Heartstring Rhapsody - Sophia Veronica Hjejle - E-Book
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Heartstring Rhapsody E-Book

Sophia Veronica Hjejle

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Beschreibung

«Hast du auch einen Spitznamen?», frage ich und sehe wieder zu ihm auf. «Alle meine Freunde nennen mich Oli.» Er zuckt mit den Achseln. «Aber ich mag, wie du meinen Namen immer ganz sagst. Irgendwie klingt er bei dir so schön.» Dieses Mal ist es Oliver, der verlegen wirkt, doch im Gegensatz zu mir, versucht er seine Gefühle nicht zu verstecken, sondern lässt sie mich offen sehen. Ich bewundere ihn dafür und wünsche mir plötzlich, dass ich auch bald wieder in der Lage sein werde, Gefühle zu teilen, ohne dass ich mich vor ihnen fürchten muss, oder dass sie mir Schmerzen bereiten.' Lysa verliert bei einem tragischen Autounfall ihre Eltern und ihre ganze Welt stürzt in Dunkelheit. In ihrer schweren Trauer begegnet sie Oliver, der trotz ihrer emotionalen Instabilität Interesse an ihr zeigt und ihr hilft, ihr Trauma zu überwältigen und wieder Sinn in ihrem Leben zu finden. '«Heartstring Rhapsody - Zwischen Verlust und Hoffnung» ist eine ergreifende Geschichte über Verlust, Liebe und die Kraft, die uns weitermachen lässt, auch wenn das Leben uns auf die härteste Probe stellt. Für Liebhaber großer Liebesgeschichten ist dieser deutschsprachige Roman ein absolutes Muss!' (Leserin) Der Roman dient als Spiegel des Lebens und reflektiert die komplexe Natur menschlicher Beziehungen und Emotionen. Es ist eine vielschichtige Erzählung für junge Erwachsene, welche wichtige Fragen zur Moral und Verantwortung im Kontext von Liebe und Verlust stellt. Weitere Stimmen der Leser*innen: «Ein bewegender Liebesroman, der die Tiefen der Trauer und die Höhen der Liebe erkundet, wo Schicksal und Bestimmung in einem Herzschlag kollidieren!» «Ein Roman, der Herz und Seele an kalten Tagen wärmt und Sie in eine emotionale Geschichte voller Liebe, Hoffnung und Leidenschaft entführt!»

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Für mich, weil ich mit diesem Buch endlich einen Traum habe wahr werden lassen, und für Steffi, die immer an mich und diese Geschichte geglaubt hat.

PROLOG

Ich starre auf die Papiere in meiner Hand. Seite um Seite gefüllt mit einer schönen, engen Handschrift. Eine Handschrift, die mir in den letzten Wochen nur allzu vertraut geworden ist. Das L, das ich sonst immer so wunderschön gefunden habe, besonders, wenn es den Beginn meines Namens formte, erscheint mir nun wie das Symbol des Verrats, der an mir begangen wurde.

Ich merke, wie ich beginne zu zittern. Ich kann nicht sagen, ob vor Wut oder aus purem Entsetzen. Es ist wohl eine Mischung aus beidem. Wie konnte er mir das antun?

Das Zittern überträgt sich auf meine Hände, bis die Seiten zwischen meinen Fingern so stark hin und her schlagen, dass ich kein einziges Wort mehr lesen kann. Die Buchstaben verschwimmen zu undefinierbaren Flecken vor meinen Augen und ergeben keinen Sinn mehr. Es ist auch egal. Ich habe genug gelesen.

Ich gebe mir keine Mühe, die Papiere wieder in den Briefumschlag zu stecken, und pfeffere sie zurück in die Schublade, aus der ich sie genommen habe, bevor ich aufstehe und meine Kleider vom Boden aufhebe. Als ich in meine Jeans schlüpfe und mir den Pulli überstreife, kommen die Tränen, auf die ich schon warte, seit ich begriffen habe, was ich in Händen halte. Sie laufen mir heiß die Wangen hinunter und wischen die Erinnerung an das Lächeln weg, das ich vor wenigen Augenblicken noch auf den Lippen hatte. Das Lächeln, von dem ich dachte, es würde von nun an jeden Tag auf meinen Lippen liegen.

Ich schlage mir mit der Hand wütend gegen die Stirn. Es war zu perfekt. Ich hätte wissen müssen, dass ich solches Glück nicht verdiene. Aber er hat es mich glauben lassen. Hat mir all diese Gedanken und Gefühle in den Kopf gesetzt, mir das Gefühl gegeben, dass ich es Wert bin, geliebt zu werden, trotz allem, was ich durchgemacht habe. Er hat mich wieder lieben lassen. Er hat mich wieder leben lassen. Nur um mich dann wieder in den Abgrund zu stürzen.

Zu meiner Wut und Traurigkeit mischt sich Ekel. Ist es für ihn denn nur ein Spiel gewesen? Anders kann ich es mir nicht erklären.

Den Blick tränenverschleiert, taste ich nach meiner Jacke und meinen Schuhen, dann schnappe ich mir das Handy vom Bett und gehe zur Tür. Nichts wie weg hier, ist das Einzige, was ich denken kann. Nur noch weg hier.

Doch ich weiß, egal wie schnell ich die Wohnung verlasse, es wird nichts daran ändern, dass mein Herz bleibt. Zersplittert zu seinen Füßen.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

EINS VORHER

ZWEI JETZT

DREI VORHER

VIER JETZT

FÜNF VORHER

SECHS JETZT

SIEBEN VORHER

ACHT JETZT

NEUN VORHER

ZEHN JETZT

ELF VORHER

ZWÖLF JETZT

DREIZEHN VORHER

VIERZEHN JETZT

FÜNFZEHN VORHER

SECHZEHN JETZT

SIEBZEHN JETZT

ACHTZEHN VORHER

NEUNZEHN JETZT

ZWANZIG JETZT

EINUNDZWANZIG VORHER

ZWEIUNDZWANZIG JETZT

DREIUNDZWANZIG JETZT

VIERUNDZWANZIG VORHER

FÜNFUNDZWANZIG JETZT

SECHSUNDZWANZIG JETZT

SIEBENUNDZWANZIG JETZT

ACHTUNDZWANZIG VORHER

NEUNUNDZWANZIG JETZT

DREIßIG JETZT

EINUNDDREIßIG JETZT

ZWEIUNDDREIßIG VORHER

DREIUNDDREIßIG JETZT

VIERUNDDREIßIG JETZT

DANKSAGUNG

ÜBER DIE AUTORIN

EINS VORHER

Die Tür klickt leise, als ich den Hausschlüssel im Schloss drehe. Es ist kein lautes Geräusch, aber für Bo reicht es aus. Als ich eintrete, sitzt er bereits mit über den Boden wedelndem Schwanz im Gang, direkt hinter der Glastür, die den Gang von unserem Eingangsbereich trennt. Ich schließe die Haustür hinter mir und öffne die Glastür, damit Bo mich begrüßen kann. Tapsig kommt er auf mich zugelaufen und lässt sich kurz von mir sein langes, schwarzes Fell kraulen. Bo ist unser fünf Jahre alter, treuer Flat Coated Retriever und der beste Freund auf der Welt. Zumindest ist er dieser Meinung, weshalb alle meine anderen, zweibeinigen Freunde jedes Mal von ihm eingehend beschnüffelt und mit teils sehr skeptischen Blicken begutachtet werden. Obwohl meine Eltern ihn gekauft haben und für sämtliche Haltungskosten aufkommen, behaupte ich gerne, dass Bo mein Hund sei. Ja, er liebt uns alle, aber nur ich werde so fröhlich an der Tür begrüßt. Und nur ich werde auch so schweren Herzens und laut jaulend verabschiedet, wenn ich gehe – so wie heute Morgen, als ich zu meinem Vorstellungsgespräch aufgebrochen bin und Bo mit seinem Geheule eher einem Wolf als einem Hund ähnelte.

«Na, mein Kleiner? Hast du einen schönen Tag gehabt?», frage ich und streichle Bo zwischen den Ohren, während ich gleichzeitig versuche, mit der freien Hand meine Schnürstiefeletten aus braunem Leder auszuziehen. Ich schwanke bedenklich auf einem Bein und ziehe kräftig mit der freien Hand an meinem in die Luft gestreckten Fuß. Als der Schuh mit einem Ruck nachgibt und meinen Fuß freilässt, macht Bo ein grunzendes Geräusch, das ich als ein «Ja» auf meine Frage deute. Ich werde auch die zweite Stiefelette los und befördere beide umständlich in das Schuhregal, bevor Bo auf die Idee kommen kann, mit ihnen «Zerkau-das-Leder» zu spielen. Schließlich ziehe ich den Mantel aus, den ich heute früh noch zuhause lassen wollte, der auf dem Fußweg von der Bushaltestelle zur Universität aber meine Rettung war. Es ist Mitte Februar, und obwohl der letzte Schnee bereits einige Wochen her ist, weht weiterhin ein sehr kalter Wind.

