Gwen - Margrit Reck Roulet - E-Book

Gwen E-Book

Margrit Reck Roulet

0,0

Beschreibung

Gwen führt ein selbstbestimmtes, glückliches Leben als sie Max kennenlernt. Was als einfache Liebesgeschichte beginnt, wird zu einer Herausforderung auf verschiedensten Ebenen. Gwen gerät in den Strudel ihrer eigenen Gedanken und Überzeugungen, findet sich in ihrem emotionalen Dilemma gefangen. Sind es zufällige Beobachtungen, die sie beunruhigen oder warnen sie berechtigte Bedenken? Wie real ist real? Vertraut sie sich? Was bedeutet es, sich anderen anzuvertrauen? Ihre Wahrnehmung der Welt wird immer wieder in Frage gestellt. Die anfänglich einfache Liebesgeschichte rückt in den Hintergrund und verwandelt sich in Gwens Weg durch die eigenen Wahrheiten. Nicht zuletzt ist es auch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Sichtweisen, die unser Handeln bestimmen und mit Erfahrungen, die nicht für alle dieselben sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 152

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mein Dank an Alain, Elisabeth und Stephan. Ohne sie wäre dieses Buch nie entstanden.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

1

Eine überfüllte Tram an einem Sonntag! Es muß der warme, freundliche Tag sein, der so viele Menschen aus ihren Wohnungen lockt. Schon bei der Ankunft der Straßenbahn und während sich die Leute auf das Aus- und Einsteigen vorbereiten, versucht Gwen einen freien Platz zu entdecken.

Etwas nach rechts oder links ausweichend, schlängelt sie sich durch das Gedränge. Ohne den großen Bildband in ihrer Ledertasche, die sie über der Schulter trägt, wäre es ihr egal, ob sie steht oder sitzt. Ihre Rechnung geht jedoch nicht auf. An ein Fenster gelehnt, muß sie sich vorerst damit begnügen, ihre Tasche zwischen die Beine zu stellen und das Gleichgewicht dank einer Haltestange zu sichern. Ein Blick auf den Streckenplan bestätigt, daß sie erst an der zweitletzten Station aussteigen muss. Fast dreißig Minuten Fahrzeit liegen vor ihr, genug Zeit also, die Gedanken schweifen zu lassen.

Wie schön wäre es, zu Hause zu sein und wie meistens an einem freien Sonntag die Mußestunden mit den eigenen Büchern zu genießen. Nun, da alle einen Platz gefunden haben, ist keine bedrückende Enge mehr um sie herum, eher eine intensive Dichte und Nähe von Körpern, die sie zu ignorieren versucht. Ihre flachen Mokassins sind perfekt gewählt. Dank ihnen steht sie bequem. Sicher bequemer als die junge Frau mit ihren hohen Absätzen ein paar Meter weiter vorne, die sich gerade an dem neben ihr stehenden ebenso jungen, attraktiven Mann festhält, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, während die Tram eine Kurve nimmt. Nun lässt die junge Frau seinen Arm los, um ihn alsbald wieder zu berühren. Diesmal allerdings nicht, um sich festzuhalten, sondern um ihn zu fühlen. Warum sehe ich das?

Gwen wacht schlagartig aus ihrem Tagtraum auf. Eigentlich will sie die beiden jungen Leute gar nicht beachten. Weshalb auch? Doch in letzter Zeit ertappt sie sich häufiger dabei, dies zu tun. Sie bleibt an Sachen hängen, die nichts mit ihr zu tun haben oder zoomt auf belanglose Details, wie eben gerade. Sie gehört doch nicht zu jenen, die Menschen nach ihrem Aussehen beurteilen. Die neuesten Modetrends kennt sie nicht und macht sowieso nicht mit, das hat sie nie getan. Allerdings genießt sie es, wenn man sie für jünger hält, als sie ist.

