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Molly Murphy braucht dringend einen Partner für ihre Detektei und findet einen neuen Fall …
Ein packender Band aus der Cosy Crime-Reihe von Bestsellerautorin Rhys Bowen
Zum ersten Mal seit die Irin Molly Murphy ihre Detektei in New York gegründet hat, ist sie vollständig mit Arbeit eingedeckt. Obwohl sie sich als echte Unternehmerin erweist und von einigen der hellsten Stars am Broadway und den reichsten Familien auf der Fifth Avenue beauftragt wird, muss sie widerwillig zugeben, dass sie Hilfe bei den vielen Aufträgen benötigt.
Mollys Verehrer, der kürzlich suspendierte Polizei-Captain Daniel Sullivan, wäre der idealer Mitarbeiter – doch bevor sie sich über die Bedingungen seiner Anstellung einigen können, stolpern sie über eine junge Frau, die bewusstlos inmitten des schneebedeckten Central Parks liegt. Als die Frau aufwacht, hat sie nicht nur ihr Gedächtnis, sondern auch ihre Sprache verloren. Während die Behörden versuchen, die Traumatisierte in eine Irrenanstalt einzuweisen, beschließt Molly, ihr zu helfen und steckt damit gleich mitten in einem neuen Fall …
Erste Leserstimmen
„Die Cosy-Krimi-Reihe geht gewohnt charmant und spannend in die zweite Runde.“
„Ein historischer Krimi voller skurriler Verwicklungen und Zufälle – sehr unterhaltsam!“
„Rhys Bowen schreibt so liebevoll und witzig, man muss ihre Cosy Crimes einfach lieben.“
„Ich hab schon sehnsüchtig auf die zweite Staffel mit Molly Murphy gewartet!“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 558
Zum ersten Mal seit die Irin Molly Murphy ihre Detektei in New York gegründet hat, ist sie vollständig mit Arbeit eingedeckt. Obwohl sie sich als echte Unternehmerin erweist und von einigen der hellsten Stars am Broadway und den reichsten Familien auf der Fifth Avenue beauftragt wird, muss sie widerwillig zugeben, dass sie Hilfe bei den vielen Aufträgen benötigt.
Mollys Verehrer, der kürzlich suspendierte Polizei-Captain Daniel Sullivan, wäre der idealer Mitarbeiter – doch bevor sie sich über die Bedingungen seiner Anstellung einigen können, stolpern sie über eine junge Frau, die bewusstlos inmitten des schneebedeckten Central Parks liegt. Als die Frau aufwacht, hat sie nicht nur ihr Gedächtnis, sondern auch ihre Sprache verloren. Während die Behörden versuchen, die Traumatisierte in eine Irrenanstalt einzuweisen, beschließt Molly, ihr zu helfen und steckt damit gleich mitten in einem neuen Fall …
Deutsche Erstausgabe August 2020
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96087-625-0 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-274-9
Copyright © 2008 by Rhys Bowen. Alle Rechte vorbehalten. Titel des englischen Originals: Tell Me, Pretty Maiden
Published by Arrangement with Janet Quin-Harkin. c/o JANE ROTROSEN AGENCY LLC, 318 East 51st Street, NEW YORK, NY 10022 USA.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Übersetzt von: Martin Spieß Covergestaltung: Grit Bomhauer unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Evgeny Karandaev, © Clari Massimiliano, © ShotPrime Studio Korrektorat: Lennart Janson
E-Book-Version 31.05.2023, 16:02:05.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für meinen Sohn Dominic, der sich in der harten Welt der Musicals behauptet, in der Hoffnung, dass seine Mutter ihn eines Tages als Broadwaystar sehen kann.
Und wie immer geht Dank an John, Clare und Jane für ihre Lektoratsanmerkungen.
„Sag mir, hübsches Mädchen, gibt es noch mehr wie dich?“
„Oh ja, guter Herr, es gibt ein paar. Guter Herr, es gibt ein paar.“
„Tell Me, Pretty Maiden“, Florodora, Broadway-Musical von 1901
New York City, Dezember 1902
Meine Füße waren eiskalt. Wir Iren sind dafür bekannt, die Wahrheit auszuschmücken, aber in diesem Fall meine ich es wörtlich. Die Stiefel waren schrecklich undicht, ließen Schnee und Schneematsch hinein und ich konnte meine Zehen nicht mehr spüren. Wenn ich vernünftig gewesen wäre, wäre ich augenblicklich nach Hause gegangen, aber ich war noch nie dafür bekannt gewesen, vernünftig zu sein. Außerdem hatte ich einen Fall. Eine gute Detektivin verließ ihren Posten nicht wegen einiger Erfrierungen.
Der Winter hatte New York einen Tag nach Thanksgiving mit plötzlicher Heftigkeit erreicht, die Stadt mit Schnee bedeckt und den Verkehr praktisch zum Erliegen gebracht. Seitdem waren die Straßen und Bürgersteige freigeschaufelt und gefegt worden, um ein Durchkommen zu ermöglichen, aber in den Rinnsteinen lagen riesige Haufen aus Schnee und Eis, und der Wind, der vom Hudson hereinfegte, drang selbst durch die wärmsten Wintermäntel. Und an diesem Abend trug ich keinen Mantel. Ich trug eine abgenutzte Jacke, Kniebundhose und Nagelschuhe. Mein Haar hatte ich unter einer Mütze zusammengenommen und mein Gesicht war dreckig. Ich gab mich genau genommen als Straßenjunge aus.
Es war mir wie eine gute Idee vorgekommen, als ich die Kleider in der Wärme meines kleinen Hauses am Patchin Place angezogen hatte. Mein Auftrag war es, einem gewissen Mr. Leon Ruth zu folgen, und ich hatte bereits auf die harte Tour gelernt, dass Frauen, die sich nachts alleine auf Stadtstraßen herumdrücken, Gefahr laufen, wegen Prostitution verhaftet zu werden. Straßenjungen hingegen gibt es reichlich, und sie sind unsichtbar. Obendrein hatte ich einen Besen mitgenommen und unternahm halbherzige Versuche, als Bettelkehrer für Passanten die Straße zu fegen, während ich beobachtete und wartete.
Ich hatte als Dank für meine Mühen tatsächlich ganze zwanzig Cent Trinkgeld bekommen. Aber ich hatte nicht erwartet, dass Mr. Roth so lange brauchen würde. Und ich kam schnell zu dem Schluss, dass kein Auftrag es wert war, eine Lungenentzündung zu riskieren.
Diese Sache hatte ein unkompliziertes Unterfangen werden sollen. Ein wohlhabendes, jüdisches Paar, die Mendelbaums, hatte mich angeheuert, um die Referenzen des jungen Mannes zu überprüfen, der ihre Tochter heiraten sollte. Er war von einem Heiratsvermittler herbeigeschafft worden, was in ihrer Tradition wohl normal war, und schien alle Qualitäten zu besitzen, die ihn zu einem idealen Ehemann machten. Diese Qualitäten beinhalteten eine Ausbildung in Yale und ein beträchtliches privates Einkommen. Aber New York war nicht das Schtetl ihrer Vorfahren, wo jeder die Gewohnheiten aller anderen kannte. Diese Eltern sorgten sich um ihre Tochter und wollten sicherstellen, dass ihr Auserkorener keine heimlichen Laster hatte – und dass er so reich war, wie er behauptete.
Ich hatte den Auftrag voller Enthusiasmus angenommen. Ich hatte gedacht, dass ich ihn ohne Gefahr ausführen könnte und ich nicht wie bei einem Scheidungsfall schäbig ausspähen und herumschleichen müsste. Außerdem war das Honorar großzügig, und wenn ich meine Pflichten zur Zufriedenheit meiner Kunden erfüllte, empfahlen sie mich vielleicht ihren Freunden. Es war leicht gewesen, seinen Arbeitsplatz bei einem großen Unternehmen für Transport und Import zu überprüfen und herauszufinden, dass man von ihm erwartete, es weit zu bringen. Ich hatte noch nicht vermocht, Einzelheiten zu seinem Bankkonto in die Hände zu bekommen, da ich selbst nicht viel Gelegenheit gehabt hatte, das Innenleben von Banken kennenzulernen.
Und jetzt untersuchte ich, wie tugendhaft sein Charakter war, was sich als interessant herausstellte. Ich hatte mich vor Mr. Roths Adresse positioniert, beobachtete und wartete. Er lebte nicht weit von mir entfernt, in einem Apartment-Hotel in der 5th Avenue. Es war nicht der protzige Teil der 5th Avenue, oben bei den Vanderbilts und Astors am Central Park, sondern der untere Teil der Straße, südlich des Union Square. Es war einst die schickste Adresse der Stadt gewesen, doch jetzt nicht mehr. Die großen Stadthäuser waren größtenteils in Apartments aufgeteilt worden. Die Kutschen und die livrierten Lakaien waren fort. Es war immer noch anständig, aber eindeutig nicht mehr glanzvoll.
Die ersten paar Tage dieses Falls hatten mich davon überzeugt, dass auch Mr. Roth anständig, aber nicht glanzvoll war. Ich hatte es geschafft, ihm zum Knickerbocker Grill zu folgen, wo er sich mit anderen jungen Männern traf und nichts Stärkeres als Wasser trank, zum Manhattan Theater, wo er eine Inszenierung von A Doll’s House gesehen hatte, von einem schwedischen Stückeschreiber namens Mr. Ibsen – dem Vernehmen nach ein eher düsteres Stück, wenn man das anhand der nüchternen Bilder außerhalb des Theaters beurteilen konnte. Ich war ihm sogar in Macy’s neues Kaufhaus gefolgt, wo er sich eine seidene Ascot-Krawatte gekauft hatte.
