Kunst Ihr Haus? Das Haus der Kunst ist rund; Steht allenthalben so, daß Sonne drüber stund.

Friedrich von Logau.

Da liegt vor mir ein Buch in Duodez, betitelt: »Merkwürdige Reisen der Gutmannschen Familie.« Die Vorrede ist datiert von »Schloß Ricklingen, den 7. August 1797«; meine »dritte verbesserte Auflage« stammt aus dem Jahre 1805 und war damals zu finden in Hannover bei den Gebrüdern Hahn. Der Verfasser ist Christian Konrad Dassel, zuletzt Pastor zu Hohenbostel, und dem Manne widme ich heute mein Buch – am 11. Mai 1891.

Wenn ich heute auf dem Papier gern reise und die merkwürdigsten, halsbrechendsten, rührendsten und belehrendsten Abenteuer mit Behagen erlebe und bis jetzt noch immer ziemlich glücklich durchgekommen bin, so danke ich das diesem Autor, von dem natürlich keine »Liste der besten hundert Bücher aller Zeiten und Literaturen« etwas weiß. Was sollte der alte Herr auch unter den hundert Lieblingsschriftstellern des Sir John Lubbock und denen derer, die bei uns selbstverständlich sofort dem unbelesenen Engländer mit ihrem Verzeichnis hoch in der Hand und in der Luft zu Haufen nachzappelten?

Auf meiner Liste, die freilich keine hundert Lieblingsschriftsteller enthält, steht der Pastor Dassel aus Hohenbostel in erster Reihe; denn vor allem habe ich für mein Handwerk aus ihm gelernt, was der Autor mit seiner Heldin anzufangen hat, um durch sie nicht nur Rührung, sondern auch Nutzen im Publikum hervorzubringen. Er läßt seine Emilie den König von Dahomy heiraten und aus dem schwarzen, blutdürstigen, menschenschlachtenden und menschenfressenden Wüterich in Abomy einen weiß-human aufgeklärten Menschenfreund vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts machen: ich lasse meine Klotilde auch heiraten und sie dadurch das deutsche Volk neu gründen und das neue Deutsche Reich stiften. O, die armen, lieben, guten kleinen Mädchen sind auch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts immer noch ganz nützlich zu verwenden! und wer weiß, ob nicht am Ende des zwanzigsten Säkulums ein durch die Druckpapierwüste sich selbst seinen Weg suchender armer Teufel, dies mein Buch mit auf seine Liste der »hundert besten Bücher aller Zeiten und Literaturen« setzt? –

»In einer angesehenen Stadt H... lebte vor einigen Jahren ein sehr braver und rechtschaffener Vater.« – – »Gutmann war ein reicher und angesehener Kaufmann« – – – wir könnten ganz in dem Tone bleiben und würden vielleicht manchem kindlich-verwundert in den heutigen Tagestumult gaffenden Lesergemüt einen Gefallen damit tun: tun wir unser möglichstes in dieser Hinsicht ...

Mit dem Buchstaben H fing die Stadt nicht an, von der wir diesmal ausgehen. Eine angesehene Stadt war sie auch gerade nicht, so wenig wie der angesehene Kaufmann, der sich sofort auf seine Reisen machen wird, den Namen Gutmann führte. Nennen wir ihn nun aber gerade erst recht – gerade darum so! und die Stadt meinetwegen auch H... Es kommt wirklich nicht darauf an: der liebe Gott kennt beide und wird sie am Ende aller Dinge schon zu rufen und nach ihren politischen Meinungen im September des Jahres Achtzehnhundertsechzig auszufragen wissen. – –

###

Das Haus Gutmann und Frau (die Frau hieß Line wie in Gutmanns Reisen) war in der norddeutschen Kleinstadt so wohl und so übel angesehen, wie man es nur wünschen konnte. Die Wohlwollenden wiesen mit Stolz darauf hin; die Konkurrenten barsten dann und wann vor Neid, und im letzteren Falle gab es jedesmal einen so übeln Geruch, daß der Chef schmunzelnd auf seine Dose klopfte und sie auch seinem entrüstet die Nase zuhaltenden Eheweibe hinhielt, um das Wort hin, zunehmen:

»Ich begreife nicht, Alter, wie du zu der Nichtsnutzigkeit lachen kannst!«

»Aber ich. Prosit! Das Weinen wollen wir uns doch auf eine passendere Gelegenheit aufsparen. Augenblicklich bedeutet die Sache mal wieder weiter gar nichts, als daß unser Jahresabschluß den Herren Konkurrenten Fuchs, Sengerich und Kompagnie besser gefällt als der ihrige. Ist das ein Grund, um sich über ihre Redensarten hinter unserm Rücken zu ärgern?«

»So laß mir doch nur deine dumme Dose unter der Nase weg! Du magst ja gottlob wohl recht haben.«

