Hellboy 1 - Medusas Rache - Mike Mignola - E-Book

Hellboy 1 - Medusas Rache E-Book

Mike Mignola

4,0

Beschreibung

1994 erblickte Hellboy zum ersten Mal das Licht einer Comicseite und entwickelte sich in den nächsten Jahren zu einem phänomenalen Erfolg, der 2004 und 2008 mit den Kinofilmen von Starregisseur Guillermo del Toro seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Im Dezember 1999 wiederum erschien der erste von inzwischen drei Sammelbänden mit Hellboy-Geschichten, die bisher nur auf Englisch erhältlich sind. Dem wollen wir nun abhelfen, denn ob im Comic, auf der Leinwand oder in Form des gedruckten Wortes niemand erlebt so faszinierende, so unheimliche, so abgefahrene Abenteuer wie Hellboy! Einige der besten Phantastik-Autoren der angloamerikanischen Szene haben zur Feder gegriffen, um dem roten Riesen die Ehre zu erweisen. Jede Erzählung ist mit einer ganzseitigen Illustration von Hellboy-Schöpfer Mike Mignola versehen ein Augenschmaus für Kenner und ein Muss für jeden Sammler. Herausgegeben von Christopher Golden Mike Mignola, "Einleitung" Grahan Wilson, "Cartoon" Yvonne Navarro, "Medusas Rache Stephen R. Bissette, "Puzzle" Philip Nutman, "Eine Mutter weint um Mitternacht" Greg Rucka, "Versicherungen" Nancy Holder, "Folie à Deux" Craig Shaw Gardner, "Dämonenpolitik" Nancy A. Collins, "Ein grimmiges Märchen" Rick Hautala & Jim Connolly, "Die Vogelscheuche" Chet Williamson, "Wo ihr Feuer nicht erlischt" Max Allan Collins, "Ich bekam Bigfoots Baby" Christopher Golden & Mike Mignola, "Der Nuckelavee" Matthew J. Costello, "Eine Nacht am Strand" Poppy Z. Brite, "Brenn, Baby, brenn" Brian Hodge, "Weit reichte sein Ruhm"

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Seitenzahl: 439

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Titel

Impressum

Hellboy: Odd Jobs

Die Originalausgabe ist 1999 bei Dark Horse Comics erschienen.

Deutsch von

molosovsky[Seite 9–161] und

Verena Hacker[Seite163–299]

(Die Einleitung übersetzte Hannes Riffel.)

© 1999, 2012 by Michael Mignola. All rights reserved.

Dark Horse Comics® and the Dark Horse logo

are registered trademarks of Dark Horse Comcis, Inc.,

registered in various categories and countries.

All rights reserved.

Mit freundlicher Genehmigung von Dark Horse Comics, Inc.

© dieser Ausgabe 2012 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes Riffel

Redaktion: Caroline Melzer

Korrektur: Harun Raffael

Titelseite: s.BENeš [www.benswerk.de]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

GolkondaVerlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

[email protected]

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-942396-21-9 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-942396-57-8 (E-Book)

Inhalt

Inhalt

Titel

Impressum

Inhalt

EINLEITUNG

Mike Mignola

CARTOON

Gahan Wilson

MEDUSAS RACHE

Yvonne Navarro

PUZZLE

Stephen R. Bissette

EINE MUTTER WEINT UM MITTERNACHT

Philip Nutman

VERSICHERUNGEN

Greg Rucka

FOLIE À DEUX

Nancy Holder

DÄMONENPOLITIK

Craig Shaw Gardner

EIN GRIMMIGES MÄRCHEN

Nancy A. Collins

DIE VOGELSCHEUCHE

Rick Hautala & Jim Connolly

WO IHR FEUER NICHT ERLISCHT

Chet Williamson

ICH BEKAM BIGFOOTS BABY

Max Allan Collins

DER NUCKELAVEE

Christopher Golden & Mike Mignola

EINE NACH AM STRAND

Matthew J. Costello

BRENN, BABY, BRENN

Poppy Z. Brite

WEIT REICHTE SEIN RUHM

Brian Hodge

Autorinnen und Autoren

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EINLEITUNG

Mike Mignola

Ich bin Comiczeichner. Meine Geschichten erzähle ich meistens in Bildern. Ich kann, wenn ich eine Vorlage habe, ein Haus zeichnen, und wenn ich das gut hinkriege, kann ich – vielleicht – ein Gefühl für den Schauplatz des Geschehens und die Atmosphäre dort vermitteln. Dank der Unterstützung von Dave, der meine Seiten koloriert, kann ich zeigen, ob es Tag oder Nacht, Winter, Sommer oder Herbst ist. Nicht übel, aber ein »richtiger« Schriftsteller bin ich deswegen nicht. Ein »richtiger« Schriftsteller macht all diese Dinge allein mit Worten. Das geht über meine Fähigkeiten. Chris Golden hat mich gebeten, eine Geschichte zu diesem Buch beizutragen, und alles, was mir einfiel, war: »An einem guten Tag roch Hellboy wie eine geröstete Erdnuss.« Ich denke, es ist am besten, ich halte mich an das, was ich kann. Und überlasse das »richtige« Schreiben den Profis.

Auf den folgenden Seiten werden Sie einige Geschichten finden, die sich genauso anfühlen wie die Geschichten in den Comics. Dann gibt es welche, die sind völlig anders. Die meisten liegen irgendwo dazwischen. Mir haben sie alle gefallen. Ich habe bekommen, worauf ich gehofft hatte. Unterschiedliche Herangehensweisen. Unterschiedliche Stimmen. So soll eine Anthologie sein.

»Der Nuckelavee« war ursprünglich etwas, aus dem ich einen Comic machen wollte, aber ich hab’s mir anders überlegt. Also hab ich in groben Zügen die Handlung niedergeschrieben und sie an Chris Golden weitergereicht. Er, ein »richtiger« Schriftsteller, hat eine »richtige« Geschichte daraus gemacht. Dafür möchte ich ihm danken, und außerdem dafür, dass er für unser merkwürdiges kleines Projekt einige der besten Horrorautoren unserer Zeit zusammengetrommelt hat. Scott Allie, dem Stammredakteur von Hellboy, möchte ich für seine Hilfe und seine Geduld danken und dafür, dass er diese Einleitung wahrscheinlich umschreibt und etwas Zusammenhängendes daraus macht. Zu guter Letzt ganz besonderen Dank an Grahan Wilson, der dem Ganzen die Krone aufgesetzt hat.

Wohl bekomm’s!

Mike Mignola

Portland, Oregon

CARTOON

Gahan Wilson

MEDUSAS RACHE

Yvonne Navarro

Aufgrund der großen Gefahr, die mit dem Fall verbunden war, hatte Hellboy sich entschieden, die Sache alleine anzupacken.

Das bereute er jetzt.

Er brauchte keine Hilfe bei der Recherche, er brauchte auch niemanden, der ihm mit weiteren übernatürlichen Kräften zur Seite stand – zumindest noch nicht. Aber er sehnte sich danach, jemanden an dem teilhaben zu lassen, was sich vor ihm ausbreitete.

Er sehnte sich nach Anastasia.

Denn unter ihm erstreckte sich das Paradies.

Hellboy war viel in der Welt herumgekommen und hatte mehr Sehenswürdigkeiten, Länder und Schönheiten erblickt, als er wahrscheinlich zu würdigen wusste. Aber damit ließ sich nichts vergleichen. Er stand auf dem höchsten Punkt seiner Umgebung; vor und hinter ihm führten saftige Hügel abwärts, bedeckt von kniehohen Gräsern, aus denen hie und da Kalksteinfelsen lugten. Unmittelbar darunter fiel ein Felsvorsprung ab zum Ägäischen Meer, dessen Oberfläche wie eine Diamantendecke funkelte, die sich bis zum unnachahmlichen Horizont erstreckte, der von kaum sichtbaren Bergen gesäumt wurde, bis zum entferntesten Ende des Universums und noch darüber hinaus, wo die ruhmreichen griechischen Götter gewiss einst aus dieser Welt hinfortgegangen waren, um die mickrigen Sterblichen hinter sich zu lassen. Wasser brandete gegen die andere Seite der schmalen Klippe, während sich zu Hellboys Rechten und viele Hundert Fuß unter ihm kleine, ausgeblichene Fischerhütten – zu viele, um sie zu zählen – an die verwinkelten Felsspalten drängten, die schließlich zu den Bootanlegestellen und zur See führten. Eine warme, frische Brise umwehte ihn, die nach Salzwasser und Sonnenschein duftete.

