Henner at home - Annette Biemer - E-Book

Henner at home E-Book

Annette Biemer

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Beschreibung

Die couragierte Polin Milena hat das Leben des einst rückständigen Junggesellen Henner völlig auf den Kopf gestellt. Doch die Probleme, die Milena eigentlich durch eine gemeinsame Flucht Richtung Osten lösen wollte, erweisen sich als hartnäckig. Bei ihrer Rückkehr in Henners Heimatdorf ist guter Rat teuer. Doch zum Glück gibt es Henners Kumpel Mo, der mit allen Wassern gewaschen ist und kurzerhand einen Plan ausheckt. Und schließlich gibt es auch noch etwas zu feiern. Bei dem großen Fest, welches schnell aus dem Ruder läuft, geben sich die verrücktesten Dorfbewohner und Zeitgenossen die Klinke in die Hand.

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Reimund Bender

ist im Hauptberuf Förster und lebt mit seiner Frau im mittelhessischen Hohenahr. Er leitet seit Jahren kreative Schreibgruppen und ist Mitglied in der Autorengruppe Braunfels, mit der er immer wieder Lesungen zu bestimmten Anlässen und Themen durchführt. Im Mittelpunkt seiner Autorentätigkeit stehen Geschichten mit Humor, Spannung und Regionalbezug.

Annette Biemer

lebt mit ihrem Mann im mittelhessischen Wetzlar, wo sie auch die Text- und Kulturwerkstatt ausdrucksSTARK betreibt. Da sie nichts weniger mag als Routine, genießt sie es, mit Künstlern und anderen Kreativen zu arbeiten. Im Laufe der Jahre sind zahlreiche Bücher erschienen. Besonders am Herzen liegen ihr regionale Eigenheiten sowie charmante Charaktere.

Joscha Bender (Cover)

ist Diplomkünstler und studierte als Meisterschüler Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Er arbeitet gegenständlich figurativ mit Materialien wie Stein, Bronze und Gips. Seine Arbeiten werden in unterschiedlichen Galerien deutschlandweit gezeigt, sind in Sammlungen vertreten und wurden mit Stipendien ausgezeichnet. Außerdem malt er gerne Illustrationen für seinen Volleyballverein, die nach jedem Sieg in den sozialen Medien veröffentlicht werden.

Die Personen im Roman sowie Henners Heimatdorf und einige Details aus den vorkommenden Orten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit oder Namensgleichheit wäre rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Coming Out? Oder besser nicht?

So viel passiert in kurzer Zeit

Damals mit Bartek

Entwicklung à la Henner

Henner kümmert sich

Milena macht sich Sorgen

Am See

Die leidige Bürokratie

Was Mo wohl ausheckt?

Die Urnenbeisetzung

Kurzschlusshandlung

Kommt er oder kommt er nicht?

Ein Plan muss her

Schnappt die Falle zu?

Im Henschel'schen Bunker

Ein Hoch auf Mo

Die Gedanken sind frei

Der Einladungsmarathon beginnt

Im Supermarkt

Alles eingekauft?

Nachbarn – eine Spezies für sich

Unterstützung naht

Die letzten Vorbereitungen laufen

Es geht los

Ein Gast von weiter weg

Halbzeit

Ab in den Keller

Elvira und die Saububen

Die schweren Kaliber

Ende gut, alles gut

Coming Out? Oder besser nicht?