Bo folgt mir, als ich in den Gang trete und die Glastür hinter uns schließe. Bo sieht enttäuscht aus, aber mit den Schuhen werde ich lieber kein Risiko eingehen.

Aus der Küche dringt ein herrlicher Duft nach Kräutern und angebratenen Zwiebeln. Das Klappern von Geschirr vermischt sich mit den Stimmen meiner Eltern. Als ich in die Küche komme, sehe ich meine Mutter am Herd stehen und Gewürze in einen dampfenden Topf streuen. Sie hat mir den Rücken zugewandt und spricht mit meinem Vater, der an eine der Arbeitsplatten gelehnt Gemüse für einen Salat schneidet. Das Gesicht meines Vaters hellt sich auf, als er mich im Türrahmen stehen sieht.

«Lysa, du bist ja schon da!», sagt er erfreut. Er hat ein warmes Lächeln, das kleine Fältchen um seine braunen Augen entstehen lässt. Mein Dad ist der beste Vater der Welt. Er hat mir und meinem Bruder nicht nur das Fahrradfahren beigebracht und uns mit unseren Hausaufgaben geholfen, wenn wir in der Schule mal Schwierigkeiten hatten, sondern uns auch geduldig Fahrstunden gegeben. Dass vor allem ich dabei mehrfach beinahe sein Auto zu Schrott gefahren hätte, hat er ruhig und gelassen hingenommen und nur gemeint, so würde ich es zumindest lernen.

Meine Mutter dreht sich überrascht zu mir um. «Lysa, ich dachte, du kommst heute erst später. Wir sind noch gar nicht fertig mit dem Kochen!» Ich versuche, einem versehentlichen Hieb mit dem Kochlöffel auszuweichen, mit dem sie unbedacht in der Luft herumfuchtelt, während sie mich umarmt.

«Hey Mom, hey Dad», sage ich und lächle meinem Vater über die Schulter meiner Mutter hinweg zu. «Ja, das Gespräch ging schneller als gedacht und ich konnte schon früher gehen.»

Dad nickt interessiert. «Wie lief es denn?»

Bevor ich antworten kann, lässt Mom mich los und sieht mich begeistert an. «Wir wollen alles hören! Warst du sehr nervös? Was haben sie gefragt? Hast du schon eine Rückmeldung bekommen? Sie haben dich bestimmt geliebt, oder?»

Nur wer genau hinhört, kann den ganz feinen Akzent wahrnehmen, der die Worte meiner Mutter begleitet. Sie ist ursprünglich Engländerin und somit auch der Grund dafür, dass mein Bruder und ich englische Namen tragen. Jason und Lysa. Mein Name ist eine seltene Abwandlung von «Lisa». Früher hat es mich geärgert, dass er oft falsch ausgesprochen wurde, doch mittlerweile bin ich es gewohnt, die Leute gleich darauf hinzuweisen, dass man ihn «Laisa» ausspricht. Abgesehen von unseren Namen verdanken wir meiner Mutter auch, dass wir mit «Mom» und «Dad» aufgewachsen sind statt mit «Mama» und «Papa». Mom hatte mit einundzwanzig Jahren ein Auslandssemester in Deutschland gemacht, bei dem sie meinen Vater kennenlernte und sich in ihn und sein Land verliebte. Sie entschied sich, in Deutschland zu bleiben und einige Jahre später heirateten die beiden. Mittlerweile lebt meine Mutter bereits seit mehr als 27 Jahren in Deutschland, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bremen, und ist sogar seit vier Jahren offiziell eingebürgerte Deutsche mit deutschem Ausweis und doppelter Staatsbürgerschaft.

Ich gehe durch die Küche und stemme mich auf die Arbeitsplatte hoch, sodass ich dort sitzen und mit den Füßen baumeln kann. «Es lief wirklich gut», sage ich und spüre, wie mich erst jetzt die Aufregung der letzten Tage loslässt und mich stattdessen ein Gefühl der Erleichterung durchströmt. Wochenlang hatte ich mich auf mein Vorstellungsgespräch an einer der renommiertesten Musikakademien des Landes vorbereitet. Heute war es endlich so weit. Frisch geduscht und hübsch gemacht fuhr ich nach Bremen und stellte mich der Rektorin und einigen Dozenten der Akademie vor. Ich hätte mich sicherlich auch noch an anderen Universitäten bewerben und vorstellen können, aber es war schon immer mein Traum, in Bremen Musik zu studieren. Welcher Ort könnte sich denn besser für ein Musikstudium eignen als eine Stadt, die vier musizierende Tiere als Wahrzeichen hat? Meine Begeisterung war dementsprechend riesig, als vier Wochen nach dem Einsenden meiner Bewerbung letzte Woche endlich der Brief mit der Einladung zum Vorstellungsgespräch im Briefkasten lag.

Mom geht zurück zu ihrem Topf und beginnt darin zu rühren, während sie mich erwartungsvoll ansieht. «Details?», fragt sie und zwinkert mir zu.

«Es war super!», sage ich und schiebe mir ein Stück Tomate vom Schneidebrett meines Dads in den Mund, das saftig und irgendwie überraschend süß schmeckt. «Zuerst haben sie mich ganz viel gefragt. Wo ich herkomme und wie meine Familienverhältnisse sind, und dann ging es viel um meine Zukunftsziele. Was ich mal werden will, ob ich glaube, dass ich es schaffen werde, meine Ziele zu verwirklichen, und warum.»

Ich spüre, wie mich nach dem ersten Bissen Gemüse nun richtiger Hunger überkommt, und mir fällt ein, dass ich vor Aufregung den ganzen Tag außer einem Smoothie und einem halben Donut noch nichts zu mir genommen habe. Schnell nehme ich ein weiteres Stück Tomate und schiebe es dem ersten hinterher, während mein Magen bereits grummelnd nach einem weiteren Stück verlangt.

Dad sieht mich lachend an. «Hör auf zu naschen, sonst hast du ja gleich keinen Hunger mehr, wenn es Essen gibt, Lysa.»

Ich strecke ihm die Zunge heraus und klaue hastig ein drittes Stück Tomate, bevor er mir das Brett wegzieht und das restliche geschnittene Gemüse in eine Schale schiebt, die vor ihm steht. Er dreht sich wieder zu mir um. «Haben sie auch die gefürchtete Frage gestellt?»

Ich seufze theatralisch. «Ja», sage ich und ahme den näselnden Duktus der Rektorin nach, mit der ich heute gesprochen habe, indem ich mir die Nase zuhalte und gepresst spreche. «Lysa, wieso glauben Sie, dass Sie gerade hier in dieser Universität gut aufgehoben wären? Warum sollten wir gerade Sie bei uns aufnehmen?» Meine Eltern lachen.

«Und was hast du geantwortet?», fragt Mom und schaltet den Ofen ein.

«Ich habe gesagt, dass ich mir schon immer gewünscht habe, an der Akademie Musik zu studieren. Dass die Musik mein Ein und Alles ist und ich schon Geige spiele, solange ich denken kann. Und dass ich hart arbeiten werde, um der Universität Ehre zu machen.»

Dad nickt zufrieden, aber Mom schüttelt gespielt bestürzt den Kopf. «Aber wir haben das doch besprochen, Sweetheart. Du solltest doch antworten, dass deine Eltern sagen, du seist das beste und talentierteste Kind der Welt, und dass die Akademie ziemlich blöd wäre, dich nicht zu nehmen.»

Ich lache und Mom stimmt mit ein. «Du spinnst», sage ich und grinse sie an.

«Ich?», sie sieht mich empört an, lacht aber. «Nur weil ich weiß, dass ich dafür verantwortlich bin, das wunderbarste, talentierteste und schönste Kind der Geschichte in die Welt gesetzt zu haben?»

Dad räuspert sich vernehmlich. «Schatz, lass uns bitte meinen Anteil an diesem Erfolg nicht vergessen.»

Mom lacht erneut. «Na gut, du hast auch ein bisschen mitgewirkt», sagt sie. «Die Füße und der Orientierungssinn. Das waren deine Aufgaben und die hast du gut gemacht.» Sie zwinkert ihm neckisch zu.

Dad schüttelt lächelnd den Kopf. «Wie großzügig von dir, mir diese Erfolge zuzugestehen.» Ich verdrehe lachend die Augen als Bo plötzlich zu Bellen beginnt.

Dad sieht auf. «Ich glaube, Jason ist da.» Er geht aus der Küche, Bo hinterher. Kurz darauf hören wir ihn lachen und mit jemandem reden.

