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Verloren in den Tiefen des Tartarus – ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt Die sieben legendären Halbgötter haben es auf ihrem fliegenden Schiff, der Argo II, bis nach Rom geschafft, doch Percy und Annabeth sind in den Tartarus gefallen und vom Rest der Gruppe getrennt. Von nun an müssen sich beide Teams ihren Weg zu den Toren des Todes freikämpfen, um ihre Mission zu erfüllen: Nur wenn sie sich gegen Gaias Streitkräfte behaupten und die Türen von beiden Seiten gleichzeitig verschließen, können sie die Erdgöttin aufhalten. Helden des Olymp: die Fortsetzung der Jugendbuch-Bestsellerserie 'Percy Jackson' Nachdem Jason ohne Erinnerung auf einer Klassenfahrt aufwacht, überschlagen sich die Ereignisse: Als Sohn des Jupiter zählt er zu den sieben legendären Halbgöttern, die den Olymp gegen die Urgöttin Gaia und ihre Gefolgschaft verteidigen sollen. Doch nur, wenn sich die römischen und die griechischen Halbgötter zusammenschließen können sie den Kampf gegen Gaia aufnehmen. "Helden des Olymp" ist eine fünfteilige Fantasy-Buchreihe rund um die jugendlichen Halbgötter Jason, Piper, Leo, Percy, Annabeth, Hazel und Frank. Der spannende Mix aus Action, Witz und Mythologie begeistert Jung und Alt. ***Griechische Götter in der Gegenwart: actionreich, wild und urkomisch – für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der griechisch-römischen Mythologie***
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Seitenzahl: 744
Rick Riordan: Helden des Olymp – Das Haus des Hades
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Percy und Annabeth haben es mit ihren Freunden auf ihrem Schiff, der Argo II, bis nach Rom geschafft. Doch nun steht alles auf dem Spiel: Die Erdgöttin Gaia und ihre Armee aus Riesen können sie nur aufhalten, wenn sie die Tore des Todes von beiden Seiten gleichzeitig verschließen. Gut, dass Percy und Annabeth ohnehin durch einen Felsschlund in die Unterwelt gestürzt sind, da können sie gleich auf die Suche nach ihnen gehen. Werden sie es rechtzeitig schaffen und den Untergang des Olymps verhindern?
Alle Bände der »Helden des Olymp«-Serie: Helden des Olymp – Der verschwundene Halbgott (Band 1) Helden des Olymp – Der Sohn des Neptun (Band 2) Helden des Olymp – Das Zeichen der Athene (Band 3) Helden des Olymp – Das Haus des Hades (Band 4) Helden des Olymp – Das Blut des Olymp (Band 5)
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Leseprobe
I
Hazel
Beim dritten Angriff hätte Hazel fast einen Felsquader gegessen. Sie lugte gerade in den Nebel und fragte sich, wie es so schwer sein konnte, einfach eine blöde Bergkette zu überqueren, als die Alarmglocken des Schiffes ertönten.
»Scharf backbord!«, schrie Nico vom Fockmast des fliegenden Schiffes.
Leo riss das Steuerrad herum. Die Argo II schlingerte nach links und ihre Luftruder durchschnitten die Wolken wie eine Reihe von Messern.
Hazel machte den Fehler, über die Reling zu blicken. Etwas Dunkles, Rundes jagte auf sie zu. Sie dachte: Was hat denn der Mond gegen uns? Dann wimmerte sie und schlug auf das Deck auf. Der riesige Felsbrocken flog so dicht über sie hinweg, dass er ihr die Haare aus dem Gesicht blies.
KRACK!
Der Fockmast stürzte um – Segel, Spiere und Nico knallten auf das Deck. Der Quader, der ungefähr so groß war wie ein Lieferwagen, jagte weiter in den Nebel, als ob er anderswo Dringendes zu erledigen hätte.
»Nico!« Hazel taumelte zu ihm hinüber, während Leo das Schiff wieder aufrichtete.
»Mir geht’s gut«, murmelte Nico und befreite sich mit heftigen Tritten vom Segeltuch.
Sie half ihm beim Aufstehen und sie stolperten zum Bug. Hazel schaute diesmal vorsichtiger über die Reling. Die Wolken unter ihnen teilten sich gerade lange genug, um den Gipfel des Berges sichtbar werden zu lassen, eine Speerspitze aus schwarzem Fels, die aus bemoosten grünen Hängen aufragte. Oben auf dem Gipfel stand ein Berggott – einer der vielen Numina montanum, wie Jason sie genannt hatte. Oder Ourae, auf Griechisch. Und egal wie sie genannt wurden, sie waren unangenehme Zeitgenossen.
Wie die anderen, mit denen sie schon Ärger gehabt hatten, trug auch dieser einen schlichten weißen Kittel und seine Haut war rau und dunkel wie Basalt. Er war an die drei Meter dreißig groß und ungeheuer muskulös, und er hatte einen weißen Rauschebart, struppige Haare und einen wilden Blick, wie ein verrückter Einsiedler. Er brüllte etwas, das Hazel nicht verstehen konnte, das aber sicher kein Willkommensgruß war. Mit bloßen Händen löste er einen weiteren Felsbrocken von seinem Berg und fing an, ihn zu einem Ball zu formen.
Die Szene verlor sich im Nebel, aber als der Berggott wieder losbrüllte, antworteten in der Ferne andere Numina, ihre Stimmen hallten in den Tälern wider.
»Blöde Felsgötter!«, schrie Leo am Steuerruder. »Jetzt musste ich den Mast schon zum dritten Mal erneuern! Meinen die, die wachsen auf Bäumen?«
Nico runzelte die Stirn. »Masten werden durchaus aus Bäumen gemacht.«
»Darum geht es hier nicht!« Leo schnappte sich eine seiner aus einem Nintendo-Wii-Stick hergestellten Fernbedienungen und ließ sie einen Kreis beschreiben. Einige Meter weiter öffnete sich eine Falltür im Deck. Eine Kanone aus Himmlischer Bronze kam zum Vorschein. Hazel konnte sich gerade noch die Ohren zuhalten, da schoss die Kanone auch schon ein Dutzend Metallkugeln in den Himmel, die grünes Feuer hinter sich herzogen. Die Kugeln fuhren mitten in der Luft Stacheln aus, wie Hubschrauberrotoren, und jagten in den Nebel davon.
Gleich darauf erscholl über den Bergen eine Serie von Explosionen, gefolgt von dem empörten Gebrüll der Berggötter.
»Ha!«, schrie Leo.
Leider, vermutete Hazel auf Grund ihrer beiden letzten Begegnungen, hatte Leos neueste Waffe die Numina nur verärgert.
Ein weiterer Felsblock schoss pfeifend steuerbords an ihnen vorbei durch die Luft.
Nico schrie: »Hol uns hier raus!«
Leo murmelte einige wenig schmeichelhafte Kommentare über Numina, drehte aber am Steuerrad. Die Motoren summten. Magische Takelage spannte sich selbst und das Schiff drehte nach Backbord ab. Die Argo II wurde schneller und zog sich nach Nordwesten zurück, wie schon an den beiden vergangenen Tagen.
Hazel entspannte sich erst, als die Berge hinter ihnen lagen. Der Nebel lichtete sich. Unter ihnen badete die italienische Landschaft in der Sonne – sanfte grüne Hügel und goldene Felder, gar nicht viel anders als die von North Carolina. Hazel konnte sich fast vorstellen, dass sie nach Hause ins Camp Jupiter segelte.
Diese Vorstellung presste ihr Herz zusammen. Camp Jupiter war nur für neun Monate ihr Zuhause gewesen, nachdem Nico sie aus der Unterwelt zurückgeholt hatte. Aber sie hatte größeres Heimweh danach als nach ihrem Geburtsort New Orleans, und auf jeden Fall mehr als nach Alaska, wo sie 1942 gestorben war.
Sie hatte Heimweh nach ihrem Etagenbett in der Hütte der Fünften Kohorte. Sie hatte Heimweh nach den Essen in der Messe, wo die Windgeister Schüsseln durch die Luft fliegen ließen und die Legionäre Witze über Kriegsspiele rissen. Sie wollte durch die Straßen von Neu-Rom wandern und dabei Frank Zhangs Hand halten. Sie wollte es ein einziges Mal erleben, ein normales Mädchen zu sein, mit einem lieben und fürsorglichen Freund.
Vor allem aber wollte sie das Gefühl haben, in Sicherheit zu sein. Sie hatte es satt, die ganze Zeit nur Angst und Sorgen zu kennen.
Sie stand auf dem Achterdeck, während Nico sich Mastsplitter aus dem Arm pulte und Leo auf dem Schaltpult des Schiffes Knöpfe drückte.
»Na, das war ja mal wieder zum Schießen«, sagte Leo. »Soll ich die anderen wecken?«
Hazel hätte fast Ja gesagt, aber der Rest der Mannschaft hatte die Nachtschicht hinter sich und Ruhe verdient. Sie waren von der Verteidigung des Schiffes erschöpft. Alle paar Stunden schien irgendein römisches Ungeheuer die Argo II für einen Leckerbissen gehalten zu haben.
Vor wenigen Wochen hätte Hazel nicht geglaubt, dass irgendwer einen Angriff von Numina verschlafen könnte, aber jetzt stellte sie sich vor, wie ihre Freunde unter Deck weiterschnarchten. Wann immer sie selbst sich für einen Moment aufs Ohr legen konnte, schlief sie wie eine Komapatientin.
»Sie brauchen Ruhe«, sagte sie. »Wir müssen uns allein einen anderen Weg überlegen.«
»Hm.« Leo starrte stirnrunzelnd seinen Bildschirm an. In seinem zerfetzten Arbeitshemd und den mit Schmieröl bespritzten Jeans sah er aus, als ob er gerade einen Ringkampf gegen eine Lokomotive verloren hätte.
