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In seinem Halloween-Klassiker entführt Ray Bradbury den Leser auf eine Reise, die wieder den Ursprung jenes Tages bewußt macht. Acht Jungen machen sich auf: über den Planeten und durch die Jahrhunderte – von den Grabkammern des alten Ägyptens über den Hexenkult im Mittelalter zum Kostümfest in der Gegenwart.
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Seitenzahl: 131
Ray Bradbury
Halloween
Roman
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Diogenes
{5}Halloween.
Vorsichtig. Auf leisen Pfoten. Lautlos schleichen.
Aber warum? Wozu? Wie? Wer? Wann? Wo hat das alles angefangen?
»Das wisst ihr wohl nicht, was?«, fragt Chitinus Charybdis Downground und kriecht aus dem Blätterhaufen unter dem Halloweenbaum. »Ihr wisst es nicht wirklich!«
»Tja«, antwortet Tom Skelitt, »äh … nein.«
War es …
Vor viertausend Jahren in Ägypten, am Jahrestag des Großen Todes der Sonne?
Oder eine Million Jahre früher, an den nächtlichen Feuern der Höhlenmenschen?
Oder in Britannien zur Zeit der Druiden, beim Ssswissch von Samhains Sichel?
Oder unter all den Zauberkundigen überall in Europa – unter den Tausenden Hexen, weisen Frauen, Magiern, Dämonen, Teufeln?
{6}Oder hoch über Paris, wo seltsame Kreaturen zu Stein erstarrten und die Wasserspeier von Notre-Dame wurden?
Oder in Mexiko, auf den Friedhöfen voller Kerzen und winziger Zuckerpuppen, am Día de los Muertos – dem Tag der Toten?
Oder wo?
Tausend grinsende Kürbismünder hängen im Halloweenbaum, und zweimal tausend frisch ausgeschnittene Augen starren und zwinkern und blinzeln herab, als Downground mit den acht wild verkleideten Jungen – nein, neun sollten es sein, aber wo ist Pipkin? – auf eine blätterstiebende, drachenfliegende, besenstielreitende, dahinjagende Reise geht, damit sie das Geheimnis des Vorabends von Allerheiligen erfahren.
Und sie erfahren es.
»Und«, fragt Downground am Ende der Reise, »was war das nun – was Schönes? Oder Hexerei?«
»Beides!«, finden alle.
Und das werden Sie auch sagen.
{7}Mit liebevoller Verehrung für MADAMEMAN’HAGARREAU-DOMBASLE, die ich vor siebenundzwanzig Jahren um Mitternacht auf dem Friedhof der Insel Janitzio im See Patzcuaro in Mexiko kennengelernt habe und an die ich jedes Jahr am Tag der Toten mit Hochachtung zurückdenke.
Es war eine kleine Stadt an einem kleinen Fluss und einem kleinen See in einem kleinen Teil eines Staates im Mittleren Westen. Es gab ringsum nicht so viel Wildnis, dass man das Städtchen nicht hätte sehen können. Andererseits gab es aber auch nicht so viel Städtchen, dass man die Wildnis nicht hätte sehen und spüren und riechen und anfassen können. Es gab viele Bäume im Städtchen. Und dürres Gras und verwelkte Blumen, jetzt, da der Herbst gekommen war. Und viele Zäune, auf denen man balancieren konnte, und Bürgersteige, auf denen man Rollschuh fahren konnte, und eine tiefe Schlucht, in die man fallen und über die man sich etwas zurufen konnte. Und es gab viele …
Jungen.
Und es war der Nachmittag vor dem Halloweenabend.
Und alle Häuser waren vor dem kalten Wind verschlossen.
Und das Städtchen war voll kalten Sonnenlichts.
{10}Aber plötzlich war der Tag vorbei.
Unter jedem Baum kam die Nacht hervor und breitete sich aus.
Hinter den Türen der Häuser gab es ein Getrippel wie von Mäusen, gedämpfte Schreie, flackernden Lichtschein.
Hinter einer der Türen stand Tom Skelitt, dreizehn Jahre alt, und horchte.
Der Wind dort draußen baute sich in jedem Baum ein Nest, strich auf verborgenen Wegen über die Bürgersteige wie unsichtbare Katzen.
Ein Schauer überlief Tom Skelitt. Man merkte deutlich, dass der Wind heute Nacht ein besonderer Wind war und dass die Dunkelheit sich anders anfühlte als sonst, denn es war der Abend vor Allerheiligen. Alles schien aus weichem schwarzem oder goldenem oder orangefarbenem Samt gemacht. Aus tausend Schornsteinen quoll keuchend Rauch, der aussah wie die Federbüschel der Beerdigungszüge. Aus Küchenfenstern drangen zweierlei Kürbisdüfte: Man schnitt Gesichter in Kürbisköpfe, und es wurden Kürbispasteten gebacken.
Die Rufe hinter den verschlossenen Türen wurden erregter, als Schatten von Jungen an den Fenstern vorbeihuschten. Halbangezogene Jungen mit Schminke im Gesicht: hier ein Buckliger, da ein mittelgroßer Riese. Dachböden wurden durch{11}stöbert, ehrwürdige Schlösser aufgebrochen, alte Schrankkoffer durchwühlt auf der Suche nach Verkleidungen.
Tom Skelitt zog seine Knochen an.
Er grinste über die Wirbelsäule, den Brustkasten, die Kniescheiben, die mit weißem Garn auf schwarzen Baumwollstoff gestickt waren.
Du Glückspilz!, dachte er. Was für einen prima Namen du hast! Tom Skelitt. Erstklassig für Halloween! Jeder nennt dich Skelett. Womit verkleidest du dich also?
Mit Knochen.
Wumm! Acht Haustüren fielen ins Schloss.
Acht Jungen vollführten eine Reihe wunderschöner Sprünge über Blumentöpfe, Zäune, dürre Farnbüschel und Sträucher und landeten auf dem ausgetrockneten Gras der Vorgärten. Mitten im Galopp, im Hinausstürzen rafften sie ein letztes Laken, rückten sie eine letzte Maske zurecht, zupften sie an seltsamen pilzförmigen Kappen oder Perücken und schrien, weil der Wind ihnen half, beim Rennen half; sie freuten sich über den Wind oder fluchten Jungenflüche, weil Masken verrutschten oder zu Boden fielen oder weil ihre Nasen plötzlich verstopft waren von Mullbinden, die wie der heiße Atem eines Hundes rochen. Oder sie stießen aus purer Lust, in dieser Nacht am Leben und {12}draußen zu sein, einen Schrei aus und noch einen Schrei und noch einen … Schreiii!
Acht Jungen stießen an einer Kreuzung zusammen.
»Da bin ich: die Hexe!«
»Höhlenmensch!«
»Skelett!«, sagte Tom, dem in seinem Knochenkostüm zum Lachen zumute war.
»Wasserspeier!«
»Bettler!«
»Der Tod persönlich!«
Rums! Unter der Straßenlaterne prallten sie zurück, lachend und ineinander verknäult. Die schaukelnde Lampe schwang im Wind wie die Glocke einer Kathedrale. Die Platten des Bürgersteigs verwandelten sich in die Planken eines betrunken dahintaumelnden Schiffs, das sich hierhin und dorthin neigte und über dem Licht und Dunkelheit zusammenschlugen.
Hinter jeder Maske steckte ein Junge.
»Wer bist du?« Tom Skelitt zeigte mit dem Finger.
»Sag ich nicht. Ist geheim!«, rief die Hexe mit verstellter Stimme.
Alle lachten.
»Und du?«
»Die Mumie!«, rief der Junge in der uralten, ver{13}gilbten Umwicklung, der wie eine riesige Zigarre durch die nächtlichen Straßen stapfte.
»Und du?«
»Keine Zeit!«, sagte der Jemand, der hinter einer anderen mysteriösen Maske aus Farbe und Stoff verborgen war. »Was Schönes her, sonst hexen wir!«
»Genau!«
Kreischend, johlend, voll koboldhaftem Übermut rannten sie los, rannten überall, nur nicht auf dem Bürgersteig, sprangen über Büsche und landeten um ein Haar auf winselnden Hunden.
Doch mitten im Rennen, Lachen, Bellen blieben sie plötzlich stehen, als hätte sie eine große Hand aus Nacht und Wind und Hier-stimmt-was-nicht-Geruch festgehalten.
»Sechs, sieben, acht.«
»Das kann nicht sein! Zähl noch mal.«
»Vier, fünf, sechs …«
Sie beschnupperten einander wie fluchtbereite Tiere.
»Pipkin ist nicht da!«
Wie konnten sie das wissen? Sie trugen doch alle Masken. Und doch, und doch …
Sie konnten spüren, dass er fehlte.
»Pipkin! Der hat sich Halloween doch noch nie entgehen lassen. Das geht nicht! Los, kommt!«
Mit einem großen Schwenk, einem hundeartigen {14}Traben und Drängeln, wendeten sie und rannten mitten auf dem Kopfsteinpflaster der Straße zurück, wirbelten dahin wie Blätter vor dem Sturm.
»Hier wohnt er!«
Sie blieben stehen. Das war das Haus, wo Pipkin wohnte, aber es waren nicht genug Kürbisse in den Fenstern, es hingen nicht genug Maiskolben auf der Veranda, und durch das dunkle Gras in den Fenstern des hohen Turmzimmers im ersten Stock lugten nicht genug Gespenster.
»Mensch«, sagte einer, »was ist, wenn Pipkin krank ist?«
»Ohne Pipkin ist es kein richtiges Halloween.«
»Kein Halloween«, stöhnten sie.
Und einer warf einen Holzapfel gegen die Tür von Pipkins Haus. Man hörte ein leises Klopfen, wie wenn ein Kaninchen gegen einen Baumstumpf tritt.
Sie warteten, sie waren traurig und verwirrt, ohne zu wissen, warum. Sie dachten an Pipkin und an ein Halloween, das wie ein verfaulter Kürbis mit einer erloschenen Kerze darin sein würde, wenn … wenn … wenn Pipkin nicht dabei war.
Komm doch, Pipkin. Komm und rette uns diese Nacht!
Warum warteten sie, warum hatten sie Angst um einen kleinen Jungen?
Weil …
… Joe Pipkin der großartigste Junge war, den es gab. Der großartigste Junge, der je von einem Baum gefallen war und darüber gelacht hatte wie über einen Witz. Der tollste Junge, der je weit in Führung auf der Aschenbahn gelaufen war, sich umgeschaut und seine Freunde kilometerweit hinter sich gesehen hatte, worauf er dann gestolpert und liegen geblieben war, bis sie aufgeholt hatten und sie gemeinsam, Seite an Seite, das Zielband durchreißen konnten. Der fröhlichste Junge, der je alle Spukhäuser in der Stadt aufgespürt hatte, was ja nicht leicht ist, und den anderen davon erzählt und sie dorthin geführt hatte, um die Keller zu durchwühlen und an den efeuüberwucherten Außenmauern hinaufzuklettern und in die Schornsteine zu rufen und vom Dach zu pinkeln und zu johlen und zu toben wie ein Schimpanse und zu kreischen wie ein {16}Brüllaffe. Am Tag, als Joe Pipkin geboren wurde, waren alle Limonaden- und Sprudelwasserflaschen der Welt übergeschäumt, und unternehmungslustige Bienen waren ausgeschwärmt, um alleinstehende Damen zu stechen. An seinen Geburtstagen gab der See mitten im Sommer sein Ufer frei und kehrte mit einer Flutwelle zurück, mit einem großen Schwung von Jungenleibern und einem donnernden Lachen.
Frühmorgens im Bett hörte man einen Vogel ans Fenster picken. Pipkin.
Man streckte den Kopf hinaus in die Schnee-Regen-klare-Sommermorgenluft.
Im betauten Gras des Vorgartens waren Kaninchenspuren zu sehen, wo gerade eben nicht ein Dutzend Kaninchen, sondern nur eines voll übersprudelnder Lebensfreude kreuz und quer und im Kreis herumgesprungen war, über Hecken gesetzt, die Spitzen der Farne gestreift und den Klee geknickt hatte. Der Vorgarten sah aus wie das Stellwerk am Rangierbahnhof. Eine Million Fußspuren im Gras, aber kein …
Pipkin.
Und da stand er dann mit einem Mal im Vorgarten wie eine wilde Sonnenblume. Sein großes rundes Gesicht leuchtete in der Morgensonne. Seine Augen blinkten Morsesignale:
{17}»Beeil dich! Es ist schon fast wieder vorbei!«
»Was?«
»Heute! Jetzt! Es ist sechs Uhr morgens! Spring hinein! Wate darin herum!«
Oder: »Der Sommer! Ehe du dich’s versiehst – peng! –, ist er schon wieder um! Schnell, beeil dich!«
Und er verschwand zwischen den Sonnenblumen und tauchte zwischen den Zwiebeln wieder auf.
Ach, Pipkin, lieber Pipkin – du warst der großartigste und liebenswerteste Junge weit und breit.
Niemand wusste, wie er es schaffte, so schnell zu rennen. Seine Turnschuhe waren uralt. Sie waren grün von den Wäldern, durch die er getrabt war, braun von den abgeernteten Feldern, über die er letztes Jahr den ganzen September gestapft war, teerverschmiert von Wettrennen an Stränden und auf Hafenkais, wo die Kohlenfrachter anlegten, gelb von unachtsamen Hunden, voller Holzsplitter von den Zäunen, über die er geklettert war. Seine Kleider waren die von Vogelscheuchen und wurden nachts von Pipkins Hunden getragen – er lieh sie ihnen für ihre Streifzüge durch die Stadt. Die Ärmelbünde waren angenagt und die Hosenböden halb durchgescheuert.
Sein Haar? Sein Haar war ein einziges Igelge{18}strüpp aus hellen, braun-blonden Stacheln, die in alle Richtungen zeigten. Seine Ohren waren der reinste Pfirsichflaum. Seine Hände steckten in Handschuhen aus Schmutz und guten Gerüchen nach Airedale-Terriern und Pfefferminz und stibitzten Pfirsichen aus den Obstgärten draußen vor der Stadt.
Pipkin. Eine Ansammlung von Flinkheit, Duft und Ausstrahlung; ein Querschnitt durch alle Jungen, die je gerannt, hingefallen, aufgestanden und weitergerannt sind.
In all den Jahren hatte ihn niemand je stillsitzen sehen. Man konnte sich kaum daran erinnern, dass er in der Schule eine Stunde lang auf seinem Platz geblieben war. Er war der Letzte, der das Schulhaus betrat, und der Erste, der herausgeschossen kam, wenn die Glocke den Schultag beendete.
Pipkin, lieber Pipkin.
Der jodelte und Kazoo spielte und Mädchen mehr verabscheute als alle anderen Jungen in der Bande zusammen.
Der einem den Arm um die Schultern legte und einem leise die großen Pläne für diesen Tag ins Ohr flüsterte und einen so vor der Welt beschützte.
Pipkin.
Gott stand früh auf, nur um Pipkin aus dem Haus kommen zu sehen wie eine von diesen Figu{19}ren in einem Wetterhäuschen. Und wo Pipkin war, war immer schönes Wetter.
Pipkin.
Sie standen vor seinem Haus.
Jeden Augenblick würde die Tür weit aufgerissen werden.
Pipkin würde in einer Explosion von Feuer und Rauch herausgesprungen kommen.
Und Halloween würde WIRKLICH beginnen!
Komm doch, Joe Pipkin, flüsterten sie, komm doch!
Die Haustür ging auf.
Pipkin trat heraus.
Er flog nicht. Er platzte nicht. Er explodierte nicht.
Er trat heraus.
Und ging den Weg hinunter zu seinen Freunden.
Er rannte nicht. Und er trug keine Maske! Keine Maske!
Er bewegte sich wie ein alter Mann – beinah jedenfalls.
»Pipkin!«, riefen sie, um ihre Beklommenheit zu vertreiben.
»Hallo, Leute«, sagte Pipkin.
Sein Gesicht war blass. Er versuchte zu lächeln, aber seine Augen sahen seltsam aus. Er drückte eine Hand an die rechte Seite, als wäre dort ein Furunkel.
Alle sahen auf die Hand. Er ließ sie fallen.
»Also«, sagte er mit schwacher Begeisterung, »können wir?«
{21}»Wir schon, aber du siehst nicht gerade so aus«, sagte Tom. »Bist du krank?«
»An Halloween?«, fragte Pipkin. »Soll das ein Witz sein?«
»Wo ist deine Verkleidung …?«
»Geht schon mal vor, ich komme dann nach.«
»Nein, Pipkin, wir warten auf dich.«
»Nun macht schon«, sagte Pipkin. Er sprach langsam, und sein Gesicht war jetzt leichenblass. Er drückte die Hand wieder an die Seite.
