Harry's Bar - Alex Gfeller - E-Book

Harry's Bar E-Book

Alex Gfeller

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Beschreibung

Der Himmel ist durchgehend dunkelgrau und schwer, und es ist auch Recht düster, obwohl der Nachmittag noch nicht zu Ende ist. Es dauert eine ganze Weile, bis sie das leergefegte Industriequartier verlassen und den Stadtrand erreicht haben. Die große Stadt dehnt sich in hügeliges Gebiet weiträumig aus und will lange nicht aufhören. Endlose, leblose Vororte reihen sich an weitere endlose, leblose Vororte. Irgendwann mal stellen sie überrascht fest, dass sie sich in einer flachen, leeren Landschaft befinden, die nichts mehr mit der Stadt zu tun hat. Sie sind endlich unterwegs. Das Auto blubbert ruhig vor sich hin. Fredy fährt nicht mehr als siebzig Kilometer pro Stunde, eine angenehme Dauergeschwindigkeit. Die kräftige Heizung verbreitet schnell eine wohlige Wärme. Bei dieser niedrigen Reisegeschwindigkeit auf einer gut ausgebauten Straße klappert und scheppert erstaunlicherweise kaum etwas an und in der alten Kiste.

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Inhaltsverzeichnis

Herbst

HARRY’S BA

HARRY’S BA

150 JAHRE BETTENFABRIK!

Winter

JAIMES AUTOABBRUCH & WIEDERVERWERTUNG

Frühling

JAIMES AUTOABBRUCH & WIEDERVERWERTUNG

Sommer

Herbst

Winter

HARRY’S BA

Frühling

NEUERÖFFNUNG! HARRY’S BAR!

Sommer

Herbst

Da liegt sie, die hellgraue Flasche. Harry lehnt sich über das eiserne Geländer und starrt ins glasklare Wasser. An Hemd, Bart und Haaren zerrt die frische Brise. Schnell ist das passiert, viel schneller, als sein Kopf überhaupt denken kann. Das Hinterrad ist in eine Lücke zwischen die Bohlen geraten, und beim Versuch, es mit einem heftigen Schlenker wieder heraus zu kriegen, ist die dicke Gasflasche vom Gepäckträger gerutscht, zu Boden gefallen, über den morschen Holzboden gerollt und unter dem Geländer hindurch in den Schlick geplumpst. Das Fahrrad liegt quer auf dem schmalen Steg, das Hinterrad ist stark verbogen, der Gepäckträger geknickt. Sie ist halt doch zu schwer gewesen, diese verdammte Flasche. Im Nachhinein sagt sich Harry, dass er es hätte wissen müssen. Er hätte zu Fuß ins Einkaufszentrum gehen sollen, auch wenn der Fußmarsch eine volle Stunde länger gedauert hätte.

Die Flut hat eingesetzt; das Wasser, das stetig in den Aber strömt, steht bereits kniehoch. Wenn er noch lange zuwartet, wird es ihm bald bis zur Hüfte reichen. Er muss die Flasche herausholen, noch bevor die Flut einsetzt und das Wasser bis knapp unter den Steg schwappt. In zwei Stunden schätzungsweise ist Mittag. Seufzend hebt er das alte Fahrrad auf und schiebt es auf dem intakten Vorderrad über die groben Bohlen weiter bis zu den großen Granitblöcken der Uferbefestigung. Dort lehnt er es an eine krumme Stange mit einem halb heruntergerissenen Fahrverbotsschild und betrachtet es bekümmert. Das Hinterrad ist endgültig hin; die Felge ist verbogen und der Reifen platt. Der Gepäckträger ließe sich von Hand leicht wieder zurechtbiegen, doch was nützt ihm ein Fahrrad ohne Hinterrad? Er krempelt seine Hosenbeine bis über die Knie hoch, zieht seine Turnschuhe aus und klettert über die derben Blöcke in die breite Flussmündung hinunter.

Auf der gegenüber liegenden Seite streicht ein Rentner sein altes, schweres Holzboot, das er mit dem Flaschenzug aus dem Wasser bis auf den Kiesplatz vor den geduckten Fischerhäusern gezogen hat, mit leuchtend blauer Farbe. Harry kennt ihn vom Sehen und hat ihn vorhin beim Vorbeifahren gegrüßt; der Mann jedoch ist gänzlich ins Streichen vertieft gewesen und hat nichts um sich herum wahrgenommen. Eine Weile schaut Harry unschlüssig hinüber. Auf der kleinen Anhöhe steht die Silhouette des Dorfes mit seiner alten Kirche voller keltischer Symbole, darunter die dicken Mauern des alten Hafens und die grauen Häuser des Hafenquartiers mit ihren glänzenden Schieferdächern. Weiter vorne, gegen das hellgrün leuchtende Meer hin, werkeln im Neuen Hafen einige Fischer in grellfarbenem Überzeug auf ihren rostigen Booten, winzige, gelbe, grüne und rote Männchen, nicht größer als Ameisen. Die Möwen zirkeln im scharfen Wind über Harry hinweg und äugen neugierig herunter. Er hebt die Achseln, wie um sich zu entschuldigen, und schüttelt kurz den Kopf über sein ärgerliches Missgeschick, bevor er ächzend einen Fuß ins eisige Salzwasser setzt. Er weiß, dass es kalt ist; es ist derart kalt, dass es ihn schmerzt. Trotzdem stapft er tapfer hinaus, mit deutlicher Verachtung und Widerwillen im Gesicht, vermeidet die schmale Furt, wo das Wasser bereits ziemlich tief und die Strömung stark ist, und gelangt nach einem kleinen Umweg über einige flache Sandbänke zu seiner hellgrauen Gasflasche. Mit beiden Händen greift er nach ihr, hebt sie hoch, schüttelt sie kurz und lässt das Wasser abtropfen, bevor er sie mit einem kräftigen Schwung auf seine Rechte Schulter schiebt. Sie wiegt mindestens dreißig Kilo, schätzt er; eine volle Gasflasche ist wirklich ein ziemlich schweres Ding.

So kehrt er durchs bereits knietiefe Wasser langsam ans Ufer zurück, mit dem freien Arm vorsichtig balancierend, ohne dass seine hochgekrempelte Hose nass geworden wäre. Seine weißen Waden scheinen gefroren zu sein; so fühlen sie sich jedenfalls an. Höchstens zehn oder zwölf Grad muss das Wasser haben, mehr bestimmt nicht.

Er kann nicht beides tragen, überlegt er am Ufer, während er gebückt seine Hose herunterkrempelt und die ausgetretenen Turnschuhe wieder anzieht, das defekte Rad und die schwere Gasflasche, denn zudem führt der schmale, sandige Pfad jetzt steil und beschwerlich zum geteerten Sträßchen und zu den Dünen hoch. Er muss sein ramponiertes Fahrrad leider hier stehen lassen.

Der kommunale Campingplatz zieht sich über die baumlosen, gras- und farnbewachsenen Dünen hin, von denen zahlreiche ausgetretene Trampelpfade zu den verschiedenen abgelegenen und versteckten Strandabschnitten hinunterführen. Hohe, dunkelgrüne Buschhecken markieren die natürlich entstandenen Abteile, in deren Schutz sich sommers die Gäste für kurze oder längere Zeit einrichten. Ständig weht ein scharfer Wind von der See her, der es ungeübten Campingfreunden zuweilen recht schwer macht, ihr Zelt überhaupt erst aufzustellen. An der Straße stehen der Kiosk und der Kaufladen, zwei lange, graue Baracken auf Stelzen aus dicken Betonröhren, mit hölzernen Treppchen, Terrassen und Podesten, mit plumpen, weiß gestrichenen Balustraden und Dächern aus stumpfem Wellblech, worunter sich die Campingverwaltung, die öffentlichen Duschen und Toiletten und allerlei Waschgelegenheiten befinden. Die Türen und Fenster sind bereits mittels großer Bretter winterfest verrammelt; die kurze Sommersaison ist seit einigen Tagen ganz offiziell vorbei.

Gleich daneben stehen die jetzt übervollen, schweren Container der Gemeinde, große Behälter für Glas, Papier, Metall, Plastik, Kompost und ganz gewöhnlichen Abfall, und daran schließt der weitläufige Parkplatz an, wo sich während der Urlaubszeit, vor allem an Sonntagen, in der gleißenden Sonne Auto an Auto reiht. Am anderen Ende dieses Parkplatzes, ganz abgelegen, wo die offenen Dünen beginnen, stehen ganz einsam Harrys Liefer- und Wohnwagen. Diese hundert menschenleeren Meter muss Harry jetzt noch gehen, quer über den mit großen Schlaglöchern übersäten Parkplatz aus Sand und Schotter. Er gibt sich einen Ruck und wechselt die schwere Flasche seufzend von der Rechten auf die linke Schulter.