Es ist den Leuten nichts Neues mehr zu sagen. Das Haus, die Wirtschaft und die Familie sind bereits in der Phantasie jedes gebildeten Lesers vorhanden. Das Haus ist eins der solidesten der Stadt und liegt in der allerbesten Geschäftsgegend, am Markt. Die Familie besteht aus Vater, Mutter und Sohn, und eine junge, hübsche, brave Schwiegertochter und junge Frau dazu wäre durchaus kein Unding: um Himmels willen machen wir ein Ende mit allen dergleichen Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten! Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen, sei uns gnädig, und wenn die lieben Fräulein Töchter auch ein freundliches Auge auf diese Blätter werfen wollen, so küssen wir ihnen neunfach dafür die Hände. Leider haben wir aber ihren edlen Namen keine neun Gesänge zur Verfügung zu stellen! dafür würden sie sich jedoch höchst wahrscheinlich auch sehr bedanken und es gegebenen Falls für eine Unverschämtheit erklären. Wie vom Anwesen des »Wirtes zum goldenen Löwen« aus, sah man von der Haus- und Ladentür des Geschäftes Gutmann und Frau auf den Marktplatz der Stadt. Und drüben lag nicht bloß das Haus des begüterten Nachbars mit den grünen Läden, – des Kommerzienrats Sengerich –sondern auch die Apotheke, wie in Hermann und Dorothea. Um die Ecke der Apotheke aber führte, was in Hermann und Dorothea noch nicht möglich war, der Weg nach dem Bahnhof. Hiermit endet also jegliche Ähnlichkeit, und wir verbleiben im neunzehnten Jahrhundert und in unserer Geschichte bis zum Ende, wo freilich ein gewisses Plagiat wiederum nicht zu verkennen sein wird. Nämlich der junge Mensch in unserm idyllisch-politischen Epos, in unserer Geschichtserzählung kriegt sein Mädchen ebenfalls und wird so glücklich damit als möglich.

###

»Was geht denn das mich an, daß um die Apotheke der Weg nach dem Bahnhof führt?« darf der Leser fragen. Kühl und mit einem kleinen Aufruck des Selbstbewußtseins antwortet der Geschichtenberichter und Geschichteberichtiger: »Sehr viel!«

Mit dem Wege nach dem Bahnhof geht die Geschichte an. Ohne den Weg nach dem Bahnhof würde aus der ganzen Geschichte nichts. Wie wären ohne den Weg zum Bahnhof die deutschen Völkerstämme zu einem erträglichen Verhältnis untereinander, wie wären die beiden aus den annähernd dieselbe Sprache sprechenden zwei deutschen Völkerschaften stammenden jungen Leute miteinander zusammengekommen? Wie hätte aus dem heillosen Durcheinander im ganzen und im einzelnen ein Herz und eine Seele, ein Fleisch und ein Blut werden können ohne den – Weg zum Bahnhof?

Lächelnd hinter dem rosigen Ohr sich – die Löckchen mit Rosenfingern (weißen) ordnend, wird die Leserin fragen:

»Aber, mein Gott, wer hat denn jemals was gegen den Weg zum Bahnhof einzuwenden gehabt?« und damit hätte sie ihr Wort am Sonnabend, den 1. September 1860 mit in die Wagschale werfen dürfen: es würde sicherlich mit gewogen worden sein. In unserm ersten Kapitel handelt es sich einzig und allein um den Weg nach dem Bahnhof.

Erstes Kapitel.