Als mein Dad zurückkommt, folgt ihm mein Bruder Jason in die Küche. Jason, der mit seinen 24 Jahren gut vier Jahre älter und zwei Köpfe größer ist als ich, sieht mir ansonsten ziemlich ähnlich. Wir haben dieselben braunen Augen unseres Vaters, die gleiche kleine Nase, die ein wenig knubbelig aussieht, und die identische braune Haarfarbe unserer Mutter. Allerdings sind meine Haare lang und glatt, während Jason seine als sehr kurz geschorene Stoppeln trägt. Jason war schon immer mein Held und ist es heute noch. Ich glaube, dass sich die meisten Geschwister im Großen und Ganzen gut verstehen, aber mein Bruder würde für mich wahrscheinlich durchs Feuer gehen. Meine Mom erzählt gerne, dass Jason, an dem Tag, als er erfuhr, dass er großer Bruder wird, sein Kinderzimmer zur Hälfte leerräumte, damit ich, das kleine Geschwisterchen, das auf dem Weg war, auch Platz hätte. Dafür packte er sogar große Teile seines Spielzeuges in Kisten und verkündete dann, dass er sein Zimmer gerne teilen würde, weil er dann immer auf mich aufpassen könne. Obwohl ich ein eigenes Zimmer bekam, hielt Jason seinem Versprechen stand und passte immer auf mich auf. Er las mir abends Bilderbücher vor, sah nach, ob Monster unter meinem Bett lauerten und bastelte mir die tollsten Spielsachen. Obwohl seine Pubertät irgendwann einsetzte, nahm er sich immer noch die Zeit mit mir zu spielen oder mir mit meinen Hausaufgaben zu helfen. Er ist mir unglaublich wichtig, doch manchmal befürchte ich, dass ich ihm das zu wenig sage und seinen unermüdlichen Einsatz für mich zu oft für selbstverständlich halte.

Jason begrüßt unsere Mutter mit einem Kuss auf die Wange und umarmt anschließend mich.

«Hallo Schwesterherz. Rate mal, wen ich in der Stadt getroffen habe?»

Ich hebe die Augenbrauen, doch bevor ich einen Tipp abgeben kann, beantwortet Jason seine Frage selbst: «Unsere Fast-Schwester Tara.»

Schon seit ich denken kann, ist Tara meine beste Freundin. Wir gingen gemeinsam in den Kindergarten und später in dieselbe Klasse. Tara und ich haben alle Phasen des Erwachsenwerdens zusammen durchgemacht, angefangen bei Prinzessinnenkleidern über erste BH-Käufe bis hin zum ersten Herzschmerz und den Abiturprüfungen. Da sich Taras Eltern vor einigen Jahren scheiden ließen und sie keine Geschwister hat, war sie jahrelang fast täglich bei uns und wuchs im Grunde mit Jason und mir zusammen auf. Das ist auch der Grund, warum er sie unsere FastSchwester nennt – sie gehört einfach zur Familie.

«Ja, sie hat erwähnt, dass sie in die Stadt wollte», nicke ich.

«Wir haben nur kurz gesprochen, weil wir beide im Stress waren, aber ich soll dir liebe Grüße ausrichten und dir sagen, dass sie die nächsten Tage gerne telefonieren würde.» Ich nicke erneut und nehme mir vor, Tara nachher noch zu schreiben. Wir haben uns schon zu lange nicht gesprochen, geschweige denn gesehen.

«Lysa, könntest du Mom kurz mit den letzten Essensvorbereitungen helfen? Ich würde gerne kurz mit Dad mein Auto ansehen, das macht schon den ganzen Tag Probleme.» Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht Jason sich um und verschwindet aus der Tür, Dad und Bo ihm nach. Während ich zum Kühlschrank gehe und nach Zutaten für ein Salatdressing suche, rührt Mom schweigend in ihrem Topf, dann sieht sie mich von der Seite an. «Bist du sehr erschöpft von deinem aufregenden Tag heute?», fragt sie.

«Es geht schon», sage ich. «Es war schon aufregend, aber es lief ja gut und deswegen fühle ich mich auch gut!»

«Ich bin so unglaublich stolz auf dich, Lysa!»

Ich schließe den Kühlschrank und gehe zu ihr, um sie kurz in die Arme zu schließen. Sie legt ihre Arme um mich und hält mich liebevoll fest.

«Ich bin so froh, dass ich dich habe, Mom», murmele ich und küsse sie auf die Wange, einfach weil ich mich gerade danach fühle.

«Und ich erst, dass ich dich habe», sagt sie und streicht mir sanft über den Rücken. «I love you so much, Sweetheart.»

Sie riecht nach Zimt und ihrem Erdbeershampoo. Sie riecht nach zuhause. «I love you, too», erwidere ich die Worte auf ihrer Muttersprache, dann löse ich mich von ihr, um den Salat fertig zu machen.

Nachdem ich den Tisch im angrenzenden, offenen Ess- und Wohnzimmer gedeckt und die Salatsoße gemischt habe, rufe ich nach draußen, dass es nun Essen gibt und kurz darauf kommen die beiden Männer herein. Wir setzen uns zu Tisch und meine Mom verteilt Essen an uns alle. Während des Essens jammert Jason über sein Auto, dessen Anlasser offensichtlich nicht mehr richtig funktioniert. Dad nimmt begeistert an dem Gespräch teil und steuert verschiedene Vorschläge bei, welche Möglichkeiten es gäbe, das Problem zu lösen und das Auto wieder in einwandfreien Zustand zu bringen. Mom und ich versuchen, der Unterhaltung zu folgen, steigen aber aus, als sie beginnt, sich in Richtung Formel 1 und der neusten Rennwagenmodelle zu drehen. Stattdessen reden wir parallel noch ein wenig über mein Vorstellungsgespräch für die Musikakademie und über Moms Tag in der Arbeit, einem Kindergarten für Kinder mit Behinderungen.

«Das war doch wieder mal ein sehr gutes Abendessen,» sagt Dad, als die Teller leer und wir alle satt sind. Er haucht Mom einen Kuss zu. Jason nickt und sieht zu mir. «Lysa, was machst du die nächsten Tage?», fragt er.

«Ich gebe ein paar Mal Geigenunterricht, aber sonst habe ich nicht viel vor, wieso?»

«Die Jungs und ich treffen uns in den nächsten Tagen hier bei uns und da wäre es super, wenn du nicht gerade Geigenunterricht gibst.» Er grinst schief.

«Dad und ich haben vorhin mit Oma telefoniert und würden sie morgen besuchen fahren», wirft meine Mutter ein. «Möchtest du vielleicht mit, Lysa?»

Da heute Freitag ist und meine nächste Geigenstunde erst am Montag stattfindet, stimme ich zu. Ich habe Oma sowieso schon viel zu lange nicht mehr gesehen.

Mom steht auf und beginnt, den Tisch abzuräumen, woraufhin auch wir anderen uns von unseren Stühlen erheben und das dreckige Geschirr und die Töpfe in die Küche zu tragen. Mom nimmt mir das Geschirr ab, das ich gerade in die Spülmaschine räumen wollte und zwinkert mir zu. «Sweetheart, ich mache das schon. Du hast einen langen Tag hinter dir, auch wenn du sagst, dass du es nicht merkst. Ruh dich aus. Wir kümmern uns schon um den Abwasch, stimmt's Jason?» Sie stößt Jason sanft mit dem Ellbogen in die Seite. Jason protestiert lautstark, aber Mom scheucht mich mit einem kurzen Zucken ihres Kinns aus der Küche.

Ich lache aufgrund ihrer strengen, aber liebevollen Anweisung, der niemand widersprechen kann, und verschwinde die Treppe hoch in mein Zimmer.

Wie schön, Teil einer so liebevollen Familie zu sein.

ZWEI JETZT

Der Teppich, der sich auf dem Boden unter mir ausbreitet, ist bunt gemustert. Gelb, Rot, Orange, Blau und Grün. Die Farben tauchen in verschiedenen Formen und Arten auf. Ich sehe einige Punkte, manche in der Größe eines Nadelkopfes, andere so groß wie Tennisbälle. Dazwischen verschiedene Linien, gerade und gebogene, die sich um die Punkte schlingen und sie wie Ranken miteinander verbinden. Ich mustere die Farben genauer. Rosa sehe ich nicht. Weder als Punkt noch als Linie. Wieso ist denn kein Rosa auf dem Teppich? Rosa ist doch eine hübsche Farbe. Sie erinnert an Frühling und kleine Babys. Frühling ist schön, und Babys sind süß. Warum also kein Rosa? Was hat sich der Hersteller nur dabei gedacht? Jeder Teppich sollte Rosa beinhalten. Es sollte ein Gesetz geben, nach dem ein Teppich die Farbe Rosa aufweisen muss.