Henner stieg die Kellertreppe hinunter in sein geheimes Reich, in dem er schon seit geraumer Zeit aus Schrott Kunstwerke der besonderen Art fertigte. Sven, dem Kunststudenten, den er und Milena bei ihrer wilden Reise gen Osten kennengelernt hatten, hatte er von seiner heimlichen Leidenschaft erzählt. Im Dorf jedoch wusste niemand so recht, was er im Keller so trieb. Zwar war allen klar, dass der Anfang vierzig jährige Henner ein komischer Kauz war und bestimmt eigenartige Sachen vollbrachte in der vielen Freizeit, die er als Frührentner besaß, aber Kunst? Nein, auf Kunst würde bei ihm ganz bestimmt niemand kommen. Bei ihm, der jeden Tag nur mit Blaumann und uralten braunen Lederschuhen durch die Gegend lief und auf sein Äußeres gar nicht achtete! Der immer etwas ungepflegt wirkte ob seiner wirren, strähnigen blonden Haare! Bei Künstlern stellte man sich ja häufig komische Käuze vor, aber bei Henner versagte das Klischee. Er wirkte einfach zu echt, zu bodenständig. Was er ja auch war. Retro war bei ihm kein Lebensstil, es war einfach aus seiner Sicht normal. Wobei sich schon sehr viel geändert hatte, seit er mit Milena unter einem Dach lebte. Henner war in den wenigen Wochen selbständiger geworden, als in den ganzen Jahren zuvor. Was wahrscheinlich auch daran lag, dass Milena nicht gewillt war, die Rolle seiner seligen Mutter Else, die Henners Alltag fest im Griff gehabt hatte, zu übernehmen.

Dass Milena sich mit einem wie ihm einließ, konnte er kaum fassen. Er schmunzelte verträumt bei dem Gedanken an sie, an ihre braunen Augen und ihre langen, braunen Locken.

Vielleicht sollte Henner bei der Dorffete, die er und Milena demnächst zur Feier ihrer Rückkehr von der großen Reise planten, ein Coming Out wagen, ging es ihm durch den Kopf. Wobei: Mit dem Begriff Coming Out konnte er nicht viel anfangen Wahrscheinlich hatte er ihn noch nie gehört und wenn doch, so konnte er ihn sicher nicht zuordnen. Henner grübelte, wie das wohl vonstattengehen könnte. Am besten erst mal warten, bis alle betrunken sind, dachte er. Das würde schnell gehen.

Henner selbst trank ja nichts. Das hieß, natürlich trank er, aber keinen Alkohol. Seit er vor mehreren Jahren einen Unfall gebaut und sich dabei den Rücken versaut hatte, rührte er keinen Tropfen mehr an. Er trank Traubensaft, wann immer er welchen bekam.

Wenn also alle bei guter Laune wären, könnte er auf einen Stuhl steigen und um Aufmerksamkeit bitten: „Hört mal kurz alle zu, ich muss euch etwas beichten!“ Henner verwarf den Gedanken so schnell, wie er ihn gefasst hatte. Peinlich wäre das. Wahrscheinlich würden die Leute einen Arzt rufen, weil sein Kopf dunkelrot vor Scham sein würde.

Überfordert von seinen eigenen Gedanken, vertagte Henner die Überlegungen in Sachen Kunst.

So viel passiert in kurzer Zeit

Während Henner im Keller vor sich hin werkelte, blieb Milena erschöpft und zugleich erleichtert am Küchentisch sitzen. Nun war sie also wieder hier im Hause Henschel, zusammen mit Henner, dass diesem nun alleine gehörte, seit seine Mutter Else so tragisch ums Leben gekommen war. Milena nippte an ihrem Kaffee und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Es war noch gar nicht so lange her, da war sie aus Polen nach Deutschland gekommen, um in der privaten Pflege zu arbeiten. Doch am Ende hatte sie es nicht mehr ausgehalten bei dem alten Herrn, den sie betreute und war geflohen. Was es bedeutete, weglaufen zu müssen, kannte sie. Schließlich war sie zuvor nach Deutschland gekommen, um ihrem Ex Bartek aus dem Weg zu gehen.

Das Kapitel Pflege war seit ihrer Rückkehr von der Reise mit Henner abgeschlossen.. Die ‚Tochter des Alten‘, wie die einzige Angehörige des zu Pflegenden von ihr genannt wurde, hatte Milena das Leben schwer gemacht. Milena hatte Geld des alten Herrn gefunden und behalten: ihr persönliches Schmerzensgeld. Mit Hilfe von Henners bestem Freund Mo war es hoffentlich gelungen, die aggressive Frau ein für alle Mal abzuschütteln.

