Heimlich, still und Leiche - Micha Krämer - E-Book + Hörbuch

Heimlich, still und Leiche E-Book und Hörbuch

Krämer Micha

5,0

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Beschreibung

Ein toter Mann wird übel zugerichtet auf der neuen Liegebank „im Rainchen“ gefunden. So nennen die Betzdorfer den kleinen Park unweit der Stadtmitte. Der abgemagerte und verwahrloste Verstorbene ist der Polizei nicht unbekannt. Er war vor neun Jahren als Serienmörder verurteilt worden und weist zahlreiche Spuren von Misshandlungen auf. Ist aus einem der Opfer von damals ein Täter geworden oder steckt doch etwas ganz anderes hinter dem brutalen Mord? Eines wird Kriminalhauptkommissarin Nina Moretti schnell klar: Der Fall wird ein Wettlauf gegen die Zeit.

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Zeit:10 Std. 41 min

Sprecher:Micha Krämer
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PetraB

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Ein Super Tolles Buch Spannend wie immer Danke Micha —- Es empfiehlt sich eine Krimibus Tour mit Micha Krämer zu unternehmen
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9786-3

Micha KrämerHeimlich, still und Leiche

Prolog

Einer muss es tun. Wenn nicht ich, wer sonst? Das Maul aufreißen, klagen und jammern. Das können sie alle. Doch niemand außer mir hat den Willen und den Mumm, es auch zu tun. Auge um Auge, Zahn um Zahn. So stand es schon in der Bibel geschrieben. Jedem das, was er verdient.

Ruhig stehe ich in der Mitte des abgedunkelten Raumes und betrachte die wimmernde Kreatur vor meinen Füßen. Es wundert mich, dass ich so gar kein Mitleid mit ihr haben kann, obgleich ich weiß, dass der Mann sterben wird. Dass er sterben muss!

Ich könnte es, wenn ich es wollte, nun beenden. So oder so. Ich könnte ihn retten, indem ich einen Notarzt verständige oder ihn vor einer Klinik ablege.

Ich könnte ihn aber auch einfach wie ein räudiges Tier totschlagen.

Doch ich werde nichts dergleichen unternehmen. Ich werde ihn weder retten noch töten, weil er weder das eine noch das andere verdient hat. Ihm wird keine Gnade erteilt, so wie er anderen nicht gnädig war.

Er ist es nicht wert, dass ich mir die Finger an ihm schmutzig mache oder dass er den anderen Geschöpfen auf dieser Erde weiterhin die Luft wegatmen darf.

Er soll seinen Schmerz und das Leid noch auskosten dürfen, bis sein Herz nicht mehr schlagen will. Dann darf er sterben.

„Bitte … nein … bleib hier“, höre ich ihn wimmern, als ich die Türe von außen hinter mir bis auf einen Spalt zuziehe. Wenn er will, könnte er auch gehen. Doch weit würde er nicht kommen. Dafür habe ich gesorgt.

Morgen werde ich wiederkommen, um nach ihm zu sehen. Wenn er verreckt ist, ist es gut. Wenn er noch lebt, komm ich auch übermorgen wieder. Jeden Tag, so lange wie es eben dauert.

Kapitel 1

Montag, 10. Juli 2023, 7 Uhr 34

Wohngebiet Alsberg, Betzdorf/Westerwald

„Ja, so geht Sommer“, stellte Hauptkommissarin Nina Moretti zufrieden fest, als sie an diesem Morgen das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren. Es war weder zu warm noch zu kalt. Die Vögel im Wald hinter dem Haus zwitscherten um die Wette und über den Wipfeln der umstehenden Bäume lugte die Sonne von einem strahlend blauen Himmel.

Mit einer Tasse Kaffee in der Hand ging sie über den Platz vor der Villa bis zum Carport, entriegelte die Tür und warf ihre Jeansjacke zusammen mit der Handtasche auf den Beifahrersitz von Maggiolino.

Ihr Blick fiel zum Küchenfenster, von wo die Zwillinge ihr hinterherwinkten.

Sähe sie eine Szene wie diese gerade im Fernsehen, würde sie den kitschigen Mist sofort abschalten. Rosamunde Pilcher und Herzschmerz waren noch nie ihr Ding gewesen. Doch so wie es gerade im wahren Leben lief, gefiel es Nina dann doch ganz gut. Es war alles in bester Ordnung.

Sie warf den beiden eine Kusshand zu, zog die Wagentür zu und startete dann den Motor des marinablauen VW Käfer. Wie ein Uhrwerk schnurrte der betagte Volkswagen, den ihr Papa vor neunundvierzig Jahren als Neuwagen gekauft und bis zu seinem Lebensende gefahren und gepflegt hatte.

Mit offenem Fenster fuhr sie in Richtung Stadtmitte. Zum Glück waren derzeit Ferien und der Verkehr auf den Straßen daher eher mäßig.

Keine fünf Minuten später stoppte sie den Wagen auf dem Parkplatz am Hellerufer direkt hinter der Wache und sah sich erst einmal suchend um.

Von Kübler oder vielmehr dessen doch eher markantem Dienstwagen war noch nichts zu sehen. Der Kollege sollte heute eigentlich wieder aus dem Urlaub zurück sein. Nun gut, es war ja noch früh am Morgen. Sie trank den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse und stellte das leere Behältnis dann zu den anderen hinter den Beifahrersitz. Sie würde dringend daran denken müssen, die Tassen abends nach der Arbeit mal wieder mit ins Haus zu nehmen, bevor der Küchenschrank gänzlich leer war. Klaus, ihr Mann, konnte es überhaupt nicht leiden, wenn sich die Kaffeepötte im Auto stapelten. Überhaupt hatte er ein Problem damit, wenn sie ihren ersten Kaffee morgens im Auto trank, anstatt sich die Zeit zu nehmen, dies zu Hause in der Küche zu tun.

„Moin, Tom“, begrüßte sie den Kollegen Thomas Kübler, als dieser um kurz vor acht das gemeinsame Büro in der Kriminalinspektion Betzdorf betrat.

„Moin moin, Nina“, erwiderte er friesisch echt und bestens gelaunt. Da merkte man doch sofort, wo der im Urlaub gewesen war. Was sie aber natürlich auch sowieso wusste, da sie ihm den Aufenthalt auf dem Campingplatz an der Nordsee selbst vermittelt hatte.

„Und wie lief es bei deinen Undercover-Ermittlungen im Campermilieu?“, erkundigte sie sich amüsiert.

Martin, ein sehr guter Freund von ihr, arbeitete derzeit als Platzwart auf besagtem Campingareal und hatte gegenüber Nina behauptet, sein Vorgänger sei ermordet worden. Da sie selbst sich keinen Urlaub hatte nehmen können, um sich um den Fall zu kümmern, und Kübler samt Familie noch nach einem Reiseziel suchte, hatte sie die beiden zusammengebracht. Kostenloser Urlaub für die Ermittlungen in einem Fall, der vermutlich gar keiner war. Ein, wie Nina fand, fairer Deal.

„Hervorragend, Nina. Martin und ich konnten den Fall lösen“, berichtete Kübler nun aber und erzählte ihr brühwarm, was alles in den letzten beiden Wochen an der Küste vorgefallen war.

Nina hörte mit Erstaunen zu und stellte auch einige Fragen zu Motiv und Hintergründen. Das war ja ein Ding! Dass an Martins Mordtheorien tatsächlich etwas dran sein könnte, hätte sie nie und nimmer für möglich gehalten.

Und ja, sie war schon ein wenig neidisch, dass sie Thomas hatte schicken müssen und nicht selbst fahren konnte.

Nina und auch ihr Mann Klaus liebten die Nordsee und ihr zuweilen raues Klima. Es war ihr allemal lieber als die Sommerhitze in der Heimat ihres Vaters. Wobei sie sich auch schon auf den Urlaub am Golf von Neapel freute. Vor allem auf das Wiedersehen mit ihrer Familie – aber natürlich auch auf den herrlichen Strand und das blaue Meer. Nur, bis dahin waren es noch fast drei Wochen. Da würde noch einiges an Wasser die Sieg hinunterfließen.

Irgendwann klingelte ihr Telefon und unterbrach die Konversation mit dem Kollegen Kübler.

Während Nina das Gespräch annahm, widmete Thomas sich seinem Computer.

„Moin, Jürgen“, grüßte sie den Kollegen von der Schutzpolizei und hörte dann zu, was er zu sagen hatte. Zugegeben dämpfte Jürgens Bericht ihre gute Laune ein wenig.