Während sie weiter ihren Gedanken nachhängt, hält die Tram und Gwen verpasst beinah den gerade frei werdenden Einzelsitz. Erleichtert nimmt sie Platz. Ganz bewusst wendet sie das Gesicht dem Fenster zu, schaut sich im spiegelnden Glas in die braungrünen, hellen, wachen Augen und kontrolliert schnell den Schwung der hellbraunen Augenbrauen. Sie fallen eindeutig mehr auf als der schmale, feingeschwungene, ungeschminkte Mund. Um das Spiegelbild aufzulösen, lehnt sie die Stirn gegen das Glas, und konzentriert sich auf das Hinausschauen. Beim übernächsten Halt steigt das Paar aus. Entgegen allen Vorsätzen schielt sie doch hinüber und sieht gerade noch, wie er ihr beim Aussteigen helfen muss.

Da bin ich mit meinen Schuhen besser dran, oder etwa nicht?

Wie um sich selbst davon zu überzeugen, rückt sie ihre Tasche auf den Knien energisch gerade – und erschrickt, es knistert. Das Geschenk für Beatrice! Glücklicherweise hat sie es nicht zerknittert.

Sie sinniert weiter vor sich hin. In letzter Zeit lässt sie sich immer wieder von etwas ablenken. Irgendwelche unbekannten Leute fesseln grundlos ihre Aufmerksamkeit.

Warum gerade dieses junge Paar?

Die beiden erinnern sie an niemanden, den sie kennt. Sie hat nicht einmal gehört, worüber sie gesprochen haben, die Kleidung weder auffallend noch besonders schön oder extravagant. Und doch hat sie sie die ganze Zeit heimlich beobachtet. Ärgerlich!

Noch zwei Stationen, bis sie aussteigen muss. Es ist schon beinah Viertel nach zwölf geworden, sodass sie sicher sein kann, nicht zu den Ersten zu gehören.

«Geburtstagsbrunch, Beginn ab elf Uhr dreißig» hat auf der Einladung gestanden. Beatrice feiert dieses Wochenende ihren vierzigsten Geburtstag und erwartet ebenso viele Gäste.

Wie lange kennen wir uns bereits? Gute siebzehn oder sind es schon achtzehn Jahre?

Beatrice würde es genau wissen. Wie auch immer, es ist fast die Hälfte von Gwens Leben, und dies nicht nur als Arbeitskollegin, sondern auch als eine der langjährigsten Freundinnen.

Trotz aller Verbundenheit mit Beatrice freut sich Gwen nicht auf den Brunch anlässlich des runden Geburtstags. Es ist genau zwei Monate und drei Tage her, dass sie selbst auch vierzig geworden ist. An ihrem Geburtstag hat sie wie an jedem normalen Tag gearbeitet, einen Kuchen für alle mitgebracht und beim Kaffee Blumen vom Team erhalten. Abends hat sie sich etwas Kleines zu Hause gekocht und das wars.

Etwas unangenehm ist ihr die Erinnerung an den Moment, als Beatrice ihr vorgeschlagen hat, dass sie gemeinsam feiern könnten. Gwens körperliche Reaktion und ihr Blick machten augenblicklich klar, was sie davon hielt. Es war so eindeutig, dass es weder eine weitere Diskussion verlangte noch ein zweites Mal als Frage an sie herangetragen wurde. Als Beatrice wenige Wochen später ihr ihre Einladung überreichte, sagte sie im selben Moment zu. Ehrensache, dabei zu sein, obwohl sie sich jetzt selbst davon überzeugen muss, fröhlich teilzunehmen. Weshalb wollen Leute vor allem ihre runden Geburtstage feiern?

Die Straßenbahn hält und Gwen steigt aus. Sie sieht es buchstäblich vor sich: Noch ein paar hundert Meter und sie würde sich zusammenreißen, Glückwünsche überbringen, sich all den Paaren anschließen, die eine Überraschung für Beatrice vorbereitet haben.

Du bist ungerecht! tadelt sie sich. Nur weil du selbst keine Geburtstage feierst, krittelst du an allem rum. Hör auf damit, pass auf! ermahnt sie sich.