Ich war beinahe bereit, den Mendelbaums zu berichten, dass ihre Tochter Mr. Roth mit Zuversicht heiraten konnte, als er eines Abends sehr eilig aus dem Haus kam und auf die Broadway-Straßenbahn aufsprang. Ich raffte auf wenig damenhafte Weise meine Röcke, sprintete los und schaffte es, mich im letzten Moment an Bord der Straßenbahn zu ziehen, dann stieg ich hinter ihm an der 42nd Street aus.
Sobald seine Füße die Pflastersteine berührten, entfernte er sich mit so hoher Geschwindigkeit, dass er bereits von der Menge verschluckt worden war, bis ich endlich aussteigen konnte – Röcke und Unterröcke machten es mir unmöglich, so wie er von einem Verkehrsmittel zu springen. Es war etwas spät fürs Theater, aber die Straße war noch immer vollgestopft mit Gästen, die Restaurants verließen, Werbern, die neue Stücke anpriesen, Zeitungsjungen, die die neuesten Schlagzeilen ausriefen, Straßenhändlern, Blumenverkäufern, Bettlern und Bettelkehrern. Da die Gehwege noch immer voller Schnee und Eis waren, liefen die Menschen auf der Straße und brachte Kutschen und Droschken zum Stillstand.
Mr. Roth ging Richtung Westen. Ich kämpfte mich am Victoria Theater und dem Republic vorbei, das elektrische Licht ihrer Anzeigetafeln erleuchtete das Straßenbild und ließ es recht heiter wirken. Dann glaubte ich, auf der anderen Seite der 7th Avenue einen weiteren Blick auf seinen Homburg-Hut erhascht zu haben, er war jetzt weit vor mir und bewegte sich noch immer Richtung Hudson. In diesem Moment war mein Argwohn geweckt. Natürlich hätte ich meine Zweifel hintanstellen und glauben können, dass er für eine Theateraufführung spät dran war, aber ich konnte ab hier keine weiteren Theater-Anzeigetafeln mehr sehen. Tatsächlich hatte sich die Menge ausgedünnt und die Straße sah entschieden dunkler und weniger angenehm aus.
Ich lief vorsichtiger weiter. Es gab Gerüchte, dass die 42nd Street mehr und mehr zu einer Lasterhöhle wurde. Die gehobene Klasse der Prostituierten verließ die Lower East Side, und Bordelle fanden sich jetzt Seite an Seite mit Theatern und Restaurants, besonders auf der westlichen Seite des Broadway. Ich wanderte eine Weile auf und ab und hoffte, dass er vielleicht aus einem Gebäude treten oder ich ihn in einem Restaurant erspähen würde, bis mir bewusst wurde, dass ich ebenfalls observiert wurde. Der Constable, der sein Revier patrouillierte, beäugte mich argwöhnisch, als er das erste Mal an mir vorüberging. Als er etwa eine halbe Stunde später zurückkehrte und ich noch immer dort war, überquerte er die Straße und kam auf mich zu.
„Warten Sie auf jemanden, Miss?“, fragte er, und seine Hand fingerte träge an seinem Schlagstock herum.
„Äh, ja. Meine Cousine“, sagte ich.
„Dies ist bei Nacht kein Ort für eine junge Frau“, sagte er. „Wenn ich Sie wäre, würde ich verduften, solange Sie noch in Sicherheit sind. Sie sehen anständig aus, aber meine Meinung von Ihnen könnte sich ändern, falls ich Sie wieder hier antreffe, wenn ich das nächste Mal vorbeikomme.“
Ich verstand den Wink und ging nach Hause. Ich war schon einmal für Prostitution verhaftet worden, als ich ein Haus in einem respektableren Teil der Stadt observiert hatte. Eine unbegleitete Frau nach Einbruch der Dunkelheit war in den Augen des Gesetzes stets verdächtig, und ich hatte nicht den Wunsch, eine weitere Nacht im Gefängnis zu verbringen. Ich hatte dieser Tage nicht mal mehr Daniel, um mir aus der Patsche zu helfen, da er immer noch von seinem Dienst bei der New Yorker Polizei suspendiert war, auf einen Prozess wartete und sich gegenwärtig außerhalb der Stadt aufhielt.
Auf dem Heimweg fegte ein Junge den Schneematsch und Dreck beiseite, sodass ich die Straße überqueren konnte, und sagte dann: „Haben Sie einen Nickel, Miss?“
Das brachte mich auf eine Idee. Ich war dabei, Kisten voller Kleider zu packen, um sie meinem früheren Untermieter Seamus O’Connor und seinen beiden Kindern Shamey und Bridie zu schicken. Sie lebten jetzt auf dem Land, wo Seamus bei einem Bauern angestellt war und der junge Shamey ihm bereits bei der Feldarbeit half. Es war eine ideale Situation für sie, gesünder und sicherer als das Leben in der Stadt, aber ich vermisste sie noch immer schrecklich. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass der junge Shamey die Treppe herunterpolterte und rief: „Ich bin fast am Verhungern. Könnte ich etwas Brot und Marmelade haben?“ Und an Bridie, die sich dicht an mich kuschelte und meine Hand nahm.
Unter den Kleidern, die man mir überlassen hatte, weil der Sohn einer Freundin herausgewachsen war, gab es eine Kniehose und eine Jacke, die für Shamey zu groß waren. Mir kam in den Sinn, dass ich sie gut verwenden konnte, bis er hineingewachsen war. Also kaufte ich am nächsten Tag von einem Handwagen in der Hester Street eine Ballonmütze und ein Paar alte Stiefel und die Verwandlung war komplett. Als ich an diesem Abend losging, um Mr. Roth zu observieren, war ich nicht länger die anständig gekleidete, junge Dame namens Molly Murphy, sondern einer von Tausenden Straßenjungen, die darauf hofften, einen Penny zu verdienen, indem sie die Kreuzungen von Dreck befreiten.
Es war zu schade, dass mein Auftrag mit dem frühen Wintereinbruch zusammenfiel. Es dauerte nur wenige Minuten, bis mir die Kinder zutiefst leidtaten, die sich diesem Wetter in solchen Lumpen stellen mussten. Ich tat mir auch selbst zutiefst leid, um Ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich wäre auf der Stelle nach Hause gegangen, aber ich war eindeutig etwas Interessantem auf der Spur.
Die zweite Nacht in Folge war Mr. Roth auf die West Side der 42nd Street geeilt. Und außerdem hatte ich ihn dieses Mal nicht aus den Augen verloren. Ich hatte bis zum Block zwischen der 8th und 9th Avenue mit ihm Schritt gehalten, wo er in einem gesichtslosen Gebäude verschwunden war. Eine Stunde später war er immer noch nicht wieder herausgekommen. Die 42nd war nicht wie die Elizabeth Street, wo sich Mädchen in provokativen Posen auf den Treppen vor Hauseingängen räkelten oder vorübergehenden Männern obszöne Bemerkungen nachriefen. Diese verrufenen, gehobenen Häuser hatten diskrete Namensschilder: Fifi oder Madame Bettina. Es hätten normale Gebäude mit Apartments oder Büros sein können. Dieses spezielle Haus hatte kein Schild und keine Karte an der Tür, nur ein dunkles, schmales Treppenhaus, das zu Gott weiß was hinaufführte. Ich wollte ihm nicht gerne dort hinauf folgen. Ich hatte eine Aversion gegen Bordelle, seit ich einmal beinahe dazu gezwungen worden war, in einem zu arbeiten. Außerdem würde ich, so wie ich aussah, wieder vor die Tür gesetzt werden.
Ich war gerade zu dem Schluss gekommen, dass dies ein närrisches Unterfangen und die Taubheit in meinen Füßen ein Zeichen dafür war, dass Erfrierungen die Macht übernahmen, als er wieder die Treppe heruntergerannt kam. Er trug jetzt ein großes, in braunes Papier eingewickeltes Paket. Er ging schnell zur Ecke der 8th Avenue und hielt eine Droschke an. Jetzt war ich wirklich fasziniert. Ich hatte noch nie von Bordellen gehört, die ihren Kunden Geschenke machten. Ich konnte schlichtweg nicht erraten, was in dem Paket sein mochte, und ich musste es wissen. Ich ignorierte die Warnungen in meinem Kopf, ging zu dem Eingang zurück und stieg die Treppe hinauf.
Das Treppenhaus war schlecht beleuchtet und das Wachstuch auf den Stufen blätterte ab. Ich stolperte hinauf, bis ich unter einer Tür einen Lichtstreifen ausmachte. Ich trat heran und lauschte. Kein mädchenhaftes Gelächter. Keine Frauenstimmen. Tatsächlich war es still. Dann fiel ich die Treppe beinahe wieder hinunter, als ich ein Geräusch hörte, das ich nicht erwartet hatte. Ein lautes, mechanisches Klappern. Vorsichtig stieß ich die Tür auf und sah einen alten Mann, der an einer Tretnähmaschine arbeitete. Auf einem Tisch neben ihm lagen Schnittmusterteile auf Stoff ausgebreitet. Ein Anzug war an eine Ankleidepuppe geheftet. In diesem Moment erkannte ich, dass Mr. Roth lediglich seinen Schneider aufgesucht hatte.
Ich versuchte, die Tür geräuschlos wieder zu schließen, als der Schneider aufsah und mich erblickte. „Scher dich raus, du nichtsnutziges Kind“, rief er und tat so, als würde er sein Bügeleisen in Richtung Tür werfen.