„Du bist dir sicher, dass es Mord ist?“, fragte sie erstaunt, da die Kollegen sich selten zu solch klaren Aussagen hinreißen ließen.

„Ganz sicher, Nina. Der Mann scheint vor seinem Tod gequält oder gefoltert worden zu sein. Außerdem fehlt ihm die linke Hand“, erwiderte der Polizeihauptmeister.

„Okay, wir sind unterwegs“, beschied sie ihn und erhob sich. Ihr Blick fiel auf Kübler, der verträumt lächelnd irgendetwas auf seinem Computerbildschirm las. So wie der gerade guckte, war der vermutlich in seinem Kopf immer noch an der Küste oder er hatte von der selbst angebauten Medizin seiner Frau genascht.

„Thomas, jetzt komm in Wallung. Wir müssen los“, weckte sie ihn aus seinen Tagträumereien.

„Ähm … wieso … was ist denn los?“, fragte er verdattert.

„Auf dieser großen Ruhebank im Rainchen liegt ein Toter. Jürgen meint, der Mann sähe aus, als hätte man ihn gefoltert“, erklärte sie.

Thomas erhob sich schwerfällig und griff nach seiner Jacke. Ninas Blick fiel durch das Fenster auf den strahlend blauen Himmel. Nein, eine Jacke würde sie nicht benötigen.

„Wir nehmen den Dienstwagen“, beschied sie ihn auf dem Weg nach unten, da dieser im Gegensatz zu ihrem alten Käfer eine Klimaanlage besaß.

„Du willst mit dem Auto ins Rainchen fahren?“, fragte Kübler entsetzt.

„Ja klar. Womit denn sonst? Dienstfahrräder haben wir keine“, erwiderte sie, da sie seine Frage ziemlich albern fand.

„Nina, es sind gerade einmal dreihundert Meter bis zu dieser Bank. Einen Parkplatz gibt es da auch nicht direkt daneben. Bis du jetzt am Wagen bist, bin ich dreimal zu Fuß vor Ort.“

Nina blieb abrupt stehen.

„Okay. Dann geh du zu Fuß“, fand sie und hielt ihm die Hand hin.

Er blickte sie fragend an.

„Die Wagenschlüssel. Ich fahre mit dem Dienstporsche und du gehst zu Fuß“, beschied sie ihn, worauf er die Augen verdrehte und einfach weiterging.

Gerichtsmedizinerin Kim Kunze sah sich um. In diesem Rainchen, wie die Betzdorfer den kleinen Park mit dem Bachlauf nannten, war sie zuvor noch nie gewesen.

Aber doch, es gab wahrlich hässlichere Orte, um zu sterben. Überall links und rechts des Bachlaufes blühten Blumen und summten Bienen. Ein Paradies für Insekten, die sich aber auch bereits an dem leblosen Körper zu schaffen machten, der auf der breiten Liegebank lag und, so wie sie das sah, schnellstens aus der Sonne musste.

Kim stammte nicht aus dem Westerwald. Die Gegend, in der sie seit nun einem Jahr versuchte, heimisch zu werden, war ihr, bevor sie herzog, gänzlich unbekannt gewesen. Sie hatte sich nach dem Studium auf so einige Stellen beworben, eine Menge Absagen kassiert und war dann schlussendlich in der Pathologie des Uniklinikums Bonn gelandet.

Derzeit wohnte sie immer noch in einer WG in Altenkirchen. Das Haus mit Garten gehörte einer Studienfreundin. Der Plan, oder vielmehr der Wunsch, einen Partner zu finden, um mit diesem eine wie auch immer geartete Zukunft aufzubauen, wollte nicht wirklich aufgehen.

Kim war nicht kontaktscheu. Nein, ganz bestimmt nicht. Sie hatte gelegentlich sogar Dates. Den einen oder anderen Typen hatte sie auch bereits mit nach Hause genommen. Dummerweise war aber noch niemand dabei gewesen, der ihr wirklich zusagte und mit dem sie sich hätte vorstellen können, eine feste Bindung einzugehen.

Die meisten Kerle nahmen im Übrigen schon Reißaus, wenn sie hörten, was Kim beruflich trieb. Frauen, die täglich mit Leichen hantierten, standen, so zumindest ihre Erfahrung, nicht eben hoch im Kurs bei den Männern. Warum auch immer!

Hinter der Hecke auf der an den Park angrenzenden Straße hielt, dem Motorgeräusch nach zu urteilen, nun ein hubraumstarker Wagen. Durch das Blattwerk erspähte sie den roten Porsche der Kriminalinspektion. Als sie den Wagen im letzten Jahr zum ersten Mal sah, hatte sie noch geglaubt, dass bei den Kripoleuten in Betzdorf wohl der Wohlstand ausgebrochen wäre, dass die so eine Nobelkarre als Dienstwagen fuhren. Doch der Wagen war ein Blender. Ein Unfallwagen, der zuvor einem Zuhälter gehört hatte, der darin im Streit und bei voller Fahrt einen anderen Mann abgestochen hatte. Bei näherem Hinsehen rundum verbeult und zerkratzt. Ganz zu schweigen von den Blutflecken, die sich in das hellbeige Leder förmlich eingebrannt hatten und nun von zwei Lammfellbezügen verdeckt wurden.

Sie entdeckte Oberkommissar Thomas Kübler und Kriminalhauptkommissarin Nina Moretti, die aus dem 911er stiegen und ihr nun zuwinkten.

Kim winkte zurück.

Kim war schon irgendwie enttäuscht, dass Kriminalhauptkommissarin Moretti mit ihrem Kollegen Kübler aufschlug. Mit dem wurde sie überhaupt nicht warm. Ein Wiedersehen mit dem jungen Kriminalkommissar Marcello Berlutschi wäre ihr doch lieber gewesen. Ja, Kim war schon ein wenig verschossen in den gut aussehenden italienischen Commissario. Er nur leider nicht in sie. Der hübsche Italiener war in festen Händen und würde, so wie sie es mitbekommen hatte, demnächst heiraten. Es war wahrlich ein Jammer, dass die guten Kerle entweder bereits vergeben oder schwul waren. Eine Erfahrung, die sie bereits mehrfach gemacht hatte.

„Moin, Kim“, grüßte Nina, als sie das Rainchen durch eine Lücke in der Hecke betrat.

„Moin, Nina, lange nicht gesehen“, stellte Kim fest und grüßte dann auch Oberkommissar Kübler, der trotz des warmen Wetters seine beige Armeejacke trug. Wahrlich ein seltsamer Kauz.

„Wie kommt’s denn, dass du heute schon vor uns hier bist?“, fragte Nina, während sie interessiert den Toten betrachtete, ohne näher zu kommen.

„Ich hätte eigentlich einen Termin im Seniorenzentrum – aber das hat Zeit bis später. Ich denke, es ist wichtig, dass wir diesen Kunden möglichst schnell in die Kühlung bekommen“, erwiderte Kim und näherte sich erneut dem Leichnam.

„Kannst du uns schon etwas zur Todesursache und dem Zeitpunkt des Ablebens sagen?“, erkundigte sich Nina.

Obgleich die Frage sie wie immer nervte, blieb Kim gelassen. Diese Polizisten lernten es nicht mehr. Die waren in dieser Beziehung alle gleich. Denen konnte man hundertmal antworten, dass es gescheiter wäre, doch erst einmal die Obduktion abzuwarten. Beim nächsten Mal würden sie wieder mit den gleichen Fragen nerven. Außerdem war Kim selbst erst vor nicht einmal fünf Minuten angekommen. Der Tote war komplett bekleidet. Wie sollte sie da Genaueres sagen? Bisher hatte sie lediglich einmal ein wenig das halb offen stehende Hemd beiseitegeschoben. Wie der sehr übergewichtige Herr, es war eindeutig einer, von hinten aussah, wusste sie nicht. Da könnte, rein theoretisch, noch ein Messer stecken und sie würde es so nicht sehen können.

„Schwierig“, antwortete Kim daher nur und wusste, dass Nina Moretti nicht lockerlassen würde.

„Was heißt schwierig?“, kam auch prompt die nächste Frage.