Seit ihre Freunde Percy und Annabeth in den Tartarus gestürzt waren, hatte Leo fast ohne Pause gearbeitet. Er hatte noch wütender und gehetzter gewirkt als sonst.
Hazel machte sich Sorgen um ihn. Aber ein wenig erleichterte sie diese Veränderung auch. Immer wenn Leo lächelte und Witze machte, sah er zu sehr aus wie Sammy, sein Urgroßvater … und Hazels Freund, damals im Jahr 1942.
Himmel, warum musste ihr Leben bloß so kompliziert sein?
»Einen anderen Weg«, knurrte Leo. »Siehst du einen?«
Auf seinem Bildschirm leuchtete eine Karte von Italien. Der Apennin zog sich durch die Mitte des stiefelförmigen Landes. Ein grüner Punkt für die Argo II blinkte auf der westlichen Seite des Gebirges, einige Hundert Meilen nördlich von Rom. Ihr Weg war eigentlich einfach. Sie mussten zu einem Ort namens Epirus in Griechenland und zu einem Tempel, der das Haus des Hades genannt wurde (oder des Pluto, wie er bei den Römern hieß, oder, wie Hazel fand: der mieseste abwesende Vater der Welt).
Um nach Epirus zu kommen, brauchten sie nur nach Osten zu fliegen – über den Apennin und dann über die Adria. Aber das klappte einfach nicht. Immer wenn sie versucht hatten, das Rückgrat Italiens zu überqueren, hatten die Berggötter angegriffen.
Seit zwei Tagen flogen sie jetzt nach Norden und hofften, einen gefahrlosen Übergang zu finden, was ihnen aber nicht gelang. Die Numina montanum waren Söhne der Gaia, der Göttin, die Hazel am wenigsten leiden konnte. Das machte sie zu überaus entschlossenen Feinden. Die Argo II konnte nicht hoch genug fliegen, um ihren Angriffen auszuweichen, und trotz seiner vielen Verteidigungsvorrichtungen könnte das Schiff das Gebirge nicht überqueren, ohne zerschmettert zu werden.
»Das ist unsere Schuld«, sagte Hazel. »Nicos und meine. Die Numina wittern uns.«
Sie schaute kurz zu ihrem Halbbruder hinüber. Seit sie ihn vor den Giganten gerettet hatten, gewann er langsam seine Stärke zurück, aber er war noch immer schmerzlich mager. Sein schwarzes Hemd und seine Jeans hingen an seiner skelettdürren Gestalt. Lange dunkle Haare umrahmten seine eingesunkenen Augen. Seine olivbraune Haut hatte eine kränklich grünweiße Farbe angenommen, wie Baumsaft.
In Menschenjahren war er erst vierzehn, nur ein Jahr älter als Hazel, aber das war nicht die ganze Geschichte. Wie Hazel war Nico di Angelo ein Halbgott aus einer anderen Zeit. Er strahlte eine Art alte Energie aus – eine Melancholie, die dem Wissen entstammte, dass er nicht in die moderne Welt gehörte.
Hazel kannte ihn noch nicht sehr lange, aber sie verstand und teilte sogar seine Traurigkeit. Die Kinder des Hades (oder des Pluto, egal) hatten nur selten ein glückliches Leben. Und nach dem, was Nico ihr in der vergangenen Nacht erzählt hatte, stand ihre größte Herausforderung ihnen noch bevor, wenn sie das Haus des Hades erreichten – eine Herausforderung, die sie vor den anderen geheim halten musste, darum hatte er sie angefleht.
Nico packte den Griff seines Schwertes aus stygischem Eisen. »Erdgeister mögen die Kinder der Unterwelt nicht. So ist das eben. Wir gehen ihnen unter die Haut – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber ich glaube, die Numina könnten dieses Schiff ohnehin wittern. Wir haben die Athena Parthenos an Bord. Und die ist wie ein magischer Leuchtstrahl.«
Hazel schauderte es, als sie an die massive Statue dachte, die fast den ganzen Laderaum einnahm. Sie hatten so viel geopfert, um das Standbild aus einer Höhle unter Rom zu retten, aber sie wussten absolut nicht, was sie damit anfangen sollten. Bisher schien es nur dazu da zu sein, noch mehr Monster auf sie aufmerksam zu machen.
Leo fuhr mit dem Finger über die Karte von Italien. »Die Berge zu überqueren kommt also nicht in Frage. Aber die gehen in beide Richtungen ganz schön lange weiter.«
»Wir könnten das Meer nehmen«, schlug Hazel vor. »Um die italienische Südspitze herumsegeln.«
»Das ist noch weiter«, sagte Nico. »Und uns fehlt …«, seine Stimme versagte. »Du weißt schon … unser Meeresexperte, Percy.«
Der Name hing in der Luft wie ein heraufziehender Sturm.
Percy Jackson, Sohn des Poseidon … vermutlich der Halbgott, den Hazel am meisten bewunderte. Er hatte ihr auf der Reise nach Alaska so oft das Leben gerettet, aber als er in Rom Hazels Hilfe gebraucht hatte, hatte sie versagt. Sie hatte hilflos zugesehen, wie er und Annabeth in den Abgrund gestürzt waren.
Hazel holte tief Luft. Percy und Annabeth lebten noch. Das wusste sie in ihrem Herzen. Sie konnte ihnen noch immer helfen, wenn sie nur ins Haus des Hades gelangen könnte und wenn sie die Herausforderung überlebte, vor der Nico sie gewarnt hatte …
»Und wenn wir weiter nach Norden fliegen?«, fragte sie. »Es muss doch irgendwo eine Lücke zwischen den Bergen geben oder so.«
Leo spielte an der bronzenen archimedischen Kugel herum, die er auf dem Schaltpult angebracht hatte – sein neuestes und gefährlichstes Spielzeug. Immer wenn Hazel dieses Ding ansah, war ihr Mund wie ausgedörrt. Sie hatte Angst, Leo könnte an der Kugel die falsche Kombination einstellen und sie aus Versehen alle vom Deck schießen oder das Schiff in die Luft jagen oder die Argo II in einen riesigen Toaster verwandeln.
Aber sie hatten Glück. Die Kugel fuhr eine Kameralinse aus und zeigte über dem Schaltpult ein 3-D-Bild des Apennin.
»Weiß nicht.« Leo musterte das Hologramm. »Ich sehe im Norden keine Durchgänge. Aber die Idee gefällt mir trotzdem immer noch besser als ein Rückzug nach Süden. Mit Rom bin ich fertig.«
Es kam kein Widerspruch. Rom war keine angenehme Erfahrung gewesen.
»Egal, was wir machen«, sagte Nico, »wir müssen uns beeilen. Jeder weitere Tag, den Annabeth und Percy im Tartarus verbringen …«
Er brauchte diesen Satz nicht zu beenden. Sie mussten einfach hoffen, dass Percy und Annabeth lange genug überlebten, um die im Tartarus gelegene Seite der Tore des Todes zu finden. Dann – angenommen, die Argo II erreichte das Haus des Hades – könnten sie die Tore auf der sterblichen Seite öffnen, ihre Freunde retten, den Eingang versiegeln und damit die Truppen der Gaia daran hindern, immer wieder in der Welt der Sterblichen zu reinkarnieren.
Ja … bei dem Plan konnte wirklich nichts schiefgehen.
Nico starrte stirnrunzelnd die italienische Landschaft unter ihnen an. »Vielleicht sollten wir die anderen doch wecken. Diese Entscheidung betrifft uns schließlich alle.«
»Nein«, sagte Hazel. »Wir finden eine Lösung.«
Sie wusste nicht genau, warum ihr das so wichtig war, aber seit sie Rom verlassen hatten, hatte die Mannschaft ihren Zusammenhalt verloren. Sie hatten gerade gelernt, als Team vorzugehen. Dann, peng … die beiden wichtigsten Mitglieder fielen in den Tartarus. Percy war ihr Rückgrat gewesen. Er hatte ihnen Vertrauen eingegeben, als sie über den Atlantik und dann ins Mittelmeer gesegelt waren. Und Annabeth – sie war im Grunde die Anführerin bei diesem Einsatz gewesen. Sie hatte die Athena Parthenos ganz allein zurückgeholt. Sie war die Intelligenteste der sieben, diejenige, die immer eine Antwort wusste.
Wenn Hazel die restliche Mannschaft jedes Mal weckte, wenn sie ein Problem hatten, würden sie sich nur wieder streiten und jeden Rest Hoffnung verlieren.
Sie musste dafür sorgen, dass Percy und Annabeth stolz auf sie waren. Sie musste die Initiative ergreifen. Sie konnte nicht glauben, dass ihre einzige Rolle bei diesem Einsatz die war, vor der Nico sie gewarnt hatte – das Hindernis zu überwinden, das im Haus des Hades auf sie wartete. Sie verdrängte diesen Gedanken.
»Wir müssen kreativ denken«, sagte sie. »Wir brauchen einen anderen Weg, dieses Gebirge zu durchqueren, eine Möglichkeit, uns vor den Numina zu verstecken.«
Nico seufzte. »Wenn ich allein wäre, könnte ich schattenreisen. Aber mit einem ganzen Schiff geht das nicht. Und ehrlich gesagt, ich bin nicht mal sicher, ob ich genug Kraft hätte, um mich selbst zu transportieren.«
»Ich könnte vielleicht irgendeine Tarnung basteln«, sagte Leo. »Wie einen Rauchvorhang, der uns in den Wolken versteckt.« Er hörte sich nicht gerade begeistert an.