«Lysa?»

Ich blicke nicht auf, als ich meinen Namen höre. Die Stimme klingt nett, sie ist warm und freundlich. Vor meinem inneren Auge taucht das Gesicht zur Stimme auf. Ein spitzes Kinn, hohe Wangenknochen, ein ordentlicher Haarknoten und eine rote Brille auf der geraden, etwas zu großen Nase. Ich starre weiter auf den Teppich, der nicht die Spur von Rosa enthält, und versuche, die Stimme meiner neuen Therapeutin auszublenden. Da es in etwa das zehnte Erstgespräch für einen Therapieplatz ist, bin ich mittlerweile ganz gut darin geworden.

«Lysa. Bitte beantworte die Frage.»

Ich drehe den Kopf fast unmerklich und stelle fest, dass die Muster auf dem Teppich aus diesem Winkel anders aussehen. Das Grün hebt sich nun stärker ab und erinnert an Pflanzen, die in einem Urwald, wachsen und von denen sich Tarzan jeden Moment hinabschwingen könnte. Früher hätte mich dieser Gedanke belustigt. Jetzt spüre ich gar nichts.

«Ich habe dich gefragt, wie es dir heute geht», sagt meine Therapeutin und wiederholt damit die Frage, die sie mir offenbar schon vor einigen Minuten gestellt, auf die sie aber keine Antwort von mir gekriegt hat.

Ich bin durch die Gedanken an Tarzan kurz abgelenkt gewesen, und so dringt die Frage ungewollt zu mir durch, statt an meiner in den letzten Monaten so mühevoll aufgebauten Schutzmauer abzuprallen. Wie es mir geht? Ernsthaft? Was ist denn das für eine beschissene Frage? Wie soll es mir schon gehen? Genauso, wie es mir auch die ganzen letzten Monate schon ging. Es geht mir so elend, dass ich es nicht einmal als einen Zustand beschreiben würde. Es geht mir gar nicht. Am Anfang spürte ich tagelang nur Trauer. Trauer, die all meine Lebensfreude und meine Hoffnung auf Besserung zerstörte. Dann mischte sich Wut dazu, die mich von innen heraus auffraß und nichts übrigließ. Wut auf Gott und die Welt, auf die Ungerechtigkeit und die Situation, aber vor allem Wut auf mich selbst. Die Wut wurde zu Hass, und schließlich war das Einzige, was nach der Trauer, der Wut und dem Hass übrigblieb, eine klaffende, schwarze Leere. Ich bin leer. Es ist nichts von mir übrig, dem es gut oder schlecht gehen könnte. Ich bin eine Hülle, die nur noch vage an die Person erinnert, die vor knapp 150 Tagen noch eine Familie und ein Leben hatte.

Nach dem Elend, das ich durchlitten hatte, war die Leere mir willkommen. Sie war wie ein Geschenk, sie brachte Erleichterung und ließ den Schmerz gedämpfter wirken. Allerdings weiß ich nur zu genau, dass die Leere nicht unbesiegbar ist. Zu leicht kann der Schmerz zurückkommen und mit ihm die Trauer und die Wut. Aber ich habe keine Kraft mehr. Und keinen Willen. Ich möchte nichts mehr fühlen. Ich möchte einfach nur in der Leere alles andere vergessen. Sie ist das Einzige, was meinen Körper am Leben hält. Würde der Schmerz zurückkommen, wäre ich nicht mehr in der Lage, weiterzuleben. Davon bin ich überzeugt.

Ich kann das nicht noch einmal ertragen. Ich kann nicht.

Bei diesen Gedanken spüre ich tief in mir ein leises Stechen, das ich kenne und das mir nicht willkommen ist. Schnell konzentriere ich mich wieder auf den Teppich. Wenn ich die Augenbrauen ein winziges Stück hebe, erinnern die verschieden großen, roten Punkte an Luftballons, die vor einem bunten Himmel schweben.

«Lysa», sagt die Therapeutin sanft. «Ich möchte dir helfen und ich kann dir helfen. Aber ich kann es nur, wenn du mir hilfst. Sprich mit mir. Dann finden wir einen Weg, wie es dir bessergehen kann.»

Einen Weg, wie es mir bessergehen kann. Der Satz scheint in meinem Gehirn nachzuhallen. Ich bin sicher, dass sie nur helfen will. Es ist ihr Job, Menschen zu helfen und sie macht ihn sicher gut. Nur weiß sie leider nicht, dass sie bei mir ihre Zeit verschwendet. Man kann niemandem helfen, es kann niemandem bessergehen, der innerlich tot ist. Und ich bin bereits an dem Tag gestorben, an dem ich alles verloren habe.

Ich kneife ein Auge zu, wodurch die blauen Punkte auf dem Teppich aussehen wie kleine Fische in einem großen, bunten Meer. Ein bunter Himmel und ein buntes Meer. Was für ein absurder Teppich. Ob der Hersteller wusste, woran seine Webmuster erinnern?

«Dir gefällt der Teppich, nicht wahr?», fragt die Frau. Offensichtlich versucht sie nun eine andere Taktik um mich aus der Reserve zu locken. «Deine Eltern ... dein Vater war Maler, oder? Er hätte die Farben sicher auch gemocht.»

Netter Versuch, aber zwecklos. Bevor das Stechen in meinem Bauch und meiner Brust weiter zunimmt, die Schutzmauer in meinem Inneren weiter einreißen kann, stehe ich auf, nehme meine Tasche von der Stuhllehne und verlasse, wie bei den zehn Therapeuten zuvor schon, das Zimmer, ohne die Frau eines Blickes zu würdigen. Ich kann das nicht.

Oma sitzt direkt vor dem Praxisgebäude auf einer Bank und wartet auf mich. Die blaue Bank bildet einen starken Kontrast zur roten Strickjacke meiner Großmutter, die sie über einem knöchellangen braunen Rock trägt. Ihre Haare sind zu einem kurzen Zopf geflochten. Die Brille auf der Nasenspitze, blickt sie konzentriert in eine Zeitung. Als sie die Tür der Praxis hört, die hinter mir geräuschvoll ins Schloss fällt, blickt sie auf, erhebt sich und sieht mich aufmerksam an.

«Na, mein Liebling? Wie war es?», fragt sie vorsichtig, während sie ihre Zeitung in ihre Handtasche steckt und sich zur Bushaltestelle wendet. Da ich etwa fünfundzwanzig Minuten früher aus der Therapiesitzung gekommen bin als geplant, muss sie wissen, dass es wieder einmal nicht so lief, wie sie und Jason es sich wünschen. Trotzdem muss man ihr zugutehalten, dass sie mich nicht sofort verurteilt oder maßregelt. Oma ist vorläufig bei uns eingezogen. Ich denke, sie wollte die Leere im Haus füllen, die meine Eltern hinterlassen haben, und gleichzeitig ein Auge auf mich und Jason haben. Sie kocht für uns, kümmert sich um die Wäsche und den Haushalt und versucht, das Haus weiterhin unser Zuhause sein zu lassen, obwohl es das seit jenem Tag nicht mehr ist. Zumindest nicht auf dieselbe Art wie vorher.

Gemeinsam überqueren wir die Straße, auf der aufgrund der Uhrzeit nur wenige Autos fahren, und gehen die wenigen Meter bis zur Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. Wir schweigen, bis kurz darauf der Bus kommt, und steigen ein. Oma zeigt unsere Tickets vor, während ich mich bereits auf einen der Sitze fallen lasse. Einige der anderen Fahrgäste, vor allem die älteren Herrschaften, werfen mir missbilligende Blicke zu. Ich trage eine schmuddelige Leggins und darüber Dads viel zu großes Holzfällerhemd. Dazu habe ich seit mehreren Tagen nicht mehr geduscht oder die Haare gekämmt, weshalb diese strähnig und vollkommen verknotet lasch an mir herabhängen. Ich bin ungeschminkt, weshalb auch die zerbissenen Lippen und dunklen Augenringe deutlich sichtbar sind, die meine beinahe komplett schlaflosen Nächte bezeugen. Ich spüre die Blicke der Gäste im Rücken und kann sie verstehen. Ich muss aussehen und riechen wie der letzte Penner, aber es ist mir egal. Ich finde nur noch selten die Kraft, mich aufzuraffen und zu duschen, geschweige denn, mich mit Schminke hübsch zu machen. Ich habe auch keinen Grund dafür. Mein Leben findet in den letzten Wochen in meinem Zimmer und ab und an in der Praxis eines der Therapeuten statt, zu denen Oma mich schleppt, bei denen ich aber nie weitergekommen bin als bis zum Erstgespräch.