„Schwierig heißt, dass ich es nicht sagen kann. Die Bestimmung des Eintritts des Todes hängt, wie du weißt, von den Orten ab, an denen der Körper nach dem Eintritt des Todes aufbewahrt wurde. War es da warm, kalt, feucht …? Sicher ist, dass er seit wenigstens vierundzwanzig, wenn nicht gar bereits seit achtundvierzig Stunden, tot ist. Die Totenstarre hat sich bereits wieder gelöst. Der Körper scheint stark dehydriert. Der Mann könnte verdurstet sein, verblutet oder, oder, oder. Wie gesagt, eher schwierig zu sagen.“

„Du gehst also davon aus, dass er nicht hier zu Tode gekommen ist, sondern nach Eintritt des Todes hierher verbracht wurde?“, mischte Thomas Kübler sich ein.

Kim wollte schon mit Ja antworteten, entschied sich dann aber um.

„Keine Ahnung. Der kann auch schon zwei Tage hier liegen. Allerdings müsste er dann mindestens einmal gedreht worden sein, da er wohl zuerst auf dem Bauch gelegen haben muss und dann, so wie er jetzt immer noch liegt, auf den Rücken gedreht wurde. Zumindest deuten die Flecken auf der Vorderseite und im Brustbereich darauf“, mutmaßte sie, obgleich sie sich ganz sicher war, dass der Mann nicht hier verstorben war. Dass seine Lage zumindest einmal verändert worden war, stand fest.

„Das wäre doch bestimmt bereits gestern jemandem aufgefallen, wenn hier ein Toter liegt“, schoss Kübler ins Schwarze und entlockte ihr ein Lächeln.

„Was ist mit seiner linken Hand … fehlt die?“, erkundigte sich Nina Moretti stirnrunzelnd.

„Ja, die wurde ziemlich unprofessionell abgetrennt, aber wie es aussieht, nicht hier. Es gibt kaum Blut“, erwiderte Kim und deutete auf den Erdboden unterhalb des Arms.

Sie blickte zu Kübler, der unaufhörlich Fotos schoss, während Nina Moretti nun telefonierte.

Nachdem Nina sich ein erstes Bild von der Leiche gemacht hatte, rief sie Hauptkommissar Torsten Liebig und dessen Kollegen von der Spurensicherung an. Das hätte sie zwar auch bereits tun können, als der Kollege Wacker von der Schutzpolizei sie verständigte, doch es war ihr lieber, sich immer erst selbst ein Bild zu machen, bevor sie die ganze Mannschaft verständigte. Es wurde auch schnell mal aus einer Mücke ein Elefant gemacht, der den Steuerzahler dann unnötig eine Menge Geld kostete. Außerdem waren auch die Ressourcen der Polizei begrenzt. Die Kollegen saßen nicht herum, drehten Däumchen und warteten darauf, dass mal jemand anrief. Nein, Arbeit hatten sie niemals zu wenig.

Nina war von Haus aus neugierig. Dennoch widerstand sie dem Drang, sich der Leiche zu nähern. Es reichte schon, dass die Gerichtsmedizinerin an dem Opfer herumhantierte, bevor die Kollegen der Spurensicherung vor Ort waren. Zumindest trug Kim Kunze, wie es sich gehörte, Schutzkleidung, um den Tat- oder Fundort nicht noch mehr zu kontaminieren.

Sie mochte die „Neue“. Kim war gescheit, freundlich und unkompliziert.

Nina sah sich um. Das Rainchen, der kleine Park, lag in einem Tal. Rechts und links oberhalb an den Hängen schimmerten Gebäude durch das dichte Grün der Bäume. Eine Oase mitten in der Stadt. Obwohl es fast rundum Häuser gab, war der Ort von diesen aus kaum einsehbar. Ob sich eine Befragung der angrenzenden Anwohner lohnen würde? Könnte einer von denen etwas gesehen haben?

„Kim, würdest du bitte einmal nachsehen, ob es irgendwelche Papiere in den Taschen gibt?“, bat Nina die Gerichtsmedizinerin.

Kim nickte und wollte gerade damit beginnen, als sie stutzte, um den Toten herumging und dann einen braunen Umschlag aufhob, der links unter der Leiche hervorlugte. Während sie auf Nina zuging, sah sie hinein.

„Hier, der scheint für euch zu sein.“

Die Nudelbox mit Hühnchen vom Asiabistro Kim Thinh gehörte eindeutig zu Thomas Küblers Favoriten der Mittagspause. Doch heute wollte ihm einfach nicht munden, was sein Lieblingsasiate da in seinem Wok fabriziert hatte. An dem Essen an sich lag es nicht. Nein, es war eher der Fall, an dem sie gerade arbeiteten. Tötungsdelikte wie der am heutigen Morgen im Rainchen schlugen Thomas immer gehörig auf den Magen. Warum nur taten Menschen anderen Menschen so etwas an? Klar verstand er, dass es Situationen geben konnte, in denen Menschen ausflippten und aufeinander losgingen. Es gab Morde aus Habgier, Eifersucht und, und, und. Dass Menschen sich aus den verschiedensten Gründen an die Gurgel gingen und sich im schlimmsten Fall sogar umbrachten, war menschlich. Der Homo sapiens war und blieb in seinem tiefsten Inneren ein gefährliches, unberechenbares Raubtier. Doch was Thomas überhaupt nicht in den Kopf gehen wollte, waren Taten, die über das normale Maß an Gewalt hinaus gingen. Wenn aus Raubtieren blutrünstige Bestien wurden, deren Handeln er einfach nicht nachvollziehen konnte.

Der Verstorbene aus dem Park musste unvorstellbare Qualen erlitten haben. So wie sich die Sache auf den ersten Blick darstellte, hatte man ihm die Hand bei lebendigem Leibe abgetrennt. Der Mann musste, dies hatte Kim Kunze, auch ohne die vollständige Obduktion abzuwarten, bereits verlauten lassen, über einen längeren Zeitraum gequält worden sein.

Auge um Auge. Zahn um Zahn. Jedem das, was er verdient, hatte jemand mit Filzstift auf ein Stück Zeitung geschrieben, welches sich in dem Umschlag befand, den Kim bei dem Toten gefunden hatte. In dem Zeitungsartikel ging es um eine Mordserie im Sauerland, die vor einigen Jahren für Schlagzeilen gesorgt hatte. Ein Paar hatte in seinem Haus, welches sich in einem kleinen Dorf bei Attendorn befand, mehrere Frauen missbraucht und zu Tode gequält. Wobei ihnen, bis auf zwei, die meisten der Taten nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnten. „Das Horrorhaus von Hollerau“, hatte die Presse den Fall damals ziemlich passend tituliert.

„Das gibt’s doch nicht!“, schimpfte Nina und Thomas hatte für einen Moment die Befürchtung, die Kollegin würde ihr Mobiltelefon vor lauter Zorn gegen die Wand pfeffern.

„Was gibt es nicht?“, erkundigte er sich und stocherte mit der Gabel in seinen Nudeln herum.

„Die haben diesen Peter Bosskop tatsächlich nach nicht mal zwölf Jahren wieder laufen lassen. Der quält nachweislich zwei Frauen zu Tode und die lassen ihn wieder laufen“, ereiferte sie sich.

„Na ja, wirklich weit ist er ja nicht gekommen“, erwiderte Thomas das, was ihm spontan durch den Kopf ging.

Nina nickte und blickte dabei aus dem Fenster auf die um diese Uhrzeit viel befahrene Wilhelmstraße.

„Was überlegst du?“, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille.

„Ich überlege, wie wir an die Sache herangehen. Wo wir anfangen, nach dem Täter zu suchen“, antwortete sie.

„Na ja, ich würde sagen, wir suchen im Umfeld der damaligen Opfer. Eltern, Geschwister, Freunde. Da gibt es bestimmt einige, die nicht damit klarkamen, dass Bosskop nach zwölf Jahren die Klapse als freier Mann verlassen durfte“, war die Sache für Thomas ziemlich klar.

„Aber genau da liegt das Problem, Kübler. Diese Leute waren im weitesten Sinne alles Opfer. Neun Jahre nach dem Urteilsspruch gegen Bosskop und seine Komplizin kommen wir jetzt an und müssen sie behandeln, als wären sie potenzielle Täter“, erklärte sie ihre Bedenken und Thomas verstand auf Anhieb, was Nina damit ausdrücken wollte.

Es gab wahrlich Schöneres, als bei Opfern und deren Angehörigen alte Wunden wieder aufzureißen. Im Grunde war es um Peter Bosskop ja noch nicht einmal schade. Wer immer diesen sadistischen Mörder umgebracht und auf dieser Bank platziert hatte, hatte damit der Menschheit einen Gefallen getan. So etwas durfte man sogar als Polizist denken. Die Gedanken waren frei. Nur laut sagen durfte man es nicht.