Hazel starrte die hügelige Landschaft an und dachte daran, was darunter lag – das Reich ihres Vaters, des Herrn der Unterwelt. Sie war Pluto nur einmal begegnet und ihr war nicht einmal klar gewesen, wer er war. Und sie hatte nie Hilfe von ihm erwartet – nicht in ihrem ersten Leben, nicht in ihrer Zeit als Geist in der Unterwelt, nicht, seit Nico sie in die Welt der Lebenden zurückgeholt hatte.
Thanatos, der Gott des Todes und der Diener ihres Vaters, hatte angedeutet, dass Pluto Hazel einen Gefallen damit tat, dass er sie ignorierte. Sie dürfte ja eigentlich gar nicht am Leben sein. Wenn Pluto sie zur Kenntnis nähme, würde er sie vielleicht ins Land der Toten zurückschicken müssen.
Was bedeutete, dass es eine sehr schlechte Idee wäre, sich an Pluto zu wenden. Aber dennoch …
Bitte, Dad, betete sie, ich muss einen Weg zu deinem Tempel in Griechenland finden – zum Haus des Hades. Wenn du da unten bist, dann zeig mir, was ich tun soll.
Ganz hinten am Horizont fing eine winzige Bewegung ihren Blick ein, etwas Kleines, Hellbraunes, das mit unglaublicher Geschwindigkeit über die Felder jagte und einen Dunststreifen hinter sich herzog wie ein Flugzeug.
Hazel konnte es nicht glauben. Sie wagte es kaum zu hoffen, aber er musste es sein … »Arion!«
»Was?«, fragte Nico.
Leo stieß einen Freudenschrei aus, als die Staubwolke näher kam. »Das ist ihr Pferd, Mann! Die Sache hast du total verpasst. Wir haben ihn seit Kansas nicht mehr gesehen!«
Hazel lachte – zum ersten Mal seit Tagen. Es war so schön, ihren alten Freund zu sehen.
Ungefähr eine Meile im Norden umkreiste der kleine hellbraune Punkt einen Berg und hielt auf dem Gipfel an. Das Pferd war nur schwer zu erkennen, aber als es sich aufbäumte und wieherte, war das noch auf der Argo II zu hören. Hazel hatte keine Zweifel mehr – es war Arion.
»Wir müssen zu ihm«, sagte sie. »Er will uns helfen.«
»Von mir aus.« Leo kratzte sich am Kopf. »Aber, äh, wir haben doch gesagt, dass wir mit dem Schiff nicht mehr auf dem Boden aufsetzen dürfen, weißt du noch? Du erinnerst dich, Gaia will uns vernichten und so.«
»Bring mich nur in seine Nähe, dann nehme ich die Strickleiter.« Hazels Herz hämmerte. »Ich glaube, Arion will mir etwas sagen.«
II
Hazel
Hazel war noch nie so glücklich gewesen. Na ja, abgesehen vielleicht vom Abend des Siegesfestes in Camp Jupiter, als sie Frank zum ersten Mal geküsst hatte … aber das hier war mindestens ein deutlicher zweiter Platz.
Sowie sie unten angekommen war, rannte sie zu Arion und schlang die Arme um seinen Hals. »Du hast mir so gefehlt!« Sie presste ihr Gesicht an die warme Pferdeflanke, die nach Meersalz und Äpfeln roch. »Wo hast du denn gesteckt?«
Arion wieherte leise. Hazel wünschte, sie könnte Pferdisch sprechen, wie Percy, aber sie verstand, worauf er hinauswollte. Arion hörte sich ungeduldig an und schien zu sagen: Jetzt nicht sentimental werden, Mädel. Komm schon!
»Ich soll mit dir gehen?«, tippte sie.
Arion bewegte den Kopf auf und ab und trottete auf der Stelle. Seine dunkelbraunen Augen funkelten vor Ungeduld.
Hazel konnte noch immer nicht glauben, dass er wirklich da war. Er konnte über jede Oberfläche laufen, sogar über das Meer; aber sie hatte befürchtet, dass er ihr nicht in die Alte Welt folgen würde. Das Mittelmeer war zu gefährlich für Halbgötter und ihre Verbündeten.
Er wäre auch nicht gekommen, wenn Hazel nicht in großer Gefahr schwebte. Und er wirkte so aufgeregt … Was auch immer ein furchtloses Pferd so nervös machte, müsste Hazel vor Angst schlottern lassen.
Aber sie war erleichtert. Sie hatte es so satt, seekrank zu sein. An Bord der Argo II kam sie sich ungefähr so nützlich vor wie eine Kiste voll Ballast. Sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, auch wenn es Gaias Territorium war. Sie war bereit loszureiten.
»Hazel!«, rief Nico vom Schiff. »Was ist da unten los?«
»Ist schon gut!« Sie ging in die Hocke und rief ein Goldnugget aus dem Boden. Sie hatte ihre Fähigkeit jetzt immer besser im Griff. Edelsteine schossen so gut wie nie mehr in ihrer Nähe aus dem Boden, und Gold aus der Erde zu ziehen war einfach.
Sie fütterte Arion mit dem Nugget, seiner Lieblingszwischenmahlzeit. Dann lächelte sie hoch zu Leo und Nico dreißig Meter über ihr, die sie vom oberen Ende der Leiter aus beobachteten. »Arion will mit mir irgendwohin.«
Die Jungen wechselten einen nervösen Blick.
»Äh …«, Leo zeigte nach Norden. »Bitte, sag mir, dass ihr nicht da reinwollt.«
Hazel hatte sich dermaßen auf Arion konzentriert, dass sie das Unwetter nicht bemerkt hatte. Eine Meile weiter, oben auf dem nächsten Hügel, hatte sich über einigen alten Ruinen – vielleicht den Überresten eines römischen Tempels oder einer Festung – ein Sturm zusammengebraut. Eine Windhose schlängelte sich am Hügel nach unten wie ein mit Tinte verschmierter schwarzer Finger.
Hazel hatte Blutgeschmack im Mund. Sie sah Arion an. »Da willst du hin?«
Arion wieherte, wie um zu sagen: »Aber klar doch!«
Na gut … Hazel hatte um Hilfe gebeten. War das die Antwort ihres Vaters?
Sie hoffte es, spürte aber, dass neben Pluto noch etwas anderes in diesem Sturm am Werk war … etwas Düsteres, Mächtiges und nicht unbedingt Freundliches.
Aber dies hier war ihre Chance, ihren Freunden zu helfen – zu führen, statt zu folgen.
Sie zog die Riemen ihres Kavallerieschwertes aus Kaiserlichem Gold fester an und schwang sich auf Arions Rücken.
»Mir passiert schon nichts!«, rief sie zu Leo und Nico hoch. »Bleibt, wo ihr seid, und wartet auf mich.«
»Wie lange denn?«, fragte Nico. »Was ist, wenn du nicht zurückkommst?«
»Keine Sorge, ich komme zurück«, versprach sie und hoffte, dass es stimmte.
Sie trieb Arion an, und sie schossen durch die Landschaft und voll auf den wachsenden Tornado zu.
III
Hazel
Der Sturm ließ den Hügel in einem wirbelnden Trichter aus schwarzem Dampf verschwinden.
Arion hielt genau darauf zu.
Dann waren sie auf dem Gipfel, aber es kam Hazel vor wie eine andere Dimension. Die Welt verlor ihre Farben. Die Wände des Sturms hüllten den Hügel in trübes Schwarz. Der Himmel war kochendes Grau. Die zerfallenden Ruinen waren so weiß gebleicht, dass sie fast leuchteten. Sogar Arions Karamellbraun war in ein dunkles Aschgrau verwandelt.
Im Herzen des Sturms stand die Luft still. Hazels Haut prickelte kühl, als wäre sie mit Alkohol eingerieben worden. Vor ihr führte ein Torbogen durch bemooste Mauern in eine Art Halle.
Im trüben Licht konnte Hazel nicht viel sehen, spürte aber, dass da etwas war, als wäre sie ein Stück Eisen in der Nähe eines großen Magneten. Die Anziehungskraft dieses Etwas war unwiderstehlich und zwang sie vorwärts.
Dennoch zögerte sie. Sie ließ Arion stehen bleiben und er trampelte ungeduldig auf der Stelle, der Boden knackte unter seinen Hufen. Wo er hintrat, wurden Gras, Erde und Steine weiß wie Frost. Hazel dachte an den Hubbard-Gletscher in Alaska – wie dessen Oberfläche unter ihren Füßen Risse bekommen hatte. Sie dachte daran, wie der Boden dieser schrecklichen Höhle in Rom zu Staub zerfallen war und wie Percy und Annabeth in den Tartarus gestürzt waren.
Sie hoffte, dass dieser schwarz-weiße Gipfel sich nicht unter ihr in nichts auflösen würde, aber sie beschloss, dass es besser war, in Bewegung zu bleiben.
»Na, dann los, Junge.« Ihre Stimme klang erstickt, als spräche sie in ein Kissen.
Arion trottete durch den steinernen Torbogen. Zerfallene Wände umgaben einen viereckigen Innenhof von der Größe eines Tennisplatzes. Drei weitere Tordurchgänge, einer in der Mitte jeder Mauer, führten nach Norden, Osten und Westen. Mitten auf dem Hof trafen sich zwei gepflasterte Wege und bildeten ein Kreuz. Nebel hing in der Luft – dunstige weiße Fetzen, die wogten und waberten, als ob sie lebendig wären.
Nicht einfach nur Nebel, ging es Hazel auf. Sondern der Nebel.