Ich floh. Als ich zur 6th-Avenue-Hochbahn zurückging, hatte ich einen roten Kopf und kam mir dumm vor. Nur ich hätte hinter einem einfachen Besuch bei einem Schneider ein Drama vermuten können. Das ist Teil meines irischen Temperaments, fürchte ich. Wir haben Spaß daran, aus den banalsten Ereignissen große Dramen zu machen. Meine einzige Erleichterung war, dass ich niemandem von meinen Plänen erzählt hatte und abgesehen von mir niemand von meiner Dummheit wusste.
Ich war in der vergangenen Woche mehr oder weniger auf mich allein gestellt gewesen. Daniel hatte Thanksgiving bei seinen Eltern in Westchester County verbracht und war noch nicht zurückgekehrt, und meine Nachbarinnen und gute Freundinnen Elena Goldfarb und Augusta Mary Walcott, für gewöhnlich bekannt unter ihren weniger respektablen Spitznamen Sid und Gus, waren für ein Klassentreffen mit anderen Mädchen ihrer Abschlussklasse nach Vassar eingeladen worden. Dementsprechend war mir dieser Auftrag sehr willkommen gewesen. Ich war nicht gut darin, nichts zu tun und allein zu sein. Sid und Gus waren in der vergangenen Nacht zurückgekehrt, aber soviel ich wusste, hatten sie Besuch mitgebracht, der bei ihnen übernachtete, und ich hatte nicht stören wollen. Ich hatte keine Ahnung, wann Daniel zurückkommen würde. Vielleicht noch eine ganze Weile nicht. Wenn er seinen Eltern endlich von seiner gegenwärtigen, misslichen Lage erzählt hatte, hatten sie ihn vielleicht gedrängt, der Stadt fern und bei ihnen zu bleiben, bis die ganze Sache in Ordnung gebracht werden konnte. Ich dachte daran, dass er mir wenigstens hätte schreiben können, um mich von seinen Plänen zu unterrichten. Männer sind in diesen Dingen nie besonders gut.
Ich näherte mich gerade der Ecke der 6th Avenue, als ich ein Handgemenge sah. Ein paar Straßenjungen standen sich gegenüber. Einer von ihnen war ein großer, spindeldürrer Kerl, ungefähr so groß wie ich, der einem kleinen Zwerg gegenüberstand, nur halb so groß wie er. Aber der Angreifer war offensichtlich der Zwerg.
„Komm schon, verschwinde. Das ist mein Platz“, schrie er mit seiner hohen, kindlichen Stimme. „Und wenn du nicht vorsichtig bist, kämpfe ich mit dir darum.“ Er hob die Hände und hielt sie vor sich wie ein Profiboxer.
Ich blieb stehen, um zuzusehen, und glaubte nicht, dass der Kleine große Chancen hätte. Stattdessen zuckte der ältere Junge mit den Schultern. „Behalt ihn. Ist sowieso nicht gut“, sagte er, schulterte seinen Besen und schlenderte davon. Seine Art, sich zu bewegen, hatte etwas an sich, das mich dazu bewegte, ihm zu folgen. Ich brauchte einen guten halben Block, ehe ich erkannte, was mich so argwöhnisch gemacht hatte. Er ging wie ein Mädchen. Jungen schlendern. Sie setzen ihre Füße sorglos auf die Erde. Sie treten nach Dingen. Dieser hier trat vorsichtig auf, machte kleine Schritte. Ich lächelte wissend vor mich hin. Es war kein Straßenjunge, sondern noch eine Frau in Verkleidung, wie ich.
Plötzlich neugierig geworden, kämpfte ich mich durch die Menge, um sie einzuholen. Ich hatte keine Ahnung, warum sich eine andere Frau als Straßenjunge verkleiden sollte. Die einzige andere weibliche Detektivin, die ich in New York City getroffen hatte, war Mrs. Goodwin, aber sie war bei der Polizei angestellt und trug eine Uniform. Ich war entschlossen, diese Frau im Auge zu behalten, bis ich eine passende Gelegenheit fand, sie zur Rede zu stellen. Wenigstens musste ich mir keine Sorgen um ihr kämpferisches Temperament machen.
Dann hörte ich das Rumpeln einer sich nähernden Hochbahn über unseren Köpfen. Die junge Frau rannte plötzlich die Stufen zum Bahnsteig hinauf. Ich folgte ihr, aber ich hatte keine Fahrkarte. Sie schob sich durch die Schranke und in den Zug, während ich zornig und wartend am Fahrkartenschalter zurückblieb. Zum zweiten Mal an diesem Abend, war ich wütend auf mich selbst. Wenn sie wirklich eine andere weibliche Detektivin gewesen war, hätten wir vielleicht gelegentlich zusammenarbeiten und einander helfen können. Es ist weiß Gott schwer, als Frau in der Männerwelt zu arbeiten und eine solche Beschäftigung kann einsam sein.
Meine kleine Seitengasse namens Patchin Place lag in winterlicher Dunkelheit, als ich mich näherte und mir einen Weg über den schmalen Streifen suchte, der von Schnee befreit worden war. Als ich in meiner Tasche nach dem Haustürschlüssel fischte, wurde mir bewusst, dass ich die Aussicht eines leeren Hauses an einem kalten, düsteren Abend fürchtete. Ich bin selbst zu meinen besten Zeiten kein Geschöpf, das für ein Leben in Einsamkeit geschaffen ist, und in diesem Moment sehnte ich mich nach nichts anderem als einem prasselnden Feuer, einem heißen Getränk und guter Gesellschaft. Ich wusste, wo ich all das finden konnte, aber ich zögerte, so spät am Abend noch bei meinen Nachbarinnen hereinzuplatzen, besonders wenn sie Besuch hatten, den kennenzulernen ich noch nicht eingeladen worden war.
Einen langen Augenblick kämpfte Anstand mit Sehnsucht. Da ich einen keltischen Charakter habe, gewann natürlich die Sehnsucht. Ich bahnte mir einen Weg über die Straße und klopfte an ihre Tür. Sie wurde von Sid geöffnet, die ihren üblichen, samtenen Smoking trug, eine türkische Zigarette ruhte anmutig in der langen Elfenbeinspitze zwischen ihren Fingern. Sie war das Ebenbild künstlerischer Eleganz, aber sie beäugte mich mit entsetztem Argwohn.
„Was willst du?“, wollte sie wissen. „Los. Verschwinde.“
„Sid, ich bin’s. Molly“, sagte ich.
Ein überraschtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Du meine Güte, tatsächlich. Was um alles in der Welt tust du so spät draußen, und so außergewöhnlich gekleidet? Nein, erzähl es mir nicht. Gus wird es auch hören wollen, und ich weiß, dass unser Gast vollkommen verblüfft sein wird.“ Sie kicherte bereits, als sie mich ins Haus führte und dann mit dramatischer Geste die Tür zum Salon aufwarf.
„Mach dich bereit, in Staunen versetzt zu werden, Gus“, sagte sie. „Und was dich betrifft, Elizabeth, hier ist ein Straßenjunge, der dir auf den Fersen ist.“
Ich trat in die behagliche Wärme ihres Salons. Ein großes Feuer brannte im Kamin. Die schweren, burgunderroten Samtvorhänge schlossen die kühle Nacht aus. Auf einem niedrigen Tisch standen ein Brandy-Dekanter, dampfende Becher sowie eine Kupferschale voller Feigen, Datteln und Nüsse. Meine Freundin Gus saß auf der einen Seite des Feuers in ihrem Queen-Anne-Sessel mit der hohen Lehne und hatte sich ein perlenbesetztes Tuch um die schlanken Schultern gelegt, während die Person auf der anderen Seite des Feuers der andere Straßenjunge war, der mir an der Bahnstation entkommen war. Ihre Mütze hatte sie abgelegt, was einen schönen Schopf dunkler Haare entblößte. Sie hatte sich halb von ihrem Sessel erhoben und beäugte mich ängstlich.
Gus erkannte mich augenblicklich und kam mit offenen Armen auf mich zu. „Molly, meine Liebste, erzähl schon, was los ist. Ist das irgendein Festival, von dem wir nichts mitbekommen haben? Die Nacht der Straßenjungen? Sicher nicht der Tag der unschuldigen Kinder, oder?“ Sie zog mich in Richtung Feuer. „Meine Güte, deine Hände sind eiskalt. Sid hat grad Toddy für Elizabeth gemacht. Setz dich hierhin, während ich dir welchen hole.“
Ich wurde mit Nachdruck in Gus’ Sessel am Feuer geschoben und spürte, wie meine Hände und Finger kribbelnd wieder zum Leben erwachten. Mein Straßenjunge beäugte mich interessiert, als Gus mit einem dampfenden Becher des Grogs zurückkehrte, den sie mir in die Hände drückte. „Trink einen Schluck und erzähl uns alles“, sagte sie.
Ich schlürfte und spürte, wie sich ein wohliges Glühen abwärts durch meinen Körper bewegte. „Heilige Mutter, das fühlt sich gut an“, sagte ich. „Ich dachte, ich stände kurz davor, durch Erfrierungen meine Hände und Füße zu verlieren. Was für ein lächerlicher Einfall, sich in einer Nacht wie dieser als Straßenjunge zu verkleiden.“
„Ich bin selbst zum gleichen Schluss gekommen“, sagte die Besucherin, die sie als Elizabeth angesprochen hatten, mit einer kräftigen, kultivierten Stimme. „Sie müssen einen guten Grund gehabt haben.“
„Ich bin einem Mann in eine widerliche Gegend gefolgt“, sagte ich. „Frauen, die auf dem Gehweg herumlungern, laufen Gefahr, wegen Prostitution verhaftet zu werden. Straßenjungen sind unsichtbar und im Überfluss vorhanden, besonders seit sich an jeder Kreuzung einer oder zwei herumtreiben, wie Sie gerade selbst erlebt haben.“ Ich lächelte die Frau an, die ihren Kopf zurückwarf und lachte.