Mimi schält an der Theke Zwiebeln und beobachtet den ankommenden Harry, ohne mit der Arbeit inne zu halten. „Wo ist das Fahrrad?“ fragt sie verwundert, als Harry sie erreicht. Harry stellt die Gasflasche vorsichtig ab, richtet sich auf und streckt sich ächzend. „Das Hinterrad ist kaputt gegangen. Der Gepäckträger auch. Die Flasche ist zu schwer gewesen“, erzählt er, während er die linke, taub gewordene Hand schüttelt, damit das Blut wieder richtig zirkulieren kann. Er holt ein ausgebleichtes Küchentuch von der Wäscheleine, die zwischen Liefer- und Wohnwagen gespannt ist, und wischt sich damit den Schweiß und den Staub vom Gesicht. Es ist bereits herbstlich frisch; der herbe Wind weht kräftig, und dennoch ist Harry ins Schwitzen gekommen. „Auf der Brücke“, ergänzt er widerwillig, „bin ich mit dem Hinterrad zwischen die verdammten Bretter geraten.“

Mimi legt die geschälte Zwiebel hin, um sie in kräftige Stücke zu schneiden, die später auf die Spießchen gesteckt werden. Auf dem Küchenbrett liegen die Fleischwürfel und die scharfen Würstchen fein säuberlich aufgereiht. „Ich muss jetzt das Gas anschließen“, brummt Harry und hebt die Flasche wieder auf. Er steigt über das kleine Treppchen hinten in den zur Küche umgebauten Lieferwagen ein und kniet sich unter den Grillrost, über dem eine Hutze aus Weißblech als Rauchabzug dient. Dort hängt der Gabelschlüssel, mit dem er den roten Schlauch ans Ventil der Gasflasche anschließen kann. Wie er damit fertig ist, richtet er sich auf und meint: „In diesem Sommer haben wir nicht viele Flaschen gebraucht.“ „Stimmt“, rechnet Mimi nach, „hier sind es nur drei geworden.“ „Früher ist es hier oben jede Woche eine gewesen“, fügt Harry hinzu, „jetzt ist es nur noch eine pro Monat.“ „Wir hätten unten bleiben sollen“, meint Mimi gleichgültig. „Im Süden läuft es besser als hier oben im Norden, und vor allem länger.“ „Hier oben im Norden hat es auch Kundschaft“, brummt Harry. „Nicht mehr viel“, kichert Mimi spöttisch. „Dafür ist es hier oben im Sommer nicht so heiß“, gibt Harry zurück. „Das ist auch was.“

Die drei weißen Plastiktischchen, die hinter dem Lieferwagen aufgestapelt sind, stellt Harry jetzt wortlos in den Schotter, während Mimi an der Theke die kleinen, appetitlichen Spießchen vorbereitet, und zu jedem Tischchen stellt er drei weiße Plastikstühle, obwohl die Aussicht, dass die Plätze heute Mittag alle besetzt sein werden, kaum besteht. Mehr Leute als die beiden Gemeindearbeiter, welche die Strände zu säubern haben, werden heute wohl nicht zum Essen auftauchen, zumal der Himmel durchgehend grau ist und die Temperatur wenig mehr als vierzehn oder fünfzehn Grad beträgt, schätzt Harry.

„Was ist jetzt mit dem Rad?“ fragt Mimi. Harry richtet sich auf, blickt in die Ferne, streicht mit der Rechten über seinen Bart und wiederholt nachdenklich die Frage: „Ja, was ist jetzt mit dem Rad?“ Er steht unschlüssig herum, schaut mal zu Mimi hin, dann zum Dorf zurück, übers Meer und über die Dünen und fragt: „Soll ich es jetzt holen oder erst am Nachmittag?“

Mimi hebt wortlos die Achseln und die Augenbrauen. Sie legt die fertig gewürzten Spießchen auf einen Pappteller und schichtet sie zu einem kleinen Spießchenberg auf.

„Vielleicht muss ich heute Nachmittag ins Bastlerzentrum gehen“, fährt Harry nachdenklich fort. „Dort hat es eine Fahrrad-Abteilung, wenn ich mich richtig erinnere, und dort finde ich vielleicht ein neues Hinterrad.“ Es ist Harry deutlich anzusehen, dass er seiner Vermutung nicht viel Glauben schenkt. „Vielleicht müssen wir ein neues kaufen“, fügt er nach einer Weile verärgert hinzu. „Ein neues was?“ fragt Mimi, die nicht richtig hingehört hat, und hebt den Kopf.

„Ein neues Fahrrad“, antwortet Harry.

Mimi wendet sich zu den Kühlboxen, die an der Rückwand der Küche stehen. „Seitdem sie uns den elektrischen Strom abgestellt haben“, sagt sie, „können wir keine Ware mehr aufbewahren.“ „Ich weiß. Ohne Kühlschrank können wir hier nicht mehr viel machen.“ „Wir sollten endlich fahren, Harry. Hier ist nichts mehr los.“ „Ich denke auch. Wir müssen losmachen und abdampfen.“ „Möglichst bald. Wir sollten damit nicht mehr lange zuwarten, Harry. Das Wetter wird schlecht.“ „So bald wie möglich, das ist versprochen. Aber die Batterie ist unten. Ich muss sie in der Dorfgarage erst wieder aufladen lassen, sonst können wir den Lieferwagen nicht einmal starten.“ „Geld haben wir auch nicht mehr sonderlich viel, Harry.“ „Ich weiß. Aber bis in den Süden wird es reichen.“ „Hoffentlich. Diesel ist wieder teurer geworden.“ „Ich weiß, Mimi, ich weiß.“ Harry seufzt. Mimi fragt sachlich: „Was bieten wir heute an? Kartoffelsalat oder Reissalat? Es hat noch etwas Nudelsalat von gestern, doch nur noch eine einzige Portion, schätze ich.“ „Haben wir noch Brot?“ entgegnet Harry. „Brot ist“ – Mimi schaut kurz unter der Theke nach – „keins mehr da.“ „Wie steht es mit den Getränken?“ Mimi bückt sich wieder hinter die Theke, beide Hände darauf abgestützt. „Bier hat es noch.“ „Gut.“ „Kaffee hat es auch noch.“ „Gut. Wir bieten heute und morgen alles an, was wir noch haben, schlage ich mal vor. Wenn nötig, verteilen wir das gratis. Nudeln, Reis, Kartoffeln, alles. Wir schauen, dass wir die letzte Ware loswerden, bevor wir gehen.“ „Fleisch ist sowieso alle. Und ich habe heute die letzten merguez genommen.“ „Wir kaufen hier oben nichts Neues mehr ein, Mimi, das hat keinen Sinn, und so müssen wir keine Ware mitschleppen.“ Mimi nickt befriedigt.

Man hört das kreischende Aufheulen von Mofas mit aufgebohrtem Auspuff, ein typisches Geräusch in dieser ländlichen Gegend. Mimi und Harry blicken beide wortlos gegen das Dorf hin, und bereits tauchen sie am anderen Ende des Parkplatzes auf. Es sind deren zwei; auf dem einen sitzen zwei Burschen, auf dem anderen sitzt ein dritter, der Harrys defektes Fahrrad über die Schulter gelegt hat. In geschickten Schlangenlinien sausen sie über den weiten Platz, aufmerksam darauf bedacht, den vielen Schlaglöchern auszuweichen und gleichwohl kein Tempo zu verlieren. Sie fahren schwungvoll bis vor Harry hin und bremsen im letzten Moment heftig ab, indem sie die Hinterräder ihrer Mofas im Schotter schleifen und eine mächtige Staubwolke aufwirbeln lassen.

Harry nimmt dem einen das Fahrrad ab. „Vielen Dank!“ sagt er zum Jungen und schaut sich noch einmal kurz das defekte Hinterrad an. „Habe gesehen, wie es Sie auf der Brücke umgehauen hat“, grinst der Bursche, der das Fahrrad gebracht hat. „Habe gedacht, ich bringe Ihnen das Ding, da es ja nicht mehr selber fährt.“ „Das hast du richtig gemacht“, nickt Harry anerkennend, „noch einmal vielen Dank! Ich bin froh, dass ich es nicht selber holen muss.“ „Umgehauen?“ fragt Mimi verwundert von der Theke her. „Es hat dich umgehauen?“ „Naja, ein bisschen umgehauen hat es mich, stimmt, aber nicht richtig fest“, präzisiert Harry verlegen. „Er hat die Gasflasche aus dem Wasser holen müssen“, berichtet der Bursche hämisch. „Er hat dafür sogar ins kalte Wasser steigen müssen.“ „Ins Wasser? Du?“ kichert Mimi spöttisch. „Du bist doch seit Jahren nicht mehr im Wasser gewesen!“ „Stimmt“, meint Harry achselzuckend und stellt das Fahrrad an die hintere Ecke des Lieferwagens. „Ich bin seit Jahren nicht mehr in dem verdammten Meer drin gewesen. Ich überlasse das den Fischen und den Touristen, das ist eher etwas für die. Und ich bin schließlich keines von beidem.“ Mimi lacht. „Baden gegangen! Harry ist baden gegangen! Eine Sensation!“

Harry wendet sich den jungen Burschen zu: „Ein Bier gefällig? Kommt, Jungs, ich gebe euch ein Bier aus!“ Das lassen sich die drei Jugendlichen nicht zweimal sagen. Flink stellen sie ihre Mofas auf die Ständer. Harry geht zur Theke. Mimi hat bereits ein Sixpack hervorgeholt, reißt die kleinen Flaschen aus der Verpackung und schiebt sie Harry zu. Dieser reicht die grünen Dinger gleich weiter. Die pickeligen Jungen drehen gekonnt die Verschlüsse ab, heben die Flaschen stumm wie zum Gruß und nicken kurz, sodann kippen sie deren Inhalt überraschend schnell hinunter. In einem Zug, Ehrensache, wie die Großen.