Beim Gedanken an Mo musste Milena schmunzeln. Ohne Mos Hilfe hätte vieles nicht funktioniert und würde auch vieles in Zukunft nicht laufen, darüber war Milena sich im Klaren. Mo betrieb eine Kfz-Werkstatt, die im Grunde weit mehr war als das. Vielmehr fungierte sie als eine Art Kommandozentrale des ganzen Dorfes. Hier trafen sich die üblichen Verdächtigen, um zu rauchen, zu trinken und Heavy-Metal-Musik zu hören. Mo hatte Milena nach ihrer Flucht vor dem Alten mit Koffer und erhobenem Daumen an der Straße stehend aufgegabelt und mitgenommen. Das war der Tag, an dem sie Henner kennenlernte. In Gedanken versunken, schüttelte Milena den Kopf. Obwohl sie sich an jenem Tag schon ordentlich den Frust von der Seele getrunken hatte, konnte sie sich noch genau an den Moment erinnern, als dieser unglaublich hinterwäldlerisch aussehende Mann in Blaumann den Raum betreten und etwas davon gefaselt hatte, dass es seiner Mutter nicht gut ginge. Dabei hatte diese zu jenem Zeitpunkt bereits tot im Schuppen gelegen.

Obwohl Milena selbst gut Hilfe hätte gebrauchen können, kümmerte sie sich um Henner. Damals war die Angst vor der Tochter des Alten noch ein Thema. Die Sache mit dem Geld war noch nicht geklärt und Henner hatte sie schließlich auf ihre Reise Richtung Polen begleitet. Mit Unimog und Miniwohnanhänger unterwegs hatten sie viele skurrile Momente erlebt. Dass sie schlussendlich nie in Polen angekommen waren und Milena ihre Pläne, mit einer Freundin ein Café zu eröffnen, begraben musste, war jetzt nicht mehr wichtig.

Wenn ihr damals am ersten Tag jemand gesagt hätte, dass sie einmal bei diesem Eigenbrötler namens Henner Henschel bleiben würde, hätte sie laut gelacht. Nun aber musste sie feststellen, dass sie zusammen mit Henner glücklich war.

Unweigerlich sprangen ihre Gedanken von Henner zu ihrem Ex Bartek, mit dem sie immer noch verheiratet war. Zumindest auf dem Papier. Mit Bartek, ihrem hoffentlich letzten großen Problem, musste sie irgendwie fertig werden.

Milena ärgerte sich, dass sie noch immer nicht mit Henner über ihre ungeklärte Beziehung zu ihm gesprochen hatte.

Damals mit Bartek

Seufzend dachte Milena daran zurück, wie sie Bartek damals kennengelernt hatte. Sie erinnerte sich noch genau an das Wochenende im März. Ihre Schwester Maria hatte sie nach langem Hin und Her überredet, mit ihr tanzen zu gehen. Ihr Vater würde sich an diesem Abend um die kranke Mutter kümmern. Milena machte sich schließlich zum Ausgehen zurecht, obwohl sie am liebsten einfach nur früh zu Bett gegangen wäre. Die bleierne Müdigkeit war ihr ständiger Begleiter geworden. Doch Maria duldete keinen Widerspruch.

In der noch nicht lange geöffneten Disco empfing sie ein anderes Leben. In dem von grellen Lichtblitzen zerfetzten, mit lauter Musik beschallten Lokal schlugen sich viele junge Frauen und Männer die Nacht um die Ohren. Maria zerrte Milena sofort auf die gut gefüllte Tanzfläche. Es roch nach Schweiß, Alkohol und dem Rauch unzähliger Zigaretten. Die Bässe der Musik dröhnten in ihrem Körper. Sogar ihr rotes Kleid, das Milena schon lange nicht mehr getragen hatte, schien von dem dumpfen Hämmern der Bässe zu flattern. Nach einer guten halben Stunde mussten sie eine Pause einlegen.

Gerade wollten sie die Getränke bestellen, als der Barkeeper zwei Gin Tonic vor sie hinstellte. Er zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf zwei Männer an der gegenüberliegenden Seite der Bar. Die Frauen bedankten sich beide artig bei ihren Spendern, indem sie ihre Gläser hochhielten. Das verstanden die beiden jungen Männer als Aufforderung, zu ihnen zu kommen.