Was lag alles an diesem Sonnabend, dem 1. September 1860 der Frau Line Gutmann auf dem Halse! Am Morgen der Markttag mit seiner Wagenburg von Bauernfuhrwerken, mit seinem Klein- und Großhandel im Laden und im Kontor. Das Korn im Preis abgeschlagen, die Heringe gestiegen. »Für 'n Sechser Sirup wollte ich.« – »Gleich, mein Junge! Ne, Vorsteher, auf so'n Geschäft läßt sich mit meinem Willen mein Mann nicht ein, fragen Sie ihn nur selber. Ne, fragen Sie ihn lieber nicht, denn er ist mir heute zu jeder Dummheit fähig. Denken Sie nur, er will morgen verreisen. Er, der seit seinen Reisenden-Jahren seine Seligkeit darauf verschworen hat, keinen Fuß mehr in einen Eisenbahnwagen zu setzen. Gucken Sie, da sitzt er auf seinem Schreibebock und lacht: unser armer Junge habe ihn verführt, und daß der seinen Rührlöffel im Topfe gehabt hat, das will ich auch nicht leugnen; verrückt sind sie eben beide geworden. Oder sind Sie, Vorsteher, etwa auch nicht mehr mit unserm angeborenen Landesherrn allein zufrieden? sind Ihnen auch seine Truppen und seine Diplomatie nicht mehr gut genug? Von der letzteren verstehe ich nichts; aber die ersteren haben wir doch zu einem Teil hier in der Stadt in der Garnison und den übrigen Rest fast jeden Herbst zum Manöver, Sie im Dorf und ich hier im Hause, im Quartier. Es sind doch ganz hübsche Leute, und gut genährt; und nach ihren Uniformen fragen Sie nur Ihre Frauensleute, die meinigen brauche ich gar nicht zu fragen! Und ihre Bewaffnung? Wie können sie schießen, wenn sie auch nicht das neumodische preußische Gewehr haben! Vorm Jahr bin ich selbst mit hinausgegangen und habe mir beide Ohren zuhalten müssen. Und nun soll das auf einmal alles nicht gut genug sein, und sie haben sich, wie mein Mann mir auseinandersetzt und mein Sohn bestätigt, erst einzeln in allen deutschen Völkerschaften und dann in einen Haufen, ich glaube in Eisenach, zusammengefunden und die Köpfe zusammengesteckt und natürlich eine Kommission dazu gewählt. Und jetzt scheint es mir soweit zu sein, jetzt trommeln sie die ganze Landkarte nach Koburg hin, um mit der Verschwörung ganz in die Öffentlichkeit zu treten. Und wenn ich Seine Hoheit, unser hiesiger angestammter Landesherr wäre, so käme mir das Ding, so hinter meinem Rücken, zum mindesten doch etwas kurios vor. Ich habe das auch meinem Herrn Sohn gesagt. Du! habe ich ihm gesagt, daß du mir in deiner Unschuld keinen Unsinn machst und dir deine Karriere verdirbst! Soviel Politik verstehe ich doch auch seit Achtundvierzig, daß ich weiß, wo nach oben hin die Gemütlichkeit aufhört und nach unten zu wir unsere Dummheit auszubaden haben, und drüben der Herr Nachbar und Konkurrent hingeht und seinerseits fürs Vaterland auftritt und einen patriotischen Verein gründet, mit dem Titel Kommerzienrat und dem schönsten Landesorden uns dicht vor der Nase! Aber was hat es geholfen, Vernunft zu sprechen? Öl ins Feuer ist meine Rede gewesen; was ich beiläufig auch vorher schon hätte wissen können, da ich mich in Dinge mischte und über Verhältnisse redete, die ich nach ihrer Naseweisheit nicht verstand. Na, meinetwegen! Meinen Verstand für mein Hauswesen und das Geschäft haben sie mir wohl lassen müssen, und damit hoffe ich, wenn es am schlimmsten geht, auch für sie mit auszureichen. Sie reisen morgen nach Koburg, um das deutsche Volk von neuem und den neuen deutschen Nationalverein zu gründen, und ich bleibe hier und behalte den Haushalt, die Konkurrenz drüben und Seine Hoheit unsern Landesfürsten und Sie im Auge, Vorsteher. Ja, machen Sie mir nur Augen wie eine Eule, die in den Blitz sieht, Herr Schulze von Großschwabbelbauchen: so werden die Roggenpreise ab Hamburg nicht notiert, daß Sie mir so kommen dürfen, um eine Dumme an mir zu finden! Nun, Junge, was willst du denn eigentlich noch? Deinen Sirup hast du ja schon seit einer Viertelstunde! Ja so, eine Hand voll Rosinen als Lohn der Tugend, daß du gegen deine Mutter dienstfertig und höflich gewesen bist. Da! nun marsch! Heißt übrigens auch ein Geschäft, bei dem man es wohl nicht zu dem Titel Frau Kommerzienrätin bringen wird, einerlei ob man sich an seinem guten Landesherrn diplomatisch und militärisch versündigt oder nicht!«–

Der Markt war von dem Morgenmarktverkehr wieder gesäubert worden und gereichte dem Reinlichkeitssinn des kleinen Gemeinwesens in seiner Sauberkeit wieder zur großen Ehre. Wo am Morgen, wie Frau L. Gutmann sich ausdrückte: »Tausende sich durcheinandergewühlt« hatten, trieb sich jetzt ein einzelner Hund um. An »Platzscheu« litt der nicht, wie der kürzlich ans der ungeheuren Stadt Hannover hierher in die Wüste verschlagene Provisor, am Fenster der Apotheke gähnend, bemerkte.

Auf sämtlichen drei Kirchen der Stadt schlug es fünf, und Vater Gutmann schlug sein Hauptbuch zu, wendete sich auf seinem Drehsessel ins Gemach hinein zu seiner Frau, der am Fenster über das Strickzeug weg dem Hund und dem Provisor zusehenden, und sagte:

»Linchen, mir ist doch eigentlich recht sonderbar zumute und wird's immer mehr, je mehr die Dämmerung naht. Komm' ich mir endlich mal wieder, wie seit fünfundzwanzig Jahren nicht, weltbürgerlich weinreisend-genial vor, oder – wie seit fünfundzwanzig Jahren unter deiner treuen Obhut als ein alter guter Kerl notdürftig ausgerüstet mit den zum Kornhandel und Stadtratstitel notwendigen Instinkten? Solange die Geschichte noch im weiten lag, war ich mir natürlich vollständig klar darüber und fühlte nach jeder Parteisitzung im Traum von dir an meinen Schulterblättern nach, ob ich mir auch nicht die neuwachsenden Adlerschwingen verknicke. Jetzt, wo es heißt: Morgen früh um vier geht der Zug ab! fange ich wieder an zu fühlen, aber nur bänglich – so wärmflaschen-wehmütig, kamillenteeduftig, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll! so zuhausebehaglich, so pfeifenstopfgemütlich, kurz dir und mir in unseren vier Pfählen so notwendig und unabkömmlich, daß ich dich nunmehr ernstlich frage: Packst du nicht lieber meinen Koffer wieder aus? ist es nicht für mich, dich und ihn besser, daß wir den Jungen allein reisen lassen?«

»Alter Hanswurst!« klang es vom Fenstersitz her, und es ist noch niemals, so lange jemand zu seinem eigenen Vergnügen und dem anderer aufs Seil ging, dieses Wort so zärtlich-verständnisreich ausgesprochen worden.