Oma versucht während der Busfahrt noch mehrfach, mich zum Reden zu bringen, aber ich habe in den letzten Monaten gelernt, sie und Jason auszublenden. Ihre Worte bringen nur immer wieder die Trauer hervor und ich bin zu erschöpft, um diese weiter zu empfinden. Stattdessen lasse ich mich tiefer in die Leere fallen, die so wunderbar frei von Gefühlen und Emotionen ist. Als wir eine halbe Stunde später zuhause ankommen, die Endhaltestelle der Buslinie liegt nur fünf Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt, geht die Haustür auf und Jason und Bo kommen heraus. Bo läuft auf mich zu und ich streiche ihm über das Fell. Ich glaube, er ist der Einzige, der mich versteht. Er lässt mich in Ruhe und bedrängt mich nicht ständig mit Vorschlägen, was ich tun und lassen soll. Er akzeptiert mich und ist für mich da, wenn ich ihn brauche. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein und Bo verurteilt mich in seinem Hundekopf genauso wie die anderen. Aber immerhin kann er es mir nicht andauernd ins Gesicht sagen, und das ist eine Erleichterung. Seine Gesellschaft ist die Einzige, die ich noch gerne habe.

Jason sieht mich hoffnungsvoll an. «Wie war die Therapie?»

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Oma auf seinen fragenden Blick hin leicht den Kopf schüttelt, während ich an Jason vorbei ins Haus und direkt in mein Zimmer gehe.

Man sagt, das Zimmer eines Menschen sei ein Fenster in sein inneres Wesen. Wie passend also, dass mein Zimmer abgesehen von den Möbeln vollkommen leer ist. Ich habe alle Bücher in Kisten geräumt und auf den Dachboden gebracht, die Bilder und Plakate abgehängt, die mich früher mit meiner Familie und meinen Freunden zeigten, und sämtliche Dekoration wie Kerzen, Kuscheltiere und Andenken an Ausflüge und Urlaube verstaut. Ich konnte es nicht ertragen, tagtäglich daran erinnert zu werden, was ich verloren habe. Übrig geblieben sind mein Bett, mein Schrank, in dem nur noch ein paar wenige Kleidungsstücke liegen, und einige leere Regale, die von einer feinen Staubschicht überzogen sind.

Ich lege mich auf mein Bett und starre an die Decke. Es klopft an der Tür. Ohne auf eine Antwort zu warten, die er sowieso nicht bekommen hätte, tritt mein Bruder ein und schließt die Tür hinter sich. Die Geräusche hallen in dem leeren Raum seltsam laut nach. Das Quietschen der Tür in den ungeölten Angeln und Jasons Schritte, mit denen er langsam durch das Zimmer geht und sich zu mir auf die Bettkante setzt. Ich weiß, was jetzt kommt. Ich kenne die Ansprachen beinahe auswendig, die er mir seit Monaten hält. Und tatsächlich, er lässt nicht lange auf sich warten.

«Lysa. So geht es nicht weiter.» Jason seufzt schwer und fährt sich mit der rechten Hand durch sein Haar, das im vergangenen Jahr länger geworden ist und unordentlich zu allen Seiten absteht. «Es ist beinahe ein halbes Jahr her und ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich strenge mich so an, um dir zu helfen, aber du lässt mich nicht. Was soll ich denn tun?»

Ich sehe ihn nicht an, sondern mustere weiter die Decke. Leider bietet diese bei weitem keine so gute Ablenkung, wie der Teppich in der Praxis der Therapeutin, weshalb ich durch die Leere in mir seine Worte höre und aufnehme.

«Hör einfach endlich auf, dich anzustrengen. Das ist der Fehler. Ihr wollt mir so unbedingt helfen, dass ihr nicht seht, dass mir nicht zu helfen ist. Ihr wollt so dringend die alte Lysa zurück, dass ihr nicht erkennt, dass die gestorben ist. Vor Monaten.» Meine Stimme klingt hohl und monoton. Als würde ich über jemanden sprechen, den ich nicht kannte, von dessen tragischer Lebenswendung ich in der Zeitung gelesen hätte.

Jason sieht mich an, und als ich ihm doch einen Blick zuwerfe, sehe ich die Verzweiflung auf seinem Gesicht. Er seufzt und greift nach meiner Hand. Ich ziehe meine Finger nicht weg, als er sie sanft berührt, spüre die Berührung aber kaum, da meine Finger sich taub anfühlen.

«Du fühlst dich vielleicht tot, Lysa. Und ich verstehe das. Aber du hast überlebt. Du hast verdammt noch mal eine zweite Chance bekommen und du verschwendest sie.» Er kneift die Augen zusammen und drückt meine Hand.

Ich spüre, wie die Trauer in mir aufkommt. Wie ein schwarzer Nebel breitet sie sich in meiner mühsam aufrecht erhaltenen Leere aus und droht, mich zu überschwemmen. «Ich scheiße auf eine zweite Chance, Jason», flüstere ich und höre, wie meine Stimme einen Hauch zerbrechlicher klingt als noch vor wenigen Minuten. Gleichzeitig spüre ich, wie die Mauer, mein Schutzwall, ein wenig bröckelt. «Ich habe keine zweite Chance gewollt. Ich habe keine zweite Chance verdient.»

Jason zieht seine Hand von meiner zurück. «Nein, Lysa, du hast sie erst durch die Entscheidungen, die du momentan triffst, nicht mehr verdient!»

Seine Worte verletzen mich. Sie treffen mich wie eine Ohrfeige und ich setze mich ruckartig auf. Jason hat noch nie geäußert, dass er mir mein Überleben übelnimmt. Doch in seinen Worten glaube ich genau diesen Vorwurf zu hören, vor dem ich mich, seit ich im Krankenhaus aufgewacht bin, so fürchte. Den Vorwurf, den ich mir seit jenem Tag in jeder wachen Minute selbst mache, und der mich auch nachts nicht schlafen lässt.

Jason, der meine Reaktion gesehen hat, wartet nicht, bis ich mich zu einer Antwort durchgerungen habe. Mit ernstem Blick sieht er mich an und fährt fort.

«Du wirfst alles weg. Du wirfst dein Leben weg. Glaubst du, sie hätten das gewollt?» Das Gefühl der Trauer in mir verwandelt sich schlagartig in Wut. Wie kann er es wagen, sie als Argument gegen mich zu verwenden? Wie kann er es wagen, zu behaupten, er wüsste, was sie gewollt hätten?

«Weißt du, was sie nicht gewollt hätten?», fahre ich Jason an und versuche die aufkommenden Tränen herunterzuschlucken. «Den Tod. Das hätten sie nicht gewollt. Das haben sie nicht gewollt. Und hat das irgendetwas geändert?»

Jason kneift die Lippen fest zusammen und nun sehe ich Tränen in seinen Augen aufsteigen.

«Lysa ...», setzt er mit brüchiger Stimme an, doch ich unterbreche ihn.

«Was sie gewollt hätten, wäre, dass ihre Kinder verdammt noch mal um sie trauern, Jason. Und sie somit in Ehren halten. Aber ich bin hier die Einzige, die das tut. Du trauerst nicht um sie, so wie sie es verdient hätten. Dir ist das doch alles scheißegal. Dauernd hältst du mir Moralpredigten, dabei bist du es, der sie verdammt noch mal im Stich lässt, weil du dein

Leben weiter lebst, als wäre nichts passiert. Weil du sie einfach vergisst.»

Ich schnaufe und spüre, wie nun doch Tränen in meine Augen schießen und mir dann heiß über die Wangen laufen. Ich sehe Jasons erschrockenen Gesichtsausdruck, der kurz darauf einem verletzten weicht. Sofort fühle ich ein schlechtes Gewissen in mir aufkeimen. Noch ein bekanntes Gefühl: Schuld. Ich weiß gar nicht genau, warum ich ihm diese schrecklichen Dinge an den Kopf geworfen habe. Ich weiß nur, dass es mir hilft, mit meinen eigenen Schuldgefühle klarzukommen, wenn ich Jason Vorwürfe mache. Und ein Körnchen Wahrheit steckt auch in meinen Worten. Ich weiß, dass Jason trauert, aber er hat die ganze Situation viel besser und leichter weggesteckt als ich, die sich kaum auf den Beinen halten kann. An manchen Tagen, so wie heute, schaffen Jason und Oma es, mich aus dem Bett und in eine Praxis zu schleppen. An anderen Tagen aber, den meisten Tagen in den letzten Wochen, spüre ich die Verzweiflung so sehr, dass ich es gar nicht schaffe, mein Bett, geschweige denn mein Zimmer zu verlassen. Das Einzige, was ich über mich bringe, ist es, im Bett zu liegen und an die Decke zu starren und dabei alle Gedanken an mein früheres Leben wegzuschieben. Sie ganz tief und weit hinter der Mauer zu vergraben, die ich um mich errichtet habe, und sie möglichst nie wieder hinauszulassen. So hangle ich mich von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag.