„Auge um Auge, Zahn um Zahn. Jedem das, was er verdient“, wiederholte Kübler noch einmal die handgeschriebenen Worte auf dem Zeitungsartikel, legte die Gabel beiseite und schob die noch fast volle Nudelbox von sich weg.

Kapitel 2

Montag, 10. Juli 2023, 13 Uhr 22

Oehndorfstraße, Betzdorf/Westerwald

Nachdem Nina den Kollegen Thomas Kübler an der Kriminalinspektion abgesetzt hatte, war sie zur Wohnung des verstorbenen Peter Bosskop gefahren, um sich dort einmal umzuschauen. Das große Mehrfamilienhaus befand sich nur etwas mehr als zweihundert Meter vom Fundort der Leiche entfernt in der Oehndorfstraße. Nina parkte vor dem rechten der beiden baugleichen Häuser, die mit ihrer Terrassenarchitektur vermutlich aus den Siebzigerjahren stammten.

Auf den Balkonen, die wie eine Treppe zum Himmel angeordnet waren, dominierten große Blumenkübel aus Beton, die entfernt an überdimensionale Futtertröge erinnerten. Die meisten waren leer oder es wucherte lediglich Unkraut aus ihnen heraus. Andere schienen gepflegter, mit kleinen Sträuchern und Blumen bepflanzt.

Auf einer der unteren Terrassen entdeckte sie eine vermummte Gestalt in einem weißen Papieranzug, die ihr nun zuwinkte. Die Kollegen von der Spurensicherung waren also bereits vor Ort. Wer unter der Kapuze und hinter der Schutzmaske steckte, konnte Nina nicht erkennen. Der Statur nach könnte es jedoch Hauptkommissar Torsten Liebig sein. Sie winkte freundlich zurück.

Auf dem Weg zum Hauseingang entdeckte sie zwischen den Betonbauten den silbergrauen Mercedes Van der Kollegen, an dem sich ein weiteres weißes Kapuzenmännlein zu schaffen machte.

„Moin, Nina“, begrüßte Kriminalkommissar Leon Schwert sie, der gerade dabei war, einen silbernen Koffer im Wagen zu verstauen.

„Moin, Leon, ihr habt schon mit der Wohnung angefangen?“, erkundigte sie sich, obgleich dies offensichtlich war.

„Ja, wir sind auch gleich schon fertig. Ich packe bereits wieder zusammen“, antwortete er.

„Ohhh. Schon?“

„Nun ja, da gibt es auch nicht viel, was wir untersuchen könnten. Die Wohnung ist, zumindest spurentechnisch, sauber. Torsten ist noch oben und checkt den Balkon“, erwiderte er und deutete auf den Hauseingang.

Nina setzte sich in Bewegung, betrat das Haus durch die weit offen stehende Haustür und hechtete die wenigen Stufen empor zu der Wohnung, deren Türe ebenfalls weit geöffnet war. Sie hielt kurz inne, streifte sich ein Paar Einweghandschuhe über und trat dann ein.

Der Begriff „spartanisch“ traf es in Anbetracht der Einrichtung ziemlich passend. Die Küche, in die sie nur kurz hineinlugte, bestand aus einem billigen Spülenschrank, einem Kühlschrank und einem Tisch mit nur einem Stuhl. Einen richtigen Herd mit Backofen, gar eine Einbauküche, gab es nicht. Als Kochstelle hatte wohl ein kleiner elektrischer Zweiplattenkocher gedient, der zusammen mit einem Teller, einer Tasse, mehreren Dosen Fertigsuppe und einem alten emaillierten Kochtopf auf dem kleinen Tisch stand.

Sie ging weiter zum Wohnzimmer, wo sie auf Torsten traf, der gerade das Schloss der Balkontür inspizierte.

„Moin, mein Lieber“, grüßte sie ihn, obgleich sie ihn vormittags bereits einmal am Fundort der Leiche begrüßt hatte. Doch besser einmal zu viel gegrüßt als zu wenig.

„Hallo Nina“, antwortete er, unterbrach seine Arbeit und zog sich die Kapuze vom Kopf. Sein schütteres Haar war verschwitzt und stand in alle Richtungen ab.

„Ihr seid schon fertig?“, erkundigte sie sich und sah sich dabei weiter um. Auch in diesem Raum gab es nicht viele Möbelstücke. Ein Sofa, auf dem sich Bettzeug befand. Davor ein Tisch und an der Wand eine Kommode mit einem uralten klobigen Fernseher darauf.

„Ja, wir sind hier durch. Viel gibt es ja nicht. Gelebter Minimalismus“, bestätigte er ihren Eindruck.

„Schlafzimmer?“, fragte sie und blickte zum Flur.

„Fehlanzeige. Es gibt zwar einen Raum, der dafür vorgesehen war, der ist aber bis auf eine Tüte mit Schmutzwäsche vollkommen leer. Dazu dieses fast leere Zimmer, die Küche und das Bad. Mehr gibts nicht“, wusste er.

„Zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel“, sprach sie aus, was ihr gerade durch den Kopf ging.

„Ja, das war auch mein erster Gedanke“, bestätigte der Kollege und deutete auf die Kommode unter dem Fernseher.

„Da drinnen sind ein paar Unterlagen und Wäsche zum Wechseln. Alles, was der Mann besaß, würde in einen großen Koffer passen. Allerdings besitzt er keinen Koffer.“

„Sieht aus, als hätte er nicht vorgehabt, länger hierzubleiben“, überlegte sie laut.

„Kann sein, muss aber nicht sein. Der Hausmeister hat gemeint, er wäre erst vor acht Wochen eingezogen. Vielleicht hatte er erst noch vor, sich einzurichten“, gab Torsten zu bedenken.

„Ja, das könnte natürlich ebenfalls zutreffen. Da, wo er die letzten Jahre verbrachte, hat er vermutlich auch keine Möbel und Klamotten gebraucht. Laut dem, was wir wissen, hat Peter Bosskop bis vor acht Wochen nämlich noch in der Geschlossenen gesessen“, ließ sie ihn an ihrem Wissen teilhaben.

„Ach, der war in der Klapse? Ich hatte gedacht, er wäre im Strafvollzug gewesen“, war Torsten erstaunt.

„Klapse sagt man nicht. Das ist so ein unschönes Wort“, belehrte sie ihn, obwohl sie den Begriff selbst schon des Öfteren benutzt hatte.

„Dann eben Psychiatrie“, verbesserte er sich, grinste aber dabei und begann dann damit, den Tatortkoffer, der aufgeklappt auf dem Boden stand, zusammenzupacken.

Nina nickte, ging zu der Kommode und zog die obere Schublade auf. Drei Paar Socken, alle von der gleichen Sorte. Zwei T-Shirts, zwei Unterhosen und eine beige Hose.

In der Schublade darunter fand sie eine dünne Mappe mit Dokumenten und die Verpackung eines Smartphones. Sie zog den Deckel auf und sah hinein. Der Karton war leer.

„Habt ihr ein Handy gefunden?“, erkundigte sie sich.

„Nein. Kein Mobiltelefon, kein Festnetz, keinen Computer oder sonst etwas in der Art. Der Kerl lebt noch in der kommunikativen Steinzeit.“

Nina schüttelte den Kopf.

„Das glaube ich nicht. Wo es einen Karton für ein Smartphone gibt, muss es auch ein Gerät geben.“ Sie legte die Verpackung zurück, griff sich die Dokumentenmappe und blätterte die Papiere durch, bis sie tatsächlich fand, wonach sie gesucht hatte.

„Voilà … da haben wir es! Schwarz auf Weiß. Er hat das Gerät beim hiesigen Elektromarkt in der Wilhelmstraße gekauft und sogar einen Vertrag abgeschlossen“, triumphierte sie und zog dann ihr eigenes Mobiltelefon aus der Jackentasche, um Peter Bosskops Mobilnummer zu wählen, die neben anderen Angaben auf dem Vertrag des Mobilfunkanbieters stand.

„Der gewünschte Gesprächspartner ist derzeit nicht erreichbar“, wiederholte sie enttäuscht das, was die Computerstimme ihr mitteilte.

„Vielleicht bringt es uns weiter, wenn wir herausfinden, in welcher Funkzelle das Gerät zuletzt eingewählt war, bevor es abgeschaltet wurde“, überlegte Torsten Liebig laut.

„Ja. Ich denke, ich werde Kübler bitten, sich darum zu kümmern.“

„Das könnte ich auch übernehmen. Leon und ich fahren jetzt erst einmal zurück ins Büro und kümmern uns um den Schreibkram und die Auswertung der Fingerabdrücke. Willst du noch bleiben?“, meinte Liebig und hielt ihr einen kleinen silbernen Schlüssel hin.

„Der Wohnungsschlüssel?“, erkundigte sie sich und zögerte noch, danach zu greifen.

„Ja. Den hat uns der Hausmeister freundlicherweise überlassen“, bestätigte Liebig.

„Nee, Torsten, behalt du ihn. Ich bin hier eigentlich auch schon fertig. Am besten, ihr schließt ab und versiegelt die Bude. Ich klappere jetzt erst mal die Nachbarn ab“, beschied sie ihn und drückte ihm die Unterlagen aus der Kommode in die Hand.

Je schneller Thomas Kübler diese sichtete, umso besser.

Auf dem Weg ins Treppenhaus sah sie noch kurz ins Bad und das vermeintliche Schlafzimmer. Viel zu sehen gab es nicht. Sie öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken und warf einen Blick hinein. Ein Elektrorasierer, Duschgel, Zahnbürste, Zahnpasta und mehrere Schachteln mit Medikamenten. Soweit sie das beurteilen konnte, handelte es sich dabei um Psychopharmaka und Ibuprofen.

Das Waschbecken war sauber. In dem Raum gegenüber dem Bad gab es tatsächlich nichts außer einer Tüte mit schmutziger Wäsche. Sie unterließ es, hineinzusehen. Die Wohnung des Opfers brachte sie nicht weiter. Hier war weder der Tatort noch würden sie hier einen Hinweis auf den Täter finden.

„All we are. All we are, we are. We are all, all we need“, sang Kim Kunze leise den Warlock-Klassiker mit, der blechern aus dem kleinen pinkfarbenen Lautsprecher durch den Sezierraum der Pathologie schepperte.

„Wie kannst du bei diesem Gekreische nur konzentriert arbeiten? Das erweckt ja die Toten zum Leben“, stöhnte Silke Jansen, Kims neue Assistentin, und verdrehte dabei gespielt genervt die Augen.

Kim gab ihr keine Antwort. Wenn es Dinge gab, über die man nicht diskutierte, dann gehörten dazu sicherlich die verschiedenen Musikgeschmäcker. Sie selbst stand schon immer auf Heavy Metal. Vermutlich hatte sie dies von ihrem Papa, der diese Musik, solange sie denken konnte, hoch und runter gehört hatte, in die Wiege gelegt bekommen. Mit zehn nahm er sie zum ersten Mal mit zu einem Motörhead-Konzert. Mit fünfzehn hatte sie dann mit nach Wacken, dem Mekka der Metalheads, gedurft. Ein unvergessliches Erlebnis.

Sie würde daran denken müssen, noch den Urlaubsantrag für die Zeit des diesjährigen Festivals zu stellen. Der jährliche Trip nach Norddeutschland war ein Muss und die Eintrittskarte pappte auch bereits seit Monaten an ihrer Kühlschranktür.

Kims Doktorvater an der Universität hatte während der Obduktionen mit Vorliebe Operetten gehört. So etwas ging in Kims Augen, beziehungsweise Ohren, überhaupt nicht. Da schauderte es ihr einfach nur.

„Was denkst du? Warum hat man ihm die Hand abgetrennt?“, riss Silkes Stimme sie aus ihren Gedanken.

Kim sah auf den Armstumpf des Toten und zuckte mit den Schultern.

„Hmm. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt von einer anderen Person abgetrennt wurde“, antwortete sie das, was ihr beim Anblick der Wunde und der anderen Indizien seit dem Morgen durch den Kopf ging.

„Du meinst, es könnte ein Unfall gewesen sein?“, fragte Silke vorsichtig.

„Kann sein. Ist aber eher unwahrscheinlich. Wenn ich einen Tipp abgeben sollte, würde ich sagen, dass er sich sein Patschhändchen selbst mit einer eher stumpfen und recht rostigen Säge abgesägt hat. Ist aber nur eine Vermutung. Beweisen können wir das natürlich nicht“, äußerte sie einen Verdacht, der ihr bei jeder neuerlichen Betrachtung der Schnittstelle immer plausibler schien.

Silke starrte sie mit großen Augen an. Kim würde es ihr wohl erklären müssen.

„Schau mal hier. Was siehst du da?“, fragte sie daher und deutete dabei auf das rechte Handgelenk des Toten.

„Da sind Abschürfungen und Einblutungen“, antwortete die Jüngere.

„Genau! Und worauf deuten die?“

„Ich würde vermuten, dass das Opfer dort gefesselt war.“

„Wieder richtig. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass es sich um Handschellen oder etwas Gleichartiges aus Metall gehandelt hat. Eine Fesselung mit Kabelbindern oder einem Strick würde anders aussehen. Kunststoffkabelbinder schneiden mit der Zeit tiefe Wunden. Bei einem Seil oder Ähnlichem hätten wir vermutlich Fasern gefunden. Jetzt schau dir bitte das linke Handgelenk direkt oberhalb der Schnittwunde an“, half Kim ihr weiter auf die Sprünge.

„Da sind die gleichen Schrammen und Einblutungen wie rechts“, stellte ihre Assistentin fest.

„Genau, Silke! Und was schließen wir daraus?“

Die Jüngere wollte etwas sagen, hielt dann aber inne und zuckte lediglich mit den Schultern.

„Komm, Silke. Sprich es aus, was dir gerade durch den Kopf geht. Sei mutig in deinem Denken. Ansonsten ist dies nicht der richtige Job für dich“, ermunterte Kim sie.

„Das Opfer war mit Handschellen gefesselt und hat versucht, sich zu befreien, indem es … er … seine Hand abgetrennt hat“, flüsterte sie so leise, dass Kim es nur mit Mühe gegen die raue, kehlige Stimme von Doro Pesch verstehen konnte.

Und, ja, je mehr sie über dieses mögliche Szenario nachdachte, umso plausibler erschien es Kim.

Was sie störte, war die Tatsache, dass beide Handgelenke Spuren von Fesselungen zeigten. Wenn das Opfer mit normalen Handschellen an beiden Händen gefesselt worden war, hätte es sich unmöglich selbst die Hand absägen können. Wie sollte man in dieser Situation eine Säge hin und her bewegen? Dies würde nicht funktionieren. Entweder war also die Linke nur zeitweise gefesselt gewesen oder die Kette zwischen den beiden Schellen musste etwas länger gewesen sein. Andererseits konnte sie sich auch irren und eine zweite Person hatte gesägt. Wobei der Schnittwinkel und die Richtung, in der die Säge bewegt worden war, schon für eine Selbstverstümmelung sprachen. Ganz sicher hatte Bosskop zum Zeitpunkt der Amputation noch gelebt. Ansonsten hätte er dabei kaum so viel Blut verloren.

Überhaupt war dieser Fall, dieser Leichnam, anders als alles, was sie bisher auf den Tisch bekommen hatte. Anfangs war sie davon ausgegangen, dass der Tod vor etwa vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden eingetreten war. Diese Aussage würde sie revidieren müssen. Es war mehr als eindeutig, dass der Körper zwischen seinem Ableben und dem Auffinden komplett gefroren gewesen war. Dafür sprachen die immer noch sehr niedrige Temperatur im Inneren des Leichnams, die Zellstrukturen unter dem Mikroskop, Abschürfungen an der Haut und auch Gefrierbrand. Peter Bosskop, da war sie sich ganz sicher, musste mindestens einige Tage in einer ziemlich engen Kühltruhe gelegen haben.

Die Befragung der Nachbarn hätte Nina sich sparen können. Zwar hatten einige der Hausbewohner bemerkt, dass da vor einigen Wochen ein Herr in die Wohnung im Erdgeschoss eingezogen war, doch gesprochen hatte noch niemand mit dem Mann. Lediglich einer älteren Dame war aufgefallen, dass seit etwa vier Wochen ununterbrochen Licht in der Wohnung gebrannt hatte.

Gewundert habe sie dies allerdings nicht. Sie müsse den Strom ja nicht zahlen. Was andere täten, wäre ihr egal und ginge sie nichts an, hatte die Dame lediglich gemeint.

Kim Kunze, die Gerichtsmedizinerin, hatte am Morgen angedeutet, dass Peter Bosskop in den Tagen vor seinem Ableben gefoltert und gequält worden war. Sollte das über Wochen brennende Licht in der Wohnung ein Indiz dafür sein, dass der Mann so lange irgendwo gegen seinen Willen festgehalten worden war? Möglich wäre es.

Nach der Befragung der Hausbewohner hatte Nina sich noch den Keller angesehen. Der Verschlag, der zu Bosskops Wohnung gehörte, war bis auf zwei Kartons mit Büchern und anderem Krimskrams leer gewesen. Dennoch stellte sich die Frage, warum er die Kisten überhaupt in den Keller getragen hatte? In der Wohnung war genug Platz gewesen, um etliche dieser Kartons zu stapeln.

Nina verließ das Haus, ging zum Wagen und öffnete ihn. Muffige heiße Luft schlug ihr entgegen. Unweigerlich musste sie an den Mann denken, der auf dem Beifahrersitz des Porsche erstochen worden war und dessen Blut die noblen Polster des Luxusgefährts für alle Zeiten getränkt hatte. Der Geruch des Todes würde diesem Wagen immer anhaften. Da konnte Kübler noch so viele Duftbäume an den Innenspiegel hängen.

Sie stieg ein, öffnete das Fenster einen Spalt und startete den Motor. Zusätzlich, und obgleich sie wusste, dass diese bei offenem Fenster nicht wirklich viel bewirkte, schaltete sie die Klimaanlage auf die höchste Stufe ein, fuhr aber nicht sofort los. Nein, eine Weile ließ sie sich die kühle Luft aus den Düsen im Armaturenbrett ins Gesicht pusten, betrachtete das große Haus und dachte nach.

Wenn Peter Bosskop tatsächlich irgendwo gegen seinen Willen festgehalten worden war, dann bestimmt nicht hier. Der oder die Täter mussten ihn woanders hingebracht haben. Ein Ort, von wo er nicht hatte entkommen können und wo niemand ihn hören oder zufällig finden würde. Irgendein Haus oder ein Hof abseits der Zivilisation. Eine Hütte im Wald oder vielleicht in einer alten Fabrik. Da gab es Tausende mögliche Orte, um einen Menschen zu verstecken. Der Mann musste eine Menge Blut verloren haben, als man ihm die Hand abtrennte. Zumindest falls er zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hatte, wovon Kim Kunze in ihrer ersten Einschätzung ausgegangen war. So etwas blieb nicht ohne Spuren. Nein, das würde sicherlich eine Riesensauerei sein, wobei Nina wieder an den Typen denken musste, der im Inneren des Porsche verblutet war.

Nach einigen Minuten sinnlosen Grübelns legte sie einen Gang ein und fuhr zurück zur Wache. Vielleicht hatte Kübler ja bereits etwas Brauchbares herausgefunden, was sie weiterbringen würde.

Als Nina Minuten später das Büro betrat, hockte der Kollege wie erwartet an seinem Schreibtisch und tippte auf der Computertastatur herum.

„Gibt es noch Kaffee?“, erkundigte sie sich und trat, ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, an den Aktenschrank hinter ihrem Schreibtisch, auf dem sich die Kaffeemaschine befand. Sie griff nach der schwarz-silbernen Kanne und schüttelte sie. Eindeutig leer.

„Hast du mal auf die Uhr gesehen?“, fragte Kübler, ohne von seinem Monitor aufzusehen.

Ihr Blick fiel auf die Wanduhr über der Bürotür. Es war kurz nach vier am Nachmittag.

„Kurz nach vier. Was willst du mir damit sagen?“, fragte sie, obgleich sie wusste, was er ihr sagen wollte. Kaffee trank man, zumindest in Küblers kleinem, spießigem Universum, nur am Morgen.

„Gleich Feierabend, da braucht es keinen Kaffee mehr“, fand er nun auch prompt.

„Hast du schon was bezüglich der Daten von Peter Bosskops Mobiltelefon herausgefunden?“, erkundigte sie sich und setzte sich nun erst einmal an ihren Arbeitsplatz.

„Nee. Anfrage läuft. Die bei der Telekom sind nicht so flott“, erzählte er ihr ebenfalls nichts Neues.

Ihr Blick fiel auf einen handgeschriebenen kleinen Zettel mit einer Telefonnummer und einem Namen darauf, der in der Tastatur ihres Computers steckte. Bei der Handschrift handelte es sich eindeutig um die krakelige Sauklaue von Kübler. Die würde sie unter Tausenden anderen erkennen. Immerhin arbeiteten sie beide schon weit über zehn Jahre zusammen.

„Wer ist denn KHK Walter Flensbach?“, erkundigte sie sich bei ihm, nahm den Zettel und drehte ihn um. Die Rückseite war unbeschrieben.

Kübler sah nun zum ersten Mal, seit sie das Büro betreten hatte, von seinem Monitor auf.

„Ach der … Ja … Das ist ein Kollege von der Kripo in Olpe. Flensbach hat damals die Ermittlungen gegen Bosskop und seine Frau geleitet. Ich dachte, du magst ihn vielleicht mal kontaktieren, bevor wir uns durch die kompletten Prozessakten quälen“, beschied Kübler sie.

Nina betrachtete die Telefonnummer einen Moment und griff dann zum Hörer. Thomas hatte recht. Der Kollege aus dem Sauerland könnte vielleicht nützlich sein. Zumal sie es hasste, stundenlang Akten zu wälzen. Vieles konnte man in einem persönlichen Gespräch wesentlich schneller klären. Wobei ihr schon klar war, dass sie und die Kollegen sich die Akten der damaligen Fälle auch noch genauer ansehen mussten. Da würden sie nicht drum herumkommen.

Flink wählte sie die Nummer.

„Kriminalinspektion Olpe, KOK Schulte“, meldete sich eine Männerstimme nach nur dreimal Tuten.

„Guten Tag, Herr Kriminaloberkommissar Schulte. Hier spricht Kriminalhauptkommissarin Nina Moretti von der Kriminalinspektion Betzdorf. Ich hätte gerne Ihren Kollegen Herrn Flensbach gesprochen“, stellte sie sich höflich vor.

„Entschuldigen Sie, Frau Moretti. Da muss ich Sie enttäuschen. Herr Flensbach befindet sich im Urlaub“, antwortete der Sauerländer Kollege.

„Oh. Das ist schade. Können Sie mir denn sagen, wann Herr Flensbach wieder aus seinem Urlaub zurück ist?“, hakte sie dennoch nach.

Schulte lachte. „Nein, da muss ich Sie abermals enttäuschen, Frau Kollegin. Herr Flensbach braucht gerade seinen Resturlaub auf und wird anschließend, ab dem 1. September, sein Leben als Pensionär genießen. Aber vielleicht kann ich Ihnen ja weiterhelfen?“

„Ja, das könnten Sie vielleicht in der Tat, Herr Schulte. Sagt Ihnen der Name Peter Bosskop etwas?“, versuchte sie es erneut.

„Sie meinen diesen Fall mit dem Horrorhaus von Hollerau? Ja, das sagt mir etwas. Aber leider kann ich Ihnen auch nur das erzählen, was ich aus der Presse weiß. Das war vor meiner Zeit. Im Fall Horrorhaus wäre Walter schon der richtige Ansprechpartner. Er hat damals die Ermittlungen geleitet“, meinte Schulte und fügte nach einer kurzen Pause an: „Aber warum interessiert Sie das überhaupt? Der Fall ist doch längst abgeschlossen?“

„Peter Bosskop wurde heute Morgen tot aufgefunden. Der derzeitige Stand der Ermittlungen schließt ein Gewaltverbrechen nicht aus“, gab sie nur so viele Informationen preis wie nötig.

„Ich verstehe, Frau Kollegin“, antwortete Schulte langsam und Nina hörte bei seinen Worten, wie es in seinem Kopf zu arbeiten schien.

„Könnten Sie mir denn bitte eine Telefonnummer geben, unter der ich Walter Flensbach erreichen kann?“, half sie ihm auf die Sprünge.

„Ja … okay. Normalerweise gebe ich ungern die Privatnummern von Kollegen heraus, aber in diesem Fall … Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es Walter auch interessiert, was mit Bosskop passiert ist. Der Fall lässt ihm nämlich bis heute keine Ruh‘“, meinte der Sauerländer Kollege.

„Warum lässt der Fall ihm keine Ruhe?“, wurde Nina hellhörig.

„Ähm … na, das fragen Sie Walter lieber selbst“, lenkte er ab und diktierte ihr dann die Mobilnummer des angehenden Pensionisten.

Nina bedankte sich für die Hilfe, wünschte dem Kollegen einen schönen Feierabend und legte auf.

