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»Heartwell Tales«-Sammelband: 3 romantische und spannende Liebesabenteuer in einem Band! Eines lässt mit Sicherheit sagen: »In Heartwell ist immer etwas los!« Sobald sich in der idyllischen Kleinstadt zwei verirrte Herzen in ein Liebesabenteuer zu stürzen drohen, ist das Chaos bereits vorprogrammiert. Und dabei kommt es durch Spannung, Action und Gefahren meist zu unvorhersehbaren Wendungen. Heartwell Tales – Deal oder Liebe (1) Lilly ist am Boden zerstört. Zuerst wird sie von ihrem Ex-Verlobten betrogen, der sich an den Firmengelder ihres Familienunternehmens bedient. Und dann muss sie all ihre Hoffnungen in einen vermeintlich skrupellosen Großinvestor setzen. Da kommt ihr die Begegnung am See, mit dem unverschämt attraktiven Unbekannten gerade recht. Er lenkt sie für kurze Zeit von ihren Sorgen ab. Dumm nur, dass sich ihre Wege kurze Zeit später erneut kreuzen und Lilly herausfindet, mit wem sie diese eine, unvergessliche Nacht verbracht hat … Heartwell Tales – Rache oder Liebe (2) Joy Miller soll mit Hilfe ihres außergewöhnlichen Fachwissens ein paar Kleinkriminelle aufspüren, die sich im Firmennetzwerk von Sanders zu schaffen machen. Eigentlich kein Problem, müsste die brillante Informatikerin dafür nicht extra nach Heartwell reisen, um für die Zeit ihres Auftrages die Freundin des CEO zu spielen. Dabei ist ihr überhaupt nicht nach Schmusekurs. Schon gar nicht, seit sie mitanhören musste, wie John Foster sie als graue Computermaus bezeichnete. Frechheit! Er kennt sie doch überhaupt nicht. Das wird sie ihm heimzahlen! Eine kleine Portion Rache hat noch keinem geschadet. Und ganz nebenbei würde sie auch noch ein paar Verbrecher zu Strecke bringen. Dumm nur, dass ihre Rachepläne und seine Küsse so gar nicht zusammenpassen. Heartwell Tales – Lüge oder Liebe (3) Zuerst ruiniert ein Wasserrohrbruch beinahe den kompletten Warenbestand in Sues Boutique, und dann entpuppt sich ihr Versicherungsmakler auch noch als mieser Betrüger. Sie steht kurz vor dem Ruin, als plötzlich ein unabhängiger Versicherungsgutachter vor ihr steht, der in ihrem Fall ermitteln soll. Der mürrische und überaus attraktive Matthew Walker zeigt sich ihr gegenüber äußerst misstrauisch und spricht sogar von Versicherungsbetrug – doch Sue findet bald heraus, dass er mit falschen Karten spielt. Was hat dieser Journalist in Heartwell zu suchen, und weshalb hat er es gerade auf sie und ihren Laden abgesehen? Egal wie gut seine Küsse schmecken, sie wird hinter sein Geheimnis kommen!
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Seitenzahl: 987
Finny Ludwig
HEARTWELL TALES
SAMMELBAND 1-3
3 romantische und spannende Liebesromane in einem Band
Band 1
Heartwell Tales – Deal oder Liebe
Band 2
Heartwell Tales – Rache oder Liebe
Band 3
Heartwell Tales – Lüge oder Liebe
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Finny Ludwig
HEARTWELL TALES
Deal oder Liebe
Liebesroman
Text Copyright © 2021 Finny Ludwig
Lektorat: Dorothea Kenneweg | lektorat-fuer-autoren.de
Korrektorat: SKS Heinen | sks-heinen.de
»Was gewesen, ist gewesen.«
Finny & Ludwig
Nach der Begegnung mit einem Unbekannten steht für Lilly plötzlich nicht nur das Familienunternehmen auf dem Spiel, auch ihr Herz gerät mächtig ins Wanken – und das, obwohl die Definition eines einmaligen Abenteuers dies eigentlich ausschließen sollte. Lilly ist gegen ihre Gefühle machtlos, denn Nate hat ihr Herz im Sturm erobert. Ihn nie mehr wiederzusehen, schmerzt sie genauso sehr, wie ihre Firma an den Großinvestor aus Atlanta zu verlieren. Als ihr aber bewusst wird, wer hinter Brooks Corp. steht, schnürt es ihr die Kehle zu. Sie wurde reingelegt und von Nathan – Nate – Brooks in eine Falle gelockt. Doch welcher Verlust schmerzt am Ende mehr?
Nate ist ein erfolgreicher Geschäftsmann mit einem ansehnlichen Vermögen und dem richtigen Gespür für gute Geschäfte. Dennoch hat es diese kleine Hexe geschafft, ihn auszutricksen, denn Lilly hat ihn nach allen Regeln der Kunst verführt und sich in sein Herz geschlichen. Jetzt, da die Bombe geplatzt ist und er weiß, dass ihrer Familie das marode Unternehmen gehört, in das er investieren möchte, besitzt sie die Frechheit, ihm zu unterstellen, die gemeinsame Nacht sei von vornherein sein perfider Plan gewesen. Wäre sie nicht so unglaublich süß, sexy und … seufz!, hätte sie es niemals geschafft, ihn dermaßen hinters Licht zu führen. Weshalb versagte ausgerechnet bei ihr seine Menschenkenntnis? Oder hat ihn womöglich sein Herz verraten?
Die Sonne brannte heiß über Heartwell, Georgia, und brütende Hitze staute sich in den Büroräumen der Sanders-Firmenzentrale. Die Ventilatoren arbeiteten auf Hochtouren, und wenn man in einem der wenigen klimatisierten Büros des alten Gebäudes saß, konnte man sich stolz zu den Gewinnern zählen.
Das Büro von Elisabeth Sanders zählte leider nicht dazu. Sie hatte sich mit Müh und Not einen alten Lüfter aus dem Lager erkämpft. Allerdings empfand sie die Lautstärke des Gerätes nun störender als die Schweißperlen, die sich den Weg über ihren Rücken bahnten. Ihre sorgsam geglättete Lockenpracht kräuselte sich und auf ihrer blauen Bluse zeichneten sich die ersten Indizien dafür ab, dass sie ins Schwitzen geriet.
Gestresst blies sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mit einem Stift fuhr sie die Konturen des Firmenlogos an der rechten oberen Ecke des Dokuments nach, das vor ihr lag: Brooks Corp. Sie zog einen Strich quer durch den Schriftzug. Dann wiederholte sie das Ganze. Wieder und wieder. Schneller und schneller. Wütend. Aufgebracht. Verärgert.
»Lilly, Liebes, was tust du da?«
Sie blickte erschrocken auf, als sie die Stimme ihres Vaters hörte. Hal Sanders stand mit aufgekrempelten Ärmeln und einem gelösten Knoten seiner sonst sorgfältig gebundenen Krawatte unter dem Türrahmen und beäugte seine Tochter besorgt.
»Dad. Seit wann stehst du schon da?«, erkundigte sie sich ertappt.
Er lächelte tapfer. »Lange genug.«
Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, welch zentnerschwere Last Hal mit sich herumtrug. Und jedes Mal, wenn Lilly ihren Vater sah, fühlte sie sich ein Stück schuldiger.
»Du siehst müde aus, Dad. Gönn dir eine Pause.« Lilly schob ihren Bürostuhl zurück und trat auf ihn zu.
»Diejenige, die hier dringend eine Pause benötigt, bist du. Seit wie vielen Tagen sitzt du nun schon ununterbrochen hier und arbeitest an der Präsentation für diesen Mr. Brooks? Wir sind alles schon so oft durchgegangen. Du hast einen hervorragenden Job gemacht und wir können nichts mehr tun, als den kommenden Montag abzuwarten.« Er strich besorgt über ihren Arm. »Geh nach Hause, Liebes. Oder zu Samantha. Wann warst du zuletzt in ihrer Bar? Oder bei Susan zum Shoppen in der Boutique? Lenk dich ab. Der Montag kommt früh genug und mit etwas Glück wird alles wieder gut.«
»Es tut mir unendlich leid, Dad«, versicherte Lilly traurig.
»Es ist nicht deine Schuld, Kleines.« Zärtlich küsste er ihre Schläfe. »Wir bekommen das wieder hin.«
»Du bist wirklich unglaublich«, zischte Ryan.
Nate nahm den genervten Tonfall und den vernichtenden Blick seines Bruders zur Kenntnis. Trotzig vergrub sich dieser im ledernen Beifahrersitz des schwarzen Escalades, nur um sich gleich darauf wiederaufzurichten. Ryan drehte sich um und musterte seine beiden Freunde auf dem Rücksitz. Logan, der angespannt auf sein Tablet einhämmerte, und Steve, der mit regloser Miene aus dem Fenster sah. »Lasst mich raten: Ihr wusstet es.«
»Kam am Dienstag per Mail«, war die knappe Antwort von Logan, der Ryan ansonsten keine weitere Beachtung schenkte und weiterarbeitete. Steve sah ihn kurz an, nur um sich gleich darauf wieder der vorbeiziehenden Landschaft zu widmen.
»Kommt schon. Stört es euch nicht, dass Nate uns, anstatt uns das versprochene Partywochenende zu gönnen, in die hinterste Einöde von Georgia schleift? Zum Angeln? Nach … Wie heißt dieses Kaff?«
»Heartwell.« Nate hatte den Blick geradeaus auf den Highway gerichtet und schmunzelte vor sich hin.
»Das wunderschöne und beschauliche Heartwell. Mit seinen knapp 4.500 Einwohnern und einem maroden Unternehmen, das darauf wartet, von uns gerettet zu werden.«
»Ah, langsam geht mir ein Licht auf. Diese Kunststoff-Firma, über die wir neulich sprachen und die du dir unter den Nagel reißen wolltest, hat dort seinen Sitz. Sanders, richtig?« Ryan richtete sich mit einem Mal interessiert auf.
»Korrekt. Und ich weiß aus sicherer Quelle, dass es in Heartwell auch eine Bar gibt. Es hält uns demnach nichts davon ab, das Geschäftliche mit ein wenig Vergnügen zu verbinden.«
»Heißt deine Quelle zufällig Google?«
»Ertappt.« Nate setzte den Blinker und fuhr vom Highway ab. »Im Übrigen haben wir am Montagvormittag einen Termin mit Familie Sanders.«
Ryan zog hörbar die Luft ein. »Du bist so ein …«
»Genie? Großartiger Geschäftsmann? Toller Bruder?« Nate kam nicht umhin zu schmunzeln.
»Nicht das, was ich meinte«, gab Ryan eingeschnappt von sich. »Am besten, du sagst jetzt einfach nichts mehr.«
»Komm schon! Das wird ein großartiges Wochenende. Lass dich darauf ein. Steve und Logan sind schließlich auch mitgekommen. Der Termin ist erst am Montag. Wir haben also beinahe drei Tage Zeit, um was zu erleben. Bist du dabei?« Nate hielt verschwörerisch seine Faust in die Höhe. Er war erleichtert, als sein Bruder nach kurzem Zögern dagegenschlug.
Sie beide hatten selten bis nie Urlaub. Ryan unterstützte Nate seit ein paar Jahren in allen Belangen rund um seine Firma und gab damit einen Großteil seines Privatlebens auf. Nate wusste, dass sich sein Bruder eine Auszeit verdient hatte, und er würde alles daransetzen, ihm ein unvergessliches Wochenende zu bieten. Das war er ihm schuldig.
Ein paar Minuten später fuhren sie an dem in die Jahre gekommenen und verblichenen Ortsschild von Heartwell vorbei. Während sie die Stadtgrenze überquerten, sah sich Nate das beschauliche Kleinstadtidyll an. Der Hauptstraße entlang reihte sich ein Laden nach dem anderen. Angefangen bei einem Beauty-Salon über eine Boutique, bis hin zu einer Zahnarztpraxis und einem Computer-Fachhandel – wenngleich die äußere Erscheinung der Geschäfte nicht unbedingt auf Professionalität schließen ließ. Das jedenfalls war seine Meinung als überaus erfolgreicher Unternehmer.
»Ich hoffe für dich, dass das hier nicht alles ist.« Ryan sah frustriert aus dem Fenster. »Ich schwöre, dass ich dich umbringen werde, wenn ich das langweiligste Wochenende der Welt hier verbringen muss.«
»Warte erst mal ab. Wir haben überhaupt noch nicht alles gesehen«, wandte Nate ein, der die berechtigte Kritik seines Bruders verstand.
»Selbst wenn du Ryan davon abhalten könntest, dich umzubringen, werde ich es tun, sollte ich an diesem Wochenende nicht auf meine Kosten kommen«, ätzte Logan.
»Was meinst du damit? Ich dachte, du versuchst, bei Joy zu landen? Bist wohl nicht weit gekommen, was?«, fragte Ryan alarmiert.
Nate hörte den zynischen Unterton in der Stimme seines Bruders und wunderte sich nicht darüber. Joy war über Ryan zu Brooks Corp. gekommen. Sie hatten sich während ihrer Studienzeit kennengelernt. Joy war ein regelrechtes Computergenie und eine ausgesprochene Bereicherung für das Unternehmen. Da Ryan seine Freundin unheimlich gern hatte, sah er es nicht gerne, dass Logan versuchte, sich ihr anzunähern. Denn ihr Freund war dafür bekannt, nichts anbrennen zu lassen und seinem Ruf als Aufreißer bei jeder Gelegenheit alle Ehre zu machen. Dieses Schicksal wollte er Joy nur zu gerne ersparen.
»Im Gegenteil. Wir gehen nächste Woche miteinander aus. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich bis dahin nicht amüsieren darf. Oder?«
Nate bemerkte, wie Ryan seine Hände zu Fäusten ballte, weshalb er ihm mit einer Antwort zuvorkam. »Hör mal, Logan. Joy ist keines von deinen kleinen Dummchen, mit denen man sich amüsiert. Wenn du es nicht ernst mit ihr meinst, dann lass die Finger von ihr.«
»Du auch? Ich dachte eigentlich, dass mir nur dein kleiner Bruder in die Quere kommen könnte. Aber wie es aussieht, haben noch mehr Interesse an Joy«, blaffte Logan.
In diesem Augenblick musste sich Nate ernsthaft fragen, weshalb er mit jemandem wie Logan befreundet war. »Joy ist nicht nur eines der hellsten Köpfchen, das ich kenne, und somit eine große Bereicherung für Brooks, sie ist loyal, ehrlich und eine großartige Freundin. Ich gebe dir deshalb den wohlgemeinten Rat, keine Situation herbeizuführen, in der ich mich entscheiden muss. Verstanden?«
Logan stieß entnervt die Luft aus, war aber so klug, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Ryan entspannte sich wieder und Nate folgte der Stimme des Navigationssystems, das ihn zu einem Reisebüro am Ende der Straße lotste.
Er parkte den Wagen in einer der Parkbuchten und stieg aus. Ryan folgte ihm. Ebenso wie Steve und Logan.
Die Jalousie des kleinen Reisebüros war bis zur Hälfte geschlossen. Zahlreiche vergilbte Aufsteller waren in Regalen drapiert und die Angebote waren nicht mehr aktuell. Nate drehte den Türknauf, doch die Tür war verschlossen.
»Seltsam.« Er sah auf seine teure Patek-Philippe-Uhr. »Kelly sagte mir, das Reisebüro sei durchgehend geöffnet und ich könne den Schlüssel jederzeit abholen.«
»Du willst uns jetzt aber nicht erzählen, dass du kein Hotelzimmer für uns reserviert hast? Gibt es hier überhaupt ein Hotel?«, fragte Logan genervt.
»Ich habe extra ein Haus an einem See gemietet, damit wir unsere Ruhe haben. Keine Ahnung, ob …«
»Wow …«, fiel ihm Ryan ins Wort.
Nates Blick folgte irritiert dem seines Bruders und er erkannte sofort den Grund für seine Begeisterung.
Aus dem angrenzenden Gebäude trat eine Frau. Sie war groß, hatte endlos lange Beine, blondes, langes Haar und man konnte sie zu Recht als absolute Schönheit bezeichnen.
Vielleicht hatte er ja Glück und sie konnte ihnen weiterhelfen. »Entschuldigung«, rief Nate ihr zu. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
Die Frau hielt an und drehte sich um.
»Klar. Wie kann ich helfen?«, fragte sie freundlich, wenngleich beiläufig. Anscheinend machten vier fremde Männer keinen Eindruck auf sie.
»Wie heißt du? Woher kommst du? Bist du vergeben? Darf ich dich wiedersehen?«
»Ryan«, tadelte Nate seinen Bruder umgehend. Ryan hatte zwar schon immer eine äußerst unbekümmerte Art, mit anderen Menschen umzugehen oder mit ihnen in Kontakt zu kommen – vor allem mit Frauen –, aber dieses Mal übertrieb er es. »Bitte entschuldigen Sie meinen Bruder«, bemühte er sich, die schöne Fremde zu beschwichtigen, ehe sie die Lage umriss und Reißaus vor ihnen nehmen würde.
»Kein Ding«, sie winkte ab. »Klar kann ich seine Fragen beantworten: Geht dich nichts an. Geht dich wirklich nichts an. Geht dich absolut nichts an. Und niemals. Sonst noch was?«
»Aber ich will dich heiraten und eine Familie mit dir gründen.«
»Kannst du deinen Bruder bitte an die Leine nehmen? Das hält ja keiner aus.« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen.
Nate funkelte Ryan genervt an. Er war allerdings überrascht, wie handzahm sein Bruder diese Frau anhimmelte.
»Bitte geh nicht! Ich liebe dich«, rief Ryan ihr hinterher.
Nate gab ihm einen kurzen Schlag auf den Hinterkopf und betitelte ihn wenig freundlich als »Vollidiot«, ehe er der Fremden hastig folgte.
»Warte! Und bitte entschuldige meinen Bruder. Er kann manchmal ein ganz schöner Trottel sein.«
Die Frau lachte und hielt an. Als sie sich zu Nate umdrehte, war ihr anzusehen, dass die Situation sie amüsierte.
»Was willst du denn wissen?«
»Das Reisebüro. Wir wollten dort den Schlüssel für unser Ferienhaus abholen, aber es ist geschlossen. Kannst du uns weiterhelfen?«
Ihr Gesichtsausdruck wurde ernster und sie ging einen Schritt auf Nate zu.
»Das Reisebüro ist seit letzter Woche geschlossen. Bert, der Besitzer, ist leider überraschend verstorben.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Muss es nicht. Bert war ein Arschloch. Habt ihr sein Haus am See gemietet?«
Nate war von ihrer kompromisslosen Abneigung irritiert, nickte jedoch. »Ja. Das Haus am See. Aber wenn er tot ist, können wir es dann überhaupt …«
»Habt ihr bezahlt?«
»Natürlich.«
»Dann ist es auch noch an euch vermietet.« Sie deutete die Straße entlang. »Das Haus liegt ein wenig außerhalb der Stadt. Der Schlüssel liegt unter einem Stein neben der Haustür.«
»Im Ernst? Der Schlüssel liegt einfach neben der Haustür?«
»Ihr Stadtheinis macht wildfremden Frauen einen Heiratsantrag, kommt aber nicht damit klar, wenn man hier auf dem Land seinem Nachbarn noch vertraut?«
»Seinem Nachbarn schon, aber …«
»Wie gesagt, der Schlüssel liegt unter dem Stein«, kürzte sie das Gespräch ab. »Ich wünsche euch viel Spaß in Heartwell.«
Nate sah ihr verwundert hinterher, als sie ihn stehen ließ und weiterging. »Danke für die Infos.«
Sie winkte, ohne sich umzudrehen. »Und pass auf deinen Bruder auf. Nicht alle Frauen in Heartwell können mit Vollidioten umgehen.«
Schmunzelnd ging Nate zurück zu Ryan und seinen beiden Freunden, die sein Gespräch nur aus der Ferne beobachten konnten.
»Und? Hat sie noch was über mich gesagt?«, fragte Ryan dümmlich.
Nate sah ihn entgeistert an. »Ist das dein Ernst? Du hast dich gerade wie der letzte Hornochse aufgeführt und einer wildfremden Frau eine Liebeserklärung gemacht. Sei froh, dass sie dich nicht wegen Belästigung anzeigt.«
»Aber …«
»Nichts aber. Was ist in dich gefahren? Wenn wir Sanders tatsächlich übernehmen, werden wir in nächster Zeit öfter hier in Heartwell sein. Schon mal drüber nachgedacht?«
»Hast du sie dir einmal genauer angesehen?« Ryan schien aus seiner Trance zurückzukehren. »Ich schwöre dir, diese Schönheit werde ich eines Tages heiraten. Die oder keine.«
Nate schüttelte den Kopf. »Kommt, steigt ein! Der Schlüssel ist am Haus hinterlegt.«
»Am Haus?« Steve regte sich seit langer Zeit zum ersten Mal und machte seinem Job als Sicherheitschef von Brooks Corp. damit alle Ehre.
»Ganz ruhig, Brauner. Keiner weiß, dass wir hier sind. Ich rechne weder mit Attentätern noch mit einem Überfall. Das Einzige, wovor wir uns in Acht nehmen sollten, sind verärgerte Frauen, wenn Ryan so weitermacht.«
***
Lilly ließ ihren Kopf zurückfallen und genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit. Die Sonne brannte auf ihr Gesicht und sie schloss die Augen. Das Wasser in der kleinen Bucht hinter Berts Haus hatte sich zwar aufgeheizt, dennoch war es eine willkommene Erfrischung an diesem heißen Sommertag.
Ihre Arme bewegten sich langsam im Wasser und ließen ihren Körper ziellos dahintreiben. Sie erfreute sich am wirren Gezwitscher der Vögel und war gleichzeitig tieftraurig, dass sie Berts Stimme von nun an nicht mehr hören würde. Ganz Heartwell hat ihn zeit seines Lebens als mürrischen und geizigen Kerl kennengelernt. Doch als Lilly ihn vor ein paar Jahren gefragt hatte, ob er Einwände habe, wenn sie gelegentlich in der Bucht schwimmen würde, hatte er gelächelt und es ihr gestattet. Es war eine Art Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Eine Freundschaft, die nicht vieler Worte bedurfte.
Wenn Bert im Haus nach dem Rechten sah und sie zufällig hier war, brachte er ihr gelegentlich eine Tasse Kaffee und setzte sich zu ihr auf den Steg. Sie sprachen über dies und das oder sie saßen einfach nur schweigend nebeneinander.
Traurig richtete sie sich auf und schwamm zurück zum Steg. Die Sonne spielte ihr einen Streich und zauberte einen Schatten auf die Holzplanken. Gerade so, als ob Bert dort stehen würde und auf sie wartete. Die Erinnerung an ihren Freund ließ sie schmunzeln.
Lilly hielt erschrocken inne, als sie tatsächlich eine Gestalt erkannte. Wer zur Hölle war das? Und seit wann war er schon hier? Lauerte er ihr etwa auf?
»Keine Sorge, ich tu Ihnen nichts.«
Lilly hörte die tiefe, männliche Stimme und kniff die Augen zusammen. Der Fremde stand unter den langen Ästen der Weide, die bis in den See ragten, weshalb sie ihn nicht erkennen konnte.
»Wer sind Sie und was machen Sie hier?«, fragte sie möglichst neutral.
»Das Gleiche könnte ich Sie fragen. Soweit ich weiß, habe ich das Ferienhaus inklusive eines eigenen Steges gemietet. Der Zugang zum See sollte eigentlich privat sein.«
Er war also ein Feriengast? Waren nicht alle Geschäfte nach Berts Tod eingestellt worden? »Mr. Parish ist leider verstorben, deshalb entschuldigen Sie bitte meine Verwunderung darüber, dass er aus dem Jenseits weitergearbeitet hat.«
»Entweder das oder es wurde versäumt, mir Bescheid zu geben, dass das Haus nicht mehr länger zur Verfügung steht. Wie auch immer: Ich habe bezahlt und jetzt bin ich hier.«
Lilly stieß frustriert den Atem aus. Das war es also mit ihrem entspannenden Schwimmausflug. Hätte der Kerl nicht eine Stunde später auftauchen können?
Sie schwamm enttäuscht das letzte Stück zum Steg. Vielleicht war es besser so. Sie könnte wieder zurück in die Firma fahren und weiterarbeiten, wenn ihr schon das kleinste Vergnügen versagt blieb. »Sie haben recht. Sie haben bezahlt und jetzt sind Sie nun einmal hier. Ich verschwinde am besten. Nicht, dass Ihnen nicht mehr genügend Wasser im See bleibt.«
»Nein, nein«, beschwichtigte der Fremde. »Sie verstehen mich falsch. Sie können gerne bleiben. Ich war nur irritiert, weil ich nicht mit Ihnen gerechnet habe.«
»Mit mir muss man immer rechnen«, sagte Lilly mehr zu sich selbst.
Sie hörte, wie er lachte.
»Das werde ich mir merken.«
»Sparen Sie sich die Mühe.« Lilly hatte den Holzsteg erreicht und griff nach dem obersten Querbalken. »In das Vergnügen werden wir beide so schnell nicht mehr kommen.«
Zwei warme Hände umschlossen die ihren und ehe sie sich versah, hatte er sie nach oben gezogen und sicher auf den Holzbrettern abgestellt.
Das triefende Wasser hatte auf der Jeans und dem Hemd des Fremden seine Spuren hinterlassen. Lilly legte den Kopf in den Nacken und hielt sich die Hände gegen die brütende Sonne schützend vors Gesicht. So viel stand schon einmal fest: Der Kerl war attraktiv, seiner einnehmenden Ausstrahlung konnte sie sich kaum entziehen. Und dabei roch er so gut, dass sie am liebsten an ihm geschnuppert hätte.
»Wie gesagt, ich möchte Sie keinesfalls vertreiben«, war seine dunkle Stimme zu hören.
»Schon gut«, stammelte sie und bemerkte, wie sein Blick langsam an ihr herunterglitt. Ihre Haut begann zu prickeln und ihr Herz schlug einen unvernünftigen Salto in ihrer Brust. »Ich muss wieder an die Arbeit.« Sie bückte sich und griff hastig nach dem Badetuch, das achtlos auf dem Boden lag. In Windeseile wickelte sie sich darin ein. Erst, als sie vollständig mit Frottee bedeckt war und der Knoten des Tuches fest saß, sah sie ihn wieder an.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt. Genießen Sie Ihre Zeit in Heartwell.« Sie nickte zum Abschied und wollte an ihm vorbeigehen, da hielt er sie sanft am Arm zurück.
»Bitte.« Sein Blick war fest und seine Stimme rau. »Komm doch morgen wieder.«
Lillys Herz pochte aufgeregt. Hatte der Fremde sie gerade tatsächlich gebeten, morgen wieder zur Bucht zu kommen? Der Kerl war wirklich süß und sie lief tatsächlich einen Moment Gefahr, darüber nachzudenken, am nächsten Tag wieder herzukommen. Was schadete schon ein kleiner Flirt? Und außerdem liebte sie es, hier zu schwimmen.
Sie nickte verwirrt und ging. Dabei konnte sie spüren, dass er ihr hinterhersah, denn während sie zu ihrem roten Fahrrad lief, schlug ihr Herz gefährlich schnell und viel zu aufgeregt.
»Hey Jungs, wie weit seid ihr? Ich habe langsam Hunger.« Nate stand am Ende der langen Treppe und sah nach oben. Sein Blick musterte die Holzpaneele, die trotz ihres Alters noch ganz ordentlich aussahen. Vielleicht war dieser Bert ja ein Idiot, allem Anschein nach war er aber pfleglich mit seiner Immobilie umgegangen, auch wenn hier seit Jahren keine Modernisierung stattgefunden hatte. Dennoch war das Haus gut in Schuss. Altbacken, aber gemütlich.
»Wo, um alles in der Welt, hast du uns hinverfrachtet? Und überhaupt, wo warst du die ganze Zeit?« Ryan kam die Treppe herunter, dicht gefolgt von Logan und Steve.
»Ist es sauber?«, fragte Nate nach.
»Ja, aber …«, erwiderte Ryan.
»Dann will ich nichts mehr hören.« Nate war es leid, sich ständig wegen der Unterkunft rechtfertigen zu müssen. Er fand das Ferienhaus trotz seines Alters und seiner in die Jahre gekommenen Einrichtung sehr gemütlich. Hier fühlte sich alles ehrlich und bodenständig an. Und genau danach sehnte er sich von Zeit zu Zeit: nach Normalität und Einfachheit.
Das Büro von Brooks Corp. war in einem modernen Hochhaus in Atlanta angesiedelt. Direkt an der Peachtree Street und in unmittelbarer Nähe des Woodruff Parks. Das Unternehmen nahm dort vier Stockwerke ein und die Erweiterung um eine weitere Etage war nur eine Frage der Zeit.
Die Geschäfte liefen gut, und nachdem Nate sich im Jahr zuvor entschieden hatte, selbst als Anteilseigner und Investor in Erscheinung zu treten, stieg die Entwicklungs- und Leistungskurve seiner Firma exponentiell.
»Bring mich zurück zu der blonden Schönheit und ich überlege es mir.«
Nate sah seinen Bruder an und bemerkte sein verschmitztes Grinsen. Anscheinend gefiel es Ryan doch nicht so schlecht in Heartwell. Ihm selbst im Übrigen auch nicht. Vor allem, wenn er an die süße, kleine Blondine dachte, die er beim Schwimmen in der Bucht erwischt hatte. Natürlich gehörte es sich nicht, sie heimlich zu beobachten. Doch nachdem er das Haus verlassen hatte, um sich das Grundstück näher anzuschauen, und dabei auf das achtlos, herumliegende Badetuch auf dem Steg aufmerksam wurde, hatte er sie im See entdeckt. Ihr blondes Haar leuchtete über dem Wasser und ihre kurvige Oberweite ließ sich nicht ignorieren. Je länger er dort stand, umso weniger konnte er den Blick von ihr wenden, und …
»Träumst du?« Ryan sah ihn fragend an.
»Was?«
»Ich habe dich gefragt, wo wir hingehen?«
Nate räusperte sich. »Ach ja. Kelly hat ein Stück außerhalb der Stadt ein Steakhouse aufgetan, das zu den besten in Georgia gehören soll. Sie hat uns einen Tisch reserviert. Irgendwelche Einwände?« Er sah in drei zufriedene Gesichter.
»Nein. Hauptsache, wir fahren endlich los. Ich sterbe vor Hunger«, antwortete Logan und wandte sich zur Haustür.
Während Logan und Steve voraus zum Wagen gingen, bemerkte Nate, wie Ryan ihn auffällig taxierte. Ließ ihn die Erinnerung an die süße Wassernixe etwa immer noch schmunzeln? »Weshalb starrst du mich an? Habe ich was im Gesicht?«
»Ja«, Ryan lachte. »Ein ziemlich dämliches Grinsen. Es ist sogar so dämlich, dass ich sofort wissen möchte, was dahintersteckt. Und weshalb du vorhin nicht auf meine Frage reagiert hast, als ich wissen wollte, wo du dich die ganze Zeit über herumgetrieben hast.«
»Lass mir auch mal meinen Spaß und meine Geheimnisse«, antwortete Nate und war froh, dass sie den Wagen erreicht hatten und er sich hinters Steuer setzen konnte, ohne weiter auf Ryans Fragerei einzugehen. Womöglich würde sein Bruder selbst Ausschau nach der schönen Unbekannten halten. Dass er nicht die geringsten Probleme hatte, fremde Frauen auf plumpe, aber zeitweise auch sehr charmante Art und Weise anzusprechen, davon war er schon mehrfach – einschließlich dem heutigen Tag – Zeuge geworden. Sollte die hinreißende Unbekannte vom See morgen tatsächlich wieder auftauchen, musste er sie vor Ryan und vermutlich auch vor Logan in Sicherheit bringen. Steve hingegen bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Es blieben ihm noch ein paar Stunden Zeit, ehe er einen ausgereiften Schlachtplan zur Hand haben musste, wie er die Männer ablenken konnte. Doch unter Druck arbeitete er schließlich am besten.
Ihre Fahrt nach Elberton dauerte eine halbe Stunde. Kelly hatte bei ihrer Recherche hervorragende Arbeit geleistet. Das Restaurant war zwar weder hip noch modern, dafür war das Essen umso besser.
Nate aß an diesem Abend eines der besten Steaks seines Lebens. Auch seine Begleiter ließen keinen Zweifel daran, wie gut ihnen das Essen geschmeckt hatte.
»Ganz ehrlich, langsam gefällt mir unser Ausflug. Wenn du uns in den nächsten Tagen mehr solcher Köstlichkeiten vorsetzt, bin ich glatt versucht, dir den Trip in diese Wildnis zu verzeihen.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, unterstrich Ryan seine Meinung mit einem Kopfnicken. Logan und Steve stimmten mit einem satten Brummen zu.
»Ich sagte doch, dass unser Wochenende großartig wird.«
»Hey«, unterbrach ihn Logan. »Nicht gleich übertreiben.«
»Kommt schon, Jungs. Wir hatten ein köstliches Abendessen und nachher lade ich euch in Heartwell auf ein Bier ein. Was wollt ihr mehr?«
»Definitiv mehr als ein Bier.« Ryan lachte und alle stimmten mit ein.
»Abgemacht.« Erleichtert lehnte sich Nate zurück. Endlich hatte er es geschafft: Die Jungs waren besänftigt. Obwohl er in seinem normalen Alltag tagtäglich in Verhandlungen verstrickt war, war er versucht, in diesem Fall von einer harten Nuss zu sprechen.
Bei seiner Fahrt nach Elberton hatte Nate festgestellt, wie einsam und ruhig die Landschaft entlang des Highways lag. Vereinzelt waren ein paar Häuser zu sehen. Es waren einige größere Farmen ausgeschildert. Ansonsten gab es nicht viel zu entdecken. In Elberton gab es sicherlich auch Fabriken, die die Einkommen der Bevölkerung sicherten. Doch Nate wurde sich auf seinem Weg zurück nach Heartwell bewusst, was die Schließung von Sanders für die Bewohner der Stadt und des Countys bedeuten würde. Die Gegend bot nicht viele verlockende Arbeitsplätze. Die Arbeitslosenquote lag hier sehr hoch. Wenn er sich entschließen würde, in das auf Kunststoffproduktion spezialisierte Unternehmen einzusteigen, bliebe die Herausforderung, einen Investor zu finden, der den Erhalt der Arbeitsplätze sicherstellen würde, oder gegebenenfalls selbst als Investor aufzutreten.
Während er seinen Gedanken um einen lukrativen Deal hinterherhing, erreichte er an diesem Tag zum zweiten Mal die Stadtgrenze von Heartwell.
Die lange Hauptstraße mit ihren Geschäften war spärlich beleuchtet. Wenn die letzten Sonnenstrahlen des Tages wenige Minuten später verschwinden würden, würde es hier ganz schön duster werden. Auf der Straße und den Gehwegen war dennoch einiges los. Eines war dabei sehr auffallend: Alle Menschen waren in dieselbe Richtung unterwegs.
»Gehen die alle in die Abendmesse?«, fragte Logan sarkastisch und lachte.
»Wohl kaum.« Ryan deutete auf zwei Frauen, deren freizügige Aufmachung jedem Priester die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte.
Nate näherte sich Berts Reisebüro und bemerkte verwundert, dass alle Parkplätze belegt waren. Die Bar, die an das Reisebüro anschloss, schien überaus gut im Geschäft zu sein. Er fuhr langsam an dem Gebäude vorbei und musterte kurz die beleuchteten Buchstaben, die den Namen der Bar verrieten: Junction.
Die laute Musik, die aus dem Gebäude drang, war bis in den Wagen zu hören. Sowohl Ryans als auch Logans Stimmung stieg rasant an. Nate hatte die beiden mit dem köstlichen Abendessen zwar schon besänftigt, doch die Aussicht, in der Bar auf ihre Kosten zu kommen, gab der Stimmung der beiden einen neuerlichen Kick. Einzig Steve zeigte wie immer keine Gefühlsregung. Aber Nate kannte ihn auch nicht anders.
Als die vier Männer die Bar wenige Minuten später betraten, waren sie sichtlich überrascht. Sowohl die Größe als auch die Musik und die Menschenansammlung standen einem guten Club in Atlanta in nichts nach. Nun ja, das Interieur war zwar ein wenig in die Jahre gekommen, doch das schien sich in dieser Stadt wie ein roter Faden durchzuziehen.
Es gab nur wenige freie Sitzplätze, weswegen sich die Freunde sputeten, einen Tisch zu ergattern. Nate deutete in eine der Ecken, wo sich drei Kerle aufmachten, sich nach Eroberungen für den Abend umzusehen, und ihren Platz vereinsamt zurückließen.
»Nehmt euch den Tisch«, rief er ihnen über die Musik hinweg zu. »Ich besorge uns ein Bier.«
Ryan nickte und schob Logan und Steve zu dem freien Platz.
Unterdessen bahnte sich Nate einen Weg an die Bar. Es war so voll im Junction, dass er ständig angerempelt wurde. Als es ihm endlich gelang, einen Platz am langen Tresen zu erkämpfen, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Seit er in Heartwell eingetroffen war, hatte er nur zwei Personen kennengelernt. Die große Blondine mit den endlos langen Beinen, vor der sich Ryan zum Affen gemacht hatte. Und seine süße, kleine Wassernixe.
Exakt diese beiden Schönheiten steckten die Köpfe zusammen und redeten über den Bartresen hinweg miteinander. Wobei die große Blondine hinter der Bar stand und vermutlich hier arbeitete. Und sein reizender Engel mit den blonden Locken hatte ihr offensichtlich ziemlich viel zu erzählen.
»Hey, hast du schon bestellt?«, wurde Nate unvermittelt von einem der Barkeeper angesprochen.
»Nein. Ich bekomme vier Bier.«
»Scheinst durstig zu sein, Mann«, der Barkeeper lachte.
»Die sind nicht alle für mich.« Er nickte in die Richtung, in der sein Bruder und seine Freunde saßen, und entdeckte dabei eine Kellnerin, die offensichtlich deren Bestellung entgegennahm.
»Wusstest wohl nicht, dass wir hier auch Kellnerinnen haben. Bist neu hier, hä?«
Nate sah den Kerl mit Glatze an, der auf unangenehme Art und Weise seinen Kaugummi im Mund von einer Seite zur anderen schob.
»Willste trotzdem dein Bier?«
Nate öffnete seine Geldbörse und zog ein paar Geldscheine heraus. »Ja. Ich nehme sie trotzdem. Und den beiden Ladys da unten«, er deutete zum Ende der Bar, »würde ich gerne auch ein Bier ausgeben.«
»Wird gemacht.«
Noch ehe Nate eine Flasche in seinen Händen hielt, nahm ihm der Barkeeper die Scheine ab. Nate schmunzelte und rechnete mit keinem Rückgeld.
Er blickte erneut zum Ende der Bar und beobachtete die beiden Schönheiten. Dass die eine seinem Bruder gefiel, konnte Nate verstehen. Sie war ein richtiger Vamp. Gegen die süße Kleine aus der Bucht hatte sie jedoch keine Chance. Sie hatte ein atemberaubendes Lächeln, wenngleich sie bedrückt schien. Er seufzte. Alles in ihm sehnte sich danach, sie in seinen Armen zu halten – und die Nacht war schließlich noch jung. Weshalb sollte er sich nicht auch amüsieren?
»Hier, dein Bier.«
»Was?«
»Dein Bier, Mann.« Der Barkeeper lehnte sich schmatzend über den Tresen und winkte Nate näher zu sich. »Ganz ehrlich Mann, bei Sam haste keine Chance. Die ist kalt wie ein Fisch. Mach dir also besser keine Hoffnungen auf sie.«
»Sam?«
»Ja, Sam. Das heiße Gefährt, dem du ein Bier ausgegeben hast. Ihr gehört die Bar hier und ich sag dir eins, wenn ihr dein Gesicht nicht passt, schmeißt sie dich im hohen Bogen raus. Also sei besser vorsichtig.«
»Klar, d-danke für den Tipp«, stottert Nate, ohne zu wissen, weshalb ihm dieser Ratschlag zuteilwurde.
Er sah dem Kerl hinterher, wie er mit beiden Bierflaschen zum Ende der Bar ging. Eine Flasche stellte er beiläufig auf dem Tresen ab. Das andere Bier reichte er Sam und deutete anschließend mit dem Finger auf ihn.
Als sich ihre Blicke trafen, lächelte ihn Sam verschwörerisch an. Sie winkte ihm kurz zu, wandte sich dann aber wieder ihrer blonden Gesprächspartnerin zu.
Irritiert kehrte der Barkeeper zurück, doch ehe Nate noch einmal in die Verlegenheit kam, mit ihm reden zu müssen, griff er nach den Bierflaschen und machte auf dem Absatz kehrt.
***
Lilly beobachtete ihre Freundin, wie sie sich auf dem Tresen abstützte und ihr eine Flasche Bier zuschob.
»Hier.« Sam deutete auf die Flasche. »Wir wurden eingeladen.«
»Und wem haben wir die Einladung zu verdanken?«
Lilly hatte zwar Fletcher mit den beiden Bierflaschen gesehen und bemerkt, wie er auf jemandem am Tresen zeigte, doch wenn sie mit Sam zusammen war, geschah das dauernd. Weshalb sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, einen Blick auf den edlen Spender zu werfen.
»Ach, irgend so einem Typen, der das Haus von Bert gemietet hat. Ich habe ihm heute Nachmittag den Weg gezeigt.«
Lilly hielt augenblicklich den Atem an. War es möglich, dass der Kerl, den sie heute Nachmittag am See getroffen hatte, hier war? Der Kerl, der so unverschämt attraktiv war und so verdammt gut roch. Ihr Körper begann vor Aufregung zu kribbeln. Seit ihrem Aufeinandertreffen hatte sie immer wieder an ihn gedacht. Nicht zuletzt hatte sie gehofft, mit ihrem Besuch in der Bar dem Schicksal ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Dann aber wurde ihr bewusst, was passiert war.
Der Fremde hatte Sam ein Bier ausgegeben. Und sie konnte es ihm nicht einmal verdenken. Wer Sam einmal begegnet war, musste dieser atemberaubend, schönen Frau einfach verfallen.
»Sam?«
Sam und sie drehten sich zu Troy um, der ängstlich und mit herabhängenden Armen in seiner Küchenschürze vor ihnen stand. »Was ist denn nun schon wieder passiert, Troy?«
Lilly schmunzelte. Ihre Freundin wusste genau, wo der Hase langlief, denn Troy war weniger für seinen Tatendrang als wegen seiner Missgeschicke berühmt oder vielmehr berüchtigt.
»Die Tacos. I-ich habe die Tacos fallen lassen«, stotterte er betrübt.
»Sammle sie einfach auf und wirf sie weg.«
»Alle?«
»Was genau meinst du, wenn du alle sagst?«, fragte Sam und ihre Stimme ließ bereits erahnen, dass sie die Antwort kannte.
»Ich wollte den großen Sack aus der Vorratskammer holen, weil heute so viel los ist, und dabei … also dann …«
»Ist noch etwas davon verwertbar?«
Als sich Troys Mundwinkel verzogen und Lilly befürchtete, er könnte jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, hatte sie Mitleid mit dem Tollpatsch.
»Na los. Geh schon!« Sam deutete zur Küche. »Wir schauen, ob wir noch was retten können.«
Troy schlurfte mit eingezogenem Kopf los, während Sam sich zu ihr umdrehte. »Ich muss dich kurz alleine lassen, Süße. Sue müsste aber in den nächsten Minuten auftauchen. Kommst du klar?«
»Geh nur. Und sei nicht zu hart zu unserem Pechvogel.«
»Ich schwöre dir, irgendwann ruiniert mich der Kerl.« Sie zog die Schultern nach oben. »Aber ich habe ihn halt gern.«
Lilly lächelte und sah ihrer Freundin hinterher. Es war unglaublich, wie loyal Sam war. Eine Chefin wie sie konnte man sich nur wünschen. Augenblicklich verfinsterte sich ihre Miene. Was würde sie dafür geben, eine ebenso gute Chefin zu sein. Wie gerne wäre sie auch so loyal zu ihren Mitarbeitern. Sie stand hingegen mit dem Rücken zur Wand und ihre einzige Hoffnung, Sanders noch zu retten, hieß Brooks Corp. Oh, wie sehr sie diesen Konzern hasste, der systematisch die kleinen Unternehmen aufkaufte, sanierte und dann an den Meistbietenden verschacherte. Wenn sie nicht irgendeine bahnbrechende Idee überkam, würde sie das gleiche Schicksal ereilen.
Sie griff nach der Bierflasche und setzte sie an die Lippen. Ihre Hoffnung, dass sie alle trüben Gedanken wegspülen konnte, verblasste angesichts des unaufhörlich näher rückenden Termins mit dem Investor aus Atlanta. Die Zukunft ihres Unternehmens und ihrer Kunststofftechnik hing von diesem einen Gespräch ab.
Gedankenverloren begann sie, am Etikett zu zupfen, als sie ein unverkennbarer Duft in der Nase kitzelte und ihr abermals den Atem raubte. Sie sah eine Hand neben sich auf dem Tresen, die eine Flasche abstellte, und spürte seinen Atem auf ihrer Haut, als er sich zu ihrem Ohr herunterbeugte.
»Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen.«
»Nun, Heartwell ist eine kleine Stadt«, antwortete sie ihm und war dankbar, dass ihre Stimme nicht versagte. Dieser Mann schaffte es allein durch seine Anwesenheit, ihren Körper in Aufruhr zu versetzen.
»Stimmt. Und mit dir muss man schließlich immer rechnen.«
Sie lachte und hielt sich kurz die Hand vor die Augen. »Das ist richtig. Mit mir muss man immer …« Lilly drehte den Kopf und sah zu ihm auf, als sich ihre Blicke trafen und sie das Gefühl hatte, seine braunen Augen würden ihr direkt in die Seele schauen. Sie schluckte, wich seinem Blick aus und wiegelte ab. »Mit mir muss man immer rechnen.«
Weshalb sollte sie sich auf diesen attraktiven Mann Hoffnungen machen, wo er doch wegen Sam hier war?
»Ich bin mit Freunden hier. Wir machen ein Männer-Wochenende und wollten hier angeln. Möchtest du dich nicht zu uns setzen?«
Lilly blieb eine Antwort erspart, denn im selben Moment gesellte sich ihre Freundin Sue zu ihnen.
»Hallo Lilly. Entschuldige die Verspätung. Aber ich war noch mit der Kassenabrechnung beschäftigt und die passte einfach nicht. Ich musste eine halbe Stunde nach dem Fehler suchen, bis ich bemerkt habe, dass Beverly vergessen hatte, einen Artikel zu buchen. Ach, egal, jetzt bin ich ja da.«
Während der Fremde rechts von Lilly stand, quetschte sich Sue links von ihrer Freundin an die Bar. Dabei wurde Lilly unweigerlich an ihn gepresst und die Körperberührung ließ ihr den Atem stocken. Sie nahm seine Nähe und diesen unglaublich betörenden Duft seines Aftershaves dadurch noch viel intensiver wahr und wäre am liebsten geflüchtet.
Stattdessen räusperte sie sich und lächelte tapfer. »Schön, dass du hier bist.«
»Ich freue mich auch, dich endlich mal wieder zu sehen.« Sue reichte dem Fremden ganz selbstverständlich ihre Hand. »Ich bin Sue, eine Freundin von Lilly.«
»Ich bin Nate. Freut mich, dich kennenzulernen.« Er reichte ihr seine rechte Hand, während er die linke Hand beiläufig auf Lillys unteren Rücken legte.
»Woher kennt ihr euch?«, wollte Sue wissen.
Lilly konnte nicht denken, solange er sie berührte. Solange Nate sie berührte. Nate. Der Name passte zu ihm. Er sah aus wie ein Nate. Groß. Attraktiv. Männlich.
»Oh, wir kennen uns nicht. Also noch nicht. Aber ich bin sehr interessiert, dies im Laufe des Abends zu ändern«, gab Nate ganz offen zu.
»Bist du ein Serienmörder, ein Stalker, ein Perverser oder noch viel schlimmer – ein Politiker?«
»Sue«, zischte Lilly empört.
»Weder noch.« Nate lachte.
»Dann hast du meinen Segen, Nate.«
»Sue«, Lilly zischte erneut ihren Namen und deutete mit ihrem Blick unmissverständlich hinter die Bar.
Sue kniff die Augen zusammen. »Moment mal, Nate. Hast du etwa ein Auge auf meine Schwester geworfen? Unsere Lilly hier ist nämlich kein Trostpflaster.«
»Deine Schwester?« Nate war seine Verwirrung anzuhören.
»Ja, Sam. Meine Schwester.«
Lilly, die ihren Blick auf Sue gerichtet hielt, wartete vergebens auf Nates Antwort. Wohingegen Sue anscheinend in den Genuss einer tonlosen Antwort gekommen war.
»Na, dann ist doch alles klar. Und jetzt brauche ich erst einmal was zu trinken.«
»Darf ich?«, fragte Nate und streckte seine Hand nach oben, um den Barkeeper zu sich zu bitten.
Sue schmunzelte. »Vielen Dank.«
»Ich habe Lilly eben eingeladen, sich zu mir und meinen Freunden zu setzen. Hättest du vielleicht auch Lust, uns Gesellschaft zu leisten, Sue?«
»Bier?«, fragte der Barkeeper unvermittelt und Nates Blick wanderte fragend zu Sue.
»Ginger Ale, Corey.«
Corey nickte und griff gleichzeitig nach dem Geldschein, den Nate aus der Tasche gezogen hatte.
»Kann Amber es uns bitte bringen?«, bat Sue den Barkeeper.
»Wo sitzt ihr?«
Nate deutete auf einen Tisch in der Ecke. »Da hinten.«
»Klar«, antwortete Corey und verschwand.
»Ich bin gespannt, deine Freunde kennenzulernen. Du nicht auch, Lilly? Weißt du, Nate, es verirren sich nicht oft Fremde zu uns nach Heartwell. Und wenn sie dann noch so nett sind wie du …« Der Rest ihres Satzes war ein einfaches Lächeln.
Nate löste seine Hand von Lillys Rücken und bedeutete Sue mit einer Geste, voranzugehen. Lilly, die sich der Möglichkeit beraubt sah, sowohl der Situation zu entfliehen als auch Sue um dezente Zurückhaltung zu bitten, ließ sich vom Barhocker gleiten und folgte ihrer Freundin stumm. Letztlich blieb ja noch offen, wie genau Sam in das Bild passte.
»Du bist so ruhig.« Nate legte abermals seine Hand auf Lillys unteren Rücken. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein. Es ist nichts. Nur …«
»Nur, was?«
»Weshalb hast du Sam ein Bier ausgegeben?«, fragte Lilly ihn ohne Umschweife. Was hatte sie schon zu verlieren.
Er hielt sie am Arm zurück und drehte sie zu sich um.
»Ich habe dir ein Bier ausgegeben. Sam stand einfach nur bei dir und ich bin nicht unhöflich. Außerdem hat sie mir heute aus einer Verlegenheit geholfen. Ein Bier war das Mindeste.«
Lilly sah ihn argwöhnisch an. Seine Augen glänzten bestechend. Seine Nase hatte einen kleinen Höcker. Er hatte eine Narbe über seiner rechten Augenbraue und leichte Geheimratsecken, die ihm gut standen. In seinem Gesicht hatte sich ein Bartschatten gebildet und Lilly musste über sich selbst den Kopf schütteln, als sie sich fragte, wie gut sich das Kratzen anfühlen würde, wenn er sie küsste.
»Nate also.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Und meine kleine Wassernixe hört auf den bezaubernden Namen Lilly.« Er nahm ihre Hand und küsste ihren Handrücken. Dann blickte er auf und sah sie fest an. »Ich kann es kaum erwarten, dich morgen für mich alleine zu haben.«
Lilly spürte, wie sie rot wurde. Es war verdammt lange her, seit ein Mann ihr derart offenkundig sein Interesse gezeigt hatte. Wenn sie genauer darüber nachdachte, eigentlich noch nie. Warf es sie vielleicht deshalb so aus der Bahn?
Nate schien kein Kerl zu sein, der lange fackelte. Er griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich an den Tisch zu seinen Freunden. Während er sie und Sue vorstellte, betrachtete Lilly die drei Männer, die nicht unterschiedlicher hätten sein können.
Steve war ein bulliger Typ. Er war zwar sehr gepflegt und auf seine Art und Weise durchaus attraktiv, aber er war so wortkarg, dass er schon wieder langweilig war.
Logan hingegen war eher schmal – nein, schmächtig. Er machte den Eindruck, ein Wichtigtuer zu sein. Seine ganze Art kam bei Lilly nicht an, weshalb sie weder etwas mit seinen manikürten Händen noch seinen Designerklamotten geschweige denn seinen gegelten Haaren und seiner übertriebenen Meinung über sich selbst etwas anzufangen wusste.
Ryan war einfach nur perfekt und mit Abstand einer der bestaussehenden Männer, denen Lilly je begegnet war. Er war ihr unheimlich sympathisch und sein makelloses Lächeln war ansteckend.
Ohne Zweifel hätte der Mann zu ihrer Linken der aktuellen Ausgabe des GQ-Magazins entspringen können.
Trotzdem vermochte er es nicht ansatzweise, ihr Herz derart in Aufruhr zu versetzen wie Nate, der zu ihrer Rechten saß und keine Möglichkeit ausließ, sie immer wieder beiläufig zu berühren.
Die Zeit verging wie im Fluge und die Bar begann, sich langsam zu leeren, als Ryan plötzlich wie von der Tarantel gestochen auffuhr und zur Bar deutete.
»Fuck. Da ist sie ja.«
Alle drehten sich zur Bar und Lilly musste schmunzeln. Es war ja klar, um was es ging und wen Ryan meinte. Sie sah zu Sue, die lächelte und ebenfalls den Kopf schüttelte.
»Hey Ladys, kennt eine von euch zufällig meine zukünftige Frau? Sie arbeitet hinter der Bar.«
»Ryan.«
Lilly war verwundert, wie streng Nate seinen Freund zur Zurückhaltung anhielt.
»Moment. Deine zukünftige Frau?«, hakte Sue nach.
»Nun, sie hat noch nicht Ja gesagt. Aber sie weiß, dass ich sie heiraten will.«
Sue lachte. »Na dann, herzlich willkommen in der Familie, lieber Schwager.«
»Schwager?«, fragte Ryan ungläubig. »Ist sie etwa deine Schwester?«
»Ja.«
»Wie heißt meine Traumfrau?«
Sue stand auf und winkte Ryan zu sich. »Komm mit. Ich stell sie dir vor.«
Ryan stieß seinen Stuhl so schnell nach hinten weg, dass er umzukippen drohte. Lilly konnte ihn gerade noch auffangen und sicher zurückstellen. »Das muss wahre Liebe sein.« Sie lachte und sah den beiden hinterher.
In exakt diesem Augenblick war sie sich Nates voller Aufmerksamkeit bewusst und vermied es, seinen Blick zu erwidern. Noch mehr Herzklopfen würde sie an einem Abend nicht verkraften.
Lieber gönnte sie sich das Schauspiel um Ryan und Sam, denn für gewöhnlich bot Sam eine ausgezeichnete Show, indem sie jeden Kerl eiskalt abblitzen ließ. Wobei Ryan schon verdammt süß war. Vielleicht hatte der Ärmste ja doch eine Chance bei ihr?
***
Nate schüttelte verlegen den Kopf, während er Ryans Diskussion mit Sam folgte, in der es darum ging, ob sie nun heiraten würden oder nicht. Seinem Bruder flogen schon immer die Frauenherzen zu, womöglich wurde er von ihrer Ablehnung nur noch mehr angestachelt. So hatte er ihn auf jeden Fall noch nie erlebt. Ryan spielte mit seiner Zukunft und benutzte die Worte heiraten und Ewigkeit viel zu inflationär. Wobei er selbst schon beinahe gewillt war …
Nein. Nein. Nein. Lilly war unglaublich süß. Er musste sie einfach haben. Er wollte sie einfach haben. Alles Weitere stand in den Sternen.
Als sich das Junction weiter leerte und Ryan sich am Tresen vor Sam lange genug zum Affen gemacht hatte, verlagerte die muntere Gesellschaft ihr Zusammentreffen an die Bar. Niemand von ihnen wollte den amüsanten Schlagabtausch zwischen Ryan und Sam verpassen. Wobei Ryan eher zu bemitleiden war und Sam zeigte, dass sie trotz ihres extrem kurzen Rockes stets die Hosen anbehielt.
Die Eingangstür flog auf und Tumult brach aus. Auf einen Schlag war es um Sams Konzentration auf das unterhaltsame Geplänkel geschehen.
»Verdammt«, raunte sie.
»Was ist los? Wer sind die Kerle?«
»Das sind die Pistols. Eine Rockergang, die seit ein paar Monaten ihr Unwesen hier in der Gegend treibt. Bis jetzt haben sie mich in Ruhe gelassen. Ich hoffe, dass das auch weiterhin so bleiben wird.«
Sam sah besorgt aus und auch Sues Stirn lag in Falten. »Soll ich vorsichtshalber Brian anrufen?«, fragte Sue ihre Schwester.
»Nein. Ich will keine Polizei hier. Hoffen wir einfach das Beste«, sagte Sam entschlossen.
Lilly und Sue entschuldigten sich kurz und gingen in die Waschräume. Währenddessen kam Ryan zu Nate und zog die Augenbrauen nach oben.
» Nate, wann hattest du deinen letzten Auffrischungskurs?«
»Den brauch ich nicht. Steve und ich stehen jede Woche zwei Mal im Ring. Wie sieht es mit dir aus?«
»Schon eine Weile her. Aber ich schwöre dir, wenn einer von denen …«
»Ryan, beruhige dich. Es nützt hier keinem, wenn du meinst, den Helden spielen zu müssen, nur um Sam zu imponieren.« Nate überblickte den Raum. Die sechs Kerle, die zuvor in ihrer schwarzen Lederkluft hereinstolziert waren, verhielten sich eher zurückhaltend. Zwei von ihnen pöbelten gelegentlich ein paar Gäste an, doch die Besucher gingen lieber, als einen Streit vom Zaun zu brechen.
Lilly und Sue kamen wieder zurück. Nate hätte sich wahrlich gewünscht, seinen wachsamen Blick ausschließlich Lilly schenken zu können. Stattdessen bemühten sich Steve und er, die Lage in der Bar im Auge zu behalten.
Die beiden Frauen zwängten sich an einer Gruppe von Gästen vorbei, als einer der Rocker unvermittelt Lilly an den Hintern fasste und sie zu sich zog. Nate fuhr auf, doch Sam war schneller.
»Hey«, rief sie dem Kerl zu. »Lass gefälligst deine hässlichen Klauen von meiner Freundin. Sonst …«
»Sonst was, Püppchen?«, entgegnete der Rocker mit dem Stiernacken. »Kommst du und versohlst mir den Hintern?« Er zog eine Schnute und blinzelte Sam herausfordernd zu.
»Sam, lass uns das …« Nate war in allerhöchster Alarmbereitschaft, zog jedoch verwundert die Augenbrauen hoch, als Sam plötzlich einen Baseballschläger in der Hand hielt. Wo zum Teufel hatte sie den so schnell herbekommen? Was versteckte sie eigentlich noch alles hinter dem Tresen?
»Oh ja«, unterbrach sie Nate, ehe er aussprechen konnte. »Und jetzt überleg dir genau, was du tust, Freundchen. Denn ich werde ganz sicher etwas finden, wo ich dir das Ding reinschieben kann.«
Hoppla. Nate riss die Augen auf. Er hatte selten eine Lady so derbe reden hören. Er richtete seinen Blick wieder auf Lilly und sah ihre Anspannung, die sich mehr und mehr in Angst verwandelte. Zudem hielt sie der Kerl jetzt auch noch am Arm fest und da der Stirnnacken Anstalten machte, sich Sams Äußerungen nicht gefallen zu lassen, blieb Nate keine andere Wahl, als zu intervenieren. Nur so konnte er den Schaden so gering wie möglich halten.
»Freunde, weshalb trinkt ihr nicht in aller Ruhe euer Bier aus und geht wieder. Keiner will hier Stress. Lass einfach meine Freundin los und wir vergessen die ganze Sache.« Nate hob beschwichtigend die Hände. Dann presste er seinen Kiefer zusammen, denn er musste mit ansehen, wie der Typ Lilly enger zu sich zog.
»Das Lockenpüppchen gehört zu dir?«, der Kerl, auf dessen Lederweste der Name Big Mitch aufgedruckt war, feixte.
Plötzlich klang Nates Stimme nicht mehr freundlich und um ihn herum wurde es gefährlich ruhig.
»Hör zu, Arschloch. Lass sie los oder Sam braucht dir den Baseballschläger nirgendwo mehr reinstecken, weil ich dir deinen Arsch schon aufgerissen habe.«
Ein Raunen ging durch das Lokal und mit einem Mal hatte Nate auch die Aufmerksamkeit der restlichen Gang auf sich gelenkt. Nacheinander standen sie von ihren Plätzen auf und fixierten ihn mit eisernen Blicken.
So furchteinflößend die Kerle auch aussahen, er würde es mit jedem von ihnen aufnehmen. Kein Mann durfte sich anmaßen, so mit einer Frau umzugehen. Schon gar nicht mit der zauberhaften Lilly.
Zu Nates Verwunderung war Sam die Erste, die neben ihm stand und provokativ den Schläger immer und immer wieder in ihre Hand fallen ließ. Dann erschien Steve neben ihm. Ryan folgte Steve. Selbst von den Gästen zeigten sich einige bereit, sich hinter sie zu stellen.
»Verschwindet, und zwar auf der Stelle«, warnte Sam die Männer ein letztes Mal und ließ ihren Baseballschläger mit voller Wucht auf den Tresen fallen.
»Das könnte dir so passen, du Schlampe«, mischte sich ein großer, hagerer Kerl lautstark ein. »Keiner legt sich mit den Pistols an.«
Dann ging alles ganz schnell. Binnen weniger Sekunden hatte sich das Junction in den Schauplatz einer riesigen Schlägerei verwandelt. Steve kümmerte sich ausdauernd um Big Mitch, während Ryan sich den Kerl vornahm, der Sam beschimpft hatte.
Nate bemerkte, dass zwei weitere Bandenmitglieder die Bar betraten. Er riss Sam den Baseballschläger aus der Hand und begrüßte die beiden an der Eingangstür, noch bevor sie die Situation umreißen konnten und Gelegenheit erhielten, den anderen zu Hilfe zu eilen.
Mit einem lauten Knall ging der erste Tisch zu Bruch. Es folgte ein Stuhl.
Nate konnte zwar ein paar gute Schläge gegen die beiden Neuankömmlinge ausrichten, doch dann bekam ihn einer zu fassen und drehte ihm den Arm auf den Rücken, während der andere ihm einen harten Schlag in den Magen verpasste. Er krümmte sich schmerzerfüllt und hörte, wie Lilly mit erschrockener Stimme seinen Namen rief.
Verdammt. Reiß dich zusammen. Wie hat er deinen Arm zu fassen bekommen? Warum bist du so unkonzentriert? Dabei hatte er es doch besser gelernt. Solche Fehler sollten ihm nicht passieren. Warum sonst trainierte er zweimal die Woche mit Steve, wenn nicht, um sich vor solchen Angriffen zu schützen?
Konzentriere dich.
Nate atmete tief durch und ließ seinen Arm locker. Er machte einen großen Ausfallschritt nach vorne und drehte sich. Völlig überrumpelt ließ sein Angreifer seinen Arm los. Nate schlug mit seiner flachen Hand gegen das Brustbein des Kerls, der abrupt zusammensackte und nach Luft japste. Dann wandte er sich dem anderen zu und konnte einem Schlag in sein Gesicht gerade noch ausweichen.
Dabei traf ihn eine der schweren Ketten, die an der Lederjacke des Typen befestigt war, an der Stirn und er spürte sofort, dass die Wunde zu bluten begann.
Um keine weiteren Schläge mehr einstecken zu müssen, musste Nate jetzt schnell sein. Sein Gegner holte bereits mit der anderen Hand zu einem weiteren Schlag aus, doch Nate konnte sich rechtzeitig ducken. Er drehte sich und sein Ellbogen traf zielsicher die Magengegend des Rockers.
Zufrieden sah er mit an, wie sich die Gestalt krümmte und zu Boden ging, während der andere Kerl noch immer nach Luft japste. Wer sich an hilflosen Frauen verging, hatte es nicht besser verdient.
***
Aufgelöst sah sich Lilly das Chaos in Sams Bar an. Das Inventar hatte ganz schön was abbekommen. Abgesehen von den Glasscherben und dem kaputten Geschirr waren auch zwei Tische und zahlreiche Stühle zu Bruch gegangen.
Die Pistols waren nach ihrer Niederlage abgezogen und hatten Rache geschworen. Sam blieb dennoch ruhig und bedankte sich zunächst bei ihren Gästen, die sich für sie geprügelt hatten.
Bevor es Freibier für alle gab, half jeder mit, den angerichteten Schaden wieder aufzuräumen. Die Frauen fegten die Splitter auf und die Männer räumten das kaputte Mobiliar zur Seite. Die Mitarbeiter des Junction zapften kühles Bier, während Sam begann, ihre Helfer zu verarzten.
Lilly entdeckte Nate, der abseits ein paar Stühle zur Seite räumte, und bemerkte die blutige Schramme an seiner Stirn. Sie ging zum Erste-Hilfe-Kasten, den Sam auf den Tresen gestellt hatte, nahm sich das Desinfektionsspray, ein wenig Mull, ein paar Einweghandschuhe und ein Pflaster.
»Hey«, sprach sie ihn an, da er ihr den Rücken zuwandte. Er drehte sich um und lächelte. Sie bekam sofort weiche Knie.
»Hey«, antwortete er.
»Ich habe gesehen, dass du blutest.«
Nate tastete an seine Stirn und beäugte daraufhin die rote Flüssigkeit auf seinen Fingern. »Ist nicht schlimm.«
»Darf ich dich trotzdem verarzten?« Verarzten? Am liebsten hätte sie sich ihm in die Arme geworfen, so gerührt war sie von seinem Beschützerinstinkt. Wer legte sich denn schon freiwillig mit einer Rockerbande an – außer Sam natürlich. Und ihr würde Lilly zu jeder Zeit und aus Erfahrung diese Unzurechnungsfähigkeit attestieren.
»Ich weiß, was mir mehr helfen würde als Verbandsmull.«
Seine Stimme war rau und seine Augen so verlangend, dass Lilly kurz befürchtete, er hätte ihre Gedanken gelesen.
»Momentan kann ich dir nur ein Pflaster anbieten. Setz dich.« Sie deutete auf einen Tisch. Nate lehnte sich dagegen und war somit auf Augenhöhe mit ihr.
Sie streifte nervös die Handschuhe über, sprühte etwas vom Desinfektionsspray auf den Mull und tupfte die Wunde sauber. Sie waren sich dabei so nah, dass ihr wieder einmal der unwiderstehliche Duft seines Aftershaves in die Nase stieg. Seine Nähe ließ sie kaum atmen. Ihre Beine streiften seine Knie und ein wohliges Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus. Die Verlockung, ihn zu berühren, war so übermächtig, dass es ihr Angst machte.
»Hat dir der Kerl wehgetan?«
Sie sah seinen sorgenden Blick und hätte sich am liebsten in seinen braunen Augen verloren. Nate brachte sie echt um ihren Verstand.
»N-nein … Nein, er hat mir nicht wehgetan. Aber er stank erbärmlich nach billigem Rasierwasser und Schweiß.«
Weshalb erzählte sie ihm das?
Nate lachte. »Das tut mir leid.«
»Still halten«, wies sie ihn an und nahm das Pflaster aus der Verpackung. Sie beugte sich zu ihm und platzierte den braunen Klebestreifen an seiner Stirn. Ihre Bemühungen, seine Nähe und seine Wärme auszublenden, scheiterten ebenso kläglich, wie zu verhindern, dass er ihren sehnsüchtigen Blick mit seinem auffing. Sie räusperte sich. »Das sollte …«
Sie spürte seine Lippen auf ihren und erschrak, als sie das lustvolle Stöhnen hörte, das ihrem eigenen Mund entwich. Es fühlte sich wundervoll an, seine Lippen auf ihren zu spüren und zu wissen, wie sich die kleinen, kratzigen Bartstoppeln tatsächlich anfühlten, wenn er sie küsste. Es war ein perfekter Kuss. Nate war weder aufdringlich noch zurückhaltend. Und Lilly wünschte sich, dieser Kuss würde nie enden, so gut und richtig fühlte es sich an.
Das Ende kam leider viel zu schnell. Nate wich zurück und sah ihr mit verklärtem Blick in die Augen. Er wirkte beunruhigt, lächelte aber und flüsterte: »Verdammt, Lilly. Ich will mehr davon.«
»Kommt schon, Leute. Lasst uns darauf anstoßen, dass wir diese Armleuchter in die Flucht geschlagen haben«, brüllte Sam durch die Bar und hielt ein Glas Bier in die Höhe.
Lilly wich zurück. Es war das eine, sich dem Moment hinzugeben. Aber es waren noch viel zu viele ihrer Mitarbeiter in der Bar und sie wollte ihnen ungern Anlass für Gerede geben. Schlimm genug, wenn jemand diesen Kuss gesehen hätte.
Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und deutete zum Tresen. »Wir sollten rübergehen. Ich möchte nicht, dass über uns getratscht wird.«
»In Ordnung.« Nate stand auf und sah sie eindringlich an. »Aber ich bin noch lange nicht fertig mit dir.«
Es war Samstagmorgen. Trotz der frühen Uhrzeit brannte die Sonne heiß über Heartwell. Das ganze Städtchen war auf den Beinen und auch in der Bäckerei von Babette Smulders war die Schlägerei im Junction in aller Munde. Jedes Mal, wenn Babette eine Anekdote erzählte, zeigte sich Lilly aufs Neue überrascht. Wie aus den sechs Pistols plötzlich zwanzig werden konnten und wie Sam sie alleine in die Flucht geschlagen hatte, war ihr allerdings ein Rätsel.
Mit einem Schmunzeln verließ sie die Bäckerei und biss herzhaft in ihr Hefebrötchen, das mit Orangensaft und Honig getränkten Rosinen gefüllt war und das sie sich beinahe jeden Morgen hier abholte. Ihr rotes Fahrrad lehnte an der Hauswand. Sie stellte es auf und dachte ernsthaft darüber nach, in welche Richtung sie fahren sollte. In der Firma hatte sie alles vorbereitet, was für den Termin mit Brooks Corp. in zwei Tagen notwendig war.
Sie könnte dennoch in ihr komplett überhitztes Büro fahren und sich die Unterlagen ein weiteres Mal anschauen. Wobei sie die Präsentation zwischenzeitlich auswendig kannte. Sie hatte sie schließlich erstellt, erarbeitet und in den letzten Tagen gefühlt tausendmal gelesen.
In der anderen Richtung lag hingegen die Unvernunft. Die Unvernunft und ein kühler Badesee, in dem sie sich entspannen konnte. Sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan, weil sie unaufhörlich an diesen Kuss dachte. Den Kuss eines völlig fremden Mannes.
Und wieder einmal musste sie sich die Frage stellen, wie sie es nur hatte so weit kommen lassen können. Sie war erst seit wenigen Monaten wieder Single. Sehnte sie sich etwa so sehr nach körperlicher Nähe?
Die Antwort lag auf der Hand und genau das beunruhigte sie: Sie sehnte sich nach Nate. Nur nach ihm. Einem Wildfremden, der sich für sie geprügelt hatte.
Und wieder begann ihr Herz, aufgeregt zu pochen.
Mit Richard war sie knapp zwei Jahre liiert gewesen. Nachdem ihr Vater ihn als Abteilungsleiter bei Sanders eingestellt hatte, war alles sehr schnell gegangen. Sie hatte den Mistkerl geliebt – das hatte sie jedenfalls geglaubt. Doch unabhängig davon, dass er nicht nur sie, sondern auch ihre Familie und die Firma betrogen und belogen hatte, hatte er nie vermocht, ihr Herz derart in Aufruhr zu versetzen, wie Nate es tat. Und dabei kannte sie ihn nicht einmal.
Als sie in den Waldweg zum Ferienhaus einbog, lachte sie und stellte kopfschüttelnd fest, dass sie sich über ihre Gedanken hinweg unbewusst für einen Weg entschieden hatte. Weshalb sollte sie nicht auch einmal unvernünftig sein? Sie wollte Nate wiedersehen. Unbedingt. Und sie hoffte darauf, ihn noch einmal zu küssen. Er und die Jungs waren nur übers Wochenende hier zum Angeln. Ihre Unvernunft wurde demnach in einen zeitlichen Rahmen gezwängt und vermutlich würde sie ihn danach nie wiedersehen. Nate war nach den unendlich scheinenden Wochen und Monaten der Erste, der es geschafft hatte, sie von der Misere bei Sanders abzulenken. Und sie konnte ruhig noch mehr Ablenkung wie diese vertragen.
Kurz vor der Einfahrt zum Ferienhaus gabelte sich der Weg und Lilly folgte dem schmalen Pfad, der direkt zur Badebucht führte. Sie lehnte ihr Fahrrad gegen einen Baum und blickte in die Richtung des Ferienhauses, das man zwischen den vielen Bäumen nur erahnen konnte. Wer nicht wusste, dass dort ein Haus stand, musste sich schon sehr anstrengen, um überhaupt etwas von dem imposanten Holzhaus zu erkennen.
Lilly öffnete die Knöpfe ihres weißen Sommerkleides, das über und über mit bunten Blumen bedruckt war, und legte es sorgfältig in den Einkaufskorb, der an der Lenkstange ihres Rades befestigt war. Obwohl sie einen durchaus sittsamen hellblauen Badeanzug trug, fühlte sie sich mit einem Mal nackt. War es doch keine gute Idee, hierher zu kommen?
Was, wenn Nate nicht gefiel, was sie ihm so unverblümt präsentierte? Schließlich war sie weder ein Supermodel noch legte sie viel Wert auf diesen ganzen anderen Beauty-Kram, den es so gab. Weshalb also bereute sie in genau diesem Augenblick, dass sie sich am Morgen gegen ein Make-up entschieden hatte?
Ihr Blick glitt zum Himmel. Die Sonne brannte so heiß, dass selbst das beste Make-up bei diesem Wetter dahingeschmolzen wäre. So dahingeschmolzen, wie sie sich fühlte, wenn sie an Nate dachte und an seine Lippen, die zärtlich über ihre …
»Ich hatte Angst, du würdest nicht kommen.«
Erschrocken unterbrach Lilly ihre Gedanken und fuhr herum. Ihr Brustkorb hob und senkte sich aufgeregt. Aber was genau war schuld daran?
Sein plötzliches Auftauchen? Seine raue Stimme? Oder ihr Ausblick auf einen nackten, unglaublich männlichen Oberkörper, der ihren Mund in die Wüste Sahara verwandelte und sie gleichzeitig ihre Lippen nach ihm lecken ließ? Es wäre aber auch durchaus denkbar, dass sein aufreizender Blick, der sie in einer Art und Weise musterte und sie ein unbändiges Kribbeln verspüren ließ, der Auslöser dazu war. Reiß dich zusammen!
»Hattest du Zweifel?« Sie rollte innerlich mit den Augen als ihr eigenes, unsicheres Gestammel an ihr Ohr drang.
»Du warst gestern so plötzlich verschwunden. Ich konnte mich nicht einmal von dir verabschieden.«
Sein anzügliches Grinsen amüsierte sie.
»Du wolltest dich also von mir verabschieden?«