Doch die Schönheit dieser kleinen, namenlosen Insel östlich von Thira war trügerisch. Das Meer hätte Geräusche zurückwerfen müssen, so wie ein von einem Kind geworfener Stein auf der Oberfläche eines ruhigen Sees hüpft. Das Meer spiegelte jedoch nur Stille. Nirgends ein Mensch zu sehen, der an der kurzen Küste fischte oder kochte oder die gepflegten Fußwege vor den dicht aneinandergedrängten Hütten fegte. Keine kläffenden Hunde jagten fauchende Katzen um die Stände des verlassenen Marktplatzes. Selbst die Möwen waren geflohen und hatten das Dorf der Laune einer finsteren Macht überlassen, deren schwere Hand auf ihm lag.

Da konnte Anastasia ebenso gut viele Tausend Kilometer entfernt sein und sich um die Verstrickungen ihres eigenen Lebens kümmern. Hier, da war sich Hellboy sicher, würden nur Gefahren auf sie lauern.

Hellboy verlagerte das Gewicht, versuchte einen angenehmeren Standort zu finden, an dem sich ihm keine kleinen Steinchen und von Meeresstürmen heraufgewirbelte Muscheln in die Hufsohlen bohrten. Er kratze sich die Bartstoppeln und genoss die Sonnenwärme, während er den Hügel hinabspähte und erfolglos versuchte, etwas auszumachen, das sich bewegte. Er hegte keine Zweifel, dass dort unten noch irgendwo Menschen sein mussten, aber sie waren nicht dumm. Sie versteckten sich vermutlich, hatten die Türen ihrer Häuser mit schweren Holzbalken verrammelt, die Fensterläden fest zugezogen und waren dazu verdammt, die erdrückende Sommerhitze zu ertragen und sich nach dem kühlenden Seewind zu sehnen. Aber Moment mal ...

Dort drüben.

Hellboy richtete sich auf, versuchte angestrengt etwas zu erkennen. Anfangs war es nur ein Fleck. Doch dieses Etwas bewegte sich flink zwischen den Felsen und Gräsern und verkürzte rasch die Entfernung entlang der oberen Ausläufer des Dorfes. Hellboy brauchte etwa eine Minute, um zu begreifen, dass dieses Ding eine Absicht verfolgte, und er war alles andere als erfreut, als ihm klar wurde, welche: Offensichtlich peilte dieses Etwas ihn an und folgte einem Pfad die Klippe hinauf, der direkt zu ihm führte. Natürlich! So, wie er hier oben stand, musste er wie ein großes, rotes Leuchtfeuer wirken. Ebenso gut hätte er sich auf die Brust trommeln und mit ganzer Kraft »Hier bin ich!« brüllen können.

Es dauerte noch weitere dreißig oder vierzig Sekunden – das Ding war schnell –, bis Hellboy schließlich erkennen konnte, was es war: ein Pferd.

Ein Pferd aus Stein.

Hellboy empfand keine Furcht, nur ein reges, kaltblütiges Interesse. Pferdeliebhaber auf der ganzen Welt würden ihn bestimmt deswegen verachten, aber ihm war nicht daran gelegen, diese Seltsamkeit, die sich so zielstrebig näherte, zu retten. Erlösen konnte man sie bestimmt nicht mehr. Wenn Hellboy dem Glauben schenkte, was Dr. Manning ihm im Büro der Behörde in Fairfield, Connecticut bei der Einsatzbesprechung gesagt hatte, dann waren Fleisch und Herz der Kreatur für immer versteinert, und alle ihre Gedanken drehten sich nur noch um Zerstörung.

Nach weiteren zwanzig Sekunden konnte er das Pferd genauer erkennen, sah das merkwürdige Spiel der Muskeln, die sich unter der steinernen Oberfläche seiner Haut bewegten. Das hier war keine feuerspeiende Monstrosität – es atmete überhaupt nicht, sondern bewegte sich wie eine steife Animation und erinnerte Hellboy dabei an die frühsten und primitivsten Arbeiten des Stop-Motion-Pioniers Willis O’Brien. Die Augen der Kreatur waren so leblos wie der Boden, auf dem Hellboy stand, und in etwa so wohlwollend. Nur das weit aufgerissene Maul verriet ihre eigentliche Absicht. Die hochgezogenen Lippen entblößten die langen, eckigen Zähne des Pferdes, ein volles Gebiss, das offensichtlich nach einem Stück von Hellboys Fleisch gierte.

»Heute nicht«, grollte Hellboy und biss die Zähne aufeinander.

Das Steinpferd überwand die letzten Meter und bäumte sich auf; die Hufe, die größer und um einiges scharfkantiger waren als die von Hellboy, durchschnitten die Luft. Bevor er ihm Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, hatte Hellboy nicht bemerkt, wie groß dieses Pferd war. Er war nicht begeistert, als er feststellte, dass sein Kopf sich gerade einmal auf Brustkorbhöhe des vor ihm aufgerichteten Tiers befand.

Na toll, dachte sich Hellboy. Von einem Bildhauer geschaffen, der nicht kleckert, sondern klotzt.

Er wich den Hufen aus und sprang zurück. Das Vorderteil des Pferdes ging mit voller Wucht genau dort nieder, wo er eben noch gestanden hatte. Hellboy schlug nach dem Pferd und war bass erstaunt, als er es verfehlte – auch wenn sie aus Stein gemacht war, bewegte sich die Statue erheblich schneller, als Hellboy erwartet hatte, und umtänzelte ihn mühelos außerhalb seiner Reichweite. Es machte einen Satz nach links und griff erneut an, diesmal mit beängstigender Lautlosigkeit und seinem ganzen Gewicht.

»Das soll eine Strategie sein?«, fragte Hellboy trocken, kurz bevor er sich zur Seite warf. Die Welt stand Kopf, während er den Hang gute sechs Meter hinabrutschte, bis ein einzelner aus dem Boden ragender Fels seinen Fall mit einem unangenehmenBonkbeendete. Es krachte gewaltig, und als Hellboy spürte, wie ein Zittern durch die Erde lief, reckte er den Hals, um zu sehen, was hangaufwärts geschah. Die Pferdestatue stürmte auf ihn zu, aller Leichtfüßigkeit beraubt: Ihr großes Gewicht war ihr zum Verhängnis geworden, und so rollte sie sich überschlagend herab ...

Direkt auf ihn zu.

Hellboy schrie laut und wühlte den Boden auf. Im letzten Augenblick fand er sein Gleichgewicht wieder und krabbelte wie eine unbeholfene Spinne über das Gras. Er spürte den Lufthauch, als das Steinwesen an ihm vorbeistürzte, und wurde von einer Menge brennender, scharfkantiger Steinsplitter getroffen – noch mehr Geschenke von dem ungewöhnlichen steinernen Meuchelmörder. Während er dem Pferd nachblickte, wäre er fast abgerutscht. Er fluchte, fand schließlich wieder Halt und sah, wie es sich ein letztes Mal überschlug und auf den Felsbrocken am Fuß der Klippe zerschellte. Stein traf auf Stein, und alles war vorbei. Der Kopf des Wesens zersplitterte, und der übrige Körper brach in vier oder fünf große Teile auseinander. Fasziniert beobachtete Hellboy, wie die Bruchstücke noch einige Sekunden lang zuckten, als versuchten sie, sich wieder zusammenzufügen, bis sie begriffen, dass ihnen ein entscheidendes Teil fehlte. Sie kamen zur Ruhe, während Hellboy sie weiter anglotzte. Von dort, wo er zwischen Felsen und Gräsern lag, wirkte der aufgewirbelte Staub, der sich nun auf die Überreste der Pferdestatue herabsenkte, wie ein Leichentuch, wie eine letzte Schotterschicht, deren Frieden nicht gestört werden sollte.

»Na toll«, murmelte Hellboy zu sich selbst, als er wieder auf sicheren Beinen stand und sich den Staub abklopfte. »In der ersten Viertelstunde schon von einem Steinpferd gejagt – was kommt wohl als Nächstes?«

Was war als Nächstes zu tun? Er wandte sich wieder dem Dorf zu und betrachtete es genauer. Diesmal ging er in Deckung, um nicht wieder ein so überdeutliches Ziel für die wiederbelebten Dinge abzugeben, von denen er wusste, dass sie in den engen Straßen und Gassen herumstrichen. Jetzt konnte er erkennen, dass sich dort unten etwas bewegte, doch glücklicherweise schien nichts sonst, ob Mensch, Bestie oder Stein, zu ihm hinauf zu wollen. Einen bangen Augenblick lang fragte er sich, ob die Statuen irgendwie telepathisch miteinander in Verbindung standen. Im Augenblick schien ihm jedoch von dieser Seite keine Gefahr zu drohen.