Die Tür zum Reihenhaus steht offen, fröhliche Stimmen sind schon vom Gehsteig aus vernehmbar. Das angekündigte Grillen verströmt bereits einen einladenden Duft. Gelbe, grüne und rote Luftballons ranken sich um den Türrahmen, Girlanden schmücken die Hecken. Unverkennbar Beatrice: herzlich, aufmerksam und liebevoll! Während Gwen auf den Eingang zugeht, lässt sie den festlichen Schmuck, der im leichten Wind tanzt, auf sich wirken. Beatrice und ihr Mann Toni haben ein feierliches Ambiente geschaffen, das keinen Platz für kritische Grübeleien lässt. Warum nicht? Gwen gibt sich innerlich einen letzten Ruck, als sie den Fuß über die Schwelle setzt. Von ihrer mürrischen Stimmung ist nun nichts mehr zu spüren.

Obwohl hinten im Garten beschäftigt, ist Beatrice dank ihres langen knallroten Kleids, das sie zur Feier des Tages trägt, schon von Weitem zu sehen. Gwen winkt ihr zu und kurz darauf liegen sich die beiden Freundinnen in den Armen.

«Du siehst blendend aus, wie es sich für ein Geburtstagskind gehört!»

«Nun übertreib mal nicht!» Beatrice winkt ab und errötet sogar ein wenig, während sie über ihr Kleid streicht. Es schmeichelt ihrer Figur, verbirgt geschickt alle Problemzönchen. Das Rot strahlt um die Wette mit ihren leuchtenden, warmen braunen Augen, während sie sich nun lachend durch die dunkelbraunen kurzen Haare fährt. Sie hakt Gwen unter und wendet sich den Gästen zu, die um sie herumstehen.

«Für alle, die sie noch nicht kennen, das ist Gwen, eine meiner langjährigsten Freundinnen… und meine Chefin.»

Sie lacht, strahlt und drückt Gwen dabei noch etwas fester an sich, während Gwen ein wenig peinlich berührt, fast befangen auf die Frau neben sich schaut. Die Leute stimmen bereits in das Lachen ein, als sie stammelt: «Das… das ist… äh… eine Ehre…» «Wir kennen uns seit unserem ersten Praktikum», fährt Beatrice munter fort. Offenbar stellt sie alle ihre Gäste vor. In die Runde schauend, stellt Gwen fest, dass sie etliche verpasst hat, der Preis für ihr spätes Erscheinen.

«Dann haben wir uns ohne Absprache für die Stellen im Frauenhaus beworben und wurden beide genommen. Seither arbeiten wir zusammen.»

Kein weiteres Wort darüber, wann Gwen ihre Chefin geworden ist. Aber das ist auch nicht wichtig, ihre Freundschaft war von Beginn an stärker als jede Hierarchie.

Gwen hat sich in der Zwischenzeit gefasst, rechtzeitig, um an die kurze Rede von Beatrice anzuhängen: «Und dank dir haben wir so viele Schwierigkeiten und Hürden gemeistert. Deine ruhige und praktische Art hat viele Lösungen erst ermöglicht. Vertrauen ist für dich mehr als ein Wort, du lebst und schenkst es uns allen jeden Tag. Danke.»

Gwen gibt Beatrice einen Kuss auf die Wange und löst sich aus ihrer Umarmung, um in das aufkommende Klatschen einzustimmen. Wie sehr sie dieses rundliche Gesicht mit den ausdrucksvollen Augen doch mag. So sorgfältig gekleidet, sieht Gwen ihre Freundin selten, nur in den wenigen und sehr wichtigen Situationen wie beispielsweise, wenn sie bei der Stadt vorsprechen müssen.

Toni, Beatrice‘ Partner, steuert auf sie zu.

«Sie liebt die goldene Kette! Danke für deine Hilfe.»

Er hat Gwen um Unterstützung und Beratung bei der Auswahl seines Geschenks, der Goldkette, gebeten.