Milena klopfte das Herz bis zum Hals. Der größere der beiden Typen, breitschultrig, mit dunklen gegelten Haaren und einem Dreitagebart, setzte sich auf den freien Barhocker rechts neben ihr. Er hielt ihr sein Glas entgegen und sagte mit freundlicher, dunkler Stimme: „Prost.“ Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihr Glas gegen seines zu stoßen und so zu tun, als wenn sie trinken würde. Der kleinere der beiden Männer, der sich neben Maria hockte, trug eine schwarze kurze Lederjacke über einem hellen Shirt mit V-Ausschnitt. Seine weißen Zähne blitzten beinahe unnatürlich auf in dem Schwarzlicht der Bar. Er knipste schelmisch ein Auge zu, als er mit Maria anstieß.

Milena musste zugeben, dass ihr der lässig gekleidete Typ, der sie mit fast schwarzen Augen fixierte, gefiel. Er lächelte sie freundlich, ohne eine Absicht zu verraten, an. Er hieß Bartek. Sie nannte ihm ihren Namen. Ein vorsichtig abtastendes Gespräch über Belanglosigkeiten überdeckte die anfängliche Unsicherheit. Der weitere Verlauf des Abends verschwamm zu einem nebulösen Rest aus viel Alkohol, wildem Tanzen und unverfänglichen Gesprächen mit den beiden Männern an der Bar.

Dass Bartek ihr Mann werden würde, ahnte sie an diesem Abend noch nicht. Noch weniger, dass sie es fast acht Jahre mit diesem Mistkerl aushalten sollte. Auch nicht, dass sie vor seinem ständigen Telefonterror nach Deutschland würde fliehen müssen. Dabei hatte sie damals fest daran geglaubt, den richtigen Mann für ihr Leben gefunden zu haben. Bartek war zumindest am Anfang ihrer Beziehung ein echter Gentleman gewesen. Er besaß Manieren, war charmant, klug, rücksichtsvoll und las Milena jeden Wunsch von den Lippen ab. Im Nachhinein betrachtet waren die ersten beiden Jahre ihrer Beziehung mit die glücklichste Zeit ihres Lebens.

Bartek studierte Elektrotechnik, genau wie sein bester Freund, der später Marias Mann wurde. Milena plagte anfänglich ihr schlechtes Gewissen, wenn sie sich voller Vorfreude für das Treffen mit Bartek zurechtmachte. Sie dachte an ihre kranke Mutter und den überforderten Vater. Doch sobald Bartek neben ihr im Kino saß und er sanft ihre Hand streichelte, trat sie in ein anderes Leben ein. Milena ließ viel Zeit verstreichen, bis sie mit Bartek eine erste gemeinsame Nacht in einem Hotel verbrachte. Er zeigte Verständnis, wartete geduldig, bis Milena den ersten Schritt machte. Gleich in jener Nacht, in der sie das erste Mal miteinander schliefen, machte Bartek ihr einen Heiratsantrag. Sie nahm ihn ohne zu zögern und überglücklich an.

Die Gärtnerei der Eltern, in der Milena mitarbeitete, wurde verkauft. Die Eltern wollten ihrem Glück nicht im Wege stehen. Ein dicker Stein fiel Milena vom Herzen.

Bartek war ein einfühlsamer Liebhaber, kein Draufgänger, der nur an seine eigene Lust dachte. Damit gewann er vollends Milenas Vertrauen. Maria hatte mittlerweile Barteks Freund Josef geheiratet. Sie erwartete ihr erstes Kind von ihm. Auch Milenas Gedanken kreisten immer häufiger um das Kinderkriegen. Bartek war nicht grundsätzlich dagegen. Schließlich konnte sie ihn von ihrem Kinderwunsch überzeugen.

Doch leider lief es nicht nach Plan. Am Anfang dachte Milena, es läge an ihr. Dass sie zwar ein Kind wollte, aber wegen ihrer bisherigen Enttäuschungen mit Männern irgendetwas in ihr noch nicht dazu bereit wäre. Sie ging zu ihrer Frauenärztin. Die beruhigte sie, dass mit ihr alles in Ordnung wäre. Da sie trotz weiterer Versuche nicht schwanger wurde, versuchte sie Bartek zu überreden, sich untersuchen zu lassen. Er wich ihr zunächst aus. Das würde schon werden. Sie bräuchten einfach noch ein wenig Geduld. Doch es funktionierte nicht. Das Thema hing wie ein Damoklesschwert über den beiden. Bartek zog sich mehr und mehr zurück. Milena beschloss, ihn nicht mehr zu drängen, sich untersuchen zu lassen. Ein klärendes Gespräch brachte eine Weile Frieden.