»Das möchtest du jetzt wohl!« fügte die alte Dame hinzu. »Erst dich blamieren und dann mir die Blamage in die Schuhe schieben. Das wäre so etwas für dich, diesen ganzen kommenden Winter durch in deinem Klub, wenn aus dieser eurer Geschichte und Verschwörung in Koburg wieder mal nichts Rechtes wird, alle deine Reden anzufangen: Ja, meine Herren, hätte meine Frau mich nicht abgehalten, meinen Senf dazuzugeben, so – und so weiter. Ne, ne, Alterchen, nichts wird wieder ausgepackt – lieber packe ich dir noch ein paar wollene Strümpfe, 'ne warme Unterhose und eine Reservenachtmütze zu, von wegen möglicher Erkältung bei dieser Erhitzung fürs allgemeine deutsche Vaterland! Verlaß dich drauf: morgen früh punkt vier Uhr werdet ihr geweckt. Das will ich auch noch meinerseits zu eurem Patriotismus beitragen, daß ihr diesmal nicht die Zeit verschlaft. Und dann in Gottes Namen marsch und gute Geschäfte eurerseits! Hier am Orte werde ich für das Geschäft schon sorgen. Wenn ihr nur gesund wiederkommt, so ist das zwar die Hauptsache: aber wenn ihr hübsch was ausrichtet, was uns die Dänen, Russen und Franzosen besser vom Leibe hält, als wie euer jetziger deutscher Bund, so wird mir das natürlich sehr angenehm sein, schon um dem ewigen Gerede, Geschwätze und Geschimpfe darüber endlich ein Ende zu machen, übrigens, Mann, wenn du die Gefühle unseres uns nun doch mal angestammten und auch doch ganz ordentlichen Landesvaters dabei ein bißchen schonen kannst, so tue es. Die Karriere unseres Wilhelms hat er und seine Herren Geheimen Räte, was ihr auch für die Zukunft zuwege bringen mögt, für die Gegenwart wahrscheinlich noch einige Zeit in Händen, und wer sich zu grün macht, den fressen die Ziegen. Das ist meine Meinung als deutsche Hausfrau und Mutter im nüchternen Zustande. Eure Toaste bei Tische auf uns edlen Frauen und holden deutschen Jungfrauen – na ja!«

Zweites Kapitel.

»Weib!« sagte der alte Herr, sozusagen halb weinend und halb lachend. »Deutsches, blondes, blauäugiges Weib,« sagte er, und dann sagte er weiter nichts, als: »Wenn der Junge nach Hause kommt, so halte dich an den. Der bildet die jüngere Generation und hat's möglicherweise mit seinem Weibe und seinen Würmern im Topfe zusammenzuscharren, was ihm deine Dänen, Russen und Franzosen drin übriggelassen haben. Ich gehe auf ein Stündchen zum Kegeln. Beim Abendessen treffen wir ja hoffentlich wohl noch einmal im Leben zusammen – annähernd in gewohnter Gemütlichkeit.«

»Willst du nicht doch lieber den Hausschlüssel mitnehmen, Gutmann?«

»Weib!« sagte abermals der alte Herr und setzte diesmal noch hinzu: »Velleda, alte germanische Pythia, füge jetzt nicht noch zu deinem Besserwissen die Überhebung! was soll ich heute abend mit dem Hausschlüssel, wenn du mich morgen früh um vier Uhr zum Tode fürs Vaterland wecken willst? Jawohl, so seid ihr, wie wir euch in Liedern besingen und bei Tische hochleben lassen – na ja! Also schütte dein Herz mit dem Jungen noch einmal aus; – nun aber vollständig, – bis ich zum Essen nach Hause komme – wahrscheinlich zum letztenmal.«

»Gottlob, daß ich dich kenne!« sagte Velleda; nicht bloß sozusagen »halb weinend«, sondern mit sehr ernsthaft heruntergezogenen Mundwinkeln. Da war es denn wahrhaftig ein Glück, daß der Alte wirklich ging, und daß der Junge kam.

»Was machst denn du für ein kurioses Gesicht, Mamachen?« fragte der Kameralsupernumerar Gutmann, – Gutmann junior.