Jammerschade, dass Jayson Paras nicht so viel Glück gehabt hatte.

Dr. Manning hatte Hellboy ein Photo des Hobby-Archäologen gezeigt, der an seiner Promotion in vorgeschichtlicher Mythologie arbeitete. Groß, kräftig und jung – nicht älter als achtundzwanzig – mit dunklen Haaren und ebensolchen Augen von der Art, die Frauen schwach werden ließ, eingefasst von einem in der griechischen Sonne golden gebräunten, markanten Gesicht. Hellboy hatte sich vor langer Zeit mit dem, was er in dieser Welt war, abgefunden; manchmal jedoch, wenn er einen solchen Mann sah, konnte er nicht anders, als sich zu fragen, wie sich sein Leben entwickelt hätte, wenn er unter menschlicheren Umständen auf die Welt gekommen wäre.

Wie dem auch sei, Paras war von der Insel Kárpathos zurückgekehrt, und seine Freunde, Familie und Kollegen hatten dem Bericht über seine letzte von vielen Sommerreisen skeptisch zugehört. Er behauptete, tief in einer Felsenhöhle an der Küste des Kretischen Meeres ein Grab gefunden zu haben, dessen Eingang bisher nur eine Legende war, so mythisch wie das Geheimnis der Götter, von dem es hieß, dass es dort verborgen sei. In dieser Höhle entdeckte Paras – so behauptete er jedenfalls – den Schild der Athene, jenen Schild, der den griechischen Legenden zufolge den Kopf der Medusa gefangen hielt.

Wenn die alten Geschichten stimmten, dass der Blick der Medusa jeden zu Stein werden ließ, dann war es rätselhaft und würde es womöglich für immer bleiben, wie Jayson Paras den Kopf gefunden, eingepackt und transportiert hatte. Nun war Paras mit ziemlicher Sicherheit tot, wie die meisten der Dorfbewohner auch. Was auch immer er getan hatte, den Schild vor fremden Blicken zu verbergen, war vergebens gewesen, und jemand hatte die Kiste entdeckt und aufgebrochen. Natürlich war immer noch unklar, warum dieser unglückselige Abenteurer – und der nächste und der nächste nach ihm – nicht einfach zu Stein geworden war, bis jemand begriff, was da vor sich ging.

Und ... ach ja. Diese lästigen lebenden Statuen gab es ja auch noch, um die sich jemand kümmern musste.

Nun denn, dachte Hellboy bei sich, das hier ist wie eine archäologische Ausgrabung. Er würde niemals Antworten finden, wenn er nicht ein wenig herumgrub.

Geduckt, um nicht so leicht gesehen zu werden, kletterte Hellboy die Klippe hinab und schlich in die vom Meer leergefegten Straßen des Dorfes.

Das Dorf selbst war ein verwirrendes Labyrinth, ein gewundenes Straßengeflecht, zu eng für herkömmliche Autos, was der unberührten Schönheit des Dorfes jedoch nur zugutekam. Die meisten Gebäude waren weiß getüncht oder in cremefarbenen, blassen Gelb- und hellen Grautönen gestrichen, um das Sonnenlicht zu reflektieren. In Blumenkästen vor den Fenstern wuchs allerlei, von lieblich duftenden Blumen bis hin zu kräftig riechenden Kräuterbüscheln, die gepflückt und in mittägliche Kochtöpfe geworfen werden konnten. Das, erkannte Hellboy, war der erste Hinweis darauf, dass hier etwas fürchterlich im Argen lag: Statt der erwarteten Düfte von Olivenöl und Ziegenkäse, gebackenem Brot und geräuchertem Fisch schwelte ein fahler Geruch nach Staub und Verwesung unter der Oberfläche. Selbst die Ziegen waren vor dem geflohen, was dieses Dorf heimgesucht hatte. Der Geruch des Todes wurde beständig von dem zeitweise heftig vom Meer her wehenden Wind verdrängt, kehrte aber stets schleichend wieder zurück, so wie der süßliche Modergeruch im Kofferraum eines Autos, in dem eine mumifizierte Leiche monatelang versteckt lag.

Das Dorf war voll versteinerter Leichen.

Der Spur zu folgen war nicht schwer, und es waren die Toten selbst, die Hellboy unabsichtlich die Hinweise lieferten, mit deren Hilfe er begann, den unfassbaren mythologischen Schrecken nachzuvollziehen. Viele der Körper waren auf den Stufen aufgehäuft, die zu der kleinen griechisch-orthodoxen Kirche des Dorfes führten, doch die Gottheit, bei der die Bewohner Schutz gesucht haben mochten, sie hatte sich entweder nicht um die drohende Gefahr gekümmert oder war an diesem Tag einfach nicht mildtätiger Stimmung gewesen.

Hellboy hielt sich dicht an den Gebäuden und genoss, während er vorwärts schlich, trotz allem die von den Dachschindeln reflektierte Hitze des Hochsommers. Nach einer Stunde vorsichtigen Auskundschaftens kehrte er zu seinem Ausgangsort zurück, ohne etwas herausgefunden zu haben. Er begann noch einmal, seine Umgebung abzusuchen, dieses Mal langsamer und sorgfältiger. Schließlich verengten sich seine Augen, und er hielt gegenüber der Kirche inne. Von all den zu Stein erstarrten Leichen beunruhigten ihn die am Fuß der Treppe, die zu der verwitterten Doppeltür führte, am meisten. Dies lag nicht so sehr daran, dass sie hier Hilfe gesucht und nicht erhalten hatten – was schlimm genug war –, sondern daran, dass es so viele waren. Warum hier und nicht zum Beispiel vor der Polizeiwache vier Straßen weiter? Oder vielleicht vor dem kleinen, aber reinlichen Krankenhaus am anderen Ende der Hauptstraße?

Konnte es vielleicht sein, dass etwas ... Interessantes in der Kirche lauerte?

Zeit, das herauszufinden.

Hellboy umfasste den Türgriff und zog daran, doch die Tür ging zu seiner Überraschung nicht auf. Das war kein einfaches Schloss, denn ein solches hätte nachgegeben. Nein, offenbar hielt etwas auf der anderen Seite die Tür zu – etwas, dessen Stärke der von Hellboy gleichkam.

Seit wann will eine Kirche, dass die Leute draußen bleiben?

Hellboy verzog das Gesicht und rüttelte stärker an der Tür, die sich ihm erneut widersetzte; daraufhin wurde er so wütend, dass er seine ganze Kraft aufwandte. Die Kraft auf der anderen Seite nahm zu und ließ dann plötzlich los. Hellboy ächzte überrascht und stolperte rückwärts die Stufen hinunter. Verdutzt schaute er auf das, was von der Tür übrig geblieben war – ein Stück zersplittertes Holz, das am Griff hing, den er immer noch mit seinen dicken Fingern umklammerte. Reflexartig wollte er den Blick schon auf den nun weit offen stehenden Eingang richten, als ihm die von Medusa ausgehende legendäre Gefahr in den Sinn kam. Wer auch immer ihn im Kirchenportal erwartete – wenn dieser jemand den Schild mit dem darauf gebannten Kopf der Medusa hielt und Hellboy ihn ansah, würde er sich womöglich ebenso in unnachgiebigen Stein verwandeln wie das Pferd, das er auf der Klippe besiegt hatte.

Heilige Scheiße, dachte Hellboy. Das würde schwieriger werden, als er erwartet hatte.

Er hob einen Arm und legte ihn schützend vor seine Augen, stand auf und stieg mit schweren Schritten wieder die Stufen hinauf, hielt dabei die Steinhand seines rechten Armes ausgestreckt wie ein Footballspieler und fragte sich, wie er verdammt noch mal gegen etwas kämpfen sollte, das er nicht einmal anschauen konnte. Mit mit vollem Tempo rammte er die Portaltür und wäre, als er auf keinerlei Widerstand stieß, fast der Länge nach hingeschlagen. Verzweifelt versuchte er, sein Gleichgewicht wiederzufinden, und stützte sich dabei links und rechts des schmalen Mittelgangs an abgewetzten Holzbänken ab. Sein Schwanz fegte über den Boden und traf auf wieder etwas anderes, und als Hellboy sich vorsichtig umschaute, sah er die Überreste von etwas, das vermutlich die Statue gewesen war, die versucht hatte, die Kirchentüre zuzuhalten. Als das Holz mit dem Türgriff weggebrochen war, war der steinerne Soldat gegen das Becken mit Weihwasser gekracht. Kopf und Oberkörper lagen jetzt in Stücke zerborsten auf den kalten Fließen, der restliche Körper zuckte hilflos zu Hellboys Füßen.