„Bleibt ihr noch lange hier in der Gegend?“ fragt der Junge, der das Fahrrad gebracht hat, nachdem er sich mit dem Ärmel den Mund abgewischt hat. Harry schaut Mimi an. Mimi meint, während sie heißes Wasser für den Kaffee zubereitet: „Wir haben gerade darüber gesprochen. Jetzt, wo der Campingplatz geschlossen ist, hat es keinen Sinn mehr hier zu bleiben. Leute kommen kaum noch her. Ich glaube, auch wir werden bald weggehen müssen. Vorgestern haben sie uns den Strom abgestellt, und gestern ist uns das Gas ausgegangen. Bald wird die Gemeinde das Wasser drüben in den Waschanlagen abstellen.“ „Es ist an der Zeit“, bestätigt Harry nickend, „dass wir demnächst Richtung Süden ziehen. Wie die Zugvögel, versteht ihr? In den nächsten Tagen wird das geschehen, nehme ich mal an.“ „Ihr habt es schön!“ schwärmt der andere Junge. „Ihr könnt einfach abhauen, wann es euch passt!“ „Wo geht ihr hin?“ will der dritte Junge wissen. „Weiß ich noch nicht“, antwortet Harry. „Wir werden sehen. Wir müssen erst noch ein paar Dinge erledigen.“ „Irgendwo in den Süden“, ergänzt Mimi, „wo wir im Winter nicht allzu sehr frieren müssen und wo es vielleicht sogar einige Leute hat, die unser Angebot zu schätzen wissen. Wir fahren einfach mal, schätze ich, bis uns der Diesel ausgeht.“ „Und das Geld“, fügt Harry hinzu. „Wir sind jetzt drei, nein, eigentlich fast vier Monate hier oben bei euch geblieben. Hier gefällt es uns zwar ausgezeichnet, doch es ist geschäftlich nicht gerade viel gelaufen.“

Die drei Burschen reichen Harry die leeren Flaschen zurück, steigen auf ihre Mofas und treten kräftig in die Pedale. „Heute Abend ist ein Fest in der Hafenkneipe“, ruft einer, während sie die kleinen Motoren aufheulen lassen. „Kommt ihr auch?“ „Wann? Heute? Heute Abend? In der Hafenkneipe?“ ruft Mimi schnell zurück, noch bevor die drei schon weggefahren sind. „Heute Abend, ja, mit richtiger Musik!“ Und schon rasen sie mit mörderischem Krach über den weiten, leeren Platz und verschwinden hinter die Böschung Richtung Brücke, Richtung Dorf. Bald bleibt nur noch eine dünne, lange Staubfahne zurück, die von der Brise schnell über den breiten Aber hinweg getragen wird. „Ist lieb von den dreien“, sagt Mimi und wischt mit einem Lappen die Theke, „dir das Fahrrad zu bringen.“ „Naja, die Jünglinge sind wohl eher deinetwegen gekommen, schätze ich mal, und nicht meinetwegen oder wegen meinem Fahrrad“, grinst Harry und stellt die leeren Flaschen auf die Theke. Er holt gemächlich die schwere Werkzeugkiste aus dem alten Wohnwagen, der einige Meter hinter dem noch älteren Lieferwagen steht, und stellt sie auf eines der Tischchen, zieht sein defektes Fahrrad heran, setzt sich auf einen der Stühle und macht sich daran, das verbogene Hinterrad aus dem Rahmen herauszulösen. Mimi stellt die drei weißen Plastikbehältnisse auf die Theke, in denen sich der Kartoffelsalat, der Nudelsalat und der Reissalat befinden, die Harry erst vorgestern zubereitet hat. Sie nimmt einen großen Löffel aus einem Fach unter der Theke und rührt die Salate kräftig auf, damit sie etwas frischer wirken.

„Wenn wir nur eine Gasflasche pro Monat verbrauchen, statt eine pro Woche, wie bisher, bedeutet das, dass wir viermal weniger verdient haben“, bemerkt Mimi nachdenklich. „Stimmt genau“, antwortet Harry. „Viermal weniger. Doch das holen wir im Süden bestimmt wieder heraus. Noch vor Weihnachten!“ „Ich weiß nicht“, zweifelt Mimi. „Wir haben jetzt September, und somit bleibt praktisch nur noch der Oktober. Ab November ist überall Schluss, auch im Süden.“ „Wir werden sehen. Das ist alles nur halb so tragisch. Wir sind ja bisher noch immer locker über den Winter gekommen. Stimmt’s? Wenn wir mit den Freaks zusammen in unserer Bucht überwintern, könnte unser Geschäft sogar ohne Unterbruch weitergehen. Und wenn es dennoch nicht reichen sollte, gehe ich einfach irgendwo arbeiten.“ „Wenn du was findest.“ „Wenn ich was finde, richtig. Aber das scheint mir auch heuer kein Problem zu sein. In den Reben brauchen sie jetzt dauernd Leute, kein Problem. Und gleich danach in den Oliven. Oder im Gemüse, in den Treibhäusern. In den Zitrusfrüchten. Da kannst auch du mitmachen, so verdienen wir doppelt.“ „Das bringt nicht viel.“ „Mach dir darüber keine Gedanken, Mimi! Es wird sicher irgendwie gehen. Bis April kommen wir gewiss durch, und ab April tauchen die Touris wieder auf, das ist so sicher wie Ostern!“

Von den Dünen her kommen fünf Leute im Gänsemarsch einen ausgetretenen Pfad herunter geschritten. Sie tragen bunte Regenkleidung und Wanderschuhe. Alle haben sie lange Ferngläser und teure Kameras mit dicken Objektiven umgehängt, und zwei von ihnen tragen auf der Schulter schwere Stative. Sie stapfen gemächlich durch den Sand des schmalen Fußweges zwischen den hüfthohen Farnkräutern und steuern direkt auf Harry zu, der an seinem defekten Fahrrad werkelt. Harry und Mimi, die eben das heiße Wasser langsam über einen Kaffeefilter schüttet, der auf einer hohen Thermoskanne steckt, bemerken die Leute erst, wie sie bereits vor ihnen stehen. Die Wanderer schauen sich unsicher um, und einer fragt: „Kann man hier etwas essen?“ Harry steht sofort auf und legt das Fahrrad beiseite, nimmt die Werkzeugkiste vom Tischchen und antwortet strahlend: „Aber natürlich, meine Herrschaften! Hallo und guten Tag erst mal! Hier kriegen Sie die besten Spießchen der ganzen Küste, hier gibt es den besten Reissalat, den besten Nudelsalat und den besten Kartoffelsalat überhaupt, und dazu können wir Ihnen erst noch ein frisches Bierchen anbieten und anschließend einen köstlichen Kaffee empfehlen!“

Die Leute scheinen etwas müde zu sein. Sie schauen sich eine Weile unschlüssig an, ohne dass jemand etwas sagt. Harry und Mimi warten gespannt. Schließlich beginnen die Herrschaften wie auf Kommando, ihre schweren Kameras, Ferngläser und Stative abzuhängen und auf zwei der kleinen Tische zu stellen; einige ziehen sogar ihre sperrigen Jacken aus und nehmen ihre bunten Hüte mit den breiten Krempen vom Kopf. Harry eilt geschäftig von Tischchen zu Tischchen und rückt die Stühle zurecht, und Mimi zündet bereits den Grill an. „Also“, nimmt Harry seine Rede wieder auf, indem er den Leuten gleichzeitig beim Hinsetzen behilflich ist, „darf es heute mal ein leckeres Spießchen sein? Mit etwas Kartoffelsalat? Oder gar mit Nudelsalat? Oder mit einem exquisiten Reissalat? Oder vielleicht lieber ein frisches Bierchen zuerst? Als Aperitif?“

Die fünf Leute brauchen eine ganze Weile, um sich zu entscheiden. „Immer unterwegs?“ forscht Harry deshalb vorsichtig. „Immer in den Dünen? Das gibt natürlich Hunger, das ist klar. Und Durst, versteht sich, bei diesem Wetter. Der verdammte Wind trocknet die Kehle völlig aus, nicht wahr? Aber dann seid ihr hier bei uns genau richtig!“ „Erst mal ein Bier“, meldet einer endlich. Die andern, froh darüber, dass sich jemand hat entscheiden können, wiederholen: „Erst mal ein Bier, gute Idee!“

Mimi stellt sofort fünf Flaschen auf die Theke, dazu fünf transparente Plastikbecher. Harry geht eilig zwischen Theke und Tischchen hin und her, holt ein Bier ums andere und leert im Gehen behutsam das Bier in den Becher, stellt Becher und Bier vor die durstigen Gäste hin, bis alle bedient sind. Nach dem ersten Schluck lehnen sich die Leute, drei Männer und zwei Frauen, etwas entspannter zurück, und einer meint, während er das Bier im Becher studiert: „Gute Idee ist das gewesen, hierher zu kommen!“ Die Leute nicken. Ein anderer richtet sich an Harry und fragt spöttisch: „Wie ist doch das gleich mit dem Menü des Tages?“ Einige lachen kurz, aber Harry leiert noch einmal, ohne die Miene zu verziehen, seinen Spruch herunter: „Hier kriegen Sie die besten Spießchen der ganzen Küste, meine Damen und Herren, und hier gibt es den besten Reissalat, den besten Nudelsalat und den besten Kartoffelsalat der ganzen Welt! Ist ein richtiger Geheimtipp, wenn ich Ihnen das verraten darf.“

Eine der Frauen schaut zum alten Blechschild hoch, das über dem Lieferwagen auf der ganzen Länge angebracht ist. In großer, schwungvoller, ehemals leuchtender, jetzt ziemlich verblasster Schrift, zwischen liebevoll gemalten Fischen, Krebsen, Gemüse, Brötchen, Gipfelchen, Früchten, Torten, allerlei Tieren, sowie Gläsern und Flaschen, steht:

HARRY’S BA

Das ganze Rechte Ende des Schildes ist völlig verrostet, und so kann man das R von ‚Bar’ nur noch ahnen. „Harry’s Ba, soso”, kichert der Typ. „Ein schöner Name für eine Gaststätte. Ein berühmter Name, wenn ich mich nicht irre.“ „Sind Sie Harry?“ fragt die andere Frau schmallippig kühl und blickt Harry aus kalten Augen neugierig und abschätzig zugleich an. „Harry von Harry’s Bar, Madame, ganz richtig. In eigener Person.“ „Und wer ist das?“ fragt die Frau ungerührt, spitzmündig und spitznasig, indem sie mit spitzem Finger auf Mimi zeigt, die an der Theke wartet und die Szene neugierig beobachtet. „Das ist meine Tochter Mimi, Madame“, meldet Harry freundlich und streicht sich den Bart zurecht. „Und wie alt ist die?“ „Sie ist sechzehn, Madame“, verbeugt sich Harry. „Und ich selber bin fünfzig, wenn Ihnen das Recht ist.“

Einige Leute kichern, und jemand fragt: „Wie steht’s? Wollen wir jetzt bestellen?“ „Na klar“, meint ein zweiter trocken, „wo wir schon mal hier sind!“ Und der dritte drängt: „Bestellen wir endlich, Leute! Ich habe Hunger!“ Alle nehmen sie die Spießchen, und zwei wollen dazu Kartoffelsalat, zwei Reissalat, und die Frau, die sich nach Mimis Alter erkundigt hat, will den Nudelsalat zum Spießchen haben. Mimi arbeitet flink, stellt die Pappteller in einer Reihe auf der Theke bereit, dressiert die Salate und hat die fünf Spießchen auf den heißen Grill gelegt. Das zischt und brutzelt, und ein wohlriechendes Räuchlein steigt zum Rauchabzug hoch. Harry geht mit billigen Papierservietten und Plastikbesteck von einem Tischchen zum anderen. Da der Wind Recht kräftig weht, sichert er Besteck und Servietten, indem er sie etwas verlegen und vorsichtig unter die schweren Kameras oder Ferngläser schiebt, was die Leute überhaupt nicht zu stören scheint. Sie sprechen lebhaft über Aufnahmen von Vögeln, die sie beobachtet haben, und über Vögel, die sie nicht gesehen haben; sie sind jedenfalls völlig in ihre geliebte Ornithologie vertieft. Einer hat bereits ein Büchlein aus der Tasche geholt und blättert aufgeregt darin, will den anderen das Bild eines Zugvogels zeigen, den sie unbedingt hätten vorfinden sollen und doch nicht entdeckt haben. Sie ereifern sich über Zugvogelrouten und ärgern sich darüber, dass sich die Zugvögel dieses Jahr nicht an die vorgesehene Route gehalten zu haben scheinen.

Mitten in die Diskussion stellt Harry die Pappteller mit den Speisen, und ohne sonderlich darauf zu achten, beginnen die Leute mit dem Essen, wobei sie ihre heftigen Gespräche über Zugvögel keinen Moment unterbrechen. Einer nach dem andern verlangt nach einem zweiten Bier, und Harry achtet darauf, dass er alle seine Gäste schnell und unauffällig bedienen kann.

Da tauchen die zwei Gemeindearbeiter auf. Mit ihrem blauen Traktor fahren sie holpernd quer über den ganzen Parkplatz und lassen das schwere Gefährt direkt vor den Tischchen ausrollen. Sie steigen ächzend herunter und setzen sich wortlos ans frei gebliebene Tischchen, wo Harry zuvor sein Fahrrad auseinander genommen hat. „Meine Herren?“ fragt Harry aufgeräumt. „Bring uns ein Bier, Harry“, sagt der eine, und der andere starrt die übrigen Gäste ungeniert an. „Sofort, meine Herren!“ bestätigt Harry geschäftig, und Mimi stellt zwei Flaschen auf die Theke, diesmal ohne Becher. „Meine Herren!“ kichert der eine und stößt den andern mit dem Ellenbogen derb an. „Meine Herren, hat er gesagt!“ Harry bringt den beiden die Flaschen, hilft ihnen beim Anzünden ihrer Zigaretten, indem er sich so hinstellt, dass sie, in seinem Windschatten sitzend, überhaupt erst das Feuerzeug zum Brennen kriegen. „Wie immer, meine Herren?“ fragt Harry freundlich. „Wie immer!“ antworten sie wie aus einem Munde und kichern wieder.

Mimi hat die Spießchen längst auf den Grill gelegt, denn sie weiß, dass die beiden Gemeindearbeiter diese Spießchen mögen. Sie weiß ebenso, dass sie am liebsten viel Kartoffelsalat essen, und so richtet sie ihnen zwei extra große Portionen an. Der eine von ihnen scheint sich für die Vogelschützer zu interessieren. Er hört ihnen eine Weile ungeniert zu und meint dann kopfschüttelnd: „Tja, diese Scheißvögel!“ Harry bringt ihnen die vollen Teller, und da sie wirklich Hunger haben, machen sie sich augenblicklich schweigend darüber her. Die Vögel sind vergessen. „Ist gut, Mimi!“ lobt der eine anerkennend zwischen zwei Bissen, ohne das Kauen zu unterbrechen, und der andere nickt auch kurz mit vollem Mund zu Mimi hin: „Voll in Ordnung, Mimi!“

Inzwischen sind die anderen Gäste fertig geworden; Harry holt die Becher, die Servietten und das Besteck von den Tischchen, bevor sie der Wind auf den Parkplatz wehen kann. Die Leute bezahlen die bescheidenen Beträge, die Harry verlangt, stehen auf, ziehen ihre auffälligen Jacken und Hüte wieder an, nehmen ihre optischen Geräte auf, verabschieden sich kurz und gehen weg, zurück in die Dünen, zurück zu den Vögeln, die da sind oder wegbleiben, auf demselben Pfad, auf dem sie bereits hergekommen sind, ohne ein Wort über das gute Essen oder die durchaus zuvorkommende Bewirtung verloren zu haben. Mimi schaut ihnen nach und argwöhnt: „Die Hexe hat nach meinem Alter gefragt.“ Harry nickt, und einer der Gemeindearbeiter schaut auf und fragt: „Was hat sie?“ „Och“, winkt Harry ab, „nichts Besonderes. Es gibt Leute, die wollen immer gleich als erstes wissen, wie alt Mimi ist. Als ob sie das etwas anginge.“ Er nimmt gleichgültig die restlichen leeren Teller und das übrige schmutzige Besteck vom Tisch. „Warum?“ fragt der andere Gemeindearbeiter ahnungslos. „Damit sie uns allenfalls bei der Polizei anzeigen können“, antwortet Harry. „Warum sollten die euch anzeigen wollen?“ fragt der Gemeindearbeiter verwundert. „Die kennen euch doch gar nicht?“ „Das sind fünf Lehrer gewesen“, erklärt Harry. „Fünf typische Lehrer aus der Stadt. Sie haben den Kurs ‚Die Zugvögel Europas’ belegt, oder etwas Ähnliches, und die vertrocknete Zicke möchte dadurch mehr Sinn in ihrem sinnlosen, langweiligen Leben finden, dass sie andere Leute auf vage Vermutungen hin bei der Polizei denunziert. Um sich wichtig zu machen, verstehst du?“ Mimi ergänzt: „Das haben wir schon oft erlebt. So sind sie.“ „Na, oft nicht, doch es kommt zuweilen vor“, fügt Harry gleichgültig hinzu. „Besonders als Mimi noch klein gewesen ist, haben wir deswegen einige Male Scherereien mit übereifrigen Behörden gehabt.“

Die beiden Gemeindearbeiter schütteln die Köpfe und heben die Achseln. Es fällt ihnen dazu nichts Weiteres ein. Stattdessen kommen sie auf ihr ständiges Lieblingsthema zu sprechen, auf die Kondome. „Fünf Stück heute. Dort hinten.“ Einer zeigt zu den Stränden, die sich hinter den Dünen verstecken. „Vielleicht sind es die Lehrer gewesen?“ kichert Mimi. „Sie haben es ja mit Vögeln. Da wird sicher tüchtig gevögelt.“ Alle lachen; die Vorstellung ist grotesk. Harry fragt: „Kaffee, die Herren?“ Ohne die Antwort abzuwarten, hat Mimi die große Thermoskanne mit dem frischen Kaffee so auf die Theke gestellt, dass Harry von vorne die Tassen unter den Hahn halten kann.

Er nimmt gleich vier weiße Plastiktassen vom Stapel und füllt eine nach der anderen auf. Die erste reicht er Mimi, zwei bringt er zusammen mit der Zuckerdose und zwei Plastiklöffeln den Gemeindearbeitern, und die vierte nimmt er für sich selber und setzt sich zu den beiden ans Tischchen.

„Der Platz ist Recht knapp in einem Zelt oder in einem Wohnwagen“, meint Harry, das Lieblingsthema der beiden wieder aufgreifend. „Und dazu all die Kinder überall! Die sollen doch nicht zuschauen dabei!“ meint der eine Gemeindearbeiter verlegen. „Oder die Jungen“, grübelt der andere, „die müssen sich erst mal in die Dünen verdrücken, wenn sie vögeln wollen.“ „Oder vielleicht ist das mit den Kondomen wie mit dem göttlichen Manna. Die regnet’s einfach vom Himmel.“ kichert Mimi. Man lacht wieder eine Runde. Man lacht gemütlich, man lässt sich Zeit mit dem Lachen, denn man hat es gewiss nicht eilig. Man genießt die Mittagspause. Die beiden gemütlichen Gemeindearbeiter, die für die Reinigung der Strände zuständig sind, haben es nie eilig, das ist angenehm, und zudem genießen sie es, in Mimi und Harry Zuhörer gefunden zu haben, die ihre anzüglichen Witzchen mögen und teilen. „Kannst sie nach Hause mitnehmen und auswaschen, so kannst du dann deine Alte endlich wieder einmal unbesorgt besteigen“, sagt der eine zum andern, indem er ihn scherzhaft mit dem Ellenbogen anstößt. Man lacht gutmütig vor sich hin, auch wenn man dieses blöde Witzchen schon oft gehört hat. „Nö, ich gehe damit am Samstag auf den Markt und verkaufe sie dem Pfarrer“, schlägt der andere prustend vor, „oder ich gebe ein Inserat in der Zeitung auf. Gebrauchte Kondome zum halben Preis! Das wird das Geschäft des Jahres!“ Wieder Lachen. „Ich würde ein Geschäft aufmachen, eine Kondom-Reinigung. Als Reklame würde ich die gewaschenen Kondome mitten auf dem Dorfplatz an einer langen Schnur zum Trocknen aufhängen“, empfiehlt Mimi sachlich, „mit kleinen Klebeetiketten dran, damit die Leute sie wiederfinden. So können sie die Dinger das nächste Mal wieder benutzen. Das spart Geld. Das kostet sie nur die Reinigung, sagen wir mal den halben Preis eines neuen Kondoms.“ „Das gesparte Geld können sie dann bei uns ausgeben!“ lacht Harry.