»Bekümmere dich nicht um meine Gesichter, mein Sohn, sondern sieh nach dem deinigen, das heißt, besinne dich noch mal, ob wenigstens du für morgen früh alles parat hast. Für deinen Vater habe ich natürlich alles besorgt; aber du solltest doch nun allmählich meiner Beaufsichtigung und Sorge entwachsen sein! Lache nicht; es ist mein völliger Ernst, daß ich endlich jetzt herzlich froh sein will, wenn ich ihn morgen früh glücklich aus dem Hause und auf der Eisenbahn habe. Nach zwanzigjährigem Stillsitzen! Von dir jungem Schnaufer rede ich nicht. Du kannst in der Hinsicht meinetwegen anfangen, was du willst; aber – daß du ihn mir heil und vergnügt wieder hierher an Ort und Stelle schaffst, das rate ich dir, du könntest sonst in Wahrheit und Wirklichkeit ein kurioses Gesicht von mir zu sehen kriegen!«

Der gute Sohn, der zu Anfang dieser Rede dreist hätte in einem herzlichen Lachen loslegen dürfen, unterließ das. Er nahm nur Mama in die Arme und sagte:

»Aber Mutter, Mütterchen, so mach dir doch wenigstens keine kuriosen Gedanken! Koburg ist doch nicht aus der Welt, und die Art und Weise, wie Papa und ich zur Neugestaltung des deutschen Volkes dort beitragen wollen, kann doch nicht Kopf und Beine kosten und an Hals und Kragen gehen. Unschuldiger und harmloser als wir können sich doch Söhne eines Volkes nicht um ihr Vaterland bekümmern!«

»So?« fragte Velleda – Frau Line Gutmann, und als der Alte vom Kegeln heimgekommen war und sie alle drei beim Abendessen saßen, kam, so wahr ich lebe, in diesem wahrheitsgetreuen Bericht die Rede zum drittenmal auf den Vater des Vaterlandes, auf den Landesvater. Wenn dieser eine Ahnung davon gehabt hätte, wie schwer er wog, nicht bloß in dieser Geschichte, sondern in der Geschichte überhaupt, so hätte er seine herzliche Freude darüber haben und innigste Genugtuung aus der Tatsache ziehen dürfen. –

Es lag ein, in Anbetracht der unschuldigen Extravaganz, die sich der Vater des Hauses nach mehr denn zwanzigjährigem Zuhausebleiben plötzlich erlauben wollte, doch eigentlich zu schweres Gewölk über dem Familientische.

»Über euch Männer!« sagte die Mutter des Hauses. »Wenn ich mal heraus wollte aus dem ewigen Einerlei, so hieß es zwar immer seit unserem Hochzeitstage, Gutmann: Mit Vergnügen, Kind! aber geblieben ist es immer dabei, geworden ist nie was draus. Und wie oft habe ich gesagt: Mann, verhutzle mir nicht hinterm Ofen! das wird mir ja unheimlich, sich dreißig Jahre – na, bis zum dreißigsten Jahre als Commis voyageur in der ganzen weiten Welt herumgetrieben haben und dann gar nichts mehr von ihr wissen wollen. Ich sollte das natürlich nur deiner Liebe zu mir und meiner häuslichen Liebenswürdigkeit zuschreiben, Gutmann, und ich habe mir ja auch wirklich was auf diese Umwandlung deines Lebenswandels zugute getan; aber –«

»Aber?« fragte der brave Vater Gutmann, und wir müssen leider hinzufügen, grinsend.

»Aber jetzt glaube ich nicht mehr, daß ich das Stück Zucker war, was diese Sache süß machte. Ein Heuchler bist du gewesen, Gutmann! Bloß ab- und müdegelaufen und -gefahren hattest du dich, Alter, und was du fünfundzwanzig Jahre lang meine Liebe und Liebenswürdigkeit genannt hast, das nenne ich heute abend nur noch deine Seligkeit und Gemütlichkeit in Schlafrock und Pantoffeln. Mach mir nichts vor, Gutmann, die Sache ist so, und ich gönne es dir ja auch, daß du dich endlich unter meiner Obhut so gut ausgeruht hast von deinem unverheirateten jungen Großhandelsherumtreiben und mir jetzt mit einem Male zwischen dem Fünfzigsten und Sechzigsten den zweiten Reisetrieb kriegst. Reise glücklich, verführe mir das arme Wurm, unsern Jungen hier, nicht zu sehr; aber Fisimatenten mach mir lieber nicht mehr vor!«