Gedämpftes Licht fiel durch die grobkörnigen Glasscheiben der alten Fenster und ließ im ganzen Gebäude Schatten entstehen. Falls es überhaupt elektrisches Licht gab, war es ausgeschaltet, und auch die wenigen Kerzen, die in dem langen Kirchenraum verteilt waren, waren nicht angezündet. Nichts bewegte sich, doch Hellboy ließ sich nicht täuschen.

Mehr, dachte er. Hier müssen noch mehr sein.

Und in der Tat, da waren noch mehr.

Am anderen Ende des Raumes befand sich eine große, zerkratzte Kanzel aus Holz. Einige Gestalten erhoben sich nun dahinter, die übrigen traten aus den ersten drei Reihen der Kirchenbänke hervor, eine entsetzliche graue Armee von mehr als drei Dutzend Geschöpfen aus Stein. Das waren offenbar die ältesten Zierwerke, die das Dorf zu bieten hatte, und in den etwa zehn Sekunden, bevor sie angriffen, erkannte Hellboy: Diese kleine Insel vor der Küste Griechenlands hatte ihre Geheimnisse gut gehütet und ihr Erbe davor bewahrt, wie so vieles andere gestohlen und von den Museen der Welt vereinnahmt zu werden. Bei den Steinstatuen, die sich auf ihn zubewegten – Darstellungen von spärlich bekleideten griechischen Göttern und Göttinnen mit Schwertern und Schilden bis hin zu mythischen Schlangen –, handelte es sich um die echten, ursprünglichen Skulpturen, und womöglich waren sie so alt, dass sie noch aus einer Zeit stammten, bevor ausschließlich Menschen in diesem Dorf lebten, einer Zeit, als die Götter selbst noch auf Erden wandelten.

Der Zeit Medusas.

Überall im Dorf standen Figuren aus Stein, aus Granit, Kalkstein und Marmor, und die meisten waren auch einfach nur das. Diese allerdings ...

»Medusas Opfer«, sagte Hellboy. Seine Stimme klang heiser vor Überraschung. »Jeder von euch war so dumm, ihr ins Gesicht zu blicken.« Angewidert schüttelte er den Kopf. »Das habt ihr nun davon.«

Ob tot oder untot, offenbar hatten sie keine Stimmbänder. Hellboys Bemerkung wurde weder erwidert, noch verzögerte sie den bevorstehenden Angriff. Er machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, als die erste Welle der Krieger Medusas ihn erreichte.

Eine Faust so groß wie ein Felsbrocken rammte seine Seite, sodass ihm der Atem wegblieb, und eine andere Gestalt schlug ihm mit voller Wucht auf den Schädel. Hellboy schnappte nach Luft und schaffte es, einen Schwertstreich zu parieren, der seinem Nasenrücken gegolten hatte – auch wenn es nur aus Stein war, hätte es bestimmt ganz schön wehgetan. »Hey!«, rief er. »Lasst das!«

Als ob die auf ihn hören würden.

»Also, das nervt echt«, knurrte Hellboy, während er einen weiteren zähneerschütternden Hieb auf die linke Schulter einsteckte, der seinen Arm für einen Moment fast gefühllos machte. »Jetzt reicht es aber!«

Damit begann er sich ernsthaft zu wehren.

Seine linke Faust war gegen Stein nutzlos, doch seine rechte war eine prächtige Waffe, wie gemacht für solche Situationen. Er schlug zu und fuhr herum, schlug wieder zu, wieder und immer wieder, stützte sich mit seinem Schwanz ab, damit die Wucht seiner eigenen Hiebe ihn nicht von den Füßen riss – das war das Letzte, was er jetzt brauchen könnte: unter Gott weiß wie viel Gewicht begraben zu werden, wenn diese Dinger auf ihn stürzten.

In einem Kreis um ihn herum schien alles in Stücke zu gehen, Steine und Splitter flogen durch die Luft und prasselten ihm gegen Gesicht und Brust. Er schlug erneut zu, traf, was auch immer ihm im Weg war, und irgendetwas explodierte, bevor er erkennen konnte, was es war. Mit einem Ächzen hob er seine Steinfaust und schmetterte eine weitere Statue zu Boden; die Schultern einer mit einer Toga bekleideten Frau zerbröselten unter seiner Hand. Mit jeder weiteren Sekunde verlor Hellboy immer mehr die Lust an dieser Prozedur und wurde zunehmend wütend; in ungefähr einer halben Minute würde er die Geduld verlieren und etwas aus seinen Gürteltaschen kramen, womit er das ganze Gebäude in Schutt und Asche legen konnte.

»Genug.«

Dieses eine Wort, gesprochen von einer Stimme, die klang wie Schleifpapier auf zerstoßenem Glas, und alles ... erstarrte.

Hellboy blinzelte etwas überrascht angesichts des nun plötzlich leeren Raumes um ihn herum und beobachtete, wie die verbliebenen steinernen Kämpfer zurückwichen, wobei dieselbe unheimliche Stille herrschte wie vorhin. Viel war es nicht, was von dieser kleinen Armee übrig war: drei oder vier männliche Statuen, an denen bis auf ihre auffallend attraktiven Körper nichts außergewöhnlich war, und ebenso viele weibliche Figuren sowie einige Statuen, die männlich oder weiblich sein mochten und die über Merkmale verfügten, die sie als Wesen der griechischen Mythologie auswiesen, wozu in einem Fall auch der dicke, anmutig gestaltete Leib einer kopflosen Schlange gehörte.

»Tritt näher ... Hellboy.«

»Verdammt«, knurrte Hellboy leise. »Ich hasse es wirklich, wenn sie meinen Namen kennen.«

Es war nicht der Befehl, dem er Folge leistete, sondern seine eigene Neugier trieb ihn vorwärts. Dass er den wachsamen Blick auf den Boden gerichtet hielt, war ebenso einfach wie notwendig. Nach dem Kampf lagen überall größere und kleinere Steine verstreut, und wenn er nicht aufpasste, wohin er trat, konnte es gut sein, dass etwas in einem seiner Hufe stecken blieb, wie in dem blöden Märchen von dem Löwen mit dem Splitter in der Pfote. »Weiter gehe ich nicht«, sagte Hellboy tonlos und blieb bei der dritten Bankreihe vor dem Altar stehen. »Erzählst du mir jetzt, was hier vor sich geht?«

»Liegt das nicht auf der Hand?«, zischte die Stimme. »Endlich wurde ich freigelassssen.«

Das letzte Wort verklang langgezogen, wie das Zischen einer Schlange – einer sehr großen Schlange –, wenn die Zunge hervorschnellt, um die Luft zu schmecken.

»Ich will ja nicht unhöflich sein«, erwiderte Hellboy, »aber soweit ich mitbekommen habe, fehlt dir zur Fortbewegung der untere Teil deines Körpers.«

»Und dennoch gebiete ich noch immer über große Macht.«

Die Stimme hatte nun einen fast liebenswürdigen Beiklang, sodass Hellboy misstrauisch die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff. Auch wenn er es nicht aussprechen würde, reichte ihm ein schneller Blick in die Runde, um zu erkennen, dass die Sache mit der Macht durchaus zutraf. »Ist bestimmt hart, dauernd auf jemanden angewiesen zu sein, der einen herumträgt«, sagte er verbindlich.

»Mag sein. Aber es gibt immer jemanden, der bereit ist, mir zu dienen.«

Hellboy sah sich um, doch die Gesichter der Steinfiguren waren nicht mehr als das – kalter, ausdrucksloser Stein. Beobachteten sie ihn? Ahnten sie, dass er sich überlegte, die Kanzel zu stürmen? Die ganze Zeit über hatte sich hinter der Kanzel nichts geregt, und Hellboy hielt es für ziemlich wahrscheinlich, dass der Schild mit dem Kopf der Medusa dort versteckt worden war, bevor die steinerne Meute ihn angegriffen hatte. Wenn es ihm gelang, mit einem Sprung die Kanzel zu erreichen und mit seiner steinernen Faust den Schild zu zerschmettern, würde er vermutlich das größte Problem aus der Welt schaffen, das dieses malerische griechische Dorf plagte.

»Was ist mit dir, Hellboy? Wirst du mir dienen?« Medusa schwieg, als ob sie nachdachte. »Die anderen Götter sind seit Langem fort und scheren sich nicht mehr um das jämmerliche Elend der Sterblichen. Mit deinen besonderen ... Talenten ... könnten wir über diese erbärmliche Welt herrschen.«

Hellboy blickte wieder in die steinernen Gesichter, war aber weiterhin so ratlos wie zuvor, was in deren »Gehirn« vorgehen mochte.