Diese Etiketten scheinen den einen Gemeindearbeiter länger als nötig zu beschäftigen. Er grübelt träge an Mimis Vorschlag herum und kratzt sich dabei bedächtig an der großen Kartoffelnase. „Etiketten mit ihren Namen drauf?“ fragt er sie irritiert. „Mit den Namen der Besitzer, damit sie ihre persönlichen Kondome nach der Reinigung wieder zurück bekommen“, erklärt Mimi sachlich und ernsthaft, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. „Genau wie bei den Kleidern, die man in die Reinigung gibt.“ „Na, den Kondomen siehst du doch gar nicht an, wer sie benutzt hat?“ grübelt der Gemeindearbeiter weiter. „Deshalb der einfache Trick mit den Klebeetiketten! Bist du schwer von Begriff! Wenn eine Etikette mit dem Namen dran ist, weiß doch jeder sofort, welches sein Kondom ist!“ antwortet Mimi schnippisch.

Jetzt arbeitet es aber heftig im Kopf des Gemeindearbeiters. Irgendwo hat dieses Konzept einen Haken, das weiß er; er weiß nur nicht, wo. Aber er kommt einfach nicht drauf. Kopfschüttelnd gibt er es nach einer Weile auf und seufzt gleichmütig. „Fahrt ihr heute mit dem Traktor ins Dorf?“ fragt Harry, um das Thema endlich zu wechseln. „So gegen vier Uhr“, antwortet derjenige, der den Traktor steuert. „Wir müssen ins Magazin.“ „Könnt ihr mich mitnehmen? Ich muss die Autobatterie zum Aufladen in die Autogarage bringen und im Bastlerzentrum ein Hinterrad für mein Fahrrad kaufen.“ „Das können wir auf jeden Fall so machen“, meint der Mann gutmütig und zündet sich gekonnt eine Zigarette an, indem er sich auf dem Stuhl mit dem ganzen Oberkörper vom kräftigen Wind abdreht. „Wir kommen hier vorbei, sobald wir mit Aufräumen fertig sind, und du kannst aufsteigen.“ „Gut, abgemacht.“

Harry ist froh, dass er dieses leidige Problem so zügig lösen kann. Die Batterie ist nämlich Recht schwer, ziemlich unhandlich und zudem überaus schmutzig, und er hätte sie wirklich nicht gerne den ganzen Weg ins Dorf auf der Schulter getragen. Dass er heute bereits die schwere Gasflasche hierher geschleppt hat, reicht ihm völlig.

Harry liegt lang ausgestreckt auf dem alten, wackeligen Liegestuhl neben dem Wohnwagen und schläft, den Kopf zur Seite gelegt, mit offenem Mund sein Mittagsschläfchen. Mimi hängt fadenscheinige Wäschestücke, die sie eines ums andere aus einem roten Plastikeimer zu ihren Füßen holt, an die Leine zwischen dem Liefer- und dem Wohnwagen. Auf einem der Tischchen steht die schwarze Autobatterie zum Mitnehmen bereit, daneben liegt das ausgebaute Hinterrad am Boden. Das alte Fahrrad lehnt ohne Hinterrad schief an der Rückwand des Lieferwagens. Das Wetter ist leicht besser geworden, denn der kräftige Wind hat sich etwas gelegt. Die Wolkendecke ist teilweise aufgerissen und gibt tiefblaue Flecken des atlantischen Himmels frei. Eine müde Sonne scheint lustlos in die bräunliche, ausgeleerte Landschaft. Das hellgrün aufgewühlte Meer leuchtet unwirklich deutlich herüber. Von weit her, aus der Tiefe des entfernten, sattgrünen Landes, kommt im Schritttempo ein recht auffälliges, großes Auto auf dem leeren Landsträßchen angefahren, ein rostiges, verbeultes, amerikanisches Kabriolett mit hohen Heckflossen, ein protziges Dickschiff aus den frühen Sechzigern auf uralten Winterreifen. Am anderen Ende des Parkplatzes hält es zögernd an. Der Mann am Steuer dreht sich überrascht nach Harrys Lieferwagen um und schaut sich die Szene mit hölzern laufendem, dumpf grummelndem Motor erst einmal gründlich an. Er schiebt seinen billigen Canotier bedächtig in den Nacken, kratzt sich nachdenklich am Kinn und scheint heftig zu überlegen. Nach einer Weile lässt er sein ausladendes Automobil zögernd und mit blubberndem Motor auf den Parkplatz rollen, und mit knirschenden, knackenden Reifen nähert sich das abbruchreife Wrack allmählich dem Ende des Parkplatzes.

Mimi schaut von ihrem zerknüllten Wäschestück, das sie eben ausschüttelt und über die Leine hängen will, auf und beobachtet befremdet das ungewöhnliche Fahrzeug. Der Fahrer hält sachte an, stellt den stotternden Motor ab, holt aus den Tiefen der Rücksitze, wo das ausgebleichte Autoverdeck zerknittert herumliegt, eine alte Polaroid-Kamera, hängt sich diese Kamera um, steigt vorsichtig aus, legt, als sich Mimis und seine Blicke kreuzen, den Finger an den Mund, geht auf Zehenspitzen zum schlafenden Harry, stellt sich gebückt vor ihn hin, nimmt die Kamera vors Gesicht und sagt laut: „Say cheese!“ Harry öffnet erst das eine Auge, danach das andere, darauf beide, dann fällt ihm die Kinnlade herunter, und in diesem Moment drückt der Fotograf auf den Auslöser. Mit einem schnarrenden Geräusch nach dem lauten Klack! schiebt die Kamera das Bild heraus. Der merkwürdige Fotograf richtet sich auf, hüpft wild herum und verfällt in ein nicht enden wollendes, krächzendes Gelächter. Harry hat sich im Liegenstuhl erschrocken aufgerichtet und starrt dem Lachenden mit offenem Mund nach. Mimi verfolgt gespannt die Szene, die Arme oben an der Wäscheleine. Sie hält das Wäschestück immer noch hoch, das sie eben hat aufhängen wollen, und vergisst, die Wäscheklammern aus dem Mund zu nehmen.

Der Komiker mit dem altmodischen Strohhut fängt an, wild herum zu tanzen, und lachend ruft er andauernd: „Ich glaub’s nicht! Mich laust der Affe! Ich denk’, mir gibt’s gleich was! Was zuviel ist, ist zuviel! Und das ist einfach zuviel!“

Harry starrt ihn fortgesetzt sprachlos an, jetzt steil aufgerichtet in seinem Liegestuhl sitzend, mit einem Anflug von Empörung im geröteten Gesicht, und Mimi steht immer noch wie versteinert bei der Wäscheleine. Endlich nimmt sie wenigstens die Arme herunter und die Wäscheklammern aus dem Mund. Der irre Typ, ein kleines, dürres Männchen mit Adlernase und krummen Beinen, in einer sandfarbenen Jacke ohne Ärmel, dafür mit hundert vollgestopften Taschen rundum, dreht sich mit ausgestreckten Armen tanzend um die eigene Achse und vollführt so einen weiten Halbkreis um den sprachlosen Harry herum; dazu ruft er, lachend und singend: „Wer kommt vorbei? Rate mal, wer kommt vorbei? Der beste Fotograf aller Strände dieser Welt kommt vorbei! Und was sieht er, der beste Fotograf aller Strände dieser Welt? Er sieht die beste Bar aller Strände dieser Welt! Mit dem besten Koch aller Bars aller Strände dieser Welt! Und was wird nun geschehen, meine Damen, meine Herren? Der beste Fotograf aller Strände dieser Welt und der beste Koch aller Strände dieser Welt, sie setzen sich an die beste Bar aller Strände dieser Welt! In Harry’s Bar! Das wird geschehen! O yeah! Peace, brother!“ Und damit verbeugt er sich würdevoll, als stünde er auf einer Freilichtbühne und als hätte er ein vieltausendköpfiges Publikum vor sich, und anschließend lässt er wieder sein krächzendes Raucherlachen hören.

Harry hat sich endlich aufgefangen, hat seine Füße auf beiden Seiten des Liegestuhls auf den Boden gestellt und dreht sich nun nach Mimi um, tippt sich demonstrativ an die Stirn und grinst etwas gequält: „Das ist Fredy, der schlechteste Strandfotograf dieser Welt.“ Er stemmt sich ächzend hoch, geht zögernd auf den Kerl zu, reicht ihm die Hand und haut ihm gleichzeitig mit der Linken auf die Schulter: „Alter Tittenknipser!“ dröhnt er.

Fredy strahlt und zeigt all seine braunen, vielfach geflickten Zähne und gibt zurück: „Alter Weinpanscher! Hast dich überhaupt nicht verändert! Immer noch dasselbe alte Holzfällerhemd!“

Damit stürzt sich das Männchen überraschend an Harrys Brust und klopft ihm heftig auf die Schulter. Dazu ruft er: „Wie lange ist das her? Sag mal, wie lange ist das her? Wie lange?“ Harry schiebt ihn sanft von sich und geht mit gespielter Pikiertheit auf Distanz. „Du brichst mir noch die Knochen, Alter!“ Fredy wendet sich nach Mimi um, zieht den Hut ebenso elegant, wie es im Theater die drei oder vier Musketiere tun würden, macht sogar einen veritablen, tiefen Bückling, richtet sich an Harry und fragt: „Und wer ist dieses reizende Fräulein in deiner Entourage?“ „Fräulein!“ kichert Mimi. „Das ist Mimi, meine Tochter“, erklärt Harry. „Deine To...!“ Fredy kriegt das Wort nicht heraus.