Jason ist anders. Er ist nicht zusammengebrochen, so wie ich. Ich beneide ihn beinahe um seine Kraft und den Willen, weiterzumachen und trotz allem stark zu bleiben. Für sich, aber vor allem für Oma und mich. Eine Kraft, die ich für immer verloren habe. Gleichzeitig bin ich wütend auf ihn, weil er weitermacht. Weil es ihm offensichtlich so leichtfällt, sein Leben weiterzuleben. Mir kommt es manchmal tatsächlich so vor, als habe er vergessen, was wir an jenem Tag verloren haben. Als ließe er mich mit dem Verlust und dem Schmerz allein. Als ließe er mich und unsere Eltern im Stich. Jason erhebt sich von meinem Bett und wendet sich ab. Er ist bereits fast an der Tür, als er sich mit der Hand an der Klinke noch einmal zu mir umdreht.

«Es ist nicht so, dass es mir leichtfällt, jeden Tag aufzustehen und zu wissen, dass ich wieder ein leeres Haus vorfinden werde. Dass sie nicht hier sind, um das Haus zu einem Zuhause zu machen. Es ist nicht leicht, und das habe ich weder gesagt noch je von dir erwartet. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Trauern und Aufgeben, Lysa. Und du hast aufgegeben. Dich, dein Leben und damit auch Mom und Dad und alles, was sie für dich getan haben.» Ich will widersprechen, aber dieses Mal unterbricht er mich, bevor ich ansetzen kann und fährt mit erhobener Stimme fort. «Du gehst nur sporadisch zu den Therapiesitzungen, nur wenn Oma und ich dich dazu zwingen», zählt er auf und seine Stimme wird zunehmend lauter. «Du machst keinerlei Fortschritte, sondern verlässt die Sitzungen frühzeitig und ohne ein Wort gesagt zu haben, weshalb du keinen Therapieplatz hast, sondern von Praxis zu Praxis geschickt wirst. Du hast den Platz an der Uni nicht wahrgenommen, der früher dein größter Wunsch war. Du spielst nicht mehr Geige und hast keinen Kontakt zu deinen Freunden. Wenigstens mit Tara könntest du reden, aber du tust es nicht. Du isst kaum und du schläfst seit Monaten nicht wirklich. Verdammt, wenn du so weitermachst, bringst du dich noch um!», schreit er fast und fährt sich mit der rechten Hand frustriert über das Gesicht. Als ich ihn nur anstarre und nichts sage, atmet er tief durch, als würde er sich sammeln. Dann blickt er zu Boden und murmelt fast mehr zu sich selbst als zu mir: «Aber wenn es das ist, was du willst, und so ist es ja offensichtlich, dann bring dich um. Aber bitte zieh uns andere nicht mit in den Abgrund, die wir versuchen, zu überleben.» Er dreht sich um und verlässt mein Zimmer, ohne einen Blick auf mich zurückzuwerfen, um zu sehen, wie ich erstarrt auf meinem Bett sitze, unfähig mich zu bewegen.

DREI VORHER

Ich liege in meinem Bett und starre auf das Buch in meiner Hand. Ich habe dieselbe Seite nun bereits vier Mal gelesen, ohne die Worte wirklich zu verstehen. Ich drehe mich auf die andere Seite und versuche, mich auf die Geschichte zu konzentrieren, aber mein Geist verweigert sich. Meine Gedanken rasen und wollen nicht aufhören, sich wie ein Karussell im Kreis zu drehen. Ich versuche, tief durchzuatmen und meine Gedanken um Tara, das Vorstellungsgespräch und die Zukunft wegzuschieben, aber es hilft nicht. Erneut drehe ich mich um und richte mich ein wenig auf. Ich blicke auf den Wecker, der auf meinem Nachttisch steht. 22.02 Uhr. Ich seufze leise und lege mich zurück in die Kissen. Jetzt liege ich hier schon seit etwa einer Stunde und meine Gedanken kreisen unaufhörlich um alles, außer das Buch in meinen Händen. Kurz überlege ich, den Laptop anzuschalten und einen Film zu schauen, verwerfe die Idee aber wieder. Ablenkung von meinen Gedanken werde ich durch ein bisschen Fernsehen wahrscheinlich auch nicht finden. Ich starre wieder auf die Zeilen vor mir und versuche erneut, mein Inneres zu beruhigen und die gedruckten Worte zu sinnvollen Sätzen zusammen zu fügen. Zwecklos. Stattdessen gehe ich in Gedanken mein Vorstellungsgespräch durch und komme dabei zunehmend zu dem Schluss, dass ich die Fragen anders beantworten sollen hätte. So wird das nichts mit dem Ausruhen, geschweige denn mit dem Schlafen später.

Ich lege das Buch zur Seite, schlage die Decke zurück, schiebe die Beine aus dem Bett und stehe auf. Aus dem Schrank greife ich eine Jogginghose und einen Pullover, die ich mir schnell überziehe, dann im Dunkeln Richtung Tür. Das Licht im Flur blendet mich, und ich gebe meinen Augen ein paar Sekunden, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen.

Als ich wieder aus dem Bad komme, höre ich Geräusche von unten. Ich binde meine Haare mit einem Haargummi zusammen, den ich im Bad gefunden habe, und gehe die Treppe hinunter. An der Glastür steht meine Mom mit Bo und ist dabei, seine Leine von einem Haken an der Wand zu nehmen. Als sie meine Schritte hört, dreht sie den Kopf.

«Lysa?», fragt sie überrascht. «Was machst du denn noch hier? Ich dachte, du schläfst oder erholst dich zumindest.»

«Ich kann nicht», sage ich und beuge mich zu dem mir entgegenkommenden Bo hinunter. Er wedelt begeistert mit dem Schwanz, als ich ihm über den Kopf streichle.

«Ist alles in Ordnung?», fragt Mom, öffnet die Glastür und betritt den Vorraum, um dort nach ihren Gummistiefeln zu greifen.

«Ja», sage ich und gehe ihr mit Bo an meiner Seite nach. «Ich kann nur meinen Kopf nicht ausschalten.»

Mom schlüpft in ihre Gummistiefel und lächelt verständnisvoll. «Möchtest du Bo und mich begleiten? Wir wollten gerade noch eine kurze Abendrunde drehen. Dein Dad ist schon ins

Bett gegangen. Er muss morgen früh raus. Ich freue mich also über Begleitung.»

Ich nicke und lächle dankbar zurück. «Sehr gerne.»

Schnell schlüpfe ich ebenfalls in meine Gummistiefel und streife mir den Mantel über, während Mom sich eine Regenjacke von der Garderobe schnappt. Sie steckt ein paar Hundekekse in ihre Jackentasche und greift nach zwei Stirnlampen, die auf einem kleinen Regalbrett an der Wand liegen. Sie reicht mir eine der Lampen und ich schnalle sie mir um den Kopf. Bo sieht uns erwartungsvoll an, als Mom die Leine an seinem Halsband befestigt und kurz darauf die Haustür öffnet.

Als ich hinter Mom und Bo aus dem Haus trete, schlägt mir die nächtliche Kühle entgegen. Sofort habe ich das Gefühl, dass die frische Luft meine Gedanken beruhigt und ich endlich etwas klarer denken kann.

Bo läuft aus dem Gartentor und über die Straße, in den Wald hinein, wo wir ihn von der Leine lassen, damit er freilaufen kann. Unsere Stirnlampen werfen tanzende Lichtkegel auf den erdigen Waldboden vor uns und Bo ist nur als dunkler Schatten zwischen den Bäumen zu erkennen, der sich seinen Weg durch das Unterholz erschnüffelt.

Mom legt im Gehen einen Arm um mich und wir verlangsamen unseren Schritt, bis wir gemütlich nebeneinander hergehen.

«Möchtest du darüber reden, warum du deinen Kopf nicht frei kriegst?», fragt Mom mich leise und wirft mir einen besorgten Blick zu.

Ich zucke die Schultern. «Ich kaue andauernd das Gespräch in der Akademie heute durch und überlege, ob ich alle Fragen richtig beantwortet habe und ob ich den Platz kriegen werde.»