„Sie haben mich gesehen, nicht wahr? Weggeschickt von einem winzigen Rüpel. Was für eine Demütigung. Aber er sah wie ein zäher, kleiner Teufel aus und ich hatte nicht den Wunsch, es mit ihm aufzunehmen und für meine Mühen mit einer aufgeplatzten Lippe nach Hause zu kommen.“
„Du bist also einem Mann gefolgt, Molly“, lenkte Sid mich zum Thema zurück.
„Ja. Mir wurde aufgetragen, den Charakter und die potenziellen Laster eines jungen Mannes zu untersuchen. Ich soll herausfinden, ob er einen passenden Ehemann abgibt.“
„Und er hat sich in einen verrufenen Teil der Stadt gewagt? Na, na.“ Sid kicherte.
„Nur um seinen Schneider aufzusuchen, wie sich herausstellte“, gab ich zu. „Bisher war sein Verhalten vorbildlich.“
Ihr Gast sah mich interessiert an. „Darf ich annehmen, dass Sie eine Art Detektivin sind?“
„Das bin ich“, sagte ich.
„Und eine sehr gute“, fügte Gus stolz hinzu. „Ich habe euch einander noch gar nicht vorgestellt, nicht wahr? Molly Murphy, das ist Elizabeth Cochran Seaman. Molly hat alle möglichen gefährlichen Fälle aufgeklärt. Du wirst feststellen, dass sie ebenfalls eine Abenteurerin ist, die Geschichten zu erzählen hat, die beinahe so gut sind wie deine eigenen.“
„Faszinierend“, sagte die Frau. „Ein weiblicher Detektiv. Ich glaube nicht, dass ich bisher einen kennengelernt habe.“
„Sind Sie nicht selbst Detektivin?“, fragte ich. „Welchen anderen Grund könnte es geben, in einer solch kalten, ungemütlichen Nacht als Junge verkleidet herumzuschleichen?“
„Ich führe eine eigene kleine Ermittlung durch“, sagte die Frau und lächelte geheimnisvoll. „Über die Notlage der Zeitungsjungen.“
Sid kam herüber, um sich auf der Armlehne des Sessels der Frau niederzulassen. „Dies, meine liebe Molly, ist niemand Geringeres als die berühmte Nelly Bly.“
„Aber ich dachte, du hättest sie gerade als Elizabeth vorgestellt“, sagte ich und errötete ob ihres Gelächters.
„Meine Liebe, Nelly Bly ist ihr Pseudonym“, sagte Sid. „Sicher hast du von ihr gehört. Sie ist sehr berühmt.“
„Eher berüchtigt, meinst du nicht auch?“ Nelly, oder war es Elizabeth, kicherte.
„Es tut mir leid. Der Name ist mir geläufig, aber ich weiß wirklich nicht ...“, murmelte ich.
„Bedenke, dass Molly erst seit weniger als zwei Jahren in Amerika ist“, sagte Gus und kam herüber, um mir tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. „Deine berüchtigtsten Heldentaten waren da bereits Vergangenheit, und vielleicht haben es die Berichte darüber nicht bis nach Irland geschafft.“
„Sie mögen es bis nach Dublin geschafft haben“, sagte ich und lachte jetzt ebenfalls, „aber nicht bis in das Kaff, in dem ich lebte. Wir haben die Nachricht von Queen Victorias Tod zwei Tage später erhalten.“
„Nun, dann lass mich dich ins Bild setzen“, sagte Sid. „Elizabeth ist eine Zeitungsreporterin. Sie ist spezialisiert darauf, Korruption und Ungerechtigkeit aufzudecken, diese dunkle Schattenseite der Gesellschaft, von der wir alle wissen sollten. Sie ist schlimmer als du, wenn es darum geht, sich in Gefahr zu bringen, um ihr Ziel zu erreichen.“
„Sie hat sich verhaften lassen, damit sie über die Zustände in einem Frauengefängnis berichten konnte“, sagte Gus, „und sie hat verdeckt in einer Irrenanstalt ermittelt.“
„Aus der man mich beinahe nicht herauslassen wollte“, fügte Elizabeth hinzu.
„Und hast du nicht in Mexiko für Unruhe gesorgt?“
Elizabeth lachte erneut laut. Sie hatte wirklich ein überaus ansteckendes Lachen. „Das habe ich in der Tat. Ich habe über Korruption berichtet, im Zusammenhang mit den Wahlen dort. Ich hatte Glück, dass ich lebend aus der Sache herauskam.“
„Welche Abenteuer haben Sie in jüngster Zeit unternommen?“, fragte ich. „Ich habe eifrig Zeitung gelesen, seit ich hier bin, und ich glaube nicht, dass mir Ihr Name aufgefallen ist.“
„Meine Liebe, ich habe vorgegeben, eine respektable, verheiratete Frau zu sein“, sagte sie. „Erst vor Kurzem hat es angefangen, mich zu langweilen. Und als ich hörte, dass die Zeitungsjungen der Stadt darüber sprachen, eine Gewerkschaft zu gründen, dachte ich, was das für eine gute Geschichte abgäbe, und beschloss, mir ihre missliche Lage selbst anzusehen. Daher die Verkleidung.“
Gus sah zu Sid hinüber. „Freust du dich nicht auch, dass all unsere Freundinnen so viel Mumm haben?“
„Sie blieben nicht lange unsere Freundinnen, wenn dem nicht so wäre“, sagte Sid. „Das Leben ist zu kurz, um langweilige Freundinnen zu haben. Ich muss sagen, dass es entzückend war, festzustellen, dass sich nicht alle unsere Klassenkameradinnen aus Vassar der Ehe und häuslicher Schinderei ergeben haben.“
„Was ist mit dem Mädchen, das den Amazonas hinaufgefahren ist?“, rief Gus. „Ihre Beschreibung von Anakondas weckte in mir den Wunsch, sie mit eigenen Augen zu sehen. Sollten wir eine Reise zum Amazonas unternehmen, was meinst du, Sid, Liebste?“
Das Feuer und der heiße Toddy hatten Leben in meine Hände und Füße zurückgebracht, und ich fühlte mich behaglich und schläfrig. Mir fiel auf, dass Unterhaltungen wie diese nicht in vielen Salons stattfanden. Junge Frauen sollten beim Gedanken an eine riesige Schlange in Ohnmacht fallen, und sich nicht wünschen, den Amazonas hinaufzueilen, um selbst eine zu sehen. Ich blickte sie liebevoll an. Gus begegnete meinem Blick.
„Molly, wo sind unsere Manieren? Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Hast du dich überarbeitet, während wir weg waren? Hast du heute Abend schon gegessen?“
„Ja, danke“, sagte ich, weil ich ihnen nicht zur Last fallen wollte.
„Und hat Sullivan der Schwindler dich in unserer Abwesenheit gut behandelt?“, fragte Sid.
„Daniel ist immer noch weg, soweit ich weiß“, sagte ich. „Ich habe seit Thanksgiving keinen Ton von ihm gehört.“
„Typisch Mann“, kicherte Elizabeth. „Es kommt ihnen nie in den Sinn, dass wir Frauen uns vielleicht sorgen und von ihnen hören wollen. Aber wieso sollten Sie von einem Schwindler hören wollen, wenn ich fragen darf?“
„Das liegt alles in der Vergangenheit“, sagte ich und spürte, wie meine Wangen beim Gedanken daran erröteten. „Er ist ein geläuterter Mann. Aber Sid und Gus bestehen weiterhin darauf, den Beinamen zu verwenden.“
„Weil er Molly immer noch nicht so behandelt, wie sie es verdient“, sagte Sid. „Viel zu egozentrisch.“
„Sind nicht alle Männer so?“, fragte Elizabeth. „Mein Ehemann ist besser als die meisten, aber wenn er ein Herzensprojekt hat, findet in seinem Kopf nichts anderes Platz. Ich habe einmal über eine Stunde am Bahnhof darauf gewartet, dass er mich abholt, weil er seine Briefmarkensammlung neu sortiert und die Zeit vergessen hatte.“
Ich beschloss, dass ich nach Hause gehen und diesen alten Freundinnen Gelegenheit geben sollte, die gegenseitige Gesellschaft zu genießen. Ich erhob mich. „Wenn ihr Ladies mich entschuldigt“, sagte ich. „Es war ein langer Tag und ich sollte aus diesem lächerlichen Aufzug rauskommen.“
Gus fasste mich am Arm. „Molly, bitte bleib und nimm mit uns ein spätes Abendessen ein“, sagte sie. „Sid hat herrlichen, reifen Käse gefunden, und wir haben eine Flasche Bordeaux, den wir unbedingt probieren wollen.“
„Das klingt verlockend“, sagte ich, „aber ich sollte nach Hause gehen und alte Freundinnen in Erinnerungen schwelgen lassen.“
Nelly Bly stand ebenfalls auf. „Und auch ich sollte gehen und mich umziehen, ehe die Rede von Abendessen ist. Ich war heute lange genug ein Straßenjunge.“ Sie streckte eine Hand aus. „Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Murphy.“
„Molly, bitte“, sagte ich.