Doch der währte nicht lang. Bartek verbrachte seine Freizeit mittlerweile hauptsächlich vor dem Fernseher. Als Milena eines Abends ihren Mann damit konfrontierte, dass sie ausgehen würde, mit oder ohne ihn, war das der Anfang vom Ende. Bartek trottete wie ein Leibwächter hinter ihr her. Als ein blonder, hochgewachsener Typ in einem engen muskelbetonenden weißen Shirt Milena um Feuer für seine Zigarette bat, rastete er aus. Er schlug dem verwirrt dreinblickenden Typ mit voller Wucht die Zigarette aus der Hand. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der schrie ihn an, ob er bescheuert wäre. Bartek stürzte sich ohne Vorwarnung auf ihn.

Stieß ihm mit beiden Händen vor die Brust. Der blonde Typ geriet ins Straucheln und fiel rückwärts auf einen Tisch. Das Chaos war perfekt. Gläser gingen zu Bruch, zwei junge Frauen gingen mit zu Boden und schrien. Bartek blickte wie ein in die Enge getriebenes Tier hin und her. Er stand da, die Hände zu Fäusten geballt und starrte, zu allem entschlossen, Milena an. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und rannte, noch ehe er sie festhalten konnte, aus dem Lokal. Noch in derselben Nacht packte Milena ihre nötigsten Sachen und ließ sich mit einem Taxi zu ihren Eltern bringen. Sie ahnte, dass es mit Bartek ein für alle Mal vorbei war. Bartek selbst rief erst zwei Tage später an. Sie ließ sich verleugnen. Am Abend des dritten Tages klingelte er Sturm. Sie ließ ihn nicht rein. Das Telefon klingelte noch oft in der Nacht. Am nächsten Tag lag ein Brief von ihm in Briefkasten. In seiner ungelenken Schrift entschuldigte er sich in unzähligen Varianten. Es tue ihm so unendlich leid. Das hätte niemals passieren dürfen.

Sie konnte es nicht mehr hören und schon gar nicht mehr ertragen. Milena fasste einen längst fälligen Entschluss: Sie würde sich von ihrem Mann trennen. Sie schickte ihm eine WhatsApp-Nachricht. Zu einer erneuten Aussprache war sie nicht mehr bereit. Sie teilte ihm in knappen Worten mit, dass es endgültig aus wäre. Dass sie wegginge und dass er bloß nicht versuchen solle, sie zu suchen. Das sei zwecklos. Sie brauche dringend Abstand von ihm. Alles Weitere später. Kein Gruß zum Abschied.

Milena spürte, wie ihr bei der Erinnerung daran erneut die Tränen kamen. Sie ließ es geschehen. Atmete dann ein paarmal tief ein und aus, um sich zu sammeln. Schließlich trocknete sie sich die Wangen mit beiden Handrücken. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde sich von Bartek scheiden lassen. Und sie würde so bald wie möglich mit Henner reden. Das war sie ihm schuldig.

Entwicklung à la Henner

Milena stand auf, blickte aus dem Fenster und sah, wie die Worre-Net-Mine, bequem mit beiden Armen auf ein Kissen abgestützt, aus einem der oberen Fenster ihres Hauses nach draußen Richtung Straße blickte. Milena konnte sich gerade noch zurückhalten. Am liebsten hätte sie das Fenster aufgerissen und rüber gerufen: ‚Na, alles im Griff?‘

Sie ließ es sein, fing aber an zu lachen. Mit der alten Nachbarin würde sie bestimmt noch viel Spaß haben. Die hatte ihren Spitznamen weg, da sie beinahe jeden Satz mit dem Ausruf ‚worre net?!‘, also ‚nicht wahr?‘ beendete. Da sie überaus neugierig war und schwatzte, was das Zeug hielt, fiel es natürlich besonders auf.