Ihr Leben lang hatte sie von diesem Nebel gehört – der übernatürliche Schleier, der die Welt der Mythen vor dem Blick der Sterblichen verbarg. Er konnte Menschen täuschen, sogar Halbgötter, und ließ sie Monster als harmlose Tiere oder Gottheiten als ganz normale Menschen sehen.
Hazel hatte ihn sich nie als Rauch vorgestellt, aber als sie zusah, wie er sich um Arions Beine wand und durch die zerfallenen Bögen des alten Hofplatzes schwebte, sträubten sich die Haare an ihren Armen. Auf irgendeine Weise wusste sie: Dieses weiße Zeug war pure Magie.
In der Ferne heulte ein Hund. Arion fürchtete sich normalerweise vor nichts, aber nun bäumte er sich auf und schnaubte nervös.
»Ist schon gut.« Hazel streichelte seinen Hals. »Wir machen das zusammen. Ich steige jetzt ab, in Ordnung?«
Sie glitt von Arions Rücken. Sofort machte er kehrt und rannte los.
»Arion, was …«
Aber er war schon in die Richtung verschwunden, aus der er gekommen war.
Von wegen, zusammen machen.
Wieder zerfetzte Geheul die Luft – diesmal ganz in der Nähe.
Hazel ging weiter zur Mitte des Hofes. Der Nebel klebte an ihr wie Raureif.
»Hallo?«, rief sie.
»Hallo«, antwortete eine Stimme.
Die bleiche Gestalt einer Frau tauchte am nördlichen Tor auf. Nein, Moment … sie stand am östlichen Eingang. Nein, dem westlichen. Nicht weniger als drei rauchige Bilder derselben Frau bewegten sich gemeinsam auf die Mitte der Ruinen zu. Die Gestalt war verschwommen, sie bestand aus dem Nebel, und ihr folgten zwei kleinere Dunstfetzen, die wie Tiere ihre Fersen umsprangen. Haustiere?
Sie kam in der Hofmitte an und ihre drei Formen schlossen sich zu einer zusammen. Diese Gestalt wiederum festigte sich zu einer jungen Frau in einem dunklen ärmellosen Gewand. Ihre goldenen Haare hatte sie hoch auf dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, im altgriechischen Stil. Ihr Kleid war so seidig, es schien zu fließen, als wäre der Stoff Tinte, die von ihren Schultern rann. Sie sah nicht älter aus als zwanzig, aber Hazel wusste, dass das keine Bedeutung hatte.
»Hazel Levesque«, sagte die Frau.
Sie war schön, aber totenbleich. Einmal, damals in New Orleans, hatte Hazel die Totenwache für eine verstorbene Klassenkameradin besuchen müssen. Sie erinnerte sich an den leblosen Körper des jungen Mädchens in dem offenen Sarg. Ihr Gesicht war sorgsam zurechtgemacht worden, sie sah aus, als ob sie schliefe, und Hazel hatte das entsetzlich gefunden.
Diese Frau erinnerte Hazel an das Mädchen von damals – nur waren die Augen der Frau offen und tiefschwarz. Als sie den Kopf schräg legte, schien sie sich wieder in drei verschiedene Gestalten aufzulösen … dunstige Schemen, die miteinander verschwammen, wie das Foto von jemandem, der sich zu schnell bewegt, um von der Kamera eingefangen zu werden.
»Wer seid Ihr?« Hazels Finger zuckten an ihrem Schwertgriff. »Ich meine … welche Göttin?«
Hazel war sich über eines im Klaren: Die Frau strahlte Macht aus. Alles um sie herum – der wirbelnde Nebel, der einfarbige Sturm, das gespenstische Leuchten der Ruinen –, das alles lag an ihrer Anwesenheit.
»Ah.« Die Frau nickte. »Ich gebe dir mehr Licht.«
Sie hob die Hände. Plötzlich hielt sie zwei altmodische Binsenfackeln in der Hand, die flackerndes Licht warfen. Der Nebel zog sich an den Rand des Hofes zurück. Zu den in Sandalen steckenden Füßen der Frau nahmen zwei pelzige Tiere feste Gestalt an. Eins war ein schwarzer Labrador Retriever. Das andere war ein langes graues, pelziges Nagetier mit einer weißen Fellzeichnung im Gesicht. Ein Wiesel vielleicht?
Die Frau lächelte gelassen.
»Ich bin Hekate«, sagte sie. »Die Göttin der Magie. Wir haben viel zu besprechen, wenn du diese Nacht überleben willst.«
IV
Hazel
Hazel wollte wegrennen, aber ihre Füße schienen an dem weiß glitzernden Boden zu haften.
Auf beiden Seiten der Wegkreuzung schossen dunkle Metallfackelhalter wie Pflanzenstängel aus dem Boden. Hekate steckte ihre Fackeln hinein, dann wanderte sie langsam im Kreis um Hazel herum und betrachtete sie wie eine Partnerin in einem gespenstischen Tanz.
Der schwarze Hund und das Wiesel folgten ihr auf dem Fuße.
»Du siehst aus wie deine Mutter«, befand Hekate.
Hazels Kehle war wie zugeschnürt. »Ihr habt sie gekannt?«
»Natürlich. Marie war Wahrsagerin. Sie hat sich mit Zauberei und Flüchen und Voodoo befasst. Ich bin die Göttin dieser Magie.«
Diese tiefschwarzen Augen schienen an Hazel zu reißen, als wollte sie ihr ihre Seele nehmen. In ihrem ersten Leben, in New Orleans, war Hazel wegen ihrer Mutter von den Kindern in der St. Agnes Academy schikaniert worden. Sie hatten Marie Levesque als Hexe bezeichnet. Die Nonnen munkelten, Hazels Mutter mache Geschäfte mit dem Teufel.
Wenn die Nonnen schon Angst vor meiner Mom hatten, überlegte Hazel, was würden sie dann von dieser Göttin denken?
»Viele fürchten mich«, sagte Hekate, als habe sie Hazels Gedanken gelesen. »Aber Magie ist weder gut noch schlecht. Sie ist ein Werkzeug, wie ein Messer. Ist ein Messer schlecht? Schlecht ist nur der Mensch, der das Messer in der Hand hält.«
»Meine – meine Mutter …« Hazel stotterte. »Sie hat nicht an Magie geglaubt. Nicht richtig. Sie hat sie nur nachgeahmt, wegen des Geldes.«
Das Wiesel keckerte und bleckte die Zähne. Dann stieß es mit dem Hinterteil ein quietschendes Geräusch aus. Unter anderen Umständen wäre ein furzendes Wiesel vielleicht komisch gewesen, aber Hazel musste nicht lachen. Die roten Augen des Nagetiers leuchteten sie drohend an, wie winzige Kohlenstücke.
»Ruhig, Gale«, sagte Hekate. Sie sah Hazel an und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Gale hört nicht gern von Ungläubigen und Betrügern. Sie war selber einmal eine Hexe, musst du wissen.«
»Euer Wiesel war eine Hexe?«
»Sie ist ein Iltis, um genau zu sein«, sagte Hekate. »Aber ja – Gale war einmal eine unangenehme menschliche Hexe. Sie war furchtbar unsauber und hatte außerdem extreme … na ja, Verdauungsprobleme.« Hekate bewegte die Hand vor ihrer Nase hin und her. »Das hat meine anderen Gefolgsleute in Verruf gebracht.«
»Ach so.« Hazel versuchte, das Wiesel nicht anzusehen. Sie wollte wirklich nichts über die Darmprobleme dieses kleinen Raubtiers wissen.
»Jedenfalls«, sagte Hekate, »habe ich sie in einen Iltis verwandelt. Als Iltis macht sie sich viel besser.«
Hazel schluckte. Sie sah den schwarzen Hund an, der liebevoll an der Hand der Göttin leckte. »Und Euer Labrador …?«
»Ach, das ist Hekuba, die frühere Königin von Troja«, sagte Hekate, als ob das auf der Hand liegen müsste.
Der Hund grunzte.
»Du hast Recht, Hekuba«, sagte die Göttin. »Wir haben keine Zeit für eine lange Vorstellungsrunde. Die Sache ist die, Hazel Levesque, dass deine Mutter vielleicht behauptet hat, das alles nicht zu glauben, aber sie besaß echte Magie. Irgendwann hat sie das begriffen. Als sie nach einem Zauberspruch suchte, um den Gott Pluto herbeizurufen, habe ich ihr geholfen.«
»Ihr …?«
»Ja.« Hekate wanderte weiter im Kreis um Hazel herum. »Ich habe Potenzial in deiner Mutter gesehen. Ich sehe noch größeres Potenzial in dir.«
In Hazels Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie erinnerte sich an das Geständnis, das ihre Mutter kurz vor ihrem Tod abgelegt hatte: dass sie Pluto herbeigerufen und der Gott sich in sie verliebt hatte und dass wegen dieses gierigen Wunsches ihre Tochter Hazel mit einem Fluch auf die Welt gekommen war. Hazel konnte Reichtümer aus der Erde rufen, aber alle, die sie anfassten, mussten qualvoll sterben.
Und jetzt sagte diese Göttin, dass sie das alles in die Wege geleitet hatte.
»Meine Mutter hat wegen dieser Magie gelitten. Mein ganzes Leben …«
»Dein Leben wäre ohne mich nicht möglich gewesen«, sagte Hekate unbeeindruckt. »Ich habe keine Zeit für deinen Zorn. Und du auch nicht. Ohne meine Hilfe musst du sterben.«
Der schwarze Hund knurrte. Der Iltis bleckte wieder die Zähne und ließ einen fahren.
Hazels Lunge fühlte sich an wie mit heißem Sand gefüllt.
»Was denn für Hilfe?«, fragte sie.