»Herrschen, ich?« Lässig schüttelte er den Kopf, in der Hoffnung, dass diese Bewegung die wie auch immer beschaffene Aufmerksamkeit der steinköpfigen Krieger von der leichten Anspannung seiner Beinmuskeln ablenken würde. »Nee, Verwaltungskram war noch nie meine Sache. Das Einzige, was mich in dieser Hinsicht interessiert, ist ... deine Herrschaft zu beenden!«

Hellboy machte einen Satz.

Wie eine Bowlingkugel schlug er in die hölzerne Kanzel ein und sprengte sie. Jetzt erst begriff er, wie stark Geräusche in diesem verbarrikadierten Gebäude mit dem hohen Dach verzerrt und verfälscht wurden. Seine Steinfaust fuhr nieder und traf ins Leere, und dann stürzte er und landete mit solcher Wucht auf dem Boden, dass ihm Tränen in die Augen schossen; die Bodenfließen fühlten sich an seiner stets ungewöhnlich warmen Gesichtshaut kühl an. Rechts von ihm bewegte sich etwas, knapp außerhalb seines Gesichtsfeldes. Hellboy rollte sich herum, richtete sich instinktiv auf und ging in Kampfstellung, leicht vorwärts gebeugt, mit angezogenen Schultern, die Fäuste erhoben, die Hufe eine Schulterbreite auseinander. Aber das Einzige, was sich vor ihm befand, war der glatte Rücken einer weiteren Statue, der die größten Teile des Oberkörpers einschließlich der rechten Hälfte des Kopfes fehlten.

Verdammt. Woher war Medusas Stimme gekommen?

»Eine unglückliche Wahl, Hellboy«, sagte sie, und dann drehte sich die beschädigte Statue um, schneller als Hellboy es für möglich gehalten hatte ...

... und er sah sich direkt dem Kopf der Medusa gegenüber.

Unwillkürlich trafen sich ihre Blicke, und alles in ihm erstarrte und wurde taub. Aus den Augenwinkeln sah er die kopflose Schlange – Medusa schien Untertanen ohne dieses entscheidende Körperteil zu bevorzugen – schwerfällig über den Boden gleiten, bis sie irgendwo unter ihm verschwand. Das einzig Beruhigende, das ihm auffiel, war, dass ihn dieses verfluchte Geschöpf ohne Kopf und Maul nicht fressen konnte. Ob sein Körper nun zu Stein wurde oder nicht, Hellboy war immer noch in der Lage zu sehen, und Junge, Junge, diese Medusa war einehässlicheBraut. Hervorstechende Wangenknochen, eine Knollennase und ein Mund voller kleiner, spitzer Zähne, umgeben von weit aufgesperrten rissigen Lippen waren nur ein paar ihrer zahlreichen Merkmale – nicht gerade eine Puppe, die Hellboy als Mutprobe gerne geküsst hätte, und schon gar nicht, wenn sie, wie gerade jetzt, ihre borstige Zunge zwischen den tödlich wirkenden Zähnen anzüglich hervorschnellen ließ. Ihre Haut war so grau wie die einarmige Statue, die den Schild trug, und unter der hohen, missgestalteten Stirn waren ihre Augen das Einzige mit etwas Farbe: Sie waren dunkelrot und mit schwarzen und gelben Flecken gesprenkelt wie der Blick einer maßlos hungrigen, teuflischen Katze.

Von ihrem sagenumwobenen Haar ganz zu schweigen.

Schlangen in Fülle, Hunderte davon, alle mit Fangzähnen und fiesen kleinen dreieckigen Köpfen, die sich wanden und zischten und nach allem schnappten, sogar nach einander. Zu blöd, dass sie nicht einfach die Hexe bissen, die sie zu ihrem ewigen Kopfschmuck gemacht hatte.

»Du hättest an meiner Seite herrschen können«, sagte Medusa fast traurig. Wenn sie sprach, zuckten die Schlangen und zischten lauter, als lägen sie im Wettstreit mit der Stimme ihrer Herrin. »Nun aber ...«

Hellboy dachte bei sich, dass Medusa, hätte sie denn einen Körper gehabt, enttäuscht das Haupt geschüttelt hätte wie über das Verhalten eines ungezogenen kleinen Jungen. Stattdessen aber starrte sie ihn mit tückischen Augen an. »Wie gefallen Dir meine Untertanen, Hellboy?«, fragte sie, als wäre er in der Lage zu antworten. »Nicht gerade das, was ich mir ausgesucht hätte, aber auf jeden Fall brauchbar. Die ursprünglichen Opfer meines Blickes harren nach all den Jahrtausenden immer noch meiner Befehle. Zu schade, dass sie in einem so schlechten Zustand sind.«

Der Kopf lächelte ihn an, und wenn Hellboy ihn zuvor schon hässlich gefunden hatte, war das noch nichts verglichen mit dem Anblick, wie sich ihr schrecklicher Mund jetzt zu einem Ausdruck der Heiterkeit verzerrte. »Sie erfüllen jedoch noch immer ihren Zweck, wie dieser Narr Paras herausgefunden hat.« Medusa lachte. Das Geräusch hallte Hellboy schrill in den Ohren, und am liebsten wäre er zurückgewichen. Allmächtiger, dachte er, war es den anderen Statuen all die Jahrtausende so ergangen – hatten sie hören, sehen und denken können, ohne in der Lage zu sein, irgendetwas zu unternehmen?

Drohte ihm nun das gleiche Schicksal?

»Paras hielt sich für klug«, fuhr Medusa fort. »Als er die Kiste öffnete, in der ich mich befand, hat er sich alle Mühe gegeben, das Verpackungsmaterial zwischen sich und meinem Schild zu halten. Doch als er mich aus der Holzkiste hervorholte, befand er sich an einem Ort, an dem auch viele meiner Untertanen aufbewahrt wurden – Museum nennt ihr so etwas, glaube ich.« Sie kicherte. »Er war ziemlich überrascht, als am anderen Ende des Raumes eine Frau aus Stein lebendig wurde und sich auf ihn stürzte. Er ist immer noch dort, musst du wissen, und wartet auf meine Befehle. Er gibt eine hübsche Statue ab.«

Moment mal, dachte Hellboy. Er lies probeweise seinen Blick nach rechts und dann nach links schweifen.

Ich kann noch immer meine Augen bewegen.

»Mein Leib existiert noch, Hellboy, tief verborgen in einer Höhle des Idagebirges auf Kreta. Und du wirst mich mithilfe deines makellosen Körpers und deiner unüberwindlichen Stärke zu ihm bringen, damit ich mich wieder mit ihm vereinen kann. Ich muss nur noch ein wenig warten, bis ich dich wiederbeleben kann, so wie ich es auch bei meinen alten Untertanen getan habe. Du wirst feststellen, dass du genauso gehorsam sein wirst wie sie, auch wenn du dabei leider die ... interessanteren ... Facetten deiner Persönlichkeit einbüßen wirst.«

Hellboy hörte sie kaum. Er konzentrierte sich ganz darauf, die Augen zu rollen, wieder und immer wieder, bis ihm, gefangen in dem seltsamen Stein, der ihn einschloss, allmählich schwindlig wurde. Aus Stein zu bestehen? Davor hatte er keine Angst – ein Teil von ihm war immer schon aus Stein gewesen und hatte trotzdem seinen Zweck erfüllt.

Warum sollte es mit dem Rest nicht genauso sein?

Die Stimme der Medusa war zu einem verträumten Singsang geworden, was es nicht angenehmer machte, ihr zuhören zu müssen, doch Hellboy konzentrierte sich auf sich selbst, bemühte sich, das Kribbeln, das er spürte, wenn er seine Augen bewegte, sich über sein Gesicht ausbreiten zu lassen, über seinen Hals und dann über seine restlichen Muskeln. »Sind mein Haupt und mein Leib erst einmal wieder miteinander vereint, werde ich meinen rechtmäßigen Platz als Herrscherin über diese Welt einnehmen. Ich werde die einzige Göttin sein, die unter den Sterblichen weilt und die Macht hat, über sie zu bestimmen. Nichts auf Erden wird mich aufhalten können. Tausende von Jahren habe ich auf den Augenblick gewartet, jene zu bestrafen, die ...«

Hellboy beugte die Arme.

Was immer auch Medusa hatte sagen wollen, sie verstummte mitten im Satz und riss die schrecklichen Augen auf. Hellboy grinste, glücklich darüber zu spüren, wie sich sein Mund weitete, wie die warme Kirchenluft in seine Lungen strömte, wie seine Zunge die Rückseite seiner Zähne berührte, als er sprach.