Er lässt die Arme fallen, die Kamera baumelt an seinem Hals, das unfertige Foto hängt heraus. Fredys Kopf ist nach vorne gerückt, die Augen treten ihm aus dem Kopf und der Mund bleibt weit offen. Man hört es in seinem Gehirn knirschen. Mimi wartet gespannt, was wohl als nächstes geschehen mag. Sie beobachtet den reichlich komischen Typen belustigt. Harry sagt nichts; nur in seinem Gesicht ist nach einem schnellen Seitenblick zu Mimi deutliche Skepsis zu sehen. Fredy dreht sich wieder nach Harry um und zeigt auf Mimi: „Du willst damit sagen, dass...“

Aber er kommt einfach nicht weiter, derart groß muss seine Überraschung sein. „Du meinst also, das ist...“ hebt er wieder an. Harry klopft ihm auf die Schulter. „Tief durchatmen, Junge!“ Der alte Knacker atmet folgsam durch. Er ist etwa, so schätzt Mimi, im gleichen Alter wie Harry, sieht jedoch bereits – im Gegensatz zu Harry – Recht zerknautscht und verbeult aus, genau wie sein viel zu großes, altes Auto. Ein ziemlich verbrauchter Knabe, ein ältlicher Junge mit den deutlichen Spuren vieler übler Gemeinheiten des Lebens im Gesicht, ein eindeutiger Übertreiber, ein abgenutzter Komiker mit einem unüberwindlichen Hang zu bühnenreifen Auftritten – so sieht es Mimi, die von Harry gelernt hat, die Leute schnell und präzise einzuschätzen. In aller Ruhe hängt sie endlich die restlichen Wäschestücke an die Leine. Sie weiß jetzt, dass der lärmende Typ mit dem altmodisch flachen Strohhut bloß eine der unzähligen alten Bekanntschaften von Harry ist; die tauchen ab und zu an den unmöglichsten Orten auf und sind meist irgendwie mit einer der vielen Geschichten aus Harrys bewegtem Leben verbunden und verbandelt. Das hat Mimi bereits etliche Male erlebt – kein Grund also, sich aufzuregen. Sie muss sich eher Sorgen um Harrys unmittelbare Pläne machen, denn eben kurvt der blaue Traktor mit den beiden zuverlässigen und hilfsbereiten Gemeindearbeitern auf den Parkplatz ein. Auch Harry hat den Traktor gehört, dreht sich nach ihm um und streicht sich nachdenklich über den Bart. Fredy fragt erstaunt: „Was wollen denn die hier?“ „Sie holen mich ab; sie bringen mich ins Dorf. Ich muss dort ein paar Dinge erledigen.“ „Das kann doch ich machen, Harrymann!“ ruft Fredy schnell. „Dafür bin ich doch da, denn Fredy ist fast immer da, wenn er gebraucht wird! Kein Problem, pas de problème, no problem, sin problemas! Ich mache das mit links, mein Freund, aber klar doch, mit meinem brandneuen Wagen, mit meinem original-amerikanischen Luxuskabriolett! Wie stehen wir denn da?“ Er wendet sich an Mimi: „Ich bin bekanntermaßen weit herum der beste Chauffeur, junges Fräulein, den man sich nur vorstellen kann, geprüft und getestet und für fähig befunden im Alltagsdschungelkampf auf allen Straßen dieses alten, verbrauchten Kontinents! Das ist doch ganz selbstverständlich! Und es wird mir zudem eine Ehre sein! Jawohl! Eine reine Ehrensache! Questão de honra! Dich – oder auch euch beide – jederzeit ins Kaff zu chauffieren. Cosa ovvia!“

Die beiden Gemeindearbeiter sind inzwischen mit ihrem Gemeindetraktor herangefahren und starren bei laufendem Motor verständnislos auf die überraschend komische Szene, die sich ihnen hier bietet, blicken stumm vom schrottreifen Kabriolett zum einen und zum andern und kratzen sich im Haar und an der Nase. Denn Fredy sieht plötzlich enorm beleidigt aus, lässt sich aber gleichzeitig augenzwinkernd anmerken, dass seine vielsprachige Empörung nur gespielt ist. Er reicht Harry mit einer gönnerhaften Geste die Polaroid-Aufnahme, die er aus dem Apparat gezogen hat, und Harry betrachtet kichernd den Schnappschuss. „Gut getroffen, Fredy!“ lobt er scheinheilig. „Wirklich gut getroffen!“ Er hält das Bild auch Mimi hin, damit sie es sich ansehen kann. Mimi betrachtet amüsiert den wenig schmeichelhaften Gesichtsausdruck von Harry, wie er auf dieser Fotografie festgehalten ist. „Fredy trifft immer gut!“ brüstet sich der Fotograf. „Fredy hat nämlich ein Auge dafür. Das Auge des Fotografen! Fredy trifft nämlich die Gegenwart blindlings und hält sie fest. Zack! Wie ein Schwerthieb durch die Zeit! Ich bin der Gegenwarts-Konservator, meine Damen und Herren! Das ist Magie! Die Zeit abschneiden und festhalten, das ist mein Beruf! Wie ein Wurstzipfel! Das ist nämlich das wahre Wesen der Fotografie! Die Zeit mitten durch hauen! Das ist nämlich Philosophie, wenn ihr versteht, was ich meine!“ Und, mit einer eleganten Körperdrehung zu den beiden gespannt wartenden Gemeindearbeitern auf dem Traktor gerichtet: „Das müsst ihr euch merken, Jungs! Philosophie! Das ist griechisch! Φιλοσοφία! Aber wie!“ Harry und Mimi lachen, und die Jungs staunen mit offenem Munde.

So kommt es, dass die beiden trägen Strandputzer ihren Traktor unverrichteter Dinge wenden und achselzuckend wieder wegrattern, während Fredy und Harry die schlappe Autobatterie und das defekte Hinterrad im unendlichen Kofferraum des ehemals eleganten, amerikanischen Kabrioletts mit Rücklichtern so groß wie Straßenlampen verstauen. Mimi hat die seitliche Lade des kleinen Lieferwagens routiniert heruntergeklappt und abgeschlossen, hat einen dicken, alten, braunen Herrenveston aus dem unerschöpflichen Fundus eines gemeinnützigen Brockenhauses angezogen und versucht eben, auf die hintere Sitzbank zu klettern, was eigentlich gar nicht geht, denn dort liegt nicht nur das abgewetzte und ausgebleichte Autoverdeck, sondern auch, darunter versteckt, all die Abfallware, die Fredy in den letzten Jahren in die Hände gekommen zu sein scheint, Kleidungsstücke, alte Schuhe, zerknüllte Bettwäsche, Decken, Büchsen, Dosen, zerbrochene Klappstühle, Hüte, Schirme, Tüten, Schachteln, leere Verpackungen für Fotomaterial, Plastiktragetaschen, Zeitschriften, Kisten, Werkzeuge, leere Briefumschläge und sonst allerlei billiger Plastik-, Papier- und Stoffkram. „Nicht hinten einsteigen, wertes Fräulein!“ ruft ihr Fredy deshalb vergnügt zu, wie er zur Fahrerseite gelangt und mit eleganter Geste die Tür öffnet. „Setz dich da vorne hin, denn vorne sitzen wir in diesem klassischen Automobil auch zu dritt bequem!“

In der Tat hat es auf der enormen, vorderen, reichlich zerschlissenen Sitzbank für alle drei genug Platz; sie können sich behaglich ausgesteckt hinsetzen, ohne sich im ausgefransten, roten Kunstleder eingeengt zu fühlen, weit zurückgelehnt, die Arme weiträumig auf den Rand der Rückenlehne und auf den Türrahmen gelegt, wie man dies in derartigen Fahrzeugen automatisch zu machen scheint. „Tolle Kiste!“ lobt Mimi anerkennend. „Säuft sicher wie ein Loch“, meint Harry skeptisch und grinst. „Dafür braucht doch einer direkt eine eigene Ölquelle.“ Fredy erklärt: „Habe ich enorm günstig erwerben können, das alte Kabriolett, und zwar ganz und gar gratis, um ehrlich zu sein, habe die Kiste vor einiger Zeit vor einer Garage irgendwo auf dem Lande stehen sehen, bin hingegangen und habe dem Typen erklärt, dass eine Entsorgung dieses unverkäuflichen Schiffes wirklich sauteuer zu stehen kommen wird, und wenn er mir den Schrotthaufen jetzt ganz schnell abgebe, koste ihn das keinen Cent. Da hat der Garagist erst mal eine Weile ungläubig geglotzt. Darauf hat er zu rechnen angefangen, der Kerl, und so ist es ihm endlich eingefallen, so ist es ihm wie Schuppen von den Haaren gefallen, nicht wahr, dass meine Argumentation nämlich wirklich hieb- und stichfest ist, und danach hat er mir das Ding erleichtert abgegeben, weil er es sonst noch jahrelang am Halse gehabt hätte, schwer wie ein Mühlstein. Was sag’ ich? Wie zehn Mühlsteine! Und nichts als pure Platzverschwendung wäre das gewesen, bei diesen Grundstückpreisen! Er ist ja nicht ganz dumm gewesen, der Typ von der Garage, der Garagist, nicht wahr, der hat durchaus rechnen können, der Gute, und ich habe ihn vielleicht sogar vor einem bevorstehenden Bankrott bewahrt.“