«Da ist aber doch noch etwas, dass dich beschäftigt.» So ist sie, meine Mutter: eine der einfühlsamsten Personen, die ich kenne, vor allem, wenn es um mich geht. Sie hasst den Begriff und würde es nie zugeben, aber wir sind das, was andere Menschen als beste Freundinnen bezeichnen würden. Unsere Beziehung geht weit über eine gewöhnliche Mutter-Tochter-Beziehung hinaus. Trotzdem würde auch ich sie nie als beste Freundin bezeichnen, dafür aber als absolut außergewöhnliche Mutter, die jederzeit für mich da ist, ob als Zuhörerin, Ratgeberin oder Vorbild. Wir stehen uns so nahe, dass es für Andere manchmal nicht nachvollziehbar ist. Schon oft habe ich mir anhören müssen, wie seltsam es sei, dass ich so offen über fast alles mit meiner Mutter rede, dass sie so viel über die Geschehnisse in meinem Leben weiß, als sei sie dabei gewesen. Es sei nicht förderlich für meine individuelle Entfaltung zur Selbstständigkeit. Ja klar, das hört sich doch schon nach Blödsinn an. Ich habe mich davon nie stören lassen, denn ich bin, wer ich bin, vor allem dank meiner Mutter. Und ein paar Menschen, die mich seltsam finden, sind es mir auf keinen Fall wert, auf die stabilste und sicherste Stütze in meinem Leben zu verzichten. Eigentlich gibt es nichts, was mir diesen Verzicht wert wäre.

«Es ist albern», sage ich, doch Mom lässt nicht locker und schließlich gebe ich nach. «Ich lese aktuell wieder einen Liebesroman und er ist wirklich gut, aber ständig denke ich darüber nach, ob ich auch jemals so etwas haben werde.» Zu meinem Ärgernis habe ich bisher nur einen Freund gehabt, den man als ernsthafte Beziehung bezeichnen kann, und das ist nun schon zwei Jahre her. Seitdem habe ich das Gefühl, dass mich jeder Typ als gute Freundin wahrnimmt, selbst diejenigen, die ich interessant fände. Ich weiß, dass ich mich nicht unter Druck setzen sollte, aber mit meinen Anfang Zwanzig habe ich doch das Gefühl, dass es jetzt langsam Zeit wäre, jemanden zu finden, mit dem ich mir eine Zukunft vorstellen kann.

Mom verdreht die Augen. «Lysa, nicht das schon wieder. Du machst dir doch nicht wirklich deswegen Sorgen, oder?»

Ich antworte nicht, weshalb Mom stehen bleibt und mich an den Schultern zu sich dreht. Sie hebt eine Hand und streicht mir eine lose Strähne aus dem Gesicht.

«Sprich mit mir», sagt sie leise und sieht mich aufmerksam an. Und plötzlich bricht es aus mir heraus.

«Was, wenn ich nie wieder jemanden finde, der mit mir zusammen sein will?», frage ich. Ich weiß, tief in mir, dass die Frage albern ist, aber ich kann nicht verhindern, dass sie mir trotzdem über die Lippen kommt. Mom und Dad waren so jung, als sie zusammengekommen sind, und unbewusst habe ich wohl immer geglaubt, dass es selbstverständlich ist, dass auch ich eine so große, einmalige Liebesgeschichte erlebe. Auch ist es nicht hilfreich, dass all meine Freundinnen, einschließlich Tara, bereits mehrere Freunde hatten und zumindest auf Dates gehen, von denen sie dann erzählen können, wenn sie nicht ohnehin in einer festen Beziehung sind. Bei mir gibt es rein gar nichts zu erzählen.

Doch Mom lacht. «Ach Lysa. Du bist zwanzig Jahre alt! Du hast doch noch so viel Zeit.»

«Aber was, wenn ich nie den Richtigen finde, den Einen, der für mich bestimmt ist? Vielleicht habe ich irgendwas gemacht, durch das ich die große Liebe nicht verdiene oder so.» Ungewollt klinge ich leicht panisch. So war ich schon immer. Ich mache mir zu viele Gedanken und gerate manchmal in eine Art Sorgenkarussell hinein, aus dem ich schwer wieder herauskomme.

Mom nimmt mein Gesicht in ihre Hände und macht ein beruhigendes Geräusch. «Lysa. Schluss mit dem Unfug», sagt sie liebevoll, aber bestimmt. «Erstens, wer sagt denn, dass es nur einen Richtigen, nur einen the one geben kann? Ich persönlich bin davon überzeugt, dass man mehrere große Lieben im Leben haben kann. Die erste Liebe gehört immer dazu, die hattest du schon. Deine erste Liebe, nicht deine Letzte. Und zweitens bist du ein wunderbarer Mensch. Du hast es verdient, das vollkommene Glück, das ganz große Paket zu bekommen, das weiß ich. Da ist ganz sicher jemand, der da draußen auf dich wartet und dich im Sturm erobern wird.» Sie zieht mich an sich und küsst mich auf die Stirn. «Du musst nur die Augen offenhalten und wenn du es am wenigsten erwartest, dann werdet ihr euch finden.»

«Danke», flüstere ich und spüre, wie meine Sorgen nachlassen.

Wenn ich unsicher bin oder traurig, wenn die Welt unverständlich scheint und ich mich hilflos fühle, dann ist alles, was ich manchmal brauche, einfach eine Umarmung meiner Mom. Nirgends auf der Welt fühle ich mich besser aufgehoben und sicherer als in ihren Armen. Nirgends habe ich das Gefühl, mehr ich selbst sein zu können, und Sicherheit, dass alles gut werden wird. In Momenten wie diesen wird mir wieder einmal klar, wie wichtig meine Mom für mich ist und wie sehr ich sie brauche. Egal, wie alt man wird, man bleibt wohl immer das Kind der Mutter. Mom dreht sich nach vorne und beginnt wieder zu gehen. Ich schließe mich ihr an.

«Weißt du, Sweety», sagt sie und ich höre ein Grinsen in ihrer Stimme. «Manchmal kann ich verstehen, warum Andere uns für verrückt halten. Dich und mich.» Ich sehe sie von der Seite an. «Wie kommst du darauf?», frage ich.

«Wir sind schon eine Ausnahme, meinst du nicht? Unser Verhältnis ist außergewöhnlich. Und das ist gut. Aber manchmal frage ich mich, ob ich mich zu sehr in dein Leben und deine Entscheidungen einmische. Ob es besser wäre, wenn ich dich manchmal ganz ohne Rat lassen würde, statt immer meine Meinung dazu zu geben.»

«Was?» Ich muss lachen. «Ich wäre ohne dich doch längst aufgeschmissen.»

Mom lächelt, sieht aber nachdenklich aus. «Aber das ist es ja. Du solltest ohne mich und meinen Rat nicht aufgeschmissen sein.»

«Mom, ich treffe meine Entscheidungen immer selbst. Das weiß ich und das weißt du. Ich brauche nur manchmal einen kleinen Schubser, um es zu tun.»

«Ja, und deswegen tauschen wir uns so viel aus. Und ich liebe das! Ich sage ja nur, dass ich nachvollziehen kann, warum andere Menschen es nicht verstehen.»

«Das ist nur, weil wir keine Fernsehserie sind. Die Beziehung von Lorelei und Rory in ‚Gilmore Girls‘ hat niemand kritisiert.»

Mom lacht. «Stimmt. Und dabei sind wir noch viel besser!»

«Aber wir essen weniger, das gibt Minuspunkte im Vergleich zu ihnen», sage ich und grinse.

«Ist ja auch unfair, wie viel die beiden essen können, ohne dicker zu werden!», empört sich Mom und mustert kritisch ihren eigenen Bauch. «Bei mir geht das nicht und ich fürchte, ich habe diesen Nachteil an dich weitergegeben.»

Wir lachen beide und gehen weiter, während wir uns über die Serie unterhalten und unsere Beziehung mit der von Lorelei und Rory vergleichen. Irgendwann ruft Mom nach Bo, der kurz darauf angerannt kommt, und wir gehen zurück nach Hause.

Drinnen streifen wir die Schuhe und Stirnlampen ab und hängen die Jacken zurück in die Garderobe.

«Ich bin noch gar nicht so müde», sagt sie. «Wollen wir noch eine Folge ‚Gilmore Girls‘ schauen? Durch unser Gespräch habe ich jetzt richtig Lust darauf!»

Ich nicke und wir gehen Richtung Wohnzimmer. Während ich mich auf das blaue Sofa setze, mich in eine der dort liegenden Decken kuschle und nach den Fernbedienungen greife, geht Mom in die Küche. Ich höre, wie sie erst den Kühlschrank öffnet, dann mit Geschirr hantiert und schließlich die Mikrowelle anschaltet. Kurz darauf kommt sie mit einem vollbeladenen Tablett durch die Tür und stellt dieses vor mir auf dem Couchtisch ab. Auf dem Tablett stehen zwei dampfende Becher heißer Schokolade mit kleinen Marshmallows drin, sowie mehrere Schalen mit verschiedenen Süßigkeiten. Ich entdecke Schokolade, diverse bunte Gummibärchen und zwei Schalen mit Stracciatellaeis, Moms Lieblingssorte.

