7,49 €
Rita Mahlendorf schreibt an gegen das Vergessen, das eigene und das ihrer Vorfahren. So kam sie dazu, den Geschichten von Eltern und Großeltern nachzuspüren, festzuhalten, was sonst niemand mehr erzählen kann. In "Heimatkunde" vereint sie Gedichte aus fünfunddreißig Jahren. Ihre klangvolle, von sinnlichen Bildern getragene Poesie gibt dem Erleben von Zugehörigkeit Raum, beschreibt auf sanfte, oft zärtliche Weise Heimat und Heimatverlust, eigene Verwurzelung und Entfremdung. Das Ausgesetztsein in einer sich rasant verändernden Welt gewinnt dabei ebenso Raum, wie Worte der Liebe und der Ermutigung ihren Platz finden. Über die Schultern ihrer Kinder schaut die Autorin in eine ungewisse, aber hoffnungsvolle Zukunft. Es sind Gedichte vom Ankommen, Bleiben und Gehen. Sie feiern das Leben und machen vor dem Tod nicht halt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 34
Prolog
Bild im Spiegel
1989
Zeitunglesen 1989
Kleine Flucht
Die Leute aus meinem Haus
November 1989
erwiderung
April 1990
Mai 1990
Mein Land
Müllrose
Heimat
Über meinen Glauben
Berliner Gedichte
Augenblicke
Park in M.
Sommerende am Meer
die vorzüge des alleinseins
Besuch
Frau sein
Vater
Bitte
Erwachsenwerden
Gründe zu bleiben
Letzter Weg
Als Großvater starb
Erdenmensch
Orgel
Lebensmitte
Sommer
Nachbarschaft
meinem sohn ins krankenhaus
Die Brücke
nacht
hungertier
Wiedersehen
Zeitenbrücke
Alte Frauen
Was ist die Zeit
März im Oderbruch
Neujahr in F.
Wieder Mors
Neubaugebiet in F.
Salzburg
Abschied von Norderney
Pfefferkuchenhaus
Manche Tage
haut an haut
Erwartung
streit
Richtet euch ein
Liebeslied
Alt werden
Hoffnung
Nun sind wir allein
Die ersten Worte, die ich sprach, kann niemand erinnern.
Sie sind wohl auch nicht besonders aufgefallen. Zu Hause wurde immer viel geredet, eine ganze Kinderschar plapperte durcheinander. Ich wurde größer und lernte ebenso, mich mitzuteilen, wie den Mund zu halten; als Jüngste in der Großfamilie stand mir bei Tischgesprächen meist nicht das Wort zu. Ich lernte Mama und Papa und all die anderen Worte, auch die, die man nicht sagen sollte, rechtzeitig. Die ersten Worte, die ich schrieb, machten mich stolz. Ich bin mir nicht sicher, ob mein Stolz auf das Schreibenlernen ausreichend Widerhall im Kreis meiner Lieben fand. Schließlich war ich die Kleinste, das Nesthäkchen zwar, aber auch die, die nebenbei aufwuchs, ganz selbstverständlich behütet von den großen Geschwistern.
Ich lernte schnell und verstand es dabei, nicht aufzufallen.
Wenn meine Brüder und Schwestern ein Text aus dem Schulbuch quälte, ein Osterspaziergang zum vierten Mal den allgemeinen Weltuntergang erlitt, hatte ich das Gedicht schnell im Kopf. Der Singsang des Rhythmus‘ prägte sich ein, ohne mir viel Mühe abzufordern. Darunter leide ich zuweilen noch heute. Jeder idiotische Schlagertext frißt sich in die Gehirnwindungen. Beginnt die Musik, singt eine innere Stimme mit, es kann noch so banal sein.
Immer waren es Worte, die mich faszinierten. Kaum hatte ich schreiben gelernt, waberte zu oft die Lehrerrede an mir vorbei, hatte ich den Sinn schon erkannt, das zu Denkende schon gedacht. So begann das Spiel. Ich fügte die Worte neu, verlieh ihnen Sang und Klang, wo vorher keiner zu finden war, stellte sie hin und her, ließ sie tanzen auf dem Blatt als Dirigentin des Alphabets. Und sie gehorchten, meistens jedenfalls. Doch es wuchs zunehmend die Sorge, nicht verstanden zu werden, die Angst, das Unbeschreibliche nicht beschreiben zu können. Ich tastete in der Welt umher mit dieser immer wiederkehrenden Frage: Sind die anderen mir gleich? Wenn die Menschen ringsum auch so viele Worte im Kopf wägen, wenn sie auch so viele neue Gedanken denken, warum sagen sie es nicht, warum schreiben sie es nicht?
Die Worte sträubten sich zusehends mit dem Erwachsenwerden. Nicht alles einfach Gedachte konnte auch einfach aufgeschrieben sein. Es war irgendwann nicht mehr das Gedicht über die ruhmreiche Patenbrigade, das mich die halbe Nacht in Atem hielt. Es war die Frage, ob das, was ich zu sagen hatte, wichtig sein würde für diese Welt. So wichtig, daß nur ich es aufschreiben konnte. Und im Zirkel der Schreibenden oder bei Poetenseminaren erhielten beide Nahrung: der Zweifel und die Schreiblust.
Auf der Suche nach dem Eigenen stolperte ich immer wieder darüber, wer ich sein könnte. Und mußte mich doch zuerst damit befassen, wer ich denn sein sollte. In dem kleinen Land, das ich mein Zuhause nannte, konnte dieser Konflikt schon problematisch werden, wurde er an der falschen Stelle ausgetragen. Dennoch fragte ich und mußte mich fragen lassen, was ich zu sagen und zu schreiben hatte. Ob es einzigartig genug war, es der Welt mitzuteilen.