„Dieser Flensbach steht kurz vor der Rente und braucht gerade seinen Resturlaub auf“, beantwortete Nina Küblers fragenden Blick und wählte währenddessen bereits die private Mobilnummer des Kriminalisten im baldigen Ruhestand.

„Flensbach“, meldete sich eine Männerstimme in einem, wie sie fand, befehlsgewohnten Ton. Die Stimme klang jünger, als sie es von einem Mann um die sechzig vermutet hätte.

Nina stellte sich dem älteren Kollegen vor und schilderte ihm ohne Umschweife den Grund ihres Anrufes.

„Na, das ist ja mal eine gute Nachricht, Frau Kollegin“, fand er recht begeistert, als sie geendet hatte, und Nina glaubte sogar das breite Grinsen des ihr vollkommen unbekannten Kriminalisten förmlich zu sehen. Flensbach schien mehr als zufrieden über die Todesnachricht. Verübeln konnte sie es dem Mann nicht. Peter Bosskop, zumindest war dies ihr Eindruck, nach dem was sie bisher über ihn gehört hatte, war ein sadistischer Mistkerl gewesen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was Flensbach sich während der Ermittlungen und Zeugenbefragungen damals alles hatte anhören und ansehen müssen. Da konnte man nicht allen Ernstes von dem Mann verlangen, dass er bei der Nachricht vom Ableben des Täters in Tränen ausbrach. Nein, sie selbst hatte so manchem der Mörder, denen sie in ihrer Laufbahn bei der Kripo begegnet war, zumindest die Krätze an den Hals gewünscht.

„Haben Sie schon einen Verdacht, wer Bosskop gerichtet haben könnte?“, fragte Flensbach und klang dabei tatsächlich amüsiert.

„Nein, Herr Hauptkommissar Flensbach, ich bedaure. Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Es ist ja noch gar nicht erwiesen, dass Bosskop gerichtet wurde – wie Sie es nennen. Es könnte auch ein anderes Motiv hinter der Tat stecken. Dennoch ermitteln wir natürlich auch in diese Richtung und hatten gehofft, Sie könnten uns eventuell bei dieser Frage behilflich sein. Keiner kennt den Fall von damals so gut wie Sie“, mutmaßte sie jetzt einfach einmal. Das Wort „gerichtet“ gefiel Nina in diesem Zusammenhang ganz und gar nicht. Richten konnte in einem Rechtsstaat nur ein Gericht.

„Ja, da könnten Sie recht haben, Frau Moretti“, fühlte der alte Ermittler sich nun auch prompt geschmeichelt.

„Hören Sie, Herr Flensbach, ich möchte dies ungerne am Telefon besprechen. Besteht die Möglichkeit, dass wir uns zeitnah treffen könnten?“, fragte sie, da sie das Gefühl hatte, es wäre besser, dem Mann gegenüberzusitzen, während sie mit ihm sprach. Wichtiger als das was Menschen sagten, waren oft ihre Körpersprache und Mimik. Eine Taktik, die sich bei der Befragung von Zeugen oder mutmaßlichen Tätern als extrem wichtig erwiesen hatte. Zwar war Flensbach weder Zeuge noch ein Verdächtiger, doch irgendetwas in ihr sagte ihr, dass der Mann in diesem Fall vielleicht noch wichtig werden könnte. Flensbach kannte Bosskop, dessen damalige Frau, die Opfer der beiden und auch alle Hinterbliebenen. Dass der aktuelle Mord an Peter Bosskop mit den Vorfällen damals in dem Horrorhaus von Hollerau zusammenhing, stand für Nina, obgleich sie dies nicht laut sagen würde, außer Frage.

„Kein Problem, Frau Moretti. Ich bin Pensionär – zumindest auf dem besten Weg dahin – und habe alle Zeit der Welt. Sagen Sie einfach, wann und wo Sie mich treffen möchten, und ich komme vorbei“, schlug der alte Kriminalist vor.

„Könnten Sie morgen früh zu uns ins Kommissariat nach Betzdorf kommen oder ist Ihnen das zu weit?“, schlug sie vor. Nina hatte keine Ahnung, wo der Mann zu Hause war. Vermutlich wohnte der irgendwo in der Nähe seiner Dienststelle bei Olpe.

„Kein Problem, wenn es da immer noch so guten Kaffee wie bei Ihrem Vorgänger Hans Peter Thiel gibt“, lachte er.

Nina schielte zu der alten Kaffeemaschine, die tatsächlich ein Erbstück ihres Vorgängers Kriminaloberkommissar Thiel war.

„Selbstverständlich gibt es den“, antwortete sie deshalb und verabredete sich mit Flensbach für den nächsten Morgen um Punkt acht Uhr in ihrem Büro.

Kapitel 3

Montag, 10. Juli 2023, 17 Uhr 14

Neue Straße, Kausen/Westerwald

Es war kurz nach fünf, als Thomas Kübler den Porsche in der heimischen Einfahrt parkte. Die warme unklimatisierte Außenluft, die ihm entgegenschlug, als er die Wagentüre öffnete, war unfassbar schwül. Da lobte er sich die Klimaanlage seines Luxusgefährts, auch wenn die Karre bei warmem Wetter gelegentlich etwas müffelte. Ja, es wurde wieder einmal Zeit, den Duftbaum am Innenspiegel auszutauschen.

Stöhnend schälte er sich aus den Sportsitzen und reckte sich erst einmal. Der erste Arbeitstag nach seinen Ferien und er war schon wieder urlaubsreif.

Fälle wie der, den sie gerade bearbeiteten, widerten ihn an. Diese extreme Brutalität und Gewalt waren einfach nicht sein Ding. Die Frage, wer so etwas tat, stellte sich ihm auch noch nach nun fünfzehn Jahren bei der Kripo immer wieder aufs Neue. Thomas waren in dieser Zeit so viele Gewalttäter begegnet, dass er sie kaum noch zählen konnte. Doch er verstand immer noch nicht, was viele von ihnen antrieb. Warum taten diese Menschen dermaßen abscheuliche Sachen? Klar, da waren Typen, die erschossen bei einem Überfall einen anderen Menschen aus reiner Habgier. Andere lynchten in einem Anfall von Wut oder Eifersucht ihre Frau. Dies waren Dinge, die er im Ansatz verstehen konnte.

Doch warum ließ jemand einen anderen einfach so qualvoll verrecken oder folterte ihn nur so zum Spaß zu Tode? Was lief in den Köpfen dieser Irren bloß schief?

Der Kerl, dessen geschundene Leiche sie heute gefunden hatten, war ebenfalls so ein Fall, den man mit gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehen konnte. Peter Bosskop hatte in der Zeit vor seiner Haft mindestens zwei Frauen so dermaßen gequält, dass sie daran gestorben waren. Mehrere andere hatten seine perversen Quälereien nur knapp überlebt. Nun war er ebenfalls tot. Qualvoll dahingeschieden wie seine einstigen Opfer. Rache war hier das naheliegendste Motiv. Das konnte man verstehen, musste man aber nicht. In Küblers Augen war der oder die Wahnsinnige, der dies getan hatte, nicht besser als das Opfer selbst. Schmerzen mit Schmerzen zu vergelten war in seinen Augen einfach nur widerwärtig und pervers.

Von hinter dem Haus hörte er das Gebell der Hunde, dazwischen das Quieken und Lachen von Leah und mehrfach lautes Platschen. Die Kinder waren im Pool. Eine gute Idee. Er würde sich nur schnell umziehen und dann ebenfalls noch eine Runde in dem aufblasbaren Becken planschen gehen.

Als er gerade die Haustüre aufschließen wollte, vernahm er von der Straße her ein ihm sehr bekanntes Läuten. Der italienische Eismann war wieder unterwegs. Thomas stellte seinen Ranzen auf der Treppe ab, entnahm ihm seine Geldbörse und flitzte zurück in die Einfahrt. Als er um die Hausecke bog, fuhr der alte rostige Hochdachbus mit dem aufgemalten Eishörnchen und der Aufschrift Flippo echtes italienisches Eis gerade vor der Einfahrt entlang. Thomas beschleunigte seine Schritte, rannte auf die Straße und winkte keine fünf Meter hinter dem Bulli, der erneut seine markante Fanfare erklingen ließ. Geduldig blieb Thomas stehen und sah Flippo hinterher, der behäbig durch die Dreißiger-Zone tuckerte und alle hundert Meter sein Horn schmettern ließ. Vermutlich würde der Italiener bis zum Ende der Straße fahren, dort wenden und dann zurückkommen. Vor einem der Häuser am oberen Ende der Straße erkannte Thomas eine Schar Kinder. Flippo hielt an. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, dann zogen die Bälger, jedes ein Eis in der Hand, wieder davon. Thomas wartete weiter geduldig.