„Und ich bin Elizabeth. Ich ziehe es vor, nicht mein berüchtigtes Pseudonym zu benutzen, wenn ich nicht arbeite.“
Ihr Händedruck war kräftig, fast wie der eines Mannes.
Gus hielt mir die Tür auf. „Morgen musst du zum Abendessen kommen. Oder wirst du wieder zum Schnüffeln unterwegs sein?“
„Ich fürchte, das muss ich, wenn ich diesen Auftrag gründlich erledigen will“, sagte ich, „obwohl ich fast glaube, dass der junge Mann genau so ist, wie er sich darstellt.“
„Dann Mittagessen“, sagte Sid. „Ein Nein lassen wir nicht durchgehen.“
„Danke.“ Ich lächelte sie an. „Dann sage ich zu.“
„Es sei denn, Sullivan der Schwindler lässt sich blicken“, sagte Sid trocken, „dann werden wir wieder beiseitegeschoben, merk dir meine Worte.“
„Absolut nicht“, sagte ich. „Ich bin keine Marionette. Ich springe nicht, wenn Daniel es verlangt. Und wenn er wochenlang zu faul ist, mir eine Nachricht zu schicken, kann er warten, bis ich bereit bin, ihn zu sehen.“
„Gut gesagt, Molly“, lobte Elizabeth. „Gesprochen wie eine Vassar-Absolventin. Ich nehme an, Sie haben diese geachtete Einrichtung nicht besucht?“
„Ich habe gar keine Einrichtung besucht“, sagte ich. „Ich wurde bis zu einem gewissen Grad mit den Töchtern des örtlichen Gutsbesitzers ausgebildet, aber dann starb meine Mutter und ich musste zu Hause bleiben, um drei junge Brüder großzuziehen. Ich hätte meine Bildung gerne weitergeführt, aber es war einfach nicht möglich.“
„Es ist noch immer Zeit“, sagte Elizabeth. „Diese beiden Frauen besitzen eine beeindruckende Bibliothek und sind reich an interessanten und gebildeten Freunden.“
„Ich weiß“, sagte ich. „Ich habe beides bereits gründlich ausgekostet. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Ich freue mich darauf, diese Unterhaltung morgen fortzuführen. Jetzt höre ich, wie mich Seife und Waschlappen rufen, damit ich mir diesen Dreck aus dem Gesicht entfernen kann.“
Ich ließ sie fröhlich lachend zurück, schloss die Haustür und war viel besserer Stimmung. Ich überquerte den Patchin Place und war gerade dabei, meinen Schlüssel ins Schloss der Haustür zu stecken, als ich gewaltsam von hinten gepackt wurde. Mein Arm wurde nach hinten gerissen, während sich mir ein fremder Arm über die Kehle legte.
„Hab dich“, zischte mir eine Stimme ins Ohr. „Versuch nicht, dich zu wehren, sonst wird es dir schlecht ergehen. Ich könnte dir im Handumdrehen das Genick brechen, wenn ich wollte.“
Einen Moment lang war ich zu erschrocken, um mich zu bewegen. Als ich versuchte, mich zu wehren, stellte ich fest, dass mein Angreifer mich in einem unerträglichen Würgegriff hielt; der Arm lag so fest über meiner Luftröhre, dass ich nicht einmal schreien konnte.
„Also gut. Dann schauen wir dich mal an“, sprach die Stimme in leisem, bedrohlichem Tonfall weiter, und ich wurde rückwärts in Richtung der einsamen Straßenlampe gezerrt. „Okay, wer hat dich geschickt? Wer hat dich dazu angestiftet, hm? Lassen die Hudson Dusters jetzt kleine Jungs für sie in Häuser einbrechen?“
Der eiserne Griff um meine Kehle lockerte sich ein wenig. Mein Herz begann wieder zu schlagen und ich erkannte die Stimme.
„Daniel“, krächzte ich und versuchte, meinen Kopf zu ihm zu drehen. „Daniel, lass mich los. Ich bin es. Molly.“
Die Hände ließen mich los, als stünde ich in Flammen.
„Molly? Bist du in Ordnung?“
„Das werde ich sein, wenn ich wieder sprechen kann“, flüsterte ich.
„Es tut mir so leid. Ich hatte keine Ahnung“, sagte er, dann blickte er mich wütend an.
„Was in Gottes Namen tust du? Ich dachte, ich komme gerade rechtzeitig an, um einen Einbrecher zu erwischen.“
„Ich habe in einem Fall ermittelt“, sagte ich. „Die Situation machte eine Verkleidung notwendig.“
Er drehte mich zu sich, seine großen Hände ruhten auf meinen Schultern. „Mein liebes Mädchen, wann gibst du diese absurde Idee auf und fängst an, ein sicheres und normales Leben zu führen?“
„Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen“, sagte ich monoton, obwohl seine Nähe nervenaufreibend war.
„Ich habe im Moment genug, worum ich mir meinetwegen Sorgen machen muss, ohne mich auch noch um dich zu sorgen. Du musst aufhören, diese absurden Risiken einzugehen, hörst du?“
„Was das angeht: Ich bin ganz und gar kein Risiko eingegangen“, sagte ich ruhig. „Ich hatte lediglich das Ziel, auf einer Stadtstraße unsichtbar zu bleiben. Außerdem habe ich beim Kehren einer Kreuzung zwanzig Cent verdient.“
Ich steckte eine Hand in die Tasche und holte die Münzen hervor. Er sah sie an und brach unvermittelt in Gelächter aus. „Molly Murphy, was mache ich nur mit dir?“
„Du könntest mir erst einmal sagen, warum du mir die ganze Zeit, nicht geschrieben hast“, sagte ich, „und dann schätze ich, könntest du mich küssen.“
„Nicht geschrieben? Du wusstest, wo ich war.“
„Daniel, du sagtest, du wärest über die Feiertage weg, ein paar Tage“, sagte ich wütend. „Es wurden einige Wochen daraus. Ich war besorgt. Außerdem dachte ich, du würdest mich vielleicht vermissen.“ Ich wich von ihm zurück. „Aber da du das offensichtlich nicht getan hast, hat es wenig Sinn, hier draußen im Schnee zu stehen und darüber zu diskutieren. Ich erfriere in diesen Kleidern. Ich muss reingehen.“
Ich ließ ihn stehen und stapfte zu meiner Haustür. Daniel folgte. Ich öffnete die Tür, dann drehte ich mich um und sah ihn an. „Und noch etwas: Was hast du zu dieser späten Stunde an meiner Türschwelle gemacht?“
„Es ist erst zehn“, sagte er, „und ich wollte sicherstellen, dass es dir gutgeht, sobald ich in die Stadt zurückgekehrt war.“
„Nun, verbindlichsten Dank, Sir. Wie Sie sehen können, bin ich gesund und munter.“ Ich wollte die Tür schließen. Er streckte eine Hand aus, um mich daran zu hindern.
„Bittest du mich nicht herein, Molly? Nachdem ich den ganzen Weg durch den Schnee gekommen bin?“
„Was, ich soll meinen Ruf gefährden?“, fragte ich. „Eine junge Frau, die allein lebt und spät nachts einen Mann in ihr Haus lässt, riskiert schreckliche Kritik von der Gesellschaft.“
Darüber lachte er wieder. „Jetzt klingst du genau wie Arabella. Seit wann scherst du dich darum, was die Gesellschaft über dich denkt?“
„Vielleicht habe ich ein neues Kapitel angefangen, während du weg warst“, sagte ich. „Eines Tages brauche ich vielleicht einen respektablen Verehrer.“
„Molly, quäl mich nicht so“, sagte Daniel plötzlich und schob sich neben mir in den Hausflur. „Du weißt, was ich unlängst durchgemacht habe.“
„Was immer es war, du warst zu beschäftigt, um mir zu schreiben“, sagte ich. „Was ist passiert – bist du mit Arabella zu so unglaublich eleganten Partys eingeladen worden, dass du nicht absagen konntest?“
„Es tut mir leid.“ Er seufzte. „Es war eine sorgenvolle Zeit. Mein Vater hatte sich eine scheußliche Grippe eingefangen und wir fürchteten, dass sie zu einer Lungenentzündung werden könnte. Eine Weile stand er auf Messers Schneide, unter diesen Umständen konnte ich nicht weg. Ich war Tag und Nacht an seinem Krankenbett. Du weißt, wie schwach sein Herz geworden ist.“
Ob dieser Neuigkeiten kam ich mir selbstverständlich ziemlich albern und oberflächlich vor. „Ist dein Vater jetzt wieder genesen?“, fragte ich.
„Glücklicherweise ja, Gott sei Dank. Und dann hat mich der Schneesturm für ein paar zusätzliche Tage eingeschneit, und meine Mutter versuchte, mich zu überreden, sogar noch länger zu bleiben.“
„Ah, du hast ihnen endlich die Wahrheit über deine missliche Lage gesagt?“
„Ich habe meiner Mutter einen Teil erzählt – dass ich ein kleines Problem mit dem gegenwärtigen Police Commissioner habe.“
„Daniel, du hast versprochen, offen und ehrlich mit ihnen zu reden. Wie kannst du deine eigene Familie glauben lassen, dass du immer noch als Police Captain Erfolg hast, während du in großen Schwierigkeiten steckst?“
Seine Augen blitzten gefährlich auf. „Was hast du erwartet, was ich einem Mann mit schwachem Herzen sagen würde – einem ehemaligen Polizisten, der mit allen Ehren in den Ruhestand gegangen ist? Dass sein Sohn mit Schimpf und Schande aus dem Dienst entlassen wurde, weil man ihn beschuldigt, auf der Gehaltsliste einer Gang zu stehen?“
„Nein, ich schätze unter den Umständen ...“, sagte ich schwach.