»Hallo, Liebling. Ich bin daheeeeim!«

Er hörte, wie sie ihn, unmittelbar bevor er sprang, anzischte, und dann drehte die Statue, die den Schild der Medusa hielt, ihm den Rücken zu, beschützte so den Schild und steckte den Hieb ein, mit dem Hellboy die hässliche, antike Fratze hatte zerschmettern wollen. Der ganze riesige Rücken der Statue zerbarst, und sie stürzte zu Boden, wobei ihr Gesicht und die unheimliche Kraft, die ihr Beweglichkeit verliehen hatte, ebenfalls auf der Strecke blieb. Aus einem Augenwinkel sah Hellboy, wie das Schild der Medusa schlingernd davonrollte, gegen die rückwärtige Wand der Kirche prallte und mit dem Gesicht nach oben liegen blieb. Er wollte ihm nachstürzen, stolperte jedoch – offenbar hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, dass sein neuer Steinkörper viermal so viel wog als sein gewohnter. Er kam nur mühsam und schwerfällig vorwärts, aber immerhin war er nicht so zerbrechlich wie die anderen Soldaten der Medusa. Der einzige Körperteil, der tatsächlich gelähmt schien – so versteinert, wie die Legenden behaupteten –, war seine Steinfaust.

Auch gut. Das mochte unbequem sein, aber wenn er sie nicht bewegen konnte, dann würde er sie eben als Rammbock benutzen.

Hellboy richtete sich auf und knallte gleich wieder lang hin, als sich etwas – diese verdammte kopflose Schlange – um seine Füße wand. Er begann auf die Schlange einzudreschen, musste jedoch feststellen, dass sie ein weit schwierigerer Gegner war, als er gedacht hatte. Geschwind schlang sie sich um seinen Schweif und seine Beine, und er musste sich anstrengen, um sie davon abzuhalten, sich bis zu seiner Brust hochzuwinden. Sie mochte ihn nicht verspeisen können, aber Hellboy wusste, dass große Schlangen – Boas und Pythons – ihre Beute töteten, indem sie sie erstickten, sie würgten und so lange festhielten, bis die gefangene Kreatur schlicht keine Luft mehr bekam.

Hellboy bekam den Leib der Schlange nicht zu fassen, fand keinen Spalt zwischen seinem eigenen Körper und dem der Schlange, um einen Griff anzusetzen. Seine andere Hand war so gut wie nutzlos – ihre Finger ließen sich überhaupt nicht bewegen. Einige Augenblicke balgte er sich vergeblich weiter mit dem Reptil, als ihm absurderweise ein altes Lied einfiel ...

»If I had a hammer, I’d hammer in the morning ...«

Hellboy krümmte sich vornüber und fing an, die Schlange im Tempo eines Presslufthammers mit Schlägen seiner leblosen Faust traktieren.

Er spürte jeden Hieb bis in die Zähne und sah, wie sich die Vibrationen im Körper der um sich schlagenden Schlange ausbreiteten. Auch wenn es ihm nicht gefiel, gänzlich aus Stein zu bestehen, so musste er doch zugeben, dass es seine Kraft merklich gesteigert hatte. Fünf Sekunden vergingen, und der Würgegriff lockerte sich so weit, dass er glaubte, wieder atmen zu können, und in der nächsten Viertelminute flogen Schlangenstücke in alle Richtungen, lauter kleine Explosionen aus zermahlenen Steinen und Splittern.

Er richtete sich zu voller Größe auf und breitete die Arme aus, wobei er brüllte wie ein zu groß geratener Gorilla, während er der nächsten Welle steingesichtiger Krieger entgegentrat, die nun in die Kirche drängten, zweifelsohne von einem telepathischen Befehl der Medusa gerufen. Ein allerdings ziemlich hoffnungsloses Vorhaben – die Macht der Medusa mochte sie in Soldaten einer kleinen Armee verwandelt haben, aber dieselbe Macht hatte Hellboy ohne es zu wollen in eine unbezwingbare Ein-Mann-Zerstörungsmaschine verwandelt. Wieder und wieder schlug seine doppelt versteinerte Faust zu und dezimierte die ohnehin schon gelichteten Reihen.

Bis schließlich nur noch Hellboy und das Haupt der Medusa übrig waren.

In der Gewissheit, dass wahrscheinlich bald weitere Statuen in die Kirche stürmen würden, sprang Hellboy über den Kopf der Medusa und wich dann instinktiv zurück, als die Haarschlangen wild zuckend nach ihm schnappten. Zum ersten Mal erkannte er, wie sehr er sich geirrt hatte – der Schild der Medusa bestand gar nicht aus Stein. Stattdessen sah er sich einem lebendigen Kopf gegenüber, der auf einer handgeschmiedeten Scheibe befestigt war, Fleisch, verschmolzen mit einem Metallring, in den Tausende Zeichen graviert worden waren – zweifellos alte griechische Zauberformeln, dazu bestimmt, den Kopf zu zerstören oder wenigstens zu bannen. Es würde Hellboy nie gelingen, diese Zeichen rechtzeitig zu entziffern, um ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, und es dauerte nur eine Sekunde, um festzustellen, dass er den Schild nicht würde zerbrechen können ...

Also blieb doch wieder nur die Haudrauf-Methode.

Ohne auf den widerlichen Schlangenknäuel zu achten, bückte sich Hellboy und packte den Schild. Die Kreaturen in Medusas Haar fielen über ihn her, doch ihre langen Fangzähne konnten der Steinhaut, die er dem Blick ihrer Herrin verdankte, nichts anhaben. Das Metall fühlte sich selbst für ihn unangenehm heiß an, und er musste dem Drang widerstehen, es fallen zu lassen, bevor seine Arbeit getan war. Stattdessen begann er buchstäblich mit dem Schild zu kämpfen, drosch auf es ein, versuchte, es zu zerbrechen oder wenigstens zu verbiegen – versuchte, diesem scheinbar unzerstörbaren Stück göttlicher Rüstung irgendwie Schaden zuzufügen.

Nichts.

»Verdammt!«, brüllte Hellboy. Kopf und Haare schnappten immer noch nach ihm – diesmal versuchten die Schlangen es mit einer neuen Taktik und stürzten sich auf seine Augen, den einzigen Stellen an seinem Körper, die wahrscheinlich noch verletzlich waren. Frustriert schleuderte er den Schild zu Boden; diesmal kam er mit dem Gesicht nach unten zu liegen, und Hellboy ließ seinem Zorn freien Lauf. Er sprang darauf, wieder und immer wieder, und jedes Mal ließ er das Gewicht seines steinbeschwerten massigen Körpers herabsausen, wie ein Kind, das auf einem verhassten Spielzeug herumstampft.

Unter ihm steigerten sich die Schreie Medusas zu einem ohrenbetäubenden Crescendo, aber ... bemerkte er da eine Veränderung, wurde die schreckliche Stimme etwa schwächer? Und war das eine Delle in der Mitte des Schildes?

Noch ein mächtiger Sprung und noch einer und immer noch einer. Irgendwo in seinem Schädel hörte Hellboy ein Kreischen, bei dem ihm schier das Gehirn zerbarst, und dann gab der Schild unter ihm nach. Mit einem Ächzen hielt er inne, beugte sich hinab und starrte konzentriert auf ein spinnwebenartiges Muster aus Rissen, das sich auf der Rückseite des Schildes spiralförmig von der Mitte zum Rand hin ausbreitete. Etwas Dunkles, Feuchtes und unglaublich Ekelerregendes rann unter dem Schild hervor – Götterblut vielleicht, etwas, das nicht für gewöhnliche Menschenaugen bestimmt war. Während Hellboy ihn angaffte, begann der Schild plötzlich zu zittern, und das zerbeulte, unebene Metall knüllte sich zusammen und wurde vor seinen Augen zu Stein. Medusas Rache hatte sich gegen sie selbst gerichtet. Auch die schwarze Pfütze unter dem Schild wurde hart und begann sich zu verwandeln, wurde heller und heller, bis nur noch feinster Steinstaub übrig war.

Und endlich verstummte das Haupt der Medusa.

Zögerlich griff Hellboy nach dem Rand des zerstörten Schilds und drehte die Vorderseite nach oben. Das Scheppern, mit dem es auf dem gekachelten Boden der stillen Kirche zu liegen kam, war derart fehl am Platze, dass Hellboy sich schuldbewusst umsah, ob er nicht jemanden gestört hatte. Auf dem Boden zu seinen Füßen barg das Schild immer noch das Antlitz der Medusa, doch jetzt war es erstorben und mit Rissen und Absplitterungen bedeckt.