Hekate hob die bleichen Arme. In den drei Toren, aus denen sie gekommen war – Norden, Osten und Westen –, wirbelte der Nebel. Eine Folge von schwarz-weißen Bildern leuchtete auf und flatterte, wie die alten Stummfilme, die noch manchmal im Kino gezeigt worden waren, als Hazel klein gewesen war.
In westlichen Tor kämpften römische und griechische Halbgötter in voller Rüstung miteinander unter einer riesigen Fichte. Der Boden war bedeckt mit Verwundeten und Sterbenden. Hazel sah sich selbst auf Arion, wie sie durch das Getümmel sprengte und schrie – in dem Versuch, dem Blutvergießen ein Ende zu machen.
Im östlichen Tor sah Hazel die Argo II über dem Apennin durch die Luft fallen. Die Takelage stand in Flammen. Ein Felsbrocken knallte auf das Achterdeck. Ein weiterer zerschlug das Steuerruder. Das Schiff zerplatzte wie ein verfaulter Kürbis und der Motor explodierte.
Die Bilder im nördlichen Tor waren noch schlimmer. Hazel sah Leo bewusstlos – oder tot – durch die Wolken fallen. Sie sah Frank, der allein durch einen dunklen Tunnel stolperte und mit einer Hand seinen Arm festhielt, sein Hemd war blutdurchtränkt. Und Hazel sah sich selbst in einer riesigen Höhle, die mit Lichtfäden gefüllt war wie mit einem leuchtenden Gewebe. Sie versuchte, dieses Gewebe zu durchdringen, während in der Ferne Percy und Annabeth mit ausgestreckten Armen und Beinen bewegungslos vor zwei schwarz-silbernen Metalltüren lagen.
»Entscheidungen«, sagte Hekate. »Du stehst an einem Kreuzweg, Hazel Levesque. Und ich bin die Göttin der Kreuzwege.«
Der Boden dröhnte unter Hazels Füßen. Sie schaute nach unten und sah silberne Münzen glitzern … Tausende von alten römischen Denarii, die überall durch die Erdoberfläche brachen, als ob sich der gesamte Gipfel dem Siedepunkt näherte. Die Visionen in den Toren hatten sie so aufgeregt, dass sie offenbar jeden Silberrest der Umgebung herbeigerufen hatte.
»Die Vergangenheit liegt dicht unter der Oberfläche«, sagte Hekate. »In alten Zeiten stießen hier zwei wichtige römische Straßen aufeinander. Neuigkeiten wurden ausgetauscht. Märkte abgehalten. Freunde trafen sich und Feinde kämpften. Ganze Armeen mussten sich für eine Richtung entscheiden. Kreuzwege sind immer Orte der Entscheidungen.«
»Wie … wie Janus.« Hazel dachte an den Schrein des Janus auf dem Tempelberg zu Hause im Camp Jupiter. Halbgötter warfen dort eine Münze, Kopf oder Zahl, und hofften, dass der zweigesichtige Gott sie in die richtige Richtung leiten würde. Hazel hatte diesen Ort immer gehasst. Sie hatte nie begriffen, warum ihre Freunde so bereitwillig einem Gott die Verantwortung für ihre Entscheidungen überließen. Nach allem, was Hazel durchgemacht hatte, hatte sie zur Weisheit der Götter ungefähr ebenso viel Vertrauen wie zu einem Spielautomaten in New Orleans.
Die Göttin der Magie zischte empört. »Janus und seine Türen. Der will euch doch nur einreden, dass alle Entscheidungen schwarz oder weiß sind, ja oder nein, ein oder aus. Aber so einfach ist das nicht. An jeder Kreuzung gibt es mindestens drei Möglichkeiten … oder vier, wenn du den Rückzug dazunimmst. Und jetzt stehst du an einer solchen Kreuzung, Hazel.«
Hazel schaute wieder zu den wirbelnden Toren hinüber; ein Halbgottkrieg, die Zerstörung der Argo II, eine Katastrophe für sie und ihre Freunde. »Alle Entscheidungen sind schlecht.«
»Alle Entscheidungen haben ihr Risiko«, korrigierte die Göttin. »Aber was ist dein Ziel?«
»Mein Ziel?« Hazel zeigte hilflos auf die Tore. »Keins davon.«
Die Hündin Hekuba knurrte. Iltis Gale umsprang furzend und zähnefletschend die Füße der Göttin.
»Du könntest zurückgehen«, schlug Hekate vor. »Deine Schritte nach Rom zurückverfolgen … aber damit rechnen die Truppen der Gaia. Niemand von euch würde das überleben.«
»Also … was schlagt Ihr vor?«
Hekate trat näher an eine der Fackeln heran. Sie nahm sich eine Handvoll Feuer und formte die Flamme, bis sie eine winzige Reliefkarte von Italien in der Hand hielt.
»Ihr könntet nach Westen gehen.« Hekate nahm ihren Finger von der brennenden Landkarte. »Nach Amerika zurückgehen, mit eurer Beute, der Athena Parthenos. Eure Freunde zu Hause, Griechen und Römer, stehen kurz vor einem Krieg. Wenn ihr jetzt aufbrecht, dann rettet ihr vielleicht viele Leben.«
»Vielleicht«, wiederholte Hazel. »Aber Gaia soll doch in Griechenland erwachen. Und da versammeln sich die Giganten.«
»Stimmt. Gaia hat das Datum auf den 1. August gelegt, das Fest der Spes, der Göttin der Hoffnung, dann will sie die Macht ergreifen. Indem sie am Tag der Hoffnung erwacht, will sie für immer alle Hoffnung zerstören. Selbst wenn ihr es bis dahin nach Griechenland schafft – könntet ihr sie aufhalten? Ich weiß es nicht.« Hekate ließ ihren Finger über die Gipfel des lodernden Apennin wandern. »Ihr könntet nach Osten gehen, das Gebirge überqueren, aber Gaia würde alles tun, um euch daran zu hindern. Sie hat ihre Berggötter gegen euch aufgehetzt.«
»Das ist uns auch schon aufgefallen«, sagte Hazel.
»Jeder Versuch, den Apennin zu überqueren, würde die Zerstörung eures Schiffes bedeuten. Seltsamerweise könnte das die sicherste Lösung für die Mannschaft sein. Ich sehe voraus, dass ihr alle die Explosion überleben würdet. Es ist möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass ihr trotzdem nach Epirus gelangen und die Tore des Todes schließen könntet. Aber inzwischen wären beide Halbgottcamps zerstört. Ihr hättet kein Zuhause mehr, in das ihr zurückkehren könntet.« Hekate lächelte. »Wahrscheinlicher ist jedoch, dass ihr nach der Zerstörung eures Schiffes in den Bergen festsitzen würdet. Es würde das Ende eures Einsatzes bedeuten, aber dir und deinen Freunden in den kommenden Tagen Schmerzen und Leid ersparen. Der Krieg gegen die Giganten würde ohne euch gewonnen oder verloren werden.«
Ohne uns gewonnen oder verloren.
Ein kleiner schuldbewusster Teil von Hazel fand diese Vorstellung verlockend. Sie hatte sich doch eine Möglichkeit gewünscht, ein normales Mädchen zu sein. Sie wollte für sich und ihre Freunde keine Schmerzen und kein Leiden mehr. Sie hatten schon so viel durchgemacht.
Sie schaute das mittlere Tor hinter Hekate an. Sie sah Percy und Annabeth hilflos vor den schwarz-silbernen Türen liegen. Eine massive dunkle Gestalt ragte jetzt über ihnen auf und hatte einen Fuß gehoben, wie um Percy zu zertreten.
»Was ist mit ihnen?«, fragte Hazel mit brüchiger Stimme. »Percy und Annabeth?«
Hekate zuckte mit den Schultern. »Westen, Osten oder Süden … sie sterben.«
»Das darf nicht passieren«, sagte Hazel.
»Dann bleibt euch nur ein Weg, aber der ist der gefährlichste.«
Hekates Finger überquerte ihren Mini-Apennin und hinterließ in den roten Flammen eine leuchtende weiße Linie. »Hier im Norden gibt es einen geheimen Übergang, eine Stelle, über die ich gebiete und die Hannibal einst passiert hat, als er gegen Rom in den Krieg zog.«
Die Göttin beschrieb einen weiten Bogen … in den Norden Italiens, nach Osten zum Meer, dann an der griechischen Westküste nach unten. »Wenn der Pass erst hinter euch liegt, könnt ihr nordwärts nach Bologna fahren, dann weiter nach Venedig. Von dort aus segelt ihr über die Adria zu eurem Ziel, hier, Epirus in Griechenland.«
Hazel kannte sich mit Geografie nicht so gut aus. Sie hatte keine Ahnung, wie die Adria aussah. Sie hatte nie von Bologna gehört, und von Venedig kannte sie nur vage Geschichten über Kanäle und Gondeln. Aber eins lag auf der Hand: »Das ist ein riesiger Umweg.«
»Weshalb Gaia auch nicht erwartet, dass ihr diese Route nehmt«, sagte Hekate. »Ich kann euer Fortkommen ein wenig tarnen, aber der Erfolg eurer Reise hängt von dir ab, Hazel Levesque. Du musst lernen, den Nebel zu nutzen.«
»Von mir?« Hazels Herz schien hinter ihren Rippen nach unten zu rutschen. »Wie soll ich denn den Nebel nutzen?«
Hekate löschte ihre Karte von Italien. Sie schnippte über der schwarzen Hündin Hekuba mit den Fingern. Nebel sammelte sich um den Labrador, bis Hekuba vollständig in einem weißen Kokon verborgen war. Der Nebel lichtete sich mit einem hörbaren »puff!«. Wo der Hund gestanden hatte, saß jetzt ein verärgert aussehendes schwarzes Katzenbaby mit goldenen Augen.