„Und wie du selbst betont hast, ist John Partridge nur noch bis Januar Police Commissioner. Ich muss einen weiteren Monat Geduld haben und dann – wer weiß. Vielleicht wird dann jemand für den Job ausgewählt, der meiner Sache wohlgesonnen ist.“
„Ich bin mir sicher, dass sich dein Schicksal ändern wird, Daniel“, sagte ich. „John Partridge ist bloß stur. Er weiß bereits, dass man dir etwas angehängt hat. Es wäre überaus unfair, wenn du noch länger suspendiert bliebest. Du bist einer ihrer besten Männer. Sie wären Idioten, wenn sie dich nicht wiedereinstellen würden. Mit einer Entschuldigung.“
„Hoffen wir also, dass sie keine Idioten sind“, sagte Daniel. Er stand da und starrte mich an.
„Was?“, fragte ich.
„Du siehst verdammt verführerisch aus in diesem lächerlichen Outfit, mit dem Schmutzfleck auf deiner Nase und den roten Haarbüscheln, die dieser Mütze entkommen.“ Er fuhr probeweise mit einem Finger meine Nase hinab und über meine Lippen.
Meine Entschlossenheit war, was Daniel Sullivan betraf, nie besonders stark gewesen, und ich konnte spüren, wie sie nachließ. „Ich denke, du solltest besser gehen, Daniel“, sagte ich. „Ehe wir beide unüberlegt handeln.“
„Du hast recht. Wir würden nicht unüberlegt handeln wollen“, sagte er, sein Blick forderte meinen heraus. „Aber meiner Erinnerung nach hast du selbst mich noch vor wenigen Augenblicken gebeten, dich zu küssen.“
„Solange es bei einem Kuss bleibt“, sagte ich. „Unsere Küsse neigen dazu, zu mehr zu werden, und in unserer gegenwärtigen Situation ...“
„Ich verstehe“, sagte Daniel. „Wenn die Dinge doch nur anders wären. Wenn ich eine Perspektive hätte ...“ Er ließ das Ende des Satzes unausgesprochen, sodass Stille herrschte.
Ich nahm seine Hände. „Daniel, mach dir nicht so viele Sorgen. Ich bin mir sicher, am Ende wird alles gut werden.“
„Ich versuche, deinen Optimismus zu teilen“, sagte er, „aber wenn du durchgemacht hättest, was ich gerade erlebt habe ...“
Ich hielt es für weiser, meine jüngsten Erfahrungen nicht zu erwähnen. Männer glauben gern, dass sie das schwerere Los haben. Ich hob eine Hand und streichelte seine Wange, dann wich ich zurück. „Sie haben sich nicht rasiert, Captain Sullivan. Schande über Sie, eine junge Frau zu besuchen, ohne sich vorher um Ihre Toilette zu kümmern.“
Darüber lachte er, packte meine Handgelenke und zog mich dicht an sich. „Ich erinnere mich an einen anderen Anlass, bei dem du nicht so wählerisch warst, was den Zustand meines Schnurrbarts betrifft“, sagte er.
Ich erinnerte mich nur allzu gut an diesen Anlass. „Und er wird nicht wiederholt, ehe deine Situation nicht geklärt ist“, sagte ich, legte ihm meine Hände auf die Jacke und übte festen Druck aus, um ihn in Schach zu halten.
Er nickte. „Nun gut. Ein Kuss, dann gehe ich. Aber lass uns morgen ausnahmsweise einmal Spaß haben. Der Schnee oben in Westchester County war großartig. Ich würde dir liebend gerne zeigen, wie er aussieht – kein grauer Schneematsch wie hier in der Stadt, sondern unberührtes, glitzerndes Weiß. Ich bin mir sicher, du hast in Irland noch nie solchen Schnee gesehen.“
„Du willst, dass wir rauf nach Westchester fahren? Ich fürchte, das ist nicht möglich. Ich arbeite gerade an einem Fall.“
„Dann nicht bis nach Westchester. Sicher kannst du etwas Zeit für den Central Park erübrigen. Es gibt dort eine Eisbahn, und die Kinder werden Schlitten fahren. Wir könnten eine Schlittenpartie machen. Dafür kannst du doch ein oder zwei Stunden erübrigen, oder nicht, Molly?“
Dieses Mal wurde ich wirklich schwach. „Das kann ich wohl“, sagte ich. „Der Mann, dem ich folge, ist tagsüber mit ziemlicher Sicherheit bei der Arbeit in seinem Büro, ohne Zeit dafür zu haben, in Schwierigkeiten zu geraten.“
Daniel strahlte, als hätte ich ihm gerade ein Geschenk gemacht. „Dann hole ich dich um elf Uhr ab. Wie lang ist es her, seit wir zusammen einen Tagesausflug gemacht haben?“
„Zu lang“, stimmte ich zu.
„Bis morgen also.“ Er nahm mich in die Arme und küsste mich sanft auf die Lippen. Unsere Lippen waren immer noch kalt von der eisigen Nachtluft, aber sie wurden schnell warm, so wie Daniel selbst. Der Kuss war erst keusch, wurde fordernd und ehe ich mir erlaubte, ihn zu erwidern, unterbrach ich ihn. „Daniel, nein.“ Ich hielt ihn auf Abstand, meine Hände an seinen Wangen. „Das ist nicht vernünftig. Geh nach Hause.“
„Wenn du darauf bestehst“, sagte er mit einem Seufzen und ging.
Natürlich bereute ich, ihn fortgeschickt zu haben, kaum, dass ich meine Haustür geschlossen hatte, und direkt im nächsten Moment erinnerte ich mich an etwas anderes. Ich hatte versprochen, mit Sid, Gus und ihrer Freundin, der faszinierenden Nelly Bly, zu Mittag zu essen. Was sollte ich jetzt tun? Ich wollte liebend gerne beides tun. Ich erörterte die Sache und am Ende setzte sich Daniel durch. Ich argumentierte, dass Sid und Gus ihren Gast hatten, um sie zu unterhalten, wohingegen Daniel eine so schwere Zeit durchgemacht hatte, dass er mich mehr brauchte als sie.
Also überquerte ich früh am nächsten Morgen den Patchin Place, um das zu erklären und um darum zu bitten, unser Mittagessen um einen Tag zu verschieben. Meine Freundinnen fanden das selbstredend amüsant.
„Siehst du, Gus, was habe ich dir gesagt? Ich wusste, dass sie uns in dem Moment beiseiteschiebt, in dem dieser Mann wieder die Bildfläche betritt. Er schnippt mit den Fingern und sie lässt alles stehen und liegen, um sich um ihn zu kümmern“, sagte Sid mit einem Zwinkern.
„Das tue ich nicht, nicht unter normalen Umständen“, antwortete ich erregt. „Es ist nur so, dass es so lange her ist, seit Daniel und ich die Möglichkeit hatten, uns wie ein normales Paar zu verhalten, auszugehen und uns zu amüsieren. Ich versichere euch, dass ich nicht jedes Mal renne, wenn Daniel Sullivan mit den Fingern schnippt.“
„Glaubst du, wir sollten sie dieses eine Mal vom Haken lassen, Gus?“, fragte Sid.
„Offenbar genießt sie die Gesellschaft dieses Mannes, obwohl ich mir nicht erklären kann, wieso“, antwortete Gus.
„Ich schätze, er ist das, was man als gutaussehend beschreiben würde, auf eine spitzbübische Weise.“
„Und vielleicht versucht er, für vergangenes Verhalten Wiedergutmachung zu leisten.“
Sie betrachteten mich beide voller Belustigung, während sie diese Unterhaltung fortführten.
„Wenn ihr es wirklich wissen wollt“, sagte ich und unterbrach sie, „ich will unbedingt das Schlittschuhlaufen und Schlittenfahren im Central Park sehen. Solche Dinge habe ich in meinem Leben bisher nicht erlebt. Es schneit nicht wirklich in meinem Teil von Irland.“
„Natürlich.“ Sie nickten beide altklug. „Das ist der einzige Grund.“
„Ihr zwei seid manchmal wirklich zum Verzweifeln“, rief ich. „Aber ich bitte euch für meine Unhöflichkeit um Verzeihung. Bitte entschuldigt mich bei eurer Freundin Elizabeth und sagt ihr, dass ich mich darauf freue, morgen mit ihr zu Mittag zu essen.“
Als ich gehen wollte, rief Gus mir nach: „Und was gedenkst du, bei deinem Ausflug in den Central Park zu tragen?“
„Sicher nicht meine Straßenkind-Hose“, sagte ich. „Ich habe diesen großen Wollumhang. Der sollte mich warmhalten.“
„Ziemlich warm“, sagte Gus und sah Sid an, die nickte.
„Nun, ich besitze keines dieser entzückenden Outfits mit weißem Pelz, die man in den Frauenzeitschriften sieht“, sagte ich. „Der Wollumhang ist mein einziges warmes Obergewand.“
„Du hast doch genau so etwas, oder nicht, Gus?“, fragte Sid.
„In der Tat.“ Gus rauschte die Treppe hinauf, tauchte bald wieder auf und hielt einen halblangen, roten Samtumhang hoch, der mit Pelz gefüttert war.