„Hallo Mausbär. Was stehst du denn da auf der Straße herum?“, hörte er seine Frau Alexandra vom Küchenfenster her rufen.

„Ich hol uns ein Eis bei Flippo“, beschied er sie.

„Super. Ich hätte gerne zwei Kugeln Banane und eine Malaga. Das Ganze mit ordentlich Schlagsahne obendrauf. Was die Kinder wollen, weißt du ja“, freute sie sich und war wieder verschwunden.

Thomas blickte die Straße hinauf. Über dem Asphalt flirrte die heiße Luft. Von dem Eiswagen war nun aber weit und breit nichts mehr zu sehen. War der jetzt einfach am Ende der langen Geraden abgebogen und hatte nicht gewendet? Das gab es doch nicht! Der musste ihn doch gesehen haben.

Er wartete noch etwa eine halbe Minute, dann rannte er zu seinem Dienstporsche, startete den Motor und schoss rückwärts auf die Straße.

Während er die Dreißiger-Zone hinauffegte, öffnete er das Seitenfenster und klatschte wütend das Blaulicht auf das Dach. Als er die Hauptstraße erreichte, zögerte er kurz. Sollte er jetzt nach links aus dem Dorf hinaus oder nach rechts zur Dorfmitte abbiegen? Er entdeckte zu seiner Rechten eine junge Frau mit Kinderwagen, die in ihrer Hand ein Eis hielt. Also nach rechts. Mit einem Affenzahn bretterte er die Hauptstraße hinunter. In Höhe des ehemaligen Tante-Emma-Ladens sah er ihn. Thomas setzte den Blinker, überholte den Eiswagen und stellte sich quer vor ihn mitten auf die Straße.

Eis-Flippo trat auf die Bremse und gestikulierte nun wild mit den Armen. Thomas stieg aus und ging in aller Ruhe an das offene Fenster der Schiebetüre, wo lautstark ein Schwall Italienisch auf ihn einprasselte.

„Sagen Sie mal, haben Sie mich nicht gesehen? Ich habe da wie ein Idiot gestanden und Ihnen hinterhergewunken. Wenn Sie etwas verkaufen wollen, müssen Sie auch mal schauen und gegebenenfalls anhalten“, beschied er den unrasierten Kerl in den Fünfzigern, der immer noch wild mit den Armen fuchtelte und irgendetwas auf Italienisch fluchte.

„Ich hätte gerne zwei Eis im Becher, mit je zwei Kugeln Banane und einem Bällchen Malaga und obendrauf Sahne“, bestellte er erst einmal das Eis für Alex und sich selbst.

„Hab ich nix Banane. Willst du Banane, musst du nach Afrika bei die Affen gehen“, antwortete der Italiener mürrisch und mit starkem Akzent. So etwas von unfreundlich war Thomas ja schon lange nicht mehr untergekommen. Er ballte die Faust.

„Okay. Dann je zwei Vanille und ein Malaga mit Sahne“, änderte er einfach die Bestellung.

„Habe ich keine Malaga. Habe ich nur, was steht da“, antwortete Flippo und deutete auf eine Tafel links von ihm an der Wand zum Führerhaus, auf der gut und gerne zwanzig Sorten Eis aufgelistet waren. Bis auf Schoko und Vanille waren alle anderen jedoch mit einem Filzstift durchgestrichen worden. Thomas änderte noch einmal seine Bestellung auf vier Becher. Je mit zwei Kugeln Vanille und einer Kugel Schoko und Schlagsahne. Die Sahne war allerdings ebenfalls aus.

Als er mit den vier Eisbechern auf dem Beifahrersitz langsam zurück nach Hause fuhr, hatte er das Gefühl, dass sein Hemdkragen gleich platzen müsste. So ein unfreundliches, arrogantes Arschloch. Scheinbar hasste der seine Kunden. Der wollte wohl nichts verkaufen. Der wollte, wie es schien, nur den ganzen Tag mit seinem dämlichen Eiswagen durch die Gassen schleichen, seine italienischen Schlager aus dem Kassettenrekorder mitträllern und den Leuten mit seiner blöden Fanfare auf die Nerven gehen. Nein, bei dem würde er kein Eis mehr kaufen. Dann fuhr er lieber das nächste Mal am Supermarkt vorbei und erstand das Zeug in Literdosen. Die hatten auch mehr Auswahl und waren wesentlich preisgünstiger.

Gerade als er den Porsche wieder in der Einfahrt abstellte, kam ihm ein Gedanke.

Ja, dieser Flippo wollte wirklich kein Eis verkaufen. Der tat nur so. Der fuhr in der Gegend rum, verkaufte am Tag vielleicht zehn Eis und trug abends zehntausend Euro angeblichen Umsatz zur Bank. Mit Sicherheit Schwarzgeld aus dubiosen Mafiageschäften. Mit den Pizzerien machten diese Italiener das doch genauso. Egal, wie bescheiden die Läden liefen, die Umsätze waren immer bombastisch. So musste es auch in diesem Fall sein. Dieser Eis-Flippo, wie sie ihn alle nannten, wusch mit seinem Eiswagen einfach nur Schwarzgeld aus Drogengeschäften, illegalem Glücksspiel, Prostitution und Schutzgelderpressungen. Sonst nichts. Oder doch … wer wusste schon, welche Waren der sonst noch so unter der Hand und unter seiner mobilen Ladentheke vertickte. Das Eis war nur Tarnung, und er, Thomas Kübler, würde der Sache nachgehen.

Als Nina gegen halb sechs ihren VW Käfer vor der heimischen Villa abstellte, parkte dort neben dem VW Bus von Klaus bereits ein großer dunkler 5er BMW, den sie nur allzu gut kannte. Na super! Die beiden Senioren hatten ihr gerade noch gefehlt. Eigentlich hatte sie sich auf eine erfrischende Runde im heimischen Pool gefreut, bevor sie dann mit Klaus und den Kindern den Grill fürs Abendessen anheizte.

„Moin, Thiel, hallo Mama“, begrüßte sie die beiden älteren Herrschaften, die, als sie den Garten hinter der Villa betrat, an dem großen Terrassentisch saßen. Während sie Hans Peter Thiel nur kameradschaftlich auf die Schulter klopfte, gab sie ihrer Mama einen flüchtigen angedeuteten Schmatzer auf die Wange. Und ja, auch wenn sie eigentlich keinerlei Lust auf Besuch am heutigen Abend hatte, so freute sie sich doch irgendwie schon, die beiden zu sehen.

„Wo sind denn Klaus und die Zwillinge?“, erkundigte sie sich suchend.

„Klaus dürfte in der Küche sein und die Kinder wollten sich eben schnell etwas Trockenes anziehen“, beschied ihre Mama sie.

Nina nickte, ließ sich auf den freien Platz gegenüber von Thiel sinken, nahm sich eines der frischen Gläser von dem Tablett in der Mitte des Tisches und goss sich einen Schluck Mineralwasser ein.

„Und, mein Engel, was gibt es Neues?“, erkundigte Thiel sich und grinste dabei breit.

Vermutlich glaubte der alte Bulle immer noch, dass sie die Bezeichnung „mein Engel“ störte. Doch nein, dem war nicht mehr so. Sie wusste ja, von wem es kam und dass es nicht so gemeint war, wie es für Fremde klingen könnte. Sie hatte sich über die Jahre an ihn und seine Sprüche gewöhnt. Nina mochte Thiel und seine zuweilen etwas mürrische und schroffe Art. Die einzige Fremdsprache, die der pensionierte Beamte perfekt beherrschte, war Sarkasmus. Doch wenn man dies wusste und damit umgehen konnte, stellte dies nicht wirklich ein Problem dar.

Viele Menschen hielten Hans Peter Thiel für einen knorrigen alten Mistkerl. Doch der Schein trog. Unter der extrem rauen Schale schlummerte ein sehr weicher Kern. Für Leute, die er mochte, tat der Alte alles. Und wer wusste dies besser als sie?

„Eigentlich nichts. Immer der gleiche Trott“, log sie, da sie keine Lust hatte, über Dienstliches mit ihm zu reden.

„Im Internet steht, im Rainchen wäre eine männliche Leiche gefunden worden“, hakte Thiel nach.

„Na, wenn es da steht, wird es wohl so sein“, antwortete sie und lächelte ihn zuckersüß an.