»Miau«, sagte es beleidigt.
»Ich bin die Göttin des Nebels«, erklärte Hekate. »Ich bin verantwortlich für den Schleier, der die Welt der Götter von der der Sterblichen trennt. Meine Kinder lernen, wie sie den Nebel zu ihrem Vorteil nutzen können, um Illusionen zu erzeugen oder die Gedanken der Sterblichen zu beeinflussen. Andere Halbgötter können das auch. Und auch du musst es schaffen, Hazel, wenn du deinen Freunden helfen willst.«
»Aber …«, Hazel sah die Katze an. Sie wusste, dass es Hekuba war, die schwarze Labradorhündin, aber sie konnte es doch nicht glauben. Die Katze wirkte so echt. »Ich kann das nicht.«
»Deine Mutter hatte diese Gabe«, sagte Hekate. »Und du hast sogar noch mehr. Als Kind des Pluto, das von den Toten zurückgekehrt ist, verstehst du den Schleier zwischen den Welten besser als die meisten anderen. Du kannst den Nebel beherrschen. Wenn nicht … na, dein Bruder Nico hat dich schon gewarnt. Die Geister haben ihm etwas zugeflüstert, ihm von deiner Zukunft erzählt. Wenn ihr das Haus des Hades erreicht, werdet ihr auf eine mächtige Feindin treffen. Sie kann nicht durch Kraft oder durch das Schwert besiegt werden. Du allein kannst sie bezwingen, und dazu brauchst du Magie.«
Hazels Beine drohten unter ihr nachzugeben. Sie erinnerte sich an Nicos düstere Miene und daran, wie seine Finger sich in ihren Arm gebohrt hatten. Du darfst es den anderen nicht sagen. Noch nicht. Sie sind schon bis zum Zerreißen angespannt.
»Wer?«, fragte Hazel. »Wer ist diese Feindin?«
»Ich werde ihren Namen nicht aussprechen«, sagte Hekate. »Das würde sie auf dich aufmerksam machen, ehe du bereit bist, ihr gegenüberzutreten. Geh nach Norden, Hazel. Und unterwegs musst du üben, den Nebel herbeizurufen. Wenn ihr in Bologna angekommen seid, dann such die beiden Zwerge auf. Sie werden dich zu einem Schatz führen, der dir helfen kann, im Haus des Hades zu überleben.«
»Ich verstehe das nicht.«
»Miau«, beschwerte sich das Kätzchen.
»Ja, ja, Hekuba.« Die Göttin schnippte noch einmal mit den Fingern und die Katze war verschwunden. An ihrer Stelle saß der schwarze Labrador.
»Du wirst es schon verstehen, Hazel«, versprach die Göttin. »Von Zeit zu Zeit werde ich Gale schicken, damit sie sich ein Bild von deinen Fortschritten macht.«
Der Iltis fauchte und seine roten Perlaugen leuchteten vor Bosheit.
»Na super«, murmelte Hazel.
»Wenn du in Epirus ankommst, musst du vorbereitet sein«, sagte Hekate. »Wenn du Erfolg hast, sehen wir uns vielleicht wieder … zum letzten Gefecht.«
Zum letzten Gefecht, dachte Hazel. Ach, welche Freude.
Hazel fragte sich, ob sie die Ereignisse verhindern könnte, die sie im Nebel gesehen hatte – Leo, der durch die Luft fiel, Frank, der durch die Dunkelheit stolperte, allein und schwer verletzt, Percy und Annabeth in der Macht eines dunklen Riesen.
Sie hasste die Rätsel und die vagen Ratschläge der Göttin. Und sie entwickelte langsam eine gewisse Abneigung gegen Kreuzwege.
»Warum helft Ihr mir?«, wollte Hazel wissen. »Im Camp Jupiter habe ich gehört, Ihr hättet im letzten Krieg zu den Titanen gehalten.«
Hekates dunkle Augen funkelten. »Weil ich eine Titanin bin – Tochter des Perses und der Asteria. Lange, ehe die Olympier an die Macht kamen, habe ich über den Nebel geherrscht. Trotzdem habe ich im Ersten Titanenkrieg, vor Jahrtausenden, mit Zeus gegen Kronos gekämpft. Ich war nicht blind für die Grausamkeit des Kronos. Ich hoffte, Zeus würde sich als besserer Herrscher entpuppen.«
Sie stieß ein kurzes verbittertes Lachen aus. »Als Demeter ihre Tochter Persephone verlor, die dein Vater entführt hatte, habe ich Demeter mit meinen Fackeln durch die finsterste Nacht geleitet und ihr bei der Suche geholfen. Und als sich die Giganten zum ersten Mal erhoben haben, habe ich gegen meinen Erzfeind Klytios gekämpft, den Gaia geschaffen hatte, um meine Magie aufzusaugen und zu vernichten.«
»Klytios.« Hazel hatte diesen Namen noch nie gehört, aber als sie ihn aussprach, wurden ihre Glieder schwer. Sie schaute zu den Bildern im nördlichen Tor hinüber – zu der massiven dunklen Gestalt, die über Percy und Annabeth aufragte. »Ist er die Bedrohung im Haus des Hades?«
»Oh, er wartet dort auf dich«, sagte Hekate. »Aber zuerst musst du die Hexe besiegen. Wenn dir das nicht gelingt …«
Sie schnippte mit den Fingern und alle Tore wurden dunkel. Der Nebel hatte sich aufgelöst, die Bilder waren verschwunden.
»Wir stehen alle vor Entscheidungen«, sagte die Göttin. »Als sich Kronos zum zweiten Mal erhob, habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe ihn unterstützt. Ich hatte es satt, von den sogenannten Göttern ersten Ranges ignoriert zu werden. Trotz meiner treuen Dienste über so viele Jahre haben sie mir misstraut, mir einen Sitz in ihrer Halle verweigert …«
Iltis Gale keckerte wütend.
»Es spielt keine Rolle mehr.« Die Göttin seufzte. »Ich habe mit den Olympiern Frieden geschlossen. Sogar jetzt, wo sie fast besiegt sind – und ihre griechischen und römischen Erscheinungsformen gegeneinander kämpfen –, werde ich ihnen helfen. Griechen oder Römer – ich war immer nur Hekate. Also halte ich im Kampf gegen die Giganten zu dir, wenn du dich würdig erweist. Und jetzt hast du die Wahl, Hazel Levesque. Wirst du mir vertrauen … oder wirst du mir ausweichen, wie es die olympischen Gottheiten zu oft getan haben?«
Blut rauschte in Hazels Ohren. Konnte sie dieser düsteren Göttin vertrauen, deren Magie das Leben ihrer Mutter zerstört hatte? Leider nicht. Und auch Hekates Hund und ihren furzenden Iltis konnte sie nicht leiden.
Aber sie wusste auch, dass sie Percy und Annabeth nicht sterben lassen durfte.
»Ich gehe nach Norden«, sagte sie. »Wir nehmen Euren geheimen Pass durch die Berge.«
Hekate nickte und ihr Gesicht zeigte ein ganz klein wenig Genugtuung. »Du hast gut gewählt, auch wenn der Weg nicht leicht sein wird. Viele Monster haben sich gegen euch erhoben. Sogar einige meiner eigenen Diener haben sich Gaia angeschlossen und hoffen, eure sterbliche Welt zu vernichten.«
Die Göttin nahm die Fackeln aus den Haltern. »Mach dich bereit, Tochter des Pluto. Wenn du die Hexe bezwingen kannst, sehen wir uns wieder.«
»Ich werde sie bezwingen«, gelobte Hazel. »Und, Hekate – ich wähle keinen deiner Wege. Sondern meinen eigenen.«
Die Göttin hob die Augenbrauen. Ihr Iltis zischte und ihr Hund knurrte.
»Wir werden eine Möglichkeit finden, um Gaia aufzuhalten«, sagte Hazel. »Wir werden unsere Freunde aus dem Tartarus retten. Wir werden Mannschaft und Schiff retten und wir werden Camp Jupiter und Camp Half-Blood am Krieg gegeneinander hindern. Wir werden das alles schaffen.«
Der Sturm heulte, die schwarzen Wände des Wolkentrichters wirbelten schneller.
»Interessant«, sagte Hekate, als wäre Hazel ein überraschendes Ergebnis bei einem wissenschaftlichen Experiment. »Das wäre wirklich sehenswerte Magie.«
Eine Welle der Dunkelheit löschte die Welt aus. Als Hazels Blick sich wieder klärte, waren der Sturm, die Göttin und ihre Gefolgstiere verschwunden. Hazel stand in der Morgensonne auf dem Hügel, allein zwischen den Ruinen, abgesehen von Arion, der neben ihr von einem Bein aufs andere trat und ungeduldig wieherte.
»Ganz meine Meinung«, sagte Hazel zu dem Pferd. »Also weg hier.«
»Was ist passiert?«, fragte Leo, als Hazel an Bord der Argo II kletterte.
Hazels Hände bebten noch immer nach dem Gespräch mit der Göttin. Sie schaute über die Reling und sah Arions Staubspur, die sich über die Hügel Italiens entfernte. Sie hatte gehofft, ihr Freund werde bleiben, aber sie konnte es ihm auch nicht übel nehmen, dass er diesen Ort so schnell wie möglich verlassen wollte.
Die Landschaft funkelte, als die Sommersonne auf den Morgentau traf. Auf dem Hügel ragten die alten Ruinen weiß und stumm auf – keine Spur von uralten Handelswegen oder Göttinnen oder furzenden Iltissen.
»Hazel?«, fragte Nico.