Fredy redet ununterbrochen weiter, lebhaft und witzig, fast ohne Punkt und Komma, während er den Motor startet und das Schiff gemächlich blubbernd weg gleitet: „Harrymann, dass ich das noch erleben darf! Ich dachte gleich, das darf nicht wahr sein! Dass ich den guten alten Harry noch einmal antreffe, bevor ich den Arsch endgültig zukneife, und das am Ende der Welt, denn wir sind ja hier oben wirklich am Ende der Welt, finis terrae, nicht wahr, gewissermaßen, das passt ja alles wieder einmal ausgezeichnet zusammen, ein Fingerzeig Gottes, würde ich sagen, wenn es denn überhaupt einen gäbe, kein Vergleich zu den herrlichen Zeiten damals im Süden, wo wir beide, zusammen mit der halben, arbeitsunwilligen Menschheit, viele gloriose, glamouröse und, wenn ich so sagen darf, auch amouröse Zeiten erlebt haben, nicht wahr, wo wir grandiose Feste ohnegleichen gefeiert haben, Feste, die mittlerweile längst in die Geschichte eingegangen sind! Weißt du das noch, alter Würstchenbrater?“ Er wendet sich an Mimi: „Die ganzen Freaks aus aller Welt haben nämlich bei Harry gebechert, weißt du das, Mimmi? Die Elite Europas! Europas heutige Trägerschicht! Das zukünftige Europa! Europas blühende Kultur- und Meinungsvielfalt! Standen damals alle als junge Nasenbohrer bei Harry herum und mampften seine merguez! Mimmi heißt du, nicht wahr? O ja! Das ist vielleicht eine Sause gewesen, damals bei Harry! Die ganze Elite Europas! Hab’ ich das nicht schon gesagt? Das Gehirn Europas! Der Kern Europas! Der Sinn Europas! Das Wesen Europas! Die Essenz Europas! So wahr ich da stehe!“ „Schau besser auf die Straße, Fredy!“ wirft Harry besorgt dazwischen, „sonst landen wir noch alle im Straßengraben!“

Fredy befolgt den Rat widerwillig und fährt gleichzeitig mit seinen Erzählungen, begleitet von wilden Gesten, ungebremst weiter: „Da warst du noch gar nicht auf der Welt, Mimmi! Harry, wir beiden alten Säcke! Wenn man da erst mal zurückdenkt! Da kommt man richtig ins Sinnieren! Was ist übrigens aus Sonja geworden, die ist doch damals …, ist die nicht …, hat die nicht …, die hat doch …, nun ja, die Zeiten ändern sich, das ist klar, und die Geschäfte laufen nicht jederzeit so, wie sie könnten, das ist uns allen ebenfalls klar, und ich als exklusiv-Strandfotograf kann ein Liedchen davon singen! Aber was soll’s? Jammern macht uns nicht satt! Man hat sein Ein- und Auskommen, nicht wahr, kurz vor dem Umkommen, und wer jammert, ist selber schuld! Wer jammert, hat schon verloren! Ist es nicht so?“

Auf Grund einer heftigen, abschätzigen Armbewegung des angeblich besten Chauffeurs weit und breit vollführt die Karre mitten auf der Straße mit knirschender Federung einen überaus heftigen Schlenker. Mimi und Harry müssen sich deswegen sogar am Tür- und Fensterrahmen festhalten. „Wenn ich indessen an diese alten Zeiten zurückdenke, wo wir unten im Süden die Nacht zum Tage gemacht haben! Harry, und die Weiber alle und all der Wein und all die Feste und all die Brüder im Geiste, die aufgetaucht sind, und wo sind die nur alle hin? Das hält kein Kopf aus, diese Vorstellung! Das Leben ist eine fortlaufende Schmach! Man schlägt sich durch, das ist klar, Fredy als der beste Strandfotograf aller Zeiten, und Harry als der beste Würstchenbrater aller Zeiten! Aber wo sind all die andern hin? Was habe ich schon damals ununterbrochen fotografiert! Und jederzeit erste Klasse, Mimmi, immer erste Qualität, und nie ein schlechtes Bild von mir, das gab es und gibt es einfach nicht und wird es auch nie geben, das lässt der Berufsstolz nämlich nicht zu, denn das ist eine Frage der Berufsehre, so, wie auch deine Küche nichts als eine Frage der Ehre ist, Harry, nicht wahr? So ist es, und so muss es auch sein! Wenn ich nur daran zurück denke! Ganz unglaublich, Mimmi! Ganz unglaublich! Was hat uns der gute Harry alles aufgetischt! Gezaubert hat er, richtig gezaubert! Lamm, Fisch, Krebse, Muscheln, Vögel, alles! Mit nichts als mit diesen seinen bloßen Händen hat er gekocht! Was sage ich? Gezaubert! Das war reine Magie! Besseres kann man sich gar nicht vorstellen, nicht im besten Restaurant der Welt!“

So geht das endlos weiter, denn Fredy sprudelt richtig über: „Ich schlage vor, dass das gefeiert werden muss, Harrymann, sowahr ich hier stehe oder, besser, so wahr ich hier sitze. Jawohl! Ich schlage ein Fest vor! Wir braten ein Lamm, gleich hier, auf der Stelle; wir machen ein Fest! Harry kocht wie in alten Tagen, und wir feiern ein Wiedersehen und einen Abschied zugleich, ein Lamm am Spieß, ganz genau, das habe ich nämlich seit hundert Jahren nicht mehr gehabt, und darauf wird gebechert, dass die Möwen reihern! Was meinst du, Harry-Schatz? Wollen wir zur Feier des Tages wieder einmal richtig festen wie in alten Tagen?“

Harry kratzt sich unter dem Bart das Kinn und überlegt, ganz offensichtlich wenig hingerissen: „Gute Idee, Fredy! Gute Idee, ehrlich! Trotzdem, ich weiß nicht so Recht. Wirklich nicht. Wir sind jetzt gerade am Zusammenpacken und Abreisen, ausgerechnet jetzt, ausgerechnet heute! Verstehst du? Wir werden vielleicht morgen schon wegfahren, spätestens übermorgen, das ist schon mal sicher, jedenfalls noch bevor hier die fetten Herbstnebel daher kommen. Wir haben in diesen Tagen darauf geachtet, dass wir unsere ganze Ware restlos loswerden, und just heute ist diese Rechnung aufgegangen!“ Wir haben nichts mehr zum Festen! Keine einzige Brotrinde!

Er schaut Fredy an. Fredy steuert seinen Straßenkreuzer scheinbar konzentriert über die holperige Landstraße zum Dorf hin und antwortet nichts. Wegen dem Aber, der tief ins Land hinein ragt, muss ein großer Umweg genommen werden. Harry fährt sachlich fort: “Wir haben überhaupt nichts mehr am Lager. Wir haben noch einige Resten für uns selber, für heute Abend, allenfalls für morgen Mittag, denn so ist das klug vorausberechnet und längst vorgesehen, und danach packen wir zusammen und hauen ab. Nur noch die Autobatterie aufladen und das Fahrrad flicken, das ist alles. Das sind die zwei letzten kleinen Aufgaben, die uns hier noch zurück halten, und danach können wir endlich losfahren“, erklärt er ganz sachlich, und Mimi fügt hinzu: „Heute Abend findet ein Fest in der Hafenkneipe statt, da wollen wir zum Abschied hin. Wir kennen die Leute hier allmählich, wir haben sie in diesen Monaten kennengelernt. Sie sind hier freundlich, wirklich freundlich, weil sie vom Tourismus noch nicht so verwöhnt und verdorben worden sind wie andere.“

Fredy lässt indessen nicht locker; er ist von seiner spontanen Idee völlig eingenommen: „Das ist alles problemlos unter einen Hut zu bringen, Freunde, denn wir bauen das Wiedersehen und den Abschied gleichzeitig einfach zu einem kleinen, intimen Familienfest aus, das unvergesslich bleiben soll und in die Geschichte eingehen wird, wie damals, als wir noch jung gewesen sind, denn schon damals haben wir ja ständig diese unvergesslichen Feste gefeiert, weißt du noch, Harry? Abschiedsfeste oder Geburtstagsfeste, Jubiläumsfeste, Willkommensfeste oder Verbrüderungsfeste, was auch immer! Völlig egal! Hauptsache Feste! Mann, was haben wir gefeiert! Tagelang, nächtelang haben wir gefressen und gesoffen und getanzt und gelacht und auf Teufel komm raus gevögelt, tschuldigung, Mimmi, dass mir das so rausgerutscht ist, in dieser ganzen Euphorie! Kurzum, wir haben damals gefestet und gefeiert, dass es eine wahre Freude gewesen ist!“ „Wir haben leider kein Geld mehr für eine Extrafeier“, stellt Harry trocken fest.