»Hast du Bauchschmerzen?«, fragte Tom. »Hast du’s deinen Eltern gesagt?«
»Nein, nein, das kann ich nicht. Sonst …« Er hatte Tränen in den Augen. »Es ist nichts weiter. Passt auf: Ihr geht jetzt zur Schlucht und dann weiter zum Haus, klar? Zum Geisterhaus. Wir treffen uns dort.«
»Schwörst du?«
»Ich schwöre. Wartet, bis ihr meine Verkleidung seht!«
Die Jungen wandten sich zum Gehen. Sie berührten ihn am Ellbogen, stießen ihn leicht gegen die Brust oder fuhren mit der Faust über sein Kinn wie bei einem gespielten Kampf. »Okay, Pipkin. Wenn du dir sicher bist …«
»Ich bin mir ganz sicher.« Er ließ die Hand fallen. Sein Gesicht bekam einen Augenblick lang {22}wieder Farbe, als wären die Schmerzen verschwunden. »Auf die Plätze – fertig – los!«
Als Joe Pipkin »los« sagte, rannten sie los.
Sie rannten.
Sie rannten einen halben Block weit rückwärts, damit sie Pipkin sehen konnten. Er stand da und winkte ihnen nach.
»Beeil dich, Pipkin!«
»Ich hol euch ein!«, rief er aus weiter Entfernung.
Dann verschluckte ihn die Nacht.
Sie rannten weiter. Als sie sich noch einmal umdrehten, war er verschwunden.
Sie hämmerten an Türen, sie riefen: »Was Schönes her, sonst hexen wir«, und ihre braunen Papiertüten begannen sich mit unglaublichen Süßigkeiten zu füllen. Sie trabten dahin, und ihre Zähne waren mit rosa Kaugummi zusammengeklebt. Sie rannten, und in ihren Gesichtern leuchteten wächsern rote Lippen.
Aber all die Leute, die ihnen öffneten, sahen aus, als wären sie die in einer Bonbonfabrik hergestellten Doppelgänger ihrer eigenen Väter und Mütter. Es war, als stünden die Jungen immer wieder vor ihrer eigenen Haustür. Aus jedem Fenster, aus jeder Tür schlug ihnen einfach zu viel Freundlichkeit entgegen. Dabei wollten sie Drachen in Kellern rülpsen und Burgtore zufallen hören.
{23}Und daher sahen sie sich immer wieder nach Pipkin um und kamen schließlich an den Rand des Städtchens und an die Stelle, wo die zivilisierte Welt von der Dunkelheit verschluckt wurde.
An den Rand der Schlucht.
Der Schlucht, in der alle möglichen Nachtgeräusche rumorten, in der tintenschwarze Rinnsale und Bäche lauerten, in der noch Herbste waren, die vor tausend Jahren mit Feuer und Bronze über das Land hinweggerollt und gestorben waren. Aus ihren Tiefen krochen Giftpilze und steinkalte Frösche und Spinnen und langbeiniges Krabbelgetier. Es gab da unten einen langen Tunnel unter der Erde, wo vergiftetes Wasser tropfte und die Echos nie aufhörten, »Komm, komm, komm!« zu rufen, und wenn man diesen Rufen folgt, muss man für immer dort bleiben – für immer, tropf, für immer, raschel, scharr, husch, wisper, für immer dort unten, dort unten, dort unten …
Die Jungen standen in einer Reihe am Rand der Finsternis und sahen hinab.
Und dann pfiff Tom Skelitt, der in seinem Knochengerüst fror, durch die Zähne wie der Wind, der nachts über das Fliegengitter vor dem Schlafzimmerfenster streicht. Er zeigte mit dem Finger.
»Also … dahin sollen wir gehen, hat Pipkin gesagt!«
{24}Er verschwand.
Sie sahen ihm nach. Sie sahen seine kleine Gestalt den Weg hinunter in die hundert Millionen Tonnen Nacht rennen, die in diesem gewaltigen dunklen Spalt eingezwängt war, in diesem feuchten Keller, in dieser herrlich schrecklichen Schlucht.
Schreiend, rennend folgten sie ihm.