Ihre Knie gaben unter ihr nach. Nico und Leo packten ihre Arme und halfen ihr die Treppe zum Vorderdeck hoch. Es war ihr peinlich, zusammenzubrechen wie eine Jungfer aus einem Märchen, aber ihre Kräfte waren verbraucht. Die Erinnerung an die leuchtenden Szenen an der Wegkreuzung füllte sie mit Entsetzen.
»Ich bin Hekate begegnet«, brachte sie mühsam heraus.
Sie erzählte ihnen nicht alles. Sie dachte daran, was Nico gesagt hatte – sie sind schon bis zum Zerreißen angespannt –, aber sie berichtete von dem geheimen Pass, der im Norden durch die Berge führte, und dem von Hekate beschriebenen Umweg, der sie nach Epirus bringen könnte.
Als sie fertig war, nahm Nico ihre Hand. Seine Augen waren voller Sorge. »Hazel, du bist Hekate an einem Kreuzweg begegnet. Das ist … das ist etwas, das nicht viele Halbgötter überleben. Und die, die überleben, sind nie wieder so wie vorher. Bist du sicher, dass du …«
»Mir geht’s gut«, sagte sie energisch.
Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie erinnerte sich daran, wie kühn und wütend sie der Göttin gesagt hatte, dass sie ihren eigenen Weg finden und alles schaffen würde. Jetzt kam diese Prahlerei ihr lächerlich vor. Ihr Mut hatte sie im Stich gelassen.
»Was, wenn Hekate uns austricksen will?«, fragte Leo. »Diese Route könnte eine Falle sein.«
Hazel schüttelte den Kopf. »Wenn das eine Falle wäre, dann hätte Hekate diesen nördlichen Weg verlockender dargestellt, glaube ich.«
Leo zog einen Taschenrechner aus seinem Werkzeuggürtel und gab einige Zahlen ein. »Das macht … einen Umweg von ungefähr vierhundert Kilometern bis Venedig. Dann müssen wir in Gegenrichtung an der Adria entlang. Und was war das mit den Zwergen im Ballon?«
»Zwerge in Bologna«, sagte Hazel. »Bologna ist anscheinend eine Stadt. Aber warum wir dort Zwerge suchen sollen … keine Ahnung. Wegen irgendeiner Art Schatz, der uns beim Einsatz helfen kann.«
»Ha«, sagte Leo. »Ich meine, ich steh ja auf Schätze, aber …«
»Das ist unsere einzige Chance«, Nico half Hazel auf die Füße. »Wir müssen die verlorene Zeit aufholen und so schnell fahren, wie wir nur können. Das Leben von Percy und Annabeth kann davon abhängen.«
»Schnell?« Leo grinste. »Schnell mach ich doch mit links.«
Er lief zum Schaltpult und fing an, Knöpfe zu drücken.
Nico nahm Hazels Arm und führte sie außer Hörweite. »Was hat Hekate sonst noch gesagt? Irgendwas über …«
»Ich kann nicht«, fiel Hazel ihm ins Wort. Die Bilder, die sie gesehen hatte, überwältigten sie fast. Percy und Annabeth hilflos vor diesen Metalltüren, der dunkle Riese, der über ihnen aufragte. Hazel selbst in einem leuchtenden Lichtlabyrinth gefangen, ohne helfen zu können.
Du musst die Hexe besiegen, hatte Hekate gesagt. Wenn dir das nicht gelingt …
Ende, dachte Hazel. Alle Tore geschlossen. Alle Hoffnung ausgelöscht.
Nico hatte sie gewarnt. Er hatte mit den Toten gesprochen, hatte sie Andeutungen über ihre Zukunft flüstern hören. Zwei Kinder der Unterwelt würden das Haus des Hades betreten. Sie würden sich einem unbesiegbaren Feind gegenübersehen. Nur eins dieser Kinder würde die Tore des Todes erreichen.
Hazel konnte ihrem Bruder nicht in die Augen schauen.
»Ich sag’s dir später«, versprach sie und versuchte, ihre Stimme am Zittern zu hindern. »Jetzt sollten wir uns ausruhen, solange das noch geht. Heute Abend überqueren wir den Apennin.«
V
Annabeth
Neun Tage.
Im Fallen dachte Annabeth an Hesiod, den altgriechischen Dichter, der angenommen hatte, ein Sturz von der Erde in den Tartarus dauere neun Tage.
Sie hoffte, dass Hesiod sich geirrt hatte. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie und Percy schon fielen – Stunden? Einen Tag? Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Sie hielten sich an den Händen, seit sie in den Abgrund gestürzt waren. Jetzt zog Percy sie an sich und umarmte sie, während sie durch die absolute Finsternis fielen.
Wind pfiff in Annabeths Ohren. Die Luft wurde heißer und feuchter, als ob sie in den Rachen eines riesigen Drachen stürzten. Ihr gebrochener Knöchel pochte, aber sie wusste nicht, ob er noch immer in Spinngewebe gewickelt war.
Dieses verdammte Ungeheuer Arachne. Obwohl sie in ihrem eigenen Gewebe gefangen, von einem Auto zerschmettert und in den Tartarus gestürzt war, hatte die Spinnendame sich doch noch rächen können. Auf irgendeine Weise hatte ihre Seide sich um Annabeths Bein gewickelt und sie über die Kante in den Abgrund gezogen, mit Percy im Schlepptau.
Annabeth konnte sich nicht vorstellen, dass Arachne noch lebte. Sie wollte diesem Monster nicht wieder begegnen, wenn sie unten ankamen. Immerhin würden Annabeth und Percy beim Aufprall vermutlich platt gedrückt werden, und dann wären Riesenspinnen ihr geringstes Problem.
Sie schlang die Arme um Percy und versuchte, nicht aufzuschluchzen. Sie hatte nie mit einem einfachen Leben gerechnet. Die meisten Halbgötter wurden in jungen Jahren von schrecklichen Monstern umgebracht. So war es schon immer gewesen. Die Griechen hatten die Tragödie schließlich erfunden. Sie wussten, dass es für die größten Helden kein Happy End gab.
Aber es war nicht fair. Sie hatte so viel durchgemacht, um die Statue der Athene an sich zu bringen. Und als sie es gerade geschafft hatte, als die Lage sich zu bessern schien und sie wieder mit Percy zusammen war, waren sie in den Tod gestürzt.
Nicht einmal die Götter könnten sich ein so gemeines Schicksal ausdenken.
Aber Gaia war nicht wie die anderen Götter. Die Erdmutter war älter, grausamer, blutrünstiger. Annabeth konnte sich vorstellen, wie Gaia lachte, während sie in die Tiefe stürzten.
Annabeth presste ihre Lippen auf Percys Ohr. »Ich liebe dich.«
Sie war nicht sicher, ob er sie hören konnte – aber wenn sie schon sterben mussten, dann sollten das ihre letzten Worte sein.
Sie suchte verzweifelt nach einem Rettungsplan. Sie war eine Tochter der Athene. Sie hatte sich in den Tunneln unter Rom bewiesen, hatte sich nur mit ihrem Verstand bewaffnet einer ganzen Serie von Herausforderungen gestellt. Aber ihr fiel einfach nichts ein, womit sie ihren Sturz umkehren oder verlangsamen könnte.
Sie konnten beide nicht fliegen – anders als Jason, der den Wind beherrschte, und Frank, der sich in ein geflügeltes Tier verwandeln konnte. Wenn sie mit Höchstgeschwindigkeit auf den Boden aufprallten … na ja, sie kannte sich mit der Wissenschaft genügend aus, um zu wissen, dass das tödlich enden würde.
Sie fragte sich gerade, ob sie aus ihren Hemden einen Fallschirm konstruieren könnte – so verzweifelt war sie –, als sich etwas in ihrer Umgebung änderte. Die Dunkelheit nahm eine grau-rote Färbung an. Annabeth konnte plötzlich Percys Haare sehen, als sie sich an ihn presste. Das Pfeifen in ihren Ohren wurde zu einem Brüllen. Die Luft wurde unerträglich heiß und es stank nach faulen Eiern.
Plötzlich wurde der Schacht, durch den sie gefallen waren, zu einer riesigen Höhle. Ein paar hundert Meter unter ihnen konnte Annabeth den Boden sehen. Für einen Moment war sie zu verblüfft, um klar denken zu können. Die gesamte Insel Manhattan hätte in diese Höhle gepasst – und sie konnte nicht einmal ihre vollen Ausmaße sehen. Rote Wolken hingen in der Luft wie verdampftes Blut. Die Landschaft – zumindest das, was davon zu erkennen war – sah aus wie eine felsige schwarze Ebene, durchsetzt von zackigen Bergen und lodernden Schluchten. Auf Annabeths linker Seite fiel der Boden in einer Serie von Felskuppeln ab, wie riesige Stufen, die tiefer in den Abgrund führten.
Der Schwefelgestank erschwerte die Konzentration, aber Annabeth starrte den Boden genau unter ihnen an und sah ein Band aus einer glitzernden schwarzen Flüssigkeit – ein Fluss!
»Percy«, schrie sie ihm ins Ohr. »Wasser!«
Sie zeigte hektisch nach unten. Es war schwer, in dem trüben roten Licht Percys Gesicht zu erkennen. Er schien unter Schock zu stehen und wirkte total verängstigt, aber er nickte, als ob er sie verstanden hätte.
Percy konnte das Wasser beherrschen – falls das da unten überhaupt Wasser war. Vielleicht könnte er ihren Fall auf irgendeine Weise abfangen. Natürlich hatte Annabeth schreckliche Geschichten über die Flüsse der Unterwelt gehört. Sie konnten einem die Erinnerungen nehmen oder Leib und Seele zu Asche verbrennen. Aber sie beschloss, nicht daran zu denken. Das hier war ihre einzige Chance.
Der Fluss jagte ihnen entgegen. In letzter Sekunde schrie Percy trotzig auf. Das Wasser explodierte wie ein riesiger Geysir und verschlang sie mit Haut und Haaren.
VI
Annabeth
Der Aufprall brachte sie nicht um, der Kälte aber wäre es fast gelungen.
Eiskaltes Wasser nahm ihr die Luft. Ihre Glieder wurden steif und sie konnte Percy nicht mehr festhalten. Sie sank. Seltsame Klagelaute füllten ihre Ohren – Millionen von verzweifelten Stimmen, als bestünde der Fluss aus destillierter Traurigkeit. Die Stimmen waren schlimmer als die Kälte. Sie zogen Annabeth nach unten und machten ihren ganzen Körper taub.
Wozu denn überhaupt kämpfen, fragten die Stimmen. Du bist ja doch schon tot. Hier kommst du nie wieder raus.
Sie könnte auf den Grund sinken und ertrinken, ihren Leichnam vom Fluss davontragen lassen. Das wäre einfacher. Sie könnte einfach die Augen schließen …
Percy packte ihre Hand und riss sie zurück in die Wirklichkeit. Sie konnte ihn in dem trüben Wasser nicht sehen, aber plötzlich wollte sie nicht mehr sterben. Zusammen stießen sie sich ab und brachen durch die Oberfläche.
Annabeth schnappte nach Luft, dankbar, weil es überhaupt Luft gab, egal, wie schweflig die auch sein mochte. Das Wasser umwirbelte sie, und ihr ging auf, dass Percy einen Strudel heraufbeschwor, der sie oben hielt.
Obwohl sie ihre Umgebung nicht erkennen konnte, wusste sie, dass das hier ein Fluss war. Und ein Fluss hat Ufer.
»Land«, krächzte sie. »Zur Seite.«
Percy schien vor Erschöpfung dem Tode nahe zu sein. Normalerweise belebte Wasser ihn, dieses hier aber nicht. Ihm Befehle zu erteilen, musste ihm alle Kraftreserven genommen haben. Der Strudel löste sich jetzt auf. Annabeth legte Percy einen Arm um die Taille und kämpfte sich durch die Strömung. Der Fluss sträubte sich, Tausende von weinenden Stimmen flüsterten ihr ins Ohr und drangen in ihr Gehirn ein.
Leben ist Verzweiflung, sagten sie. Nichts hat einen Sinn, und danach stirbst du.
»Keinen Sinn«, murmelte Percy. Seine Zähne klapperten vor Kälte. Er hörte auf zu schwimmen und ließ sich sinken.
»Percy!«, schrie sie. »Der Fluss bringt deine Gedanken durcheinander. Es ist der Kokytos – der Fluss des Wehklagens. Es ist aus purem Elend gemacht.«
»Elend«, sagte er zustimmend.
»Wehr dich!«
Sie trat um sich und kämpfte, in dem Versuch, sie beide über Wasser zu halten. Noch ein kosmischer Witz, über den Gaia lachen könnte: Annabeth stirbt bei dem Versuch, ihren Freund, den Sohn des Poseidon, vor dem Ertrinken zu retten.
So weit kommt das noch, du alte Hexe, dachte Annabeth.
Sie drückte Percy fester an sich und küsste ihn. »Erzähl mir von Neu-Rom«, verlangte sie. »Was hattest du noch für Pläne für uns?«
»Neu-Rom … für uns …«
»Ja, Algenhirn. Du hast gesagt, wir könnten da eine Zukunft haben. Erzähl mir davon!«
Annabeth hatte Camp Half-Blood niemals verlassen wollen. Es war das einzige wirkliche Zuhause, das sie je gekannt hatte. Aber vor einigen Tagen, auf der Argo II, hatte Percy ihr erzählt, dass er sich für sie beide eine Zukunft bei den römischen Halbgöttern erträumte. In der Stadt Neu-Rom konnten Veteranen der Legion in Sicherheit leben, studieren, heiraten, sogar Kinder haben.
»Architektur«, murmelte Percy. Der Nebel wich jetzt aus seinen Augen. »Dachte, dir könnten die Häuser und die Parks gefallen. Da gibt es eine Straße mit lauter coolen Springbrunnen.«
Annabeth kam jetzt besser gegen die Strömung an. Ihre Glieder fühlten sich an wie nasse Sandsäcke, aber Percy half ihr nun. Sie konnte einen Steinwurf weiter eine dunkle Uferlinie erkennen.
»Uni«, keuchte sie. »Könnten wir zusammen hingehen?«
»J-ja«, sagte er, ein wenig zuversichtlicher.
»Was würdest du studieren, Percy?«
»Weiß nicht«, gab er zu.
»Meeresbiologie«, schlug sie vor. »Ozeanografie.«
»Surfen?«, fragte er.
Sie lachte und dieses Geräusch sandte eine Schockwelle durch das Wasser. Die Klagen wurden zum Hintergrundrauschen. Annabeth überlegte, ob wohl schon jemals wer im Tartarus gelacht hatte – ein reines, schlichtes Lachen der Freude. Sie bezweifelte das.
Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, um ans Ufer zu gelangen. Ihre Füße bohrten sich in den sandigen Boden. Sie und Percy zogen sich an Land, zitternd und keuchend, und brachen auf dem dunklen Sand zusammen.
Annabeth hätte sich so gern an Percy geschmiegt und wäre eingeschlafen. Sie hätte so gern die Augen geschlossen und gehofft, es sei nur ein böser Traum und sie werde auf der Argo II erwachen, bei ihren Freunden in Sicherheit (na ja, so sicher, wie eine Halbgöttin das eben sein konnte).
Aber nichts da. Sie waren wirklich im Tartarus. Zu ihren Füßen tobte der Fluss Kokytos vorbei, ein Strom aus flüssigem Elend. Die schweflige Luft brannte in Annabeths Lunge und ließ ihre Haut prickeln. Ihre Arme hatten sich schon mit einem roten Ausschlag überzogen. Sie versuchte, sich aufzusetzen, und keuchte vor Schmerz.
Das Ufer war nicht aus Sand. Sie saßen in einem Feld aus schwarzen Glasscherben, und einige hatten sich schon in Annabeths Handflächen gebohrt.
Die Luft war ätzend. Das Wasser war pures Elend. Der Boden war zerbrochenes Glas. Alles hier sollte schmerzen und töten. Annabeth holte röchelnd Atem und fragte sich, ob die Stimmen im Kokytos Recht haben könnten. Vielleicht hatte es keinen Sinn, um das Überleben zu kämpfen. Sie würden in der nächsten Stunde tot sein.
Neben ihr hustete Percy. »Hier riecht’s wie mein Ex-Stiefvater.«
Annabeth rang sich ein müdes Lächeln ab. Sie war dem stinkenden Gabe Ugliano nie begegnet, aber sie hatte genug über ihn gehört. Sie liebte Percy, weil er versuchte, ihre Stimmung zu heben.
Wenn sie allein in den Tartarus gefallen wäre, überlegte Annabeth, dann wäre sie verloren gewesen. Nach allem, was sie in Rom durchgemacht hatte, um die Athena Parthenos zu finden, war das hier einfach zu viel. Sie hätte sich zusammengerollt und geweint, bis sie zu einem weiteren Geist geworden wäre, der sich im Kokytos auflöste.
Aber sie war nicht allein. Sie hatte Percy. Und das bedeutete, dass sie nicht aufgeben würde.
Sie zwang sich, eine Bestandsaufnahme zu machen. Ihr Knöchel war noch immer in den Behelfsverband aus Holzresten und Blasenfolie gewickelt, und noch immer schlangen sich Spinnweben darum. Aber als sie sie entfernte, tat es nicht weh. Die Ambrosia, die sie in den Tunneln im Untergrund von Rom zu sich genommen hatte, hatte ihre Knochen wohl endlich geheilt.
Ihr Rucksack war verschwunden – beim Sturz verloren gegangen oder vielleicht vom Fluss weggeschwemmt. Sie fand es schrecklich, dass sie den Laptop des Dädalus verloren hatte, mit all den fantastischen Programmen und Daten, aber sie hatte schlimmere Probleme. Ihr Dolch aus Himmlischer Bronze war weg – die Waffe, die sie schon mit sieben immer bei sich gehabt hatte.
Diese Erkenntnis gab ihr fast den Rest, aber sie durfte nicht weiter darüber nachdenken. Später würde es Zeit zum Trauern geben. Was hatten sie denn überhaupt?
Nichts zu essen, kein Wasser … im Grunde keinerlei Vorräte.
Was für ein verheißungsvoller Anfang.
Annabeth schaute zu Percy hinüber. Er sah ziemlich übel aus. Seine dunklen Haare klebten an seiner Stirn, das T-Shirt war in Fetzen gerissen. Seine Finger waren aufgeschrammt, weil er sich vor dem Sturz an die Felskante geklammert hatte. Das Besorgniserregendste aber war, dass er zitterte und dass seine Lippen blau waren.
»Wir müssen uns bewegen, sonst sterben wir an Unterkühlung«, sagte Annabeth. »Kannst du stehen?«
Er nickte. Sie kamen mühsam auf die Beine.
Annabeth legte ihm den Arm um die Taille, obwohl sie nicht sicher war, wer hier wen stützte. Sie schaute sich um. Über ihnen sah sie keine Spur von dem Schacht, durch den sie gefallen waren. Sie konnte nicht einmal die Decke der Höhle erkennen – nur blutrote Wolken, die in der dunstigen grauen Luft schwebten. Es war, wie durch eine dünne Mischung aus Tomatensuppe und Zement zu starren.