Milena wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Worre-Net-Mine einen vorgeschobenen Grund finden würde, Henner und sie einer verbalen Inquisition zu unterziehen. Bei Mo versuchte sie es gar nicht mehr. Denn der pfiff auf Höflichkeiten und sie konnte froh sein, wenn er sie einfach ignorierte, anstatt einen seiner knackig-frechen Sprüche abzulassen.

Im Haus war es angenehm ruhig. Milena fiel ein, dass sie ja den winzigen Wohnwagen, mit dem sie unterwegs gewesen waren, sauber machen wollte. Im Abstellraum holte sie sich einen Putzeimer, den sie mit lauwarmem Wasser und einem Schuss Neutralreiniger füllte. Henner war sicher froh, wenn er noch eine Weile ungestört blieb, dachte sie. Das Aufräumen, Staubwischen und Putzen würde sie von dem Gedanken, dass sie in irgendeiner Form mit Bartek wegen der Scheidung Kontakt aufnehmen musste, ablenken. Mit Putzeimer, Wischmopp und einem Plastiksack für den Müll bewaffnet, verließ sie das Haus und ging zur Scheune, in der der Wohnwagen stand.

Nach einer halben Stunde war sie mit der Arbeit fertig. Das Innere des Wohnanhängers konnte sich nun wieder sehen lassen. Wobei hier das Wort ‚wieder‘ die Sache nicht genau traf. Als die beiden sich auf den Weg Richtung Polen gemacht hatten, schien es Milena, als ob der Wohnwagen noch nie wirklich benutzt worden wäre. Er roch übelst und war auch sonst kein Vorzeigestück. In der Tat hatten sich Henners Reisen zuvor auf kürzeste Ausflüge beschränkt. Doch sie arrangierten sich mit dem guten Stück und fühlten sich zum Schluss tatsächlich wohl damit. Nun stand es bereit für die nächste Reise.

Zufrieden gönnte Milena sich im Garten ein Sonnenbad. Kaum, dass sie es sich auf der Liege bequem gemacht hatte, kreisten ihre Gedanken erneut um ihren Ex. Es würde ihr nichts anderes übrigbleiben, sie musste sich für die Scheidungssache einen Anwalt nehmen. Der wiederum müsste erst einmal klären, ob sie für den Scheidungstermin, wenn er denn feststünde, überhaupt in Polen anwesend sein musste. Allein bei dem Gedanken daran, dass sie dabei Bartek begegnen würde, stellten sich ihre Haare an den Unterarmen auf. Und wenn er die Scheidung ablehnte, dachte sie entsetzt. Was dann? Gleich nächste Woche versuche ich, einen Termin bei einem Rechtsanwalt zu bekommen. Ich werde Mo fragen, der kennt Gott und die Welt, bestimmt auch einen guten Anwalt, sagte sie sich. Milena seufzte tief bei dem, was ihr bevorstand. Eine bleierne Müdigkeit überkam sie von der Hitze und dem vielen Nachdenken. Sie schob die Liege in den Schatten eines Apfelbaumes, schloss die Augen und schlief ein.

Irgendwann viel später, die Sonne stand schon sehr tief, wurde Milena sanft von Henner geweckt. Verschlafen und verschwitzt blinzelte sie ihn an.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich wollte dir nur sagen, dass ich uns was zu essen gemacht habe. Du hast bestimmt Hunger.“ Henner sah sie fragend an.

Milena rappelte sich von ihrer Liege hoch. „Äh, was? Du? Ich bin erstaunt. Du hast was zu essen gemacht?“

In der Tat war es noch vor gar nicht langer Zeit unvorstellbar, ja absolut undenkbar gewesen, dass Henner selbständig ein Essen zubereitete. Das war Mutter Elses Hoheitsgebiet, da ließ sie nicht mit sich reden. Die Küche war ihr Reich. Da hatte Henner nichts zu suchen. Der machte nur Unordnung und besaß ohnehin keinen Überblick.