Fredy schaut so verwundert herüber, dass Harry unaufgefordert erklärt: „Dieser Sommer hier oben ist zwar sehr schön und ruhig und angenehm und alles gewesen, richtig picobello, nicht wahr, Mimi? Lauter nette, freundliche Leute hier, wirklich! Nur finanziell gesehen ist das Ganze leider nicht sonderlich ergiebig gewesen, eher ausgiebig.“ „Geld? Wer redet denn von Geld?“ ereifert sich Fredy. „Geld interessiert uns gar nicht, denn der Fredy lädt uns alle ein, selbstverständlich lädt er uns alle ein, jawohl, das ist von Vornherein klar, das ist ja meine Idee, darüber reden wir gar nicht erst, und da ist es völlig selbstverständlich, dass ich das Fest bezahle, sicher, denn das ist mir mein Geld wert, mit euch ein richtiges Bankett zu veranstalten! Sicher! Klar doch! Vollkorn logo! Und für mich persönlich ist das, ganz unter uns gesagt, rein pekuniär überhaupt kein Problem. Entweder man hat es, oder man hat es, wenn ihr versteht, was ich meine. Null problemo, denn wir können das Schöne mit dem Guten, das Angenehme mit dem Heiteren, das Fröhliche mit dem Besinnlichen und mit dem Nützlichen verbinden, warum denn nicht? Wir gehen heute erst mal an dieses Dorffest, an das lokale Großereignis des Jahres, schlage ich euch mal provisorisch vor, heute Abend also, als Zeichen der Verbundenheit und der Solidarität mit dem arbeitenden Volk und mit der örtlichen Bevölkerung ganz generell, und schon morgen machen wir alles klar für unser eigenes, ganz privates und intimes Abschiedsfest!“

Er blickt die beiden neugierig von der Seite an, arglos gespannt, mit offenem Mund. Harry und Mimi schauen sich kurz an. Harry zieht die dunklen Augenbrauen hoch, streicht sich über den schwarzen Bart und legt den Kopf schief, und Mimi hebt die Schultern. Es scheint tatsächlich nichts zu geben, was dem großzügigen Vorschlag von Fredy widersprechen würde. Warum auch? Deshalb haut ihm Harry nach einigem Zögern herzhaft auf die Schulter und sagt versöhnlich: „Altes Schlitzohr, du! Bist immer noch der alte Lustmolch!“ Das hört Fredy gerne; er grinst über das ganze, zerknitterte Gesicht und schiebt zufrieden den Canotier mit dem schwarzen Band in den Nacken. Die schmale Landstraße macht, wie schon erwähnt, einen zeitraubenden Umweg um den ganzen Aber herum, der weit ins leicht gewellte, braun-grüne Land hinein reicht, durch scheinbar endlose Blumenkohl-, Zwiebel- und Artischockenfelder, unterbrochen nur von uralten, niedrigen Eichen- und Farnhecken über mannshohen, völlig überwachsenen Steinmauern, die sich seit Jahrtausenden gegen den scharfen Wind stemmen und die Felder beschützen. Der Motor blubbert ruhig vor sich hin, die Federung ächzt, die Stoßdämpfer knarren, und von überall her klingeln, knarren, quietschen und scheppern Dinge im und am Auto, die das ganz gewiss nicht tun sollten, vermutet Mimi. Der Fahrtwind bläst diesmal von hinten, so dass es Harry und Mimi die Haare straff nach vorne weht, und ein entschlossener Fredy drückt seinen Strohhut fester auf die Birne.

Bald einmal überholen sie den blauen Gemeindetraktor, winken den beiden Gemeindearbeitern fröhlich zu, und allmählich gelangen sie zum Dorfeingang, wo die schäbige Dorfgarage steht. Eigentlich ist es nur der Hintereingang zum Dorf, denn der richtige Dorfeingang ist vorne, gegen die See hin, am Neuen Hafen unten, wo nachts die großen Trawler mit ihrer frischen Fracht anlegen und die großen Kühllaster warten. Harry steigt aus, verhandelt kurz mit dem erstaunten Garagisten, der verwundert das ungewohnt lange Kabriolett betrachtet, holt die Batterie seines Lieferwagens aus dem riesigen Kofferraum, stellt sie in die Werkstatt und steigt wieder ein. Fredy wendet das Dickschiff umständlich in mehreren Anläufen auf dem Kiesplatz vor der Garage, wo allerlei kleine, billige Autos in stumpfen Farben herumstehen und still vor sich hin rosten, und fährt zum kleinen Einkaufszentrum bei der Einmündung zur Hauptstraße etwas außerhalb des bewohnten Gebietes, wo sich auch das Heimwerker-, Bau- und Bastlerzentrum befindet. Auf dem gelben Behinderten-Parkplatz, direkt vor dem Haupteingang, stellt Fredy sein auffälliges Auto ab. Er scheint vor lauter Wiedersehensfreude immer noch über zu fließen. Mimi stellt indessen nüchtern fest, dass Harry über Fredy noch kaum ein Wort verloren hat. Das sagt wohl alles, nimmt sie an.

Der flaumige Jüngling im uniformen, sommerlichen Dress der Mitarbeiter des Einkaufszentrums, im rot-weiß gestreiften Hemd mit der gelben Krawatte und der grünblau gewürfelten Hose, sowie mit einer albernen Schiffchenmütze mit der dämlichen Aufschrift I’m so happy to help you! auf der aufgeweichten Birne, hat offensichtlich überhaupt keine Ahnung von Fahrrädern. Er weiß nur – aber dies mit Bestimmtheit – dass er seine in einer langen Reihe aufgestellten, blitzenden Produkte nicht in einzelnen Teilen verkaufen darf; der Verkauf eines einzelnen Hinterrades, zum Beispiel, ist im Verkaufskonzept des Konzerns nicht vorgesehen. Harry hat also keine Chance mit seinem bescheidenen Ansinnen, zudem hat er längst festgestellt, dass sich die technischen Einzelheiten stark verändert, das heißt, qualitativ massiv verschlechtert haben und dass Hinterräder von Fahrrädern heute ganz anders, das heißt, billiger, einfacher und somit schlechter an den Rahmen festgemacht sind und nicht einmal mehr denselben Durchmesser haben wie früher. Selbst wenn Harry also ein einzelnes Hinterrad kaufen könnte – er hat sein verbogenes Hinterrad mehrere Male an die Hinterräder der ausgestellten Fahrräder gehalten und verglichen – würde es gar nicht in sein altes Fahrrad passen.

Er fuchtelt mit dem defekten Rad vor der Nase des Jünglings herum und macht seinem Ärger vor dem eingeschüchterten Verkaufspersonal lautstark Luft, weil man heute offenbar gleich ein neues Fahrrad kaufen muss, wenn mal ein einzelnes Rad kaputt gegangen ist. „Nun mach dir nicht gleich das Hemd nass“, beschwichtigt ihn Fredy, „dieses System hält die Wirtschaft am Laufen. Würden die Fahrradfabriken Fahrräder bauen, die ewig halten, wären sie ja schön blöd!“ Mimi erklärt indes sachlich: „Wir brauchen nun mal ein Fahrrad. Wie sonst sollten wir die Einkäufe machen? Alles zu Fuß erledigen geht nicht allezeit und auch nicht überall, wo wir hinkommen. An abgelegenen Orten wie diesem würde das Einkaufen somit glatt den ganzen Tag in Anspruch nehmen, wenn wir kein Fahrrad hätten.“

Immerhin kosten die neuen Fahrräder nicht sonderlich viel, findet Harry, auch wenn sie mit Sicherheit bald einmal kaputt gehen werden. Dafür glänzen sie verlockend, sind bunt bemalt und beschrieben und haben überall allerlei billige Plastikteile dran, deren Funktion Harry nicht immer klar ist. Er fummelt ungeniert daran herum und lässt sich vom Verkäufer absichtlich ausführlich all die geradezu unglaublichen Vorteile und frappanten Eigenschaften von neuen Fahrrädern erklären, und trotzdem mault er: „Wenn ich schon ein neues Fahrrad kaufen muss, will ich gefälligst den ganzen Service genießen!“

Mimi und Fredy schlendern inzwischen von der nonfood-Abteilung in die für sie gegenwärtig wesentlich interessantere food-Abteilung des Einkaufszentrums hinüber. Sie besorgen sich einen Jumbo-Einkaufswagen; Mimi stößt ihn vor sich her, und Fredy greift mal hier, mal da hin und wirft vergnügt die Ware in den Korb, Früchte, Gemüse, Teigwaren, Reis, Zwiebeln, Knoblauch, Salate, Pilze, alles in üppigen Mengen, dazu feines Olivenöl, Gewürze, frische Kräuter, dann Wein gleich kistenweise, Roten, Rosé und Weißen, eine prächtige Lammkeule, einige Brote und sogar einen ganzen Hochzeits-Kuchen mit einem putzigen Brautpaar in Cellophan aus Zuckerguss und Marzipan oben drauf. Mimi sagt wenig dazu, denn sie weiß nicht, was das alles soll, lässt den merkwürdigen Typen jedoch einfach gewähren, der für sie alle so unverhofft und großzügig und mit sichtlichem Vergnügen in die Regale greift; sie findet, dass sie und Harry die Gelegenheit durchaus beim Schopf packen sollten, wenn sich ausnahmsweise mal einer derart spendabel zeigt. Amüsiert schaut sie Fredy zu, wie er in seinem Einkaufsrausch völlig aufzugehen scheint. Gleichsam tanzend in seinem komischen Wams mit den unzähligen Taschen rundum, führt er sie zwischen all den üppig gefüllten Regalen hindurch und kommentiert, lamentiert und diskutiert – vor allem mit sich selber. Jedenfalls scheint er sich dabei aufs Köstlichste zu vergnügen.

Er führt sich in der Tat so auf, findet Mimi, als würde das ganze Einkaufszentrum ihm alleine gehören und als könne er sich deshalb hier absolut gratis bedienen, ohne je ein Preisschild beachten zu müssen. Merkwürdig, denkt sie, wie sie ihn belustigt beobachtet: Da ist bei ihnen heute plötzlich ein seltsamer, sichelbeiniger, dürrer Typ aufgetaucht, der sich hier, im fremden Laden, wie ein Kind benimmt, so dass sich alle Leute verwundert nach ihm umdrehen. Ein komischer Kerl ist das jedenfalls, mit seiner merkwürdigen Jacke und seinem lächerlichen Strohhut, ein auffälliger Spaßvogel, und er hat durchaus etwas Sympathisches, denn lebhaft ist er und gar nicht langweilig; vielleicht ist er sogar interessant. Er scheint sich jedenfalls überhaupt nicht zu genieren, zeigt keinerlei Hemmungen, zieht vor all den sprachlosen Hausfrauen hemmungslos seine Show ab und scheint nie um eine Antwort verlegen zu sein. Ein gestenreiches Spielchen entwickelt sich allmählich zwischen ihnen: Fredy greift nach einem Produkt, hält es in die Höhe und ruft: „Brauchen wir das?“ Mimi nickt oder schüttelt den Kopf. Meint sie, das hätten sie bereits oder das hätten sie nicht nötig, stellt es Fredy beleidigt ins Regal zurück, meint sie, das könnte durchaus irgendwann mal für ir