„Heilige Mutter Gottes“, rief ich aus, als Gus ihn mir in die Hand drückte. „Den kann ich unmöglich anziehen.“
„Du glaubst, dass die Farbe nicht gut zu deinem roten Haar passt?“
„Doch, absolut. Aber er ist zu edel. Ich könnte mir ein solches Kleidungsstück nicht leihen, ohne mir Sorgen zu machen, dass ich es ruiniere.“
„Unsinn.“ Gus lachte. „Ich trage ihn so gut wie nie. Besser du trägst ihn mal nach draußen, als dass die Motten über ihn herfallen. Komm schon. Nimm ihn. Überwältige Daniel und alle anderen im Central Park mit deinem Aussehen.“
Sie bestand darauf, dass ich ihn anprobierte, und ich fühlte mich wie eine Königin, als ich ihr Haus verließ.
Daniels Augen weiteten sich, als ich in all meinem Glanz in meiner Eingangstür erschien. „Du siehst – absolut umwerfend aus“, sagte er. „Neue Kleider? Dein Detektivbüro muss gut laufen.“
„Nur geliehen, für diesen Anlass“, sagte ich, „aber mein Büro läuft erstaunlich gut. Ich habe einen Auftrag nach dem anderen, seit ich aus Irland zurückgekommen bin. Ich glaube fast, dass Mr. Tommy Burke so zufrieden mit mir war, dass er mich seinen Freunden empfohlen hat.“
„Es ist schön zu wissen, dass sich die Reise nach Irland am Ende als erfolgreich herausgestellt hat“, sagte Daniel. Er nahm meinen Arm und führte mich den Patchin Place hinunter. Sich am Ende als erfolgreich herausgestellt, dachte ich trostlos. Ein Bruder getötet, einer verbannt und ich selbst konnte nie wieder nach Hause zurückkehren. Schwerlich ein durchschlagender Erfolg. Aber wenigstens hatte ich Tommy Burke wieder mit seiner verschollenen Schwester vereint. Vielleicht half sein Geld der Freiheitsbewegung und würde irgendwie den verlorenen Anführer wiedergutmachen.
„Vorsicht!“ Daniel riss mich zurück, als ich drauf und dran war, vor einer Kutsche, die mit lächerlicher Geschwindigkeit die Greenwich Avenue hinunterdonnerte, auf die Straße zu treten.
„Also“, sagte er. „Schauen wir mal, wo wir am besten eine Droschke anhalten können.“
„Daniel, das kannst du dir nicht mehr leisten“, sagte ich ohne nachzudenken. Ich erkannte an seiner Kieferhaltung, dass es falsch gewesen war, das zu sagen. Ich hatte ihm gerade erzählt, wie gut mein Geschäft lief, und jetzt erinnerte ich ihn daran, dass er ohne Lohn suspendiert war, bis er wusste, wie sein Fall ausging.
Eine Droschke hielt auf unserer Höhe an und ich stieg ein, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
„Also was ist das für ein Fall, für den du dich wie ein zerlumpter Junge kleiden musst?“, fragte er.
„Ein sehr einfacher, wirklich. Ein jüdisches Paar will sicherstellen, dass der junge Mann, den der Heiratsvermittler für ihre Tochter gefunden hat, das ist, was er zu sein behauptet.“
„Und ist er das?“
„Bislang ist sein Verhalten ohne Tadel. Ich bin ihm in die 42nd Street gefolgt–“
„Aha“, sagte Daniel.
„–wo er bei seinem Schneider einen Anzug abholte“, schloss ich.
„Wenn sich dein Fall in der jüdischen Gemeinde abspielt, solltest du deinen Freund Mr. Singer bitten, in deinem Namen etwas herumzuschnüffeln“, sagte Daniel. „Siehst du Mr. Singer dieser Tage noch?“
Ich wusste, dass die Bemerkung als Spitze gemeint war. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich in Betracht gezogen hatte, Jacob Singer zu heiraten, als Daniel immer noch mit Arabella Norton verlobt gewesen war und ich geglaubt hatte, dass wir keine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft hätten.
„Ich habe ihn seit einer Weile nicht mehr gesehen“, sagte ich. „Außerdem bewegt er sich nicht in denselben Kreisen wie dieser Mr. Roth. Jacob ist unter den Armen und Unterdrückten aktiv. Dieser junge Mann ist ein junger Yale-Absolvent, der im Transportunternehmen seiner Familie angestellt ist und in den besten Restaurants speist.“
„Er klingt äußerst geeignet“, sagte Daniel. „Wieso haben diese Leute dich engagiert?“
„Um herauszufinden, ob er irgendwelche verborgenen Laster hat“, sagte ich und lächelte Daniel schalkhaft an.
„Und, hat er die?“
„Nicht, dass ich welche gefunden hätte, aber die meisten Männer haben welche, weißt du.“ Daniel sah mich an, dann seufzte er.
„Und während du so beschäftigt bist, sitze ich da und drehe Däumchen. Das ist falsch, oder nicht? Männer sollten draußen sein und die Brötchen verdienen, während junge Damen zu Hause sitzen, untätig Klavier spielen und ihre Stickarbeit machen; und sie darauf warten, dass ihr Herr und Meister nach Hause kommt.“
„Nicht diese junge Dame“, rief ich. „Ich hatte in meinem Leben nicht einen einzigen untätigen Tag, und wenn ich ihn hätte, würde ich vor Langeweile sterben, so wie die meisten Frauen in solchen Situationen, schätze ich. Und wir sprechen nur von den wenigen Privilegierten. Für die meisten Frauen ist das Leben von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang eine Schinderei.“
„Das ist allerdings wahr“, stimmte Daniel zu, „obwohl ich hoffe, dass es in der Zukunft eine Zeit geben wird, in der du damit zufrieden bist, die Rolle der Hausfrau und Mutter zu spielen.“
„Das werden wir sehen, nicht wahr?“, sagte ich.
Er wollte etwas sagen, aber ich unterbrach ihn. „Lass uns nicht weiter darüber sprechen“, sagte ich und tätschelte seine Hand, wie man es tut, um ein Kind zu beruhigen. „Wie du selbst gesagt hast, geht es heute darum, Spaß zu haben. Wir sind fast da. Schau, wie der Schnee in der Sonne glitzert.“
Die Droschke hielt vor den schmiedeeisernen Toren an, die in den Central Park führten. Der Kutscher sprang herunter und half mir beim Aussteigen, als wäre ich eine feine Dame. Daniel bezahlte und bot mir dann seinen Arm an. Ich fühlte mich richtig edel, als wir uns dem Central Park näherten. Als wir gerade eintreten wollten, ertönte eine überraschte Stimme: „Mensch, Captain Sullivan, Sir!“ Und der wachhabende Constable salutierte.
„Hallo, Jones“, sagte Daniel. „Wie geht es Ihnen?“
„So lala, Sir!“, sagte der Constable. „Kann mich nicht beschweren, und der Dienst hier ist recht angenehm. Ein paar Taschendiebe, verirrte Kinder und verlorene Schlüssel, das ist so ziemlich alles. Abgesehen davon, dass uns heute gesagt wurde, dass wir nach einem Dieb aus New Haven, Connecticut, Ausschau halten sollen.“
„Ein Dieb aus Connecticut? Muss ein besonderer Dieb sein, wenn sie die New Yorker Polizei alarmieren.“
„Nun ja, dazu kann ich nichts sagen. Aber er steckt vielleicht hinter einer Reihe von Raubüberfällen, und er hat jeden getötet, der ihn aufzuhalten versuchte.“
„Was lässt sie glauben, dass er in die Stadt kommt?“
„Sein Fluchtfahrzeug wurde gefunden. Es ist auf dem Highway in der Bronx gegen einen Baum geprallt. Er ist gegenwärtig Student in Yale, was die Einbrüche in New Haven erklären würde. Aber seine Familie lebt hier in New York und die Polizei vermutet, dass er vielleicht versucht hat, nach Hause zu gelangen. Halsted ist der Name. Ein Mann aus der feinen Gesellschaft, ist das zu glauben?“
„Bei dem Namen klingelt etwas“, sagte Daniel. „Halsted. Wo habe ich ihn schon mal getroffen?“
„Wenn Sie ihn noch mal treffen, stellen Sie sicher, dass Sie ihn verhaften“, sagte der Constable mit einem Kichern. „Das würde dafür sorgen, dass Sie wieder besser dastehen, oder nicht? Ich sag es Ihnen direkt, Captain Sullivan, wir brauchen Sie zurück, bei allem, was gerade vor sich geht.“
„Oh, wirklich? Was geht denn vor sich?“, fragte Daniel.
„Nun, zum einen ist da diese neue, italienische Gang. Direkt aus Sizilien, soviel ich weiß, und niederträchtiger als alles, was wir bisher gesehen haben. Sie lassen die Eastmans wie Miezekätzchen aussehen.“
„Ist das so? Wie nennen sie sich?“, fragte Daniel. „Und wo operieren sie?“
„Soweit ich weiß, haben sie kein bestimmtes Territorium, aber sie stecken hinter allen möglichen kriminellen Machenschaften – hauptsächlich Schutzgelderpressung, aber auch Raub, Gewalt, Erpressung, Mord – suchen Sie sich was aus.“
„Wie die Jungs von der Schwarzen Hand?“
„So wie sie, nur schlimmer. Die Gangster von der Schwarzen Hand bleiben in ihren Vierteln. Diese Kerle scheinen überall zu operieren. Und sie bringen einen Mann um, kaum dass sie ihn angesehen haben. Sie nennen sich die Cosa Nostra. Keine Ahnung, was das bedeuten könnte. Es ist italienisch, soviel ist sicher.“
„Eine weitere Gang, das hat uns gerade noch gefehlt“, sagte Daniel mit einem bitteren Lachen. „Hoffen wir, dass wir sie im Keim ersticken und aufhalten können, ehe sie hier Fuß fassen. Es gibt in New York eine Menge Italiener, die sich für Gangs anwerben ließen.“
„Wem sagen Sie das, Captain? Auch eine Menge Ärger. Und versuchen Sie mal, einen von denen dazu zu kriegen, jemanden zu verpfeifen. Die haben diesen Schweigekodex und wir kriegen ihn nicht gebrochen. Wenn man Sie wieder arbeiten ließe und damit beauftragte, Sir, wüssten Sie, was zu tun ist. Wann, glauben Sie, kommen Sie zurück?“
„Ich wünschte, das wüsste ich“, sagte Daniel. „Ich werde hängen gelassen – absichtlich, da bin ich mir sicher. Aber wenn wir im Januar einen neuen Police Commissioner bekommen, zeigt der vielleicht mehr Vernunft als der gegenwärtige Idiot.“
„Das hoffe ich, Sir.“ Er sah sich um. „Ich sollte wieder an die Arbeit zurückkehren und Sie Ihren Spaziergang mit Ihrer jungen Dame genießen lassen.“ Er salutierte erneut, als Daniel und ich weitergingen.