Aber Hellboy traute dem Frieden nicht.

Ein hohes Marmorkreuz lehnte an der Wand. Hellboy sprang zu ihm hinüber, hob es hoch, erfreut über sein enormes Gewicht, und kehrte mit ihm zurück zu dem Schild, das sich in den paar Sekunden nicht verändert hatte ...

So schien es wenigstens.

Oder auch nicht. Sah er da etwas Böswilliges in den toten Augen der Medusa aufblitzen, während sie blind zu ihm hinaufstarrten?

Gut möglich.

Aber darum konnte er sich kümmern.

Als wollte er einen pervertierten Vampir pfählen, rammte er der Medusa die Spitze des Marmorkreuzes in die Stirn.

Und der Schild zerbarst in tausend Stücke ...

Es dauerte fast drei Tage, bis die Haut aus Stein, die seine eigene bedeckte, sich endlich abpellen ließ.

In dieser Zeit juckte das darunter liegende Fleisch unbarmherzig, und Hellboy kratzte sich unablässig, während er auf das Ende der Häutung wartete. Immer wenn er zu fluchen anfing oder bemerkte, dass ihm die Gäule durchgingen, sah er sich in dem einst so malerisch schönen Dorf auf der griechischen Insel um und ermahnte sich, dass es für ihn hätte schlimmer ausgehen können.

Viel, viel schlimmer.

Denn mit der Zerstörung des Hauptes der Medusa ging die Befreiung – und Wiederauferstehung – ihrer Opfer einher.

Auch von den wiederbelebten Statuen fiel die Steinhaut ab, und sie verwandelten sich zurück in Körper aus Fleisch und Blut – Körper, die entweder im Kampf gegen Hellboy oder im Lauf der Jahrhunderte Teile ihrer selbst eingebüßt hatten. Die antiken Gestalten waren verstümmelte Abscheulichkeiten, ins Leben zurückgerufen mit fehlenden Gliedmaßen und Köpfen, mit klaffenden Wunden, wo ganze Stücke herausgebrochen waren. Wenn sie noch einen Mund hatten, dann schrien sie vor Schmerz und Angst, doch konnten weder sie, noch die seltsamen mythischen Kreaturen, die ebenfalls ins Leben zurückkehrt und mit ihnen verschmolzen waren, durch eigenes Tun sterben.

Und so machten sich jene Dorfbewohner, die nun, da das Schlimmste endlich überstanden war, aus ihren Verstecken hervorkamen, daran, dem Grauen ein Ende zu setzen.

Auch die jüngsten Opfer Medusas wurden wieder zu Fleisch, doch die meisten von ihnen waren tot oder in ebenso schlechter Verfassung wie die antiken Gestalten. Ihnen konnte nicht mehr geholfen werden, und sie ereilte alle das gleiche Schicksal. Mit von Trauer gezeichneten Mienen gingen die Dorfbewohner ihrer finsteren Tätigkeit nach und bahrten dann alle Leichname – alte wie neue – Seite an Seite auf.

Die Männer des Dorfes fanden Jason Paras, der zwar von seiner Steinhaut befreit worden war, aber immer noch ziellos im Kellergeschoss des kleinen örtlichen Museums umherirrte. Durch eine ironische Fügung des Schicksals war der Amateurarchäologie unversehrt geblieben. Er beharrte darauf, geschlafen zu haben und von Albträumen geplagt worden zu sein. Alle hielten ihn für verrückt.

Das Einzige, worüber er seit diesem Tag spricht, ist ein Traumbild, das ihn nicht mehr loslässt.

Schlangen.

PUZZLE

Stephen R. Bissette

Oh, wie sie es genoss, ihn zu berühren, besonders früh morgens, wenn er noch schlief! Seit sie ihn kannte, arbeitete Guy bei den verschiedenen Jobs, die er hatte, die Nachtschichten durch. Er kam nach Hause, wenn die Nacht verblasste, zog sich leise aus, um ins Bett zu schlüpfen, und weckte Francine, während er einschlief. Das war sein Ritual, ihr Ritual in den fünf Jahren, die sie nun zusammenlebten. Sie war sein Anker, sein Rückzugsgebiet, seine Erlösung, und sie teilten ihre wenigen gemeinsamen wachen Stunden und Sonntage mit niemandem.

Nichts anderes hätte sie sich gewünscht. Obwohl sie, wenn nötig, seine Klagen erduldete, verliehen sie ihrer gemeinsamen Zeit eine Dringlichkeit, der sie sich ganz hingab. Sie hatten einen einzigartigen gemeinsamen Rhythmus gefunden, der sie von allem und jedem um sie herum fernhielt, und seine Arbeitszeit trug entschieden dazu bei, sich die Welt vom Leib zu halten.

Und es war ein Segen, wenn Guy schlief.

Ein Segen für sie. Nur für sie, mit ihm zusammen.

Wie bei einer Biene, die Blütenstaub zurück zum Bienenstock trägt, haftete ihm stets der Geruch seiner derzeitigen Arbeitsstätte an. In letzter Zeit teilten Francine und Guy den Moschusduft des Hospizes, wo sie sich kennengelernt, aus deren Station, die zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen einer Höhle glich, sie sich davongeschlichen hatten. Das Hospiz war ihr gemeinsamer Arbeitsplatz, einen kurzen Spaziergang von ihrem Appartement entfernt. Die Patienten des Hospizes waren ihre Ersatzkinder, um die sie sich kümmerten, für die sie Mitleid empfinden, die Gerüche des Hospizes etwas, an das sie sich klammern konnten. Die Gerüche ihrer Welt und ihrer Körper vermengten sich in der Bettwäsche wie Küsse nach einem Kaffee, ihre Zungen schwer vom erdigen Nachgeschmack der wachen Stunden.

An diesem Morgen roch er nicht wie üblich nur nach Schweiß, sondern auch nach einer ihr fremden Mischung, an die sie sich langsam gewöhnte, einer Mischung aus Staub, Reinigungsmitteln und Feuchtigkeit, Überbleibsel seiner Hausmeisterpflichten an der Faculté de Médecine. Zu diesem Nebenjob am Wochenende musste er mit der Metro hin und her pendeln, aber sie brauchten das Geld, und Guy war über das zusätzliche Einkommen sehr froh.

Aufgrund der Arbeitszeiten blieb ihnen nur noch wenig Zeit füreinander, worüber er sich manchmal beklagte; sie aber genoss insgeheim die Morgenstunden. Die Stunde, wenn er friedlich dalag wie ein Baby, gehörte ihr und wurde von niemandem gestört. Diese Stunde war ihr Kraftquell und ihre Wonne und erinnerte sie an den Morgen, als sie sich in ihn verliebt hatte.

Sonntagmorgens konnte sie sich in Ruhe an ihm laben: sanft, sachte und ohne sich wie ein Dieb zu fühlen, der sich verstohlen umblicken muss. Sie genoss das schimmernde Licht, das langsam ihr Schlafzimmer erhellte, seine kurz geschnittenen blonden Haare, seine glatt geschwungenen Augenbrauen und die schön geformten Flanken seiner kindlichen Nase, seine zarten Wimpern, seine schmalen Lippen, das schwache Pulsieren seiner Kehle und das Auf- und Absinken seines haarlosen Brustkorbs. Er sah immer noch wie ein Teenager aus.

Die Berührungen der morgendlichen Sonnenstrahlen verführten ihre Finger dazu, es ihnen nachzutun.

»Chéri ...«

Manchmal sank er trotz ihrer Flüsterworte und Liebkosungen in tiefen Schlaf, manchmal weckte sie ihn, und dann gehörte der Morgen ihnen. Das war zwar auch wunderbar – doch wenn ihre Berührungen den Schleier des Schlafes nicht zu lüften vermochten, hörten die Zeiger der Uhr auf sich zu bewegen, und weder der Lärm der sonntäglichen Kirchenglocken, noch die Geschäftigkeit auf dem Boulevard Richard-Lenoir konnten zu ihm durchdringen, und er gehörte ganz ihr.

Ganz ihr, wie immer, so schien es.

Und wie immer fragte sie sich, was er träumte.

Er konnte die Umrisse des großen Mannes, der sein Gesicht in Fetzen pflückte, kaum erkennen. Blut rann ihm in die Augen, und so sehr er sich auch anstrengte zu blinzeln, um etwas zu sehen, es half nichts. Ohne Augenlider bereitete ihm der Drang zu blinzeln nur Schmerzen. Bis zu einem gewissen Grad war es ihm auch egal, ob er sehen konnte oder nicht. Er konnte warmes Blut spüren, schmeckte es in seinem Mund.

Was sollte er, da er keine Lippen mehr hatte, auch dagegen tun?

Trotz des Singens und Weinens der Kinder konnte er die Musik der Schneidwerkzeuge und das aufdringlich schmatzende Flüstern hören, wenn sie ihr Werk verrichteten. Ein metallischer Stich kreuzte seinen Haaransatz, die von der Klinge gezogene Furche glitt in seine Augenbraue und tief hinab in das, was von seiner Wange verblieben war. Das Schneiden fand scheinbar kein Ende, doch er wusste, dass es bald vorüber sein musste. Wie lange konnte es noch dauern, bis sie alles Fleisch von seinem Schädel entfernt hatten?

Dann hörte er das kalte Scheppern einer Säge und spürte, wie sich ihre Klinge gegen seinen Kiefer presste.

Wie aufs Stichwort brach der Gesang ab, und ihm folgte das einladende Gluckern von fließendem Wasser. Kalt stechend floss es über und in seine Wunden, über sein geschundenes, eingefrorenes Grinsen und zwischen seine verbliebenen Zähne. Instinktiv schluckte er es, umfing es mit dem Stumpf seiner Zunge, reckte seinen Hals der Quelle entgegen, bis der Wasserstrom auf seine lidlosen Augen traf und für einen Augenblick sein Blickfeld reinwusch.

Immer noch stand der große, mit einer Robe bekleidete Mann über ihm und hielt nun die Knochensäge feierlich in die Höhe.

Arkane Symbole zierten die Robe, Flecken dunklen Blutes und Fleischstückchen verschandelten ihre Muster. Dennoch stach ein Symbol hervor: ein Bogen in einem Quadrat, zweigeteilt von einem Schwert.

Weitere Gestalten standen hinter und über dem Mann, und kreischende Vögel und johlende Kinder waren zu hören. Doch nur den Chirurgen konnte er sehen, der ihn methodisch sezierte, die Haut von den Muskeln löste, die Sehnen von den Knochen, Backenzahn um Backenzahn.

Der Chirurg beugte sich zu ihm herab und flüsterte ihm mit einer tiefen, fast lautlosen, teutonisch klingenden Stimme zu: »Ich werde dir von deinem Vater erzählen ...«

Wie vom Blitz getroffen wurde er wach, krachte mit den Stümpfen seiner Hörner gegen das Kopfende des Bettes und zertrümmerte es kurz darauf unabsichtlich, als er mit seiner übergroßen rechten Hand um sich schlug. Seine steinernen Knöchel demolierten das trockene Holz, als ob es aus Pappe wäre. Sein Schweif peitschte unter der Bettdecke hervor und traf den Nachttisch, sodass die Lampe, das Telefon und das Notizbuch über den Teppich segelten.

»Die B.U.A.P. wird nicht ewig für die anfallenden Schäden aufkommen«, sagte der kalte Mann, der auf der anderen Seite des Zimmers auf einem Stuhl saß und las.

»Himmel«, hauchte Hellboy und legte seine linke Hand auf seine Augen.

»Alles in Ordnung?«, fragte der kalte Mann und blickte von seinem Buch auf.

Zaghaft berührte Hellboy sein Gesicht und war froh, seine Bartstoppeln, Augenbrauen und den Rücken seiner Knollennase zu spüren. Die Eindringlichkeit des Albtraums ließ ihn das Gesicht verziehen, und er schüttelte sich, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Seine Zunge glitt über seine Zähne – alle noch da – und seine Lippen, die zum Glück noch heil waren. Er beugte sich vor, wobei er sich immer noch den Kopf hielt, und räusperte sich.

»Ja, Abe«, sagte er, »mir geht’s großartig.«

Abrahams Kiemen flatterten, wie immer, bevor er sprach.

»Vergiss es«, murmelte Hellboy. »Das sind nur Träume ...«

»Träume, in denen dein Schädel gehäutet und seziert wird.« Als er das Buch in seinen Schoß legte, verriet Abrahams amphibischer Blick nichts von der Anteilnahme, die in seiner Stimme mitschwang. »Ich gebe der Zentrale Bescheid«, sagte er. »Konntest du diesmal mehr erkennen?«

Hellboy setzte sich an die Bettkante und ließ seine Hufe auf den Boden poltern. Er tastete nach dem Telefon und schob den zerbrochenen Lampenschirm beiseite, um den Hörer abzunehmen. Für einen Moment war er damit beschäftigt, das Durcheinander aufzuräumen, schraubte die Glühbirne der wieder aufgerichteten Lampe fest und grunzte zufrieden, als das Licht aufflackerte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem zertrümmerten Kopfende seines Bettes zu und fuhr mit einem angeschwärzten Fingernagel über die Stelle, die seine Faust getroffen hatte.

Nur das feuchte Schmatzgeräusch von Abrahams Atem dämpfte die Stille, die den Raum erfüllte.

»Ich kann die Symbole auf der Robe fast erkennen«, flüsterte Hellboy. »Aber da ist überall zu viel Blut. Das sind alchemistische Zeichen, da bin ich sicher. Und ...«

Abes klebriges Ein- und Ausatmen.

Hellboy bückte sich, um das Briefpapier des Hotels aufzuheben. Der obere Rand jedes Blattes wurde vom verschnörkelten Wappen des Hotel de la Cathédrale geschmückt, eingerahmt von grienenden Wasserspeiern.

Hellboy hielt einen Augenblick inne, ließ den Stift auf dem Bärtchen an seiner Unterlippe ruhen und begann, das Symbol von der Robe zu zeichnen, das er in seinem Traum gesehen hatte: eine Bogenlinie in einem Quadrat, das von einem abwärts zeigenden Schwert geteilt wurde. Die Klinge war gekrümmt und entsprach damit nicht den herkömmlichen europäischen Kreuzigungssymbolen: dies war kein Kreuz. Er gab Abe die Zeichnung und ging zum Fenster.

Dort draußen erwiderten die Wasserspeier von Notre Dame seinen Blick.

»Da war noch was. Er hat etwas zu mir gesagt. Auf Deutsch.«

Die Augen der Wasserspeier bargen keine Regung. Wie Abes lidlose Augen verrieten sie nichts.

»Irgendwelche großartigen Versprechungen über ... meinen Vater.«

Abe drehte den Kopf, als wäre er in den Anblick der Vorhänge oder des Bidets versunken. »Wir haben die Sache mit den Cocteau-Erscheinungen so gut wie abgeschlossen. Manning meinte, das in Paris noch etwas anderes vorgeht«, stellte er tonlos fest, »aber er hat nichts darüber gesagt, dass es etwas mit dir zu tun hat. Du schnappst um so mehr Informationen auf, je mehr wir uns dem Ursprung nähern.«

»Die Sache hat nichts Psychisches an sich«, grummelte Hellboy. »Äußerst lästig, das alles ...«

»Liz ist da anderer Meinung. Manning auch.«

Hellboy sah Abe herausfordernd an. »Und was meinst du?«

Dieses fischige Grinsen, das nichts verriet. »Kannst du dich sonst noch an etwas erinnern?«

Hellboy berührte wieder sein Gesicht, fuhr gedankenverloren mit den Fingern seinen Kiefer entlang.

»Eine Knochensäge. Der Schweinehund hatte eine Knochensäge. Diesmal wollte er meinen Kiefer auseinandernehmen.«

»Schau ein bisschen fern«, sagte Abe besänftigend. »Ich werde die B.U.A.P. anrufen, sobald du dich wieder gefangen hast. Außerdem werde ich die Zeichnung scannen und faxen.«

Hellboy verließ das Fenster und ging zum Bett. Er schlug die Decke zur Seite und ließ sich mit zusammengebissenen Zähnen auf die Kissen sinken. »Jau, ganz toll, französisches Fernsehen«, murmelte er. »TF1, FR2, M6, La Cinque – nur hirnlose Unterhaltungssendungen. An denen habe ich mich längst sattgeguckt. Ich vermisse die britischen Nachrichtensendungen, die uns Liz letztes Wochenende gezeigt hat. Die hatten einige ganz lustige Ansichten über die Franzosen.«

»Bis wir die noch offenen Fragen der Cocteau-Erscheinungen geklärt haben, sitzen wir fest«, erinnerte ihn Abe. »Außerdem nehmen deine Albträume zu, was für die Behörde Grund genug ist, hier noch länger aktiv zu bleiben. Fang also besser damit an, Französisch zu lernen oder ein paar SECAM-Videos aufzustöbern.«

»Entzückend. Sei so nett und geh dich in der Badewanne einweichen.«