«Du hast doch die schlichte schlangenartige gewählt. Sie passt sehr gut zu ihr.»

Noch bevor er darauf reagieren kann, greift jemand nach seinem Arm und verwickelt ihn in ein Gespräch. Gwen legt das Buch auf den Gabentisch, lehnt es sichtbar und doch bescheiden hinten an die Wand. Später werden sich alle um den Tisch drängen und bestaunen, wer was mitgebracht hat. Niemand… Gwen verdrängt jede Erinnerung an den eigenen Geburtstag.

Sie schaut sich nach vertrauten Gesichtern um. Sofort entdeckt sie einige Kolleginnen des Frauenhauses, denen sie von Weitem herzlich zunickt. Doch sie dreht sich in eine andere Richtung. Vorerst hat sie wenig Lust auf bekannte Gesichter, will den Kolleginnen erst einmal fernbleiben. Insgeheim fürchtet sie, dass sie nur über Berufliches reden und unter sich bleiben würden. Neben einem fantastischen Team sind sie nämlich auch eine eingeschworene Clique, die die Tendenz hat, sich gegenüber anderen abzuschirmen. Sie lässt den Blick schweifen.

Wen, außer den Arbeitskolleginnen, kenne ich? Hoffe ich jemanden zu treffen? Wen? Oder suche ich nach jemandem? Es fühlt sich nach Suchen an. Gwen ist erstaunt, ratlos und rastlos. Weshalb sollte ich? Ein paar Leute kennt sie nicht, die sind wohl aus Tonis Freundeskreis. Hingehen und sich vorstellen? Weshalb und warum? Zaudern hilft zwar nicht, aber sie hat auch keinen Elan, aktiv zu werden. Was soll ich sagen? Etwa: Wer bist du? Oder besser: Wer sind Sie? Oder: Woher kennst du Beatrice? Wohl kaum. Ihr fällt nichts Besseres ein, daher bleibt sie dabei, das Treiben der Gäste zu beobachten. Da ist niemand, der nach ihr Ausschau hält, der das Gespräch mit ihr sucht und auch niemand, den sie unbedingt kennenlernen will. Punkt. Sie nippt an ihrem Orangensaft. Sei realistisch, hier geschieht gar nichts Unerwartetes. Du bist auf einer Geburtstagsparty, und alle reden mit allen, wie es sich gerade ergibt. Damit stellt sie das Glas hin und schlängelt sich zwischen den Gesprächsgrüppchen hindurch zur gegenüberliegenden Gartenecke durch, wo sie sich zum Kreis ihrer Kolleginnen gesellt.

Für die nächsten Stunden ist Gwen Teil der munteren Partygäste. Noch ein- oder zweimal überfallt sie die Vorahnung, dass irgendwo etwas ist, das ihre Aufmerksamkeit verlangt. Doch so unauffällig sie auch jedes Mal um sich blickt, da ist nichts und niemand. Ist da jemand? Dieser Gedanke beschäftigt sie mehr, als ihr lieb ist. Jemand, der mich beobachtet? Bin ich etwa die Einzige ohne Partner? Falle ich deshalb auf? Wohl kaum. Überhaupt, wen interessiert diese Frage? Sie ist sehr glücklich mit ihrem Leben, hat es sich so eingerichtet, wie sie es sich wünscht. Doch die innere Anspannung, aufpassen zu müssen, dass nichts geschieht, das sie aus ihrer Ruhe und Gelassenheit bringen könnte, bleibt. Undefinierbar, woher es kommt, haftet etwas Unangenehmes daran. Unklar, was sie tun kann, um es loszuwerden. Gegen vier Uhr nachmittags entschuldigt sie sich und verlässt die Party.