Henners Leibspeisen waren Leberwurstbrote mit Gürkchen drauf sowie Streuselkuchen zur Kaffeezeit. Solange er dies regelmäßig vorgesetzt bekam, war für Henner die kulinarische Welt stets in Ordnung gewesen. Erst durch Milena lernte er das eine oder andere von dem, was Mutter Else verächtlich als ‚modernen Kram‘ bezeichnet hatte, kennen.

„Ja, ich glaube, es ist höchste Zeit, dass ich mich langsam aber sicher mit in unseren gemeinsamen Haushalt einbringe.“ Henner zeigte mit einer ausgestreckten Hand auf den Gartentisch, der nicht weit entfernt ebenfalls unter einem Apfelbaum stand.

Milena war sichtbar überrascht, als sie den gedeckten Tisch sah.

„Henner, Henner, das glaube ich jetzt nicht“, sagte sie, als sie sich auf einen der Korbsessel setzte.

Auf dem Tisch stand eine große Glasschüssel mit einem frisch angemachten Salat. In einem Bastkorb lag ein aufgeschnittenes Baguette, sogar an Servietten hatte Henner gedacht. Na ja, es waren Abtrockentücher, aber was machte das schon! An Milenas Platz spiegelte sich in ihrem Weißweinglas die untergehende Sonne. Eine Karaffe mit Wasser stand daneben. Woher tauchte die denn plötzlich auf?

Milena küsste ihn sanft auf den Mund. „Danke, das ist genau das Richtige jetzt bei diesem Wetter.“

„Lass es dir schmecken“, sagte Henner und schob ihr das Brotkörbchen hin.

Milena ließ sich von Henner einen großen Teller voll Salat mit Tomaten, Gurkenscheiben, Käsewürfeln und Schinkenstreifen geben. Erst dann nahm der sich selbst eine Portion.

Wie Henner wohl das Dressing gemacht hatte? Milena konnte kaum glauben, dass dies hier mit rechten Dingen zuging. Aber nachfragen wollte sie auch nicht. Schließlich hätte sie ihn mit solchen Fragen beleidigt, ihm gezeigt, dass sie ihm nicht zutraute, etwas Neues zu lernen.

Zunächst aßen beide schweigsam. Milena nippte ab und zu an ihrem wohl temperierten Weißwein. Henner trank seinen geliebten Traubensaft aus einem großen Glas. Es blieb noch angenehm warm im Garten, als die Sonne bereits untergegangen war.

„Das hat richtig klasse geschmeckt. Ich wusste gar nicht, dass du ein so guter Koch bist“, lobte Milena ihn, nachdem sie das letzte Salatblatt verzehrt hatte.

„Das freut mich, habe ich gerne gemacht, für dich, äh, für uns.“

Milena lehnte sich zufrieden zurück in ihrem Sessel.

„Möchtest du noch ein Glas Wein?“, fragte Henner und wollte bereits aufstehen, um Nachschub zu holen.

„Nein, danke, ich nehme jetzt Wasser.“

Beide blickten eine Weile auf das Gerüst an der Hauswand der Worre-Net-Mine.

„Sieht so aus, als wenn sie ihre Guckposition aufgegeben hat“, schmunzelte Milena.

„Wahrscheinlich zu wenig los auf der Straße.“ Henner schnappte sich das letzte Stück von dem Baguette und schob es sich in den Mund.

Milena räusperte sich, bevor sie zum Sprechen ansetzte: „Du, Henner ich muss dir was sagen. Wollte ich die ganze Zeit schon, hat einfach noch nicht gepasst.“ Sie sah ihn mit einem sorgenvollen Blick an.

Henner erschrak sofort. „War was mit dem bescheidenen Abendmahl nicht in Ordnung?“, fragte er. Er fingerte nervös mit dem Abtrockentuch herum.

„Nein, alles gut. Ich, äh, ich weiß nicht, wie soll ich es am besten sagen.“ Milena zögerte noch einen Moment.

Henners Gesichtsausdruck wurde ernst.