„Einer der besten“, sagte Daniel. „Einer der wenigen, die sich nicht von mir abgewandt haben.“
„Ich bin mir sicher, keiner ist gegen dich, jetzt, da die Wahrheit ans Licht gekommen ist.“
„Aber ist die Wahrheit denn ans Licht gekommen? Es hat bislang noch keinen Prozess gegeben. Diese Ratte Quigley muss immer noch gestehen.“
„Es wird sich alles finden, da bin ich mir sicher“, sagte ich und lächelte ihn aufmunternd an.
Der East Drive war geräumt worden und der Schnee lag jetzt in großen Haufen da. Straßenkinder rutschten auf Pappstücken herunter und stießen begeisterte Schreie aus. Besser gekleidete Kinder kamen begleitet von Kindermädchen an uns vorüber, zogen richtige Schlitten hinter sich her oder hatten Schlittschuhe dabei.
In diesem Augenblick erklangen herrliche Glöckchen und auf dem East Drive fuhr ein Pferdeschlitten vorbei, dessen Insassen mit ihren pelzbesetzten Hauben und Muffen aussahen, als seien sie direkt aus einer Weihnachtsszene aus Currier and Ives entsprungen. Sie lachten heiter, als ob nichts auf der Welt sie bekümmern könnte. Ich ertappte mich dabei, dass ich an Arabella Norton dachte. Daniel hätte vielleicht mit so einem Schlitten fahren können, hätte er nicht seine Verlobung mit ihr gelöst.
„Also, hast du Arabella gesehen, als du zu Hause warst?“ Ich konnte nicht widerstehen, das zu fragen.
„Ich hatte nicht die Absicht, meine Anwesenheit kundzutun oder mich gar in die Gesellschaft hinauszubegeben, angesichts meiner gegenwärtigen Lebenslage“, sagte Daniel trocken, „selbst, wenn ich das gewollt hätte – was nicht der Fall war.“
Er lief schneller und zog mich beinahe neben sich her.
„Langsam, immer mit der Ruhe“, sagte ich. „Ich kann nicht ausschreiten wie ein Mann, weißt du, so gerne ich das auch tun würde.“
Er sah an mir herab und lächelte. „Vergib mir“, sagte er. „Wie du weißt, habe ich viel im Kopf. Lass uns den Schlittschuhläufern zusehen und all unsere Sorgen vergessen. Wenn du willst, können wir es selbst versuchen.“
„In diesem Fall fürchte ich fast, dass ich mehr auf dem Eis sitzen werde als alles andere“, sagte ich, „da ich noch nie auf Schlittschuhen stand.“
„Ich würde meinen Arm fest um dich legen“, sagte Daniel „und ich bin schon in meiner Kindheit auf dem Teich hinter unserem Haus Schlittschuh gelaufen.“
„Wir entscheiden das, wenn wir dort sind“, sagte ich. „Im Moment genieße ich es einfach, im Schnee zu sein. Es schneit so gut wie nie in meinem Teil von Irland, und wenn, dann ist es nur leichter Pulverschnee, der im folgenden Regen bald schmilzt. Meine Güte, wie es blendet. Komm, lass uns dort entlanglaufen, wo noch niemand war.“
Ich begann über eine Fläche aus unberührtem Weiß zu laufen, die einmal eine Wiese gewesen war. Der Schnee knirschte herrlich unter meinen Füßen und ich blickte zurück auf die Spur, die meine Schritte hinterlassen hatten.
„Wenn ich eine Kriminelle wäre, hättest du keine Schwierigkeiten, mir zu folgen, oder?“, rief ich. „Komm schon, Daniel. Worauf wartest du?“
„Molly, ein wenig Anstand, bitte. Und außerdem weißt du nicht, wie tief der Schnee ist.“
„Unsinn“, sagte ich. „Er reicht mir nicht über den Stiefelschaft. Sei nicht so ein Tropf. Siehst du?“
Ich machte zwei weitere Schritte und sank plötzlich bis zu den Knien in den Schnee. Mir war bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen, wie überaus kalt Schnee sein konnte. Es nahm mir beinahe den Atem.
„Daniel, hilf mir“, keuchte ich. Ich blickte ihn wütend an, als er zu lachen anfing.
„Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, kicherte er.
Ich kam mir dumm vor und war zornig, formte einen Schneeball und warf ihn. Er traf Daniel mitten auf die Brust.
„Guter Wurf, Molly“, rief ich erfreut.
Eine Sekunde lang wirkte er überrascht, dann klopfte er sich ab. „In Ordnung“, rief er. „Du hast es so gewollt!“ Dann bückte er sich, um einen eigenen Schneeball zu machen.
Ich kämpfte mich aus dem Schnee heraus und rannte los. Ein Schneeball traf mich in den Rücken. Ich hielt an, hob Schnee auf und warf einen Ball zurück, dann raffte ich meine Röcke so hoch, dass es an Unanständigkeit grenzte, rannte weiter und quiekte wie eine Zehnjährige. Am Rand der Wiese stieg das Gelände zu einigen baumbestandenen Hügeln an. Ich lief in diese Richtung, als ein weiterer Schneeball an mir vorbeischwirrte.
„Vorbei!“, rief ich, aber ich konnte hören, dass er aufholte. Die Hügel und Bäume waren nicht mehr weit. Das hier könnte zu einem Versteckspiel werden. Der Schnee hier war jedoch wieder tiefer und ich kletterte und schlitterte den nächsten Hang hinauf. Daniel hatte mich immer noch nicht eingeholt. Ich begann, auf der anderen Seite hinunter zu rennen, stolperte aber neben einem Baum beinahe über etwas. Es war weiß und ich erkannte nicht, was es war, bis es beinahe zu spät war. Ich packte einen kahlen Ast, zog mich hoch und wich entsetzt zurück. Es war die Leiche einer Frau.
Sie war jung und wunderschön, hatte ein kleines, elfenhaftes Gesicht, das von vollem, kastanienbraunen Haar eingerahmt wurde, und trug lediglich ein hauchdünnes, weißes Kleid und weiße Strümpfe mit zierlichen, schwarzen Abendschuhen. Ihre porzellanartige Haut war so weiß wie der Schnee und so wie sie dalag, sah sie aus wie eine große, weiße Porzellanpuppe.
„Jetzt habe ich dich. Jetzt bist du mir ausgeliefert“, rief Daniel, als er über die Anhöhe stolperte. Dann sah er mein Gesicht. „Was ist los?“
Schweigend zeigte ich auf den Boden zu meinen Füßen.
„Allmächtiger Gott“, rief Daniel, obwohl er sonst sehr darauf achtete, in meiner Gegenwart nicht zu fluchen. „Fass sie nicht an und halte Abstand. Ich will mir den Tatort genau ansehen. Es wird Fußspuren geben.“
„Tatort?“, fragte ich nervös.
„Junge Damen spazieren für gewöhnlich nicht ohne warme Obergewänder im Schnee herum, und gewiss nicht in solchen Schuhen. Sie wurde vermutlich getötet und hierhergebracht.“
Er kam vorsichtig näher und untersuchte den Boden rund um das tote Mädchen.
„Seltsam“, murmelte er. „Ich sehe keine Fußbadrücke, abgesehen von denen, die das Mädchen selbst hinterlassen hat. Wie kann das sein?“
Er kniete sich neben das Mädchen, hob ihr Handgelenk an, dann ließ er es fallen, als habe er sich verbrannt. „Ich habe einen Puls gespürt. Sie lebt noch. Schnell, hilf mir, meine Jacke auszuziehen. Wir müssen sie aufwärmen.“
„Mein Umhang ist wärmer“, sagte ich und schnürte ihn am Hals auf, ehe er widersprechen konnte. Ich half Daniel dabei, das Mädchen aus dem Schnee zu heben und er hüllte sie in den Umhang.
„Wir müssen schnell Hilfe holen“, sagte Daniel. „Und ein heißes Getränk. Bleib du bei ihr. Hier, leg dir meine Jacke um. Ich gehe und alarmiere den Constable am Tor. Ich beeile mich.“
Er rannte fort, während ich im Schnee kniete und das bewusstlose Mädchen in meinen Armen wiegte. Ihre Haut fühlte sich so kalt an, dass es schwer zu glauben war, dass sie noch am Leben sein konnte. Aber als ich in ihr Gesicht blickte, sah ich, wie ihre Lider zuckten, sie die Augen öffnete und sich verwundert umsah. Ihre Augen waren von unglaublichem Blau und der staunende Blick verstärkte den puppenhaften Eindruck nur noch.