2

Zum Glück regnet es nicht mehr. Gwen schaut auf den Regenschirm, der seit gestern aufgespannt bei der Eingangstür steht. Die ganze letzte Woche war grau und trüb, die Sonne hat sich seit der Geburtstagsparty bei Beatrice nicht mehr gezeigt. Obwohl Gwen freihat, ist sie schon früh aufgewacht. Es gelingt ihr nicht, sich umzudrehen und weiterzuschlafen. Sie wälzt sie sich hin und her, wird unruhig, bis sie aufsteht und in die Küche geht. Zum Frühstück nimmt sie sich die Zeit, die aktuelle Zeitung zu lesen. Sie entspannt sich, steht mit der großen Kaffeetasse in der Hand auf. Schon nach wenigen Schritten stellt sie sie zwischen den Zeitschriften und dem Kaktus auf den kleinen Marmortisch ab und klappt erst einmal den Regenschirm zusammen.

Mittlerweilen ist es fast schon neun Uhr geworden, die Läden öffnen aber erst nach zehn. Auf was habe ich heute Lust? Sie greift erneut nach der Tasse und geht ins Wohnzimmer, dem Kern ihrer Wohnung. Diesmal stellt sie die Tasse sorgsam auf den Boden, neben den Le-Corbusier-Sessel, den sie vor fünf Jahren im Antiquitätenladen entdeckt hat. Er ist schwarz und noch gut erhalten. Wochenlang hat Gwen vor dem Schaufenster gestanden und ihn bewundert. Ist er nicht etwas zu teuer, zu luxuriös für mich? hat sie sich gefragt, gezögert und auf Zeit gespielt, insgeheim auf eine Lösung durch das vertrauend, was sie in solchen Situationen «Schicksal» nennt. Wenn er das nächste Mal weg ist, ist er nicht für mich gedacht. Das wäre eine elegante Entscheidung, der sie sich nicht widersetzen würde. Doch auch die Woche darauf stand er da und Gwen vertagte ihre Entscheidung weiter. Eines Tages betrat sie, ohne einen weiteren Gedanken zuzulassen, kurzentschlossen den Laden und kaufte den Le Corbusier. Er wurde noch am gleichen Nachmittag geliefert. Den Rest des Wochenendes blieb sie zu Hause. Am liebsten hätte sie Beatrice oder sonst jemanden angerufen und von ihrem Kauf erzählt. Doch sie hielt sich zurück, es war ihr, als hätte sie etwas gewagt, was «man» in ihrem Umfeld nicht tat. Sie hatte sich ein viel zu teures Möbelstück geleistet, einfach weil es ihr gefiel.

Es war verwegen, fast verboten. Und es war nicht das erste Mal, dass sie nicht erklären konnte, weshalb sie etwas tat. Manchmal überlegte sie lange und wägte ab, dann wieder entschied sie aus dem Moment heraus. Sie konnte weder sagen, ob das eine besser war als das andere, noch, wann sie wie vorgehen würde. Es fiel ihr definitiv einfacher, andere zu verstehen als sich selbst. Das hingegen hat sie sich schon längst eingestanden. Zögern und dann auf einmal handeln, irgendein Detail, ein Moment, der die Veränderung auslöst. Waren es Widersprüchlichkeiten oder gereifte Überlegungen? Oder war sie gar wankelmütig? Sie fühlte sich unsicher und befürchtete als wenig verlässlich bloßgestellt zu werden. Vor allem wurde sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht.

An jenem Wochenende testete sie den Sessel an verschiedenen Plätzen in der Wohnung, bis sie den richtigen Platz gefunden hatte. Seither steht er vor dem wandhohen Bücherregal mit Blick Richtung Balkon. Eine Stehlampe rechter Hand, sodass Gwen nicht aufstehen muss, um Licht zu machen. Links ein Stapel mit den Büchern, die sie gerade in Reichweite haben will. Sobald sie sich in den Le Corbusier setzt, fühlt sie sich geborgen und genießt den luxuriösen Komfort, den sie sich geleistet hat. Gwen räkelt sich im Sessel, greift nach der Tasse und trinkt den lauwarmen Milchkaffee. Sie mustert die Bücher, die da gerade vor ihr auf dem Boden liegen. Was spricht mich heute speziell an?Da ist zum einen die Biografie von Simone de Beauvoir, die sie schon gelesen, aber noch nicht weggeräumt hat. Außerdem ein Krimi, den sie letzte Woche angefangen hat. Dann ein Fachbuch, das sie nicht in einem Zug zu lesen gedenkt. Und da ist der Reiseführer für Italien. Vielleicht schaffe ich es, zumindest ein Wochenende zu planen. Ferner die Anleitung für ihren neuen Fotoapparat und ganz unten ein ausgeliehenes Buch, mit dem sie nicht so richtig in Gang kommt. Nichts, was ihr einen Hinweis für heutige Pläne gibt.

Ohne sich umzudrehen, denkt sie an die große Anzahl Bücher in dem Regal hinter sich. Jedes hat eine eigene Geschichte, die es hierhergebracht hat, wo und warum es gekauft wurde. Bücher begegnen ihr, sie macht Bekanntschaft mit ihnen, lernt von ihnen. Sie erhalten einen Platz in ihrem Leben. Auf einige Titel ist sie zufällig gestoßen, hätte sie nach ihren eigenen, gewohnten Kriterien nicht gewählt. In einen Buchladen zu gehen ist jedes Mal eine Einladung zu einem Treffen mit dem Unbekannten, dem Überraschenden. Dementsprechend kann sie aufgeregt oder fast hektisch werden bezüglich dessen, was sie erwartet. Ein Suchen nach etwas, wie auf der Geburtstagsparty und doch anders, korrigiert sie sich insgeheim. Aber als Vergleich gefällt es ihr trotzdem ganz gut. Bücher sind eine anregende und vertraute Gesellschaft, mit ihnen ist ihr nie langweilig. Genau! Das wird sie heute einmal mehr tun: ihrer Unruhe nachgeben und Bücher anschauen gehen.

Gwen zieht die blaue Wolljacke über ihrem Pyjama enger zusammen, als ob es im Raum etwas kälter geworden wäre. Sie schaut nach der Balkontüre, aber die ist geschlossen. Der Himmel hat sich nun für ein strahlendes Blau entschieden, es wird ein sonniger Tag werden.

«Na dann», sagt Gwen laut. «Zeit, aus dem Haus zu kommen.» Trotzdem ziehen sich ihre Vorbereitungen, die Wohnung zu verlassen, in die Länge. Sei es, um unbewusst die Spannung zu erhöhen oder um etwas hinauszuzögern, was sich als Vorahnung ankündigt. Es ist der blaue Himmel, der immer stärker lockt und den Druck erhöht, endlich rauszugehen. Die Tasse bleibt auf dem Boden stehen.

Zu Klaras Buchhandlung am Markt sind es gute zwanzig Minuten zu Fuß. Der kurze Spaziergang in der Sonne ist wohltuend, trägt zur guten Laune bei. Gewohnheitsmäßig und um die Vorfreude noch mehr auszukosten, bleibt Gwen vor dem Schaufenster stehen und betrachtet zunächst die ausgestellten Bücher. Was ist neu? Schneller und ungeduldiger als sonst prüft sie die Auslage. Spricht mich etwas an? Nein. Das ist nicht unerwartet. Der Flirt, sich von Buchtiteln, Einbänden und Klappentexten verführen zu lassen, wird im Laden weitergehen. Es ist ein genussvolles Spiel, das sie seit ihrer Kindheit kennt. Wie so viele kleine Mädchen musste sie an Weihnachten und am Geburtstag warten, bis sie ihre Geschenke auspacken durfte. Was versprachen sie? Der Fantasie freien Lauf zu lassen, zu erraten, was sich unter der Verpackung versteckte, gefiel ihr mit der Zeit beinah mehr als das Geschenk selbst. Den Hüllen, meist Schachtel-Format, war nicht zu trauen, ihre Vorstellung lebendiger und farbiger. Sie lernte hingegen auch, vorzuspielen, dass sie sich freute, auch wenn sie vom Inhalt enttäuscht war. Erwartungen konnte sie gut erfüllen.