»Aber Line –«

»Jawohl! mit Aber unterbrachst du mich eben schon einmal; jetzt aber komme ich auch mit dem richtigen Aber und sage euch nochmals: Kinder, habt meinetwegen euer politisches Vergnügen, aber verderbt es mit eurem guten Landesvater dabei nicht zu sehr! Und das wiederhole ich: ich sage das dir vor allem, mein bester Junge, denn du hast von uns allen drei eben am meisten mit dem lieben, alten Herrn zu rechnen. Und es ist ein lieber, alter Herr! Als er neulich hier war, da möchte ich doch den von euch wohl sehen, der so höflich mit jedem als wie mit seinesgleichen umging und sich behub, als wie Seine Hoheit. Wir waren alle gerührt an den Fenstern und wedelten mit den Taschentüchern, und er zog da mitten auf dem Markt auch seins heraus – ein so wundervoll weißes – und ich möchte wohl wissen, ob für solche hohen Herrschaften eine besondere Art von Wäsche besteht? Doch das ist die Nebensache; – laßt mich mal ausreden: was wollt ihr denn eigentlich? Darf nicht in eurer sogenannten Kammer jeder Schafskopf seinen Mund auftun und die Sache aufhalten? Soviel wie ich davon verstehe, fragt man euch doch bei allem um eure Meinung und Hoheiten wird sie nachher nur untergebreitet und er hat bloß seinen Namen drunterzusetzen, und – mein Sohn – unter eure Anstellungspatente! und wenn er mal einen köpfen lassen muß, was ihm doch wahrscheinlich selber gar nicht angenehm ist, und was bei meinen Lebzeiten auch nur einmal vorgekommen ist! und der hatte das verdient! – Dann ist da das Ministerium. Ja, das Ministerium, auf das ihr eure allgemeindeutsche patriotische Wut abladet und daraufhackt, weil es das nur ausführt und sozusagen aufs Brett bringt, was ihr im Grunde eurer Seelen selber seid. Ich kenne doch einige von den Herren auch, und euer jetziger Schlimmster von ihnen – Gutmann, bedenke das! – hat hier sogar bei dir – bei uns im Hause gewohnt, als er noch jüngster Assessor am hiesigen Kreisgerichte war, und ich kenne keinen, mit dem ich mich auf Bällen lieber unterhalten hätte, als mit dem, und keinen, der zu allen vergnügten Torheiten mehr aufgelegt war, als wie eben der. Und wie liebreich hat er sich gerade mit dir abgegeben, Wilhelmchen, als es dir in der Quarta und Tertia mit dem Latein und dem Griechischen nur zu oft nur so so war? Wie hat er dich mit deinen Exerzitien mit auf seine Stube genommen, und jetzt – nun – heute ist das doch gerade so, als dürfe kein Hund mit Anstand mehr ein Stück Brot von ihm nehmen! Bloß weil er in der äußern Politik ein bißchen anders denkt, als wie ihr! Ja, diese äußere Politik! Ich kann doch auch schon eine geraume Zeit politisch denken, und meine Mutter ist als Kind sogar einmal von den Kosaken mitgenommen worden; aber so eine politische Konfusion als wie jetzt, wo es doch verhältnismäßig ganz still ist, scheint mir doch noch niemals weder in der Weltgeschichte noch in euren klugen Männerköpfen dagewesen zu sein. ›Mutter, das verstehst du nicht,‹ sagt natürlich dein Vater, Junge. Und du, mein Sohn, nennst das natürlich eine Stille vor dem Sturm, als ob du diese Redensart eben erst erfunden hättest. Ich aber sage euch erstens, was die Redensart anbetrifft, so ist die schon millionenmal dagewesen und – zweitens, was das Nichtverstehen angeht, so maße ich mir das auch gar nicht an; aber meine Meinung über das Jahr Achtundvierzig und den Louis Napoleon und die schleswig-holsteinsche und die türkische oder orientalische Frage habe ich mir auch gebildet, wenn ich auch leider wenig genug zum Zeitungslesen komme; und als deutsche Jungfrau in weißem Tarlatan habe ich als Mädchen schon in den dreißiger Jahren mitgewirkt fürs Vaterland, euer allgemeines nämlich, nämlich bei dem ersten hiesigen Sängerfest, wo sogar ein halb Dutzend Hamburger kamen und darunter ein gewisser junger naseweiser – Gutmann, laß mich ausreden; unser persönliches Verhältnis ist augenblicklich nur Nebensache! Ja, was wollte ich doch sagen? Jawohl, und als politische deutsche Frau habe ich doch auch meine Pflicht getan, indem ich mich immer deinen Ansichten angeschlossen habe, Gutmann, und dich niemals abgehalten habe, und euch auch nicht morgen früh abhalten werde, wo ihr sicherlich ohne mich gar nicht von Hause wegkämet, weil ihr die Zeit verschliefet und das Deutsche Reich und Volk bloß im Bette und im Traum aufrichtetet; oder als bloße ideale Strolche und Vagabunden, ohne Kamm, Seife, Zahnbürste und die nötige reine Wäsche zum Wechseln, ich meine beileibe nicht eurer Ansichten, auf das Abenteuer loszöget. Und was ich sonst noch als deutsche edle Frau für das deutsche Volk und das deutsche Reich getan habe, so erinnere ich dich nur, Mann, an den armen Jungen, den armen jungen österreichischen Studenten, den du mir, ich glaube Neunundvierzig im Winter halb verhungert und halb erfroren ins Haus brachtest. Ja, es war so um die Zeit, wo sie in Wien Robert Blum erschossen und ihn nur gar zu gern auch gehenkt hätten – ich meine unsern armen lieben Gast und Flüchtling von damals. Und es war sogar ein Adliger, ein Ritter, ein Edler von Pärnreuther schrieb er sich, und wollte nach Schleswig-Holstein, um wenigstens da noch zu retten, was zu retten war. Und ich futterte ihn zuerst wieder zurecht, und sorgte auch für ihn für reine Wäsche und anständige Kleidung – na, ihr wißt das ja alles ebensogut als ich. Damals war er, der Herr Alois, so ein Bürschchen von neunzehn oder zwanzig Jahren. Wenn er noch lebt, muß er jetzt wohl über die dreißig sein und hat sich hoffentlich wieder nach Hause und in das gewohnte bürgerliche Leben gefunden, und hat jetzt bei ruhigeren Zeiten, so wie ihr, bloß die ungefährlicheren politischen Neigungen behalten, und steckt nicht mehr seinen Hals dem Fürsten Windischgrätz in die Schlinge, bloß um den unglücklichen Ungarn zu helfen, gerade als ob die nicht auch mal ganz Deutschland verwüstet hätten, wie ich noch aus meinem eigenen Geschichtsunterricht weiß und davon, daß ich dir den deinigen, Willi, nur zu oft überhören mußte. Und damit komme ich zu dem, was ich schon längst gesagt hätte, wenn ihr mich nur nicht immer unterbrochen hättet. Nämlich, wenn da, wie ihr sagt, da in Koburg in den nächsten Tagen sich alles zusammenfindet, was noch ein wirkliches Verständnis für das deutsche Volk hat und sich dazu rechnet, so wäre es doch zu putzig, aber auch hübsch, wenn ihr dort auch meinen lieben Wiener Leichtfittich anträfet. Von Flensburg hat er uns damals noch einmal geschrieben und sich noch einmal bedankt; aber es lag ganz in seinem Charakter, wenn er auch nicht längst in seinem kühlen Grabe läge, uns kein weiteres Lebenszeichen von sich zu geben. Und ich verdenke das ihm auch nicht; denn von mir selber weiß ich es ja, wie schwer man zu einem Briefe kommt. Na, seht euch mal nach ihm um in eurem Koburg, nach diesem süddeutschen, österreichischen politischen Bruder und wirklich allerliebsten Hans Hasenfuß. Vielleicht hat er es denn auch, aus seinen häuslichen politischen Verhältnissen heraus, sich klarer als wie ihr gemacht, was ihr eigentlich alle durcheinander zuwege bringen wollt, und er kann euch möglicherweise einen guten Rat in der Verlegenheit geben.«