Sie zwinkert. «Ich dachte, wir ändern besser etwas an unserem Nachteil den Gilmores gegenüber und hauen auch mal richtig rein.»

Ich nicke begeistert und schnappe mir einen Löffel vom Tablett, um mir damit einen großen Bissen Eis aus der einen Schale zu genehmigen. Während ich mir noch genüsslich das kalte Eis auf der Zunge zergehen lasse, schalte ich einen Streamingdienst ein und klicke mich durch die Angebote, bis ich die «Gilmore Girls» gefunden habe. Wir beschließen, die Serie einfach noch mal von vorne anzufangen, und ich drücke auf die erste Folge.

Zwei Stunden, fast drei Folgen und viele Süßigkeiten später spüre ich wie meine Augenlider schwer werden. Bo liegt zusammengerollt neben dem Sofa und schläft tief und fest und auch Mom scheint sich nur noch mit Mühe wach zu halten. Wir haben beschlossen, heute eine Ausnahme zu machen und einfach im Wohnzimmer zu übernachten. Nachdem der Großteil unserer Naschvorräte verschwunden war, haben wir eine kleine Pause eingelegt, um Zähne zu putzen und uns bettfertig zu machen. So habe ich nun kein schlechtes Gewissen, als ich den Fernseher ausschalte und mir müde die Decke höher ziehe.

«Gute Nacht, Mom», sage ich leise.

Sie lächelt mit geschlossenen Augen. «Gute Nacht, Sweetheart.»

Ich rutsche tiefer in die Sofakissen und schließe ebenfalls die Augen. Endlich ist Ruhe in mir und meinen Gedanken. Die Müdigkeit übermannt mich und ich schlafe ein.

VIER JETZT

Ich weiß nicht, ob es nur Sekunden, Minuten oder ganze Stunden sind, die ich wie erstarrt auf dem Bett sitze und die Tür angaffe, aus der mein Bruder verschwunden ist. Ich bin so fassungslos über die Wendung, die das Gespräch genommen hat, dass die Tränen erst verspätet einsetzen. Dieses Mal sind es Tränen der Wut. So viel zum Thema im Stich lassen. Hat er wirklich entschieden, nicht weiter um mich zu kämpfen? Was für ein Bruder macht denn so was?

Sollte er nicht für mich da sein, egal was?

Tja, sagt eine leise Stimme in mir, die ich am liebsten ignorieren würde, die sich aber in meinem Kopf festzusetzen scheint, selber schuld, Lysa. Du hast ihn immer wieder aufs Neue von dir weggestoßen. Ihn und den Rest der Welt. Wundert es dich da wirklich, wenn er keine Lust oder Kraft mehr hat, um dich zu retten? Hast du nicht selbst gesagt, er solle aufhören, das zu versuchen? Ist es nicht das, was du wolltest?

Ich stehe auf und stürme zum Schrank, den ich hektisch aufreiße. Jason kann mich mal. Wenn er nicht länger ein Auge auf mich haben will, dann ist das eben so. Was für ein Arschloch, denke ich wütend und ziehe eine schwarze Jeans aus dem Schrank. Ich spüre, wie mich die Gefühle zu überrollen drohen. Das ist alles Jasons Schuld. Er hat meine Mauer mit seinen blöden Worten zum Einsturz gebracht. Jetzt spüre ich, wie die alte Verzweiflung, die Trauer, die Wut und der Selbsthass in die Leere schwappen und mein Inneres in Brand setzen. Ich schnappe nach Luft. Nein, denke ich und halte mich am Schrank fest. Nein, nicht jetzt. Ich kann nicht. Ich kriege keine Luft, während die Tränen meine Sicht verschleiern. Panik überrollt mich in Wellen und lässt meinen Körper heftig zittern. Ich muss es ersticken, muss die Leere wiederherstellen, bevor ich in den Gefühlen ertrinke. Es gibt jetzt nur noch eines, das mich vor dem völligen Zusammenbruch retten kann, aber dafür muss ich halbwegs anständig aussehen. Also zwinge ich mich mühsam, meine Leggins abzustreifen und in die Jeans zu schlüpfen. Ich konzentriere mich auf die Handgriffe. Das Hemd ausziehen. Einen BH und ein Shirt anziehen. Die Haare hochbinden. Eine Cap aufsetzen.

Einatmen und ausatmen. Es ist so verdammt schwer.

Ich nehme meinen Geldbeutel und mein Handy und stecke beides in meine Hosentasche, dann verlasse ich das Zimmer.

Jason und Oma kommen überrascht aus der Küche, als ich keuchend die Treppen herunterrenne. Oma will etwas sagen und öffnet den Mund, doch ich renne an ihr und meinem Bruder vorbei, schlüpfe im Vorraum in ein paar Turnschuhe und gehe schnell aus der Haustür, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Als ich mich rennend der Bushaltestelle nähere, sehe ich, dass der Bus gerade hält. Ich beschleunige meine Schritte und schaffe es gerade noch, hineinzuhechten, kurz bevor sich die Türen schließen und der Bus wieder anfährt. Mit aller Macht konzentriere ich mich mental auf die nahende Besserung. Ich habe einen Notfallplan, wenn ich spüre, dass ich zusammenbreche und die Kontrolle verliere. Wenn all die sorgsam verstauten Gefühle und Emotionen an die Oberfläche dringen und mich zu zerreißen drohen. Am Anfang, die ersten Male, war ich nicht stolz auf den Ausweg, den ich gefunden hatte, um dem Elend zu entgehen. Ich schämte mich und erzählte weder Oma, noch Jason, noch sonst irgendjemandem davon. Mittlerweile bin ich aber so weit, zu wissen, dass es mein einziger Ausweg ist. Ich habe daher aufgehört, mich dafür zu schämen. Nur so kann ich Ruhe und Erlösung von der Qual finden.

Fünf lange Minuten später hält der Bus und ich atme auf, obwohl mir immer noch Tränen die Wangen hinunterlaufen und ich Schwierigkeiten habe, Luft zu bekommen. Ich stürze aus dem Fahrzeug und über die Straße, hin zu einem roten Betongebäude mit einem leuchtenden Neonschild, welches grell blinkend «The Rock» verkündet. Ich eile zu der Tür, vor der eine Menschenansammlung Schlange steht, um in den Club eingelassen zu werden, und spreche den Türsteher an.

«Lysa Blumer», sage ich hastig, weil ich spüre, dass mir nur noch wenige Minuten bleiben, bis ich die Kontrolle endgültig verliere. «Ich bin eine Freundin von Tom.»

Der Türsteher mustert mich kurz eingehend, dann nickt er und tritt einen Schritt beiseite, damit ich eintreten kann. Hinter mir murren einige Menschen in der Schlange ärgerlich über meine bevorzugte Behandlung, aber ich kümmere mich nicht darum. Mit letzter Kraft stürme ich durch den Club und direkt auf die Bar zu. Der Saal ist wie beinahe immer brechend voll. Menschen in unterschiedlichem Alter bewegen sich zu der lauten Musik, die aus den Anlagen dröhnt, deren Lautsprecher in jeder Ecke des großen sechseckigen Raums aufgestellt sind. Überall blitzt nackte Haut zwischen schillernden Outfits auf. Es riecht nach Alkohol und Schweiß, der typische Partyduft, der den Club auch nach Feierabend nie ganz zu verlassen scheint. Das bunte Licht bewegt sich in Kreisen über die tanzende Menge hinweg und lässt die einzelnen Tänzer für Sekundenbruchteile in Regenbogenfarben erstrahlen. Aber ich habe nur Augen für die Bar, an der ich Tom stehen sehe. Seine blauen Haare stehen wie immer in kurzen Stacheln ab, sein schwarzes Outfit liegt eng an seinem Körper und betont seine blasse Haut. Er ist gerade dabei, etwas zu mixen und unterhält sich dabei charmant lächelnd mit einer Blondine, die mir den Rücken zudreht, als er mich durch die Menge auf ihn zukommen sieht. Sein breites Lächeln weicht einem besorgten Ausdruck, als er meinen gehetzten und panischen Blick auffängt. Noch bevor ich bei ihm angekommen bin, hat er den Cocktailshaker, den er gerade noch in der Hand hatte, an einen Kollegen weitergegeben und greift unter die Theke. Er zieht eine große Flasche mit einer klaren Flüssigkeit sowie zwei Shotgläser hervor und stellt sie vor sich auf die Bar. Als ich endlich bei ihm bin, schiebt er sie ohne ein Wort zu mir. Ich zögere keine Sekunde und kippe nicht nur das eine, sondern gleich die Inhalte beider Gläser in Windeseile herunter. Der klare Wodka setzt meinen Hals in Flammen, doch mindert er noch nicht den Schmerz, das wahre Feuer in mir, das mich zu verschlingen droht.

«Mehr», flüstere ich.