„Also, es ist so, dass ich momentan noch mit einem anderen Mann aus Polen verheiratet bin. Er heißt Bartek. Er war der Grund, warum ich nach Deutschland gekommen bin. Ich wollte weit weg von ihm. Ich konnte nicht mehr bei ihm bleiben, wegen seiner extremen Eifersucht.“ Milena hielt einen Moment inne, um Henners Reaktion abzuwarten. Sie schüttete sich ein Glas Wasser ein und trank es gierig leer.

Henner saß wie versteinert in seinem Korbsessel. In seinem Blick erkannte Milena Angst und Verwirrung.

„Da waren noch ein paar andere Dinge, warum ich mich von ihm getrennt habe. Nicht dass du jetzt denkst, ich wäre ein leichtes Mädchen oder wie man das bei euch sagt. Ich war Bartek immer treu. Nur er hat mich sehr verletzt. Mir blieb keine andere Wahl, als vor ihm zu fliehen. Er hat, als wir unterwegs waren, ein paarmal versucht, mich zu erreichen. Ich bin aber nicht drangegangen.“ Erneut machte Milena eine kurze Redepause. Sie sah Henner an.

Der blickte unter sich, als würde er sich fürchten.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bleibe bei dir. Keine Angst, ich glaube, ich habe richtigen Mann gefunden“, fügte sie hinzu.

Henner stöhnte erleichtert auf. Er ließ sein Tuch auf den Tisch fallen. Sprang von seinem Sessel auf, ging zu Milena und versuchte, sie zu umarmen. Was nicht so richtig gelang, da Milena saß. Henner wischte sich hinter ihrem Rücken verstohlen mit einem Handrücken die Tränen aus den Augen. Er war so unendlich erleichtert! Hatte er doch gerade noch fest damit gerechnet, dass Milena ihm nun sagen wollte, dass sie ihn verließ.

„Ich bin ja so froh, dass kannst du dir gar nicht vorstellen!“ Henner kniete sich neben Milenas Sessel und griff nach ihrer rechten Hand. Sanft küsste er sie.

Milena streichelte ihm über sein wirres Haar. „Kannst du mir doch noch ein Glas Wein holen? Am besten, du bringst gleich die Flasche mit“, sagte sie nach einer Weile.

Henner ächzte kurz, als er aus der unbequemen Haltung in die Gerade kam. „Bin schon unterwegs.“

Milena wartete gedankenverloren auf seine Rückkehr. Endlich war es raus. Jetzt hoffte sie nur noch, dass Henner ihr nicht doch böse war.

Er kam mit einem gut gefüllten Glas und einem Tonbehälter, in dem die Flasche Weißwein stand, zurück.

„Wie soll es jetzt weitergehen mit euch?“, fragte er, als er sich wieder ihr gegenüber gesetzt hatte.

„Gute Frage. Zunächst einmal muss ich mich erkundigen, vielleicht bei Mo, ob er einen guten Rechtsanwalt kennt. Der mich berät, wenn ich die Scheidung von Bartek einreichen will. An was ich alles denken muss! Ob ich dafür zurück nach Polen muss. Oder ob das vielleicht ganz von hier aus geht.“

„Soll ich Mo anrufen, ich kann auch noch rasch bei ihm vorbeifahren. Der weiß sicher einen Rat.“ Henner stellte die beiden leeren Teller mit dem Besteck zusammen.

„Danke, aber heute nicht mehr. Hat Zeit bis Montag oder wenn er kommt, um nach Unimog zu schauen. Wollte er doch nächste Woche machen oder?“

„Ja, gesagt hat er es. Da fällt mir ein: Ich werde gleich am Montagmorgen auch bei dem Bestatter Flachgräber und dem Pfarrer anrufen wegen der Urnenbeisetzung von meiner Mutter“, sagte Henner .

Vor Henners und Milenas Abreise Richtung Osten hatte es zwar eine Trauerfeier gegeben, aber noch keine Urnenbeisetzung. Henner lief es auch jetzt wieder eiskalt den Rücken hinunter, wenn er daran dachte, wie er seine Mutter tot im Schuppen gefunden hatte. Heillos überfordert war er gewesen, als plötzlich die Polizei vor der Tür stand. Mutter Else war von einer Spitzhacke regelrecht gepfählt worden. Ein schrecklicher Unfall, aber Henner musste Rede und Antwort stehen. Ