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Ein alter Mann sitzt im Rollstuhl. Auf seinen Beinen ruht ein Schuhkarton mit Erinnerungen an ein altes Leben. Ich bin ein Teil davon. Das ist meine Geschichte.
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Seitenzahl: 50
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Max kam früh zur Welt. Ganz blass, die Haut in Falten gerollt, wie bei einem alten Mann. Mir schien, dass wir im Endzustand geboren werden und uns auf dem Weg zum Erwachsenwerden entfalten. Als wäre in der Geburt bereits alles zu sehen. Das Licht, die Dunkelheit, Himmel und Erde. Tod und Geburt. Alles Zweischneidige, Gegenwärtige, alles Widersprüchliche und doch die Einheit. Das Einzige, was uns gegeben ist, um hier und jetzt zu leben. Und die Zeit? Jeder hat seine eigene Uhr, seine Aufgaben, Unterricht und Lehrer. Jeder Einzelne sucht durch die Lebenshäuser und Mitläufer seinen Weg zur Erleuchtung. Kaum einer von Millionen findet ihn. Weil sie sich ihren Gewohnheiten hingeben, und daraus Pflichten entstehen, vor denen sie kaum weglaufen können.
Max hatte eine leichte Geburt, seine Mutter hatte wenig zu leiden. Dafür war er ein Schreihals, ließ uns beide kaum schlafen. Im Monat seiner Geburt fingen meine Auslandsreisen an, ich musste zwischen Kanada, Paris und Vietnam pendeln, damit wir keine Hungerlohnarbeiten verrichten mussten. Zudem liebte ich meine Arbeit als Manager.
Irgendwann wird alles zu viel. In dem Augenblick, in dem die Familie zu weit von einem entfernt ist, fängt der Verstand an, sich alles Mögliche einzureden. Ich weiß, es klingt merkwürdig, dennoch, wenn man ruhig dasitzt und nur dem Atem zuhört, seine Aufmerksamkeit dem Bauch widmet, verändert sich die Welt um 360 Grad.
Ein altes Bild, ich und Max am Meer. Wir schauen beide da hin, leider ohne Mutter, ohne die weibliche Liebe, doch wir sind eins. Vater und Sohn. Ich erinnere mich, er war noch klein und das Meer, eine halbe Ewigkeit. Eine Ewigkeit, die nur in unserem Verstand existiert. Mit der ein glückliches Leben entflammen kann …
Er macht die Tür zu, schaut sich um und sucht nach der Zigarette. Es ist dunkel. Er hat alle Fenster im Wohnzimmer mit Zeitungsartikeln und Stoffen abgedeckt. Licht, das versucht, von einer Welt in die andere zu gelangen, schafft es mühselig durch einen Spalt in der Ecke des großen Fensters und beleuchtet den Raum gerade genug, dass er die Zigarettenschachtel auf der Kante der Kommode entdecken kann.
Er packt die Räder fester an und lässt sich schwungvoll ein bis eineinhalb Meter gleiten, bis er über denTeppich ist. Kraftvoll nimmt er wieder Schwung, bis ihm noch zwei Meter bleiben. Der Schwung verliert an Kraft. Er bleibt mit dem Rollstuhl stehen, sieht sich um. Keine Luft, keine frische Brise, die den abgestandenen Gestank in der Wohnung vertreibt. Nur er, seine Gedanken, Vorstellungen und die Welt, wie er sie haben wollte, ruhen in den abgeschiedenen Räumen seines Inneren.
Vorsichtig, als wäre sie das Kostbarste in seinem Leben, hebt er die Zigarette auf, führt sie an die Nase, nimmt den Geruch genießerisch bis zum Verstand und Lunge auf, gibt einen kurzen anerkennenden Laut von sich. Er steckt sie hinters linke Ohr und schaut zu der Ecke am Fenster. Das hätte nicht passieren müssen, dass da Licht in den Raum kommt. Behutsam nimmt er die Zigarette in die Hand, dreht in Richtung Fenster und rollt darauf zu.Was soll der Scheiß?, denkt er und fasst an den feinen Stoff, den er versucht so weit herüberzuziehen, dass er die Ecke abdeckt. Es klappt nicht. Er guckt auf die vielen Zeitungsartikel, einige davon sind dreißig Jahre alt, wendet den Blick in die Richtung, wohin das Licht nun fällt. Ein Foto. Er erkennt es sofort, nimmt sich die Zeit und betrachtet es von Weitem. Auf dem Foto ist er mit seiner Ex-Frau Marie und seinem einzigen Sohn Max zu sehen – er war damals fünfundzwanzig –, das Foto hatte sein Bruder Anton im Spanienurlaub gemacht. Jetzt geht er auf die Fünfzig zu, alleingelassen, niemand in der Nähe – wenn er Lust hat, liest er alte, selbst geschriebene Gedichte und Puschkin, den mag er sehr.
Auf dem Boden liegen Zeitungen, die er wohl nicht weggeräumt hat. Er bückt sich, nimmt eine, trennt die Seiten, faltet und schiebt sie in den offenen Spalt.
Kein Licht mehr, nichts außer Kälte und Gestank in der Wohnung lädt ihn zum Frühstück ein. Er fährt in die Küche, um ein paar Brote zu machen. Kurz vorm Verlassen des Wohnzimmers schaut er auf das Foto, blickt nach rechts zum Schrank, dort stehen Whiskyflaschen, lächelt zaghaft und verschwindet in der Küche.
Er ist allein.
Er braucht niemanden.
Niemand braucht ihn!
Ich wollte nicht, dass die Menschen in meinem Leben so sind, wie ich sie haben will. Jeder Versuch, der unternommen wurde, damit sie mich akzeptieren, wie ich bin und aus mir keinen Weisen machen, war mir misslungen. Sie konnten damit nicht aufhören, in mir den Problemlöser zu finden. Hab ich zu viele Bücher gelesen? Oder bin ich mehr in der Welt herumgereist als sie? Bin ich deswegen erwachsener und klüger geworden? Das Einzige, woran sie sich selbst hindern, ist ihr Mut zur Veränderung.
Sie haben eine panische Angst, wenn man sie bittet, einen vernünftigen Schritt im Leben zu machen. Sie wehren ab, möchten nichts davon wissen und leben im Bewusstsein, dass sie doch unrecht haben. Sie alle reden, reden und reden und kommen ihrem wahren Leben keinen Schritt hinterher. Ich fand es immer seltsam, dass der Mensch vom Menschen abhängig ist. Selbst meine Beziehung trat ich mit Vernunft und Hingabe zu meiner Ex-Frau an. Um sie vor solchen vor solcher Zerrissenheit zu bewahren, um ehrlich und aufrichtig zu sein, soweit es mir möglich war.
Vieles davon ist leider nicht so geworden, wie wir es uns vorgestellt haben, denn Freunde und Familienangehörige taten alles, um die Beziehung platzen zu lassen. Sie hatten nichts davon, nur für sich selbst geschundene Gefühle, womit sie weiterhin auskommen mussten. Was passierte mit uns? Wir bekamen Zweifel, man redete uns ins Gewissen. Wir fanden keinen Zugang mehr zu unseren Gefühlen und fingen an, mit einfachen Worten – die früher mal etwas Besonderes waren, in denen Glück und Freude für beide lagen – einander zu sticheln. Jeder von uns kam langsam nicht mehr mit seiner inneren Gefühlswelt klar. Man ging einen Schritt zurück, fand kein Verständnis füreinander, alles, wirklich alles baute die innere Pyramide ab, bis jeder anfing, sein eigenes Leben zu leben. Jeder entwickelte eine Vorstellung vom richtigen Leben und war sich dessen bewusst, dass es der bessere Weg war, das eigene Glück wiederzuerlangen.
Als ich noch jung war, verstand ich die Welt mit ihren Menschen sehr gut, sie war klar und prädestiniert. Heute, als erwachsener Mann, Vater von einem fleißigen Sohn, der einen oftmals im Stich gelassen hat – wahrscheinlich, weil er einfach nicht erwachsen werden wollte –, weiß ich, worin der Sinn des Handelnden liegt. Er erkennt den Ursprung der Situation und verändert alles zum Besseren für beide.