»Wilhelm, jetzt wird sie fast zu grob!« erlaubte sich Vater Gutmann an dieser Stelle zu seinem Sohn zu sagen.

»So? Fast zu grob? Ne, bloß noch ein bißchen anzüglicher. Sitzt ihr etwa nicht in der allerhöchsten Verlegenheit trotz eurer schönsten patriotischen Gefühle und großen Worte? Auf der einen Seite wollt ihr das neue Deutsche Reich gründen; auf der andern möchtet ihr doch gern alles beibehalten, was das alte in tausend Fetzen zerrissen hat. Kinder, die Sache ist eben die, ihr wißt selber nicht, was ihr wollt! Auf der einen Seite wollt ihr so frei und ungebunden als wie möglich sein, und die edelsten Gefühle fühlen und zwar nicht bloß für euch selber, sondern für Polen, Ungarn, Italiener, und was weiß ich, wie die unterdrückten Völkerschaften sonst heißen. Auf der andern Seite aber wünscht ihr euch, natürlich wieder mit den edelsten Gefühlen, als in ein Paket zusammengepackt, und der Aufschrift Deutschland dran ins Regal geschoben, daß euch die Weltgeschichte immer mit einem Griff so beisammen hat und finden kann. Na, ich weiß schon, machen kann ich nichts dagegen und Seine Hoheit auch nichts, also reist nur! Geht hin nach eurem Koburg und steckt soviel Köpfe, soviel Sinne mal wieder zusammen. Mein Trost bleibt, daß der liebe Herrgott bis jetzt noch immer in seinem Laden Bescheid gewußt hat und zwar als Großkaufmann und im Kleinhandel. So wird er en détail euch mir ja wohl auch diesmal körperlich gesund, wenn auch geistig ein bißchen politisch konfuser ins Haus und ins Geschäft zurückliefern. Und jetzt geht lieber zu Bette, daß ihr mir morgen früh wenigstens munter auf den Beinen seid, wenn ich wecke, und ich mir nicht auch darum heute abend Sorgen zu machen brauche.«

Auf der Treppe sprach Vater Gutmann, auf dem ersten Absatz im Aufwärtsklimmen stehen bleibend, zu seinem Sohn: »Was meinst du nun wieder einmal zu deiner Mutter? Kannst du dir eine wunderbarere denken und wünschen?«

»Wahrhaftig nicht!« sagte der Sohn. »Sollen wir noch die Hand davon lassen? Sollen wir – oder – da diese wundervolle Rede doch eigentlich besonders auf dich gemünzt war, willst du nicht lieber doch zu Hause bleiben?«

Der alte Herr leuchtete seinem Kinde ins Gesicht und sagte:

»Hm!« und nach einer Weile: »Junge, ich habe ihr ja vorhin schon aus meiner Bequemlichkeit heraus den Vorschlag gemacht. Aber jetzt nicht mehr! Junge, sie kriegt zuviel Oberwasser, wenn ich jetzt gar noch ihr besseres Verständnis gelten lasse. Wir wollen doch nur zusammen reisen! Aber wirklich, ich gäbe, abgesehen von unseren politischen Absichten, viel darum, wenn wir ihr etwas mit nach Hause brächten, wodurch wir ihr endlich mal wirklich den Eindruck von männlicher Überlegenheit machten!« – – –

Des Vaterlands Größe, Des Vaterlands Glück, O gebt sie, o bringt sie Dem Volke zurück!

Näheres und weiteres darüber zuerst im Eisenbahnwagen. –

Drittes Kapitel.

Einen Erfolg hatten sie schon aufzuweisen. Sie hatten sich nicht wecken zu lassen brauchen. Sie waren von selber aufgewacht und hatten auch weiter keine Hülfe beim »In-die-Hosen«- und »In-die-Stiefel«-fahren nötig gehabt. Sie hatten sich ordentlich gewaschen, gekämmt und die Zähne geputzt. Die Rührung hatte sie nicht gehindert, noch einmal in Ruhe zu Hause Kaffee zu trinken, und dann hatte der Alte gesagt:

»Weib, jetzt platzen uns die Taschen und nachher platzen wir selber, wenn wir wirklich alles das hereinfressen, was du uns da als Reiseproviant hineinpfropfst! So ganz und gar in die Wüste fahren wir doch nicht hinein.«

Draußen der erste richtige Herbstnebel. Ein grauer, aber nicht unbehaglicher Herbstsonntagmorgen.

»Alter, nimm den Jungen in acht! Junge, sorge für deinen Vater! Es ist eigentlich zu dumm, daß man keinem von beiden dieses genug anempfehlen kann.«

»Hörst du, mein Sohn, daß du mich ja hübsch in acht nimmst!«

»Jawohl, Papa. Aber auch du –«

»So halt dich doch nicht unnötig auf, alberner Bengel!« raunte der Alte dem Kinde zu. Noch ein Nicken, ein Armeausbreiten von der Ecke der Apotheke aus, und dann – trotz des so mannigfach und vielfältig geknechteten Vaterlands doch wieder einmal in der goldensten Freiheit und auf dem Wege zum Bahnhofe und zu den größesten politischen Abenteuern, die einem Heuchler von gutgezogenem Haus- und Familienvater, aber früherem Weltreisenden und seinem unschuldigen Wurme von Sohn auf einer Fahrt zur Wiederaufbauung des deutschen Volkes als ein Ganzes im einzelnen irgend begegnen konnten.

Am Bahnhofe wenig Gedränge. Der Junge nahm die Billetts. Der Junge hob und schob den Alten – den weiland Welt-, Weg- und Reise-Gewandtesten seiner Sorte – wie 'ne alte Tante in den Wagen. Er setzte ihn in die behaglichste Ecke; er sagte ihm: »Bekümmere dich nur um nichts, ich werde schon alles besorgen,« und er sagte sich: »Na, das scheint mir ein sauberes Vergnügen werden zu sollen!« Er hatte noch niemals ein seit einem Pferdealter ausrangiertes Schlachtroß beim Klange der Trompete die Ohren spitzen sehen: wie sich die Ohren des Vaters Gutmann beim Pfeifen der Lokomotive, für einen Moment nur, aber vielbedeutend aufrichteten, entging ihm natürlich vollständig. Es gehörte doch noch ein reiferes Verständnis dazu, um hier beurteilen zu können, was da war und was da werden konnte! Übrigens weiß das auch der erfahrenere Mensch sogar als sehr »politisches Tier« niemals ganz genau. –

Sie fuhren ab und zuerst hinein in einen Morgen, wie er sich für die Jahreszeit schickte. Herbstnebelig, sonst aber nicht unfreundlich: ein schöner Tag immerhin möglich. Sonntagsfrühe, aber ohne ihren nachhallenden heimatlichen Glockenklang: so früh braucht kein Pastor aufzustehen, um den Leuten auf dem Bahnhof noch eine Stimmung mitzugeben.

»Ein Glück ist es, daß es heute Sonntag ist, sie würde mir sonst das ganze Haus auf den Kopf stellen,« sagte Vater Gutmann, nach der letzten Turmspitze der Heimat hinstierend. Als sie versank, versank er ebenfalls in seine Ecke und verblieb darin und bis – Kassel in dem, was sein Sohn mit einem Fremdwort schändlich als stupor bezeichnete. Bis Kassel! Wir haben das schriftlich in den Aufzeichnungen des nicht nur darüber verwunderten, sondern dadurch vollständig verblüfft, ratlos gemachten jungen Herrn. »Na, das wird 'ne schöne Geschichte werden, wenn der mal wieder von der Kette bricht!« hatte er sich die Sache bis jetzt ausgemalt, und nun schien das alles ganz anders zu kommen.

Der fünfundzwanzig Jahre lang in den Lehnstuhl gedrückte frühere Weltwanderer schien es fast ein wenig zu gut zu Hause, in Schlafrock und Pantoffeln und dem blühendsten Klein-, Käse- und Groß-Kornhandel der Stadt gehabt zu haben.

»Der wird unserem Namen in Koburg Ehre machen,« seufzte der gute Sohn – Gutmanns Sohn, nachdem er zum zwanzigsten Mal vergeblich versucht hatte, ihn wenigstens etwas an- und aufzufrischen durch zärtliche, durch scherzhafte, ja einige Male auch durch geistreiche Bemerkungen. »Das hatte ich mir doch anders vorgestellt! O Gott, Gott, wenn sie mir in Koburg diese Flamme, wenn sie ins Vaterland schlagen will, nur nicht ganz auspusten. Wie er nur dasitzt!«

Mit dem letzten Wort hatte das Kind recht. Ja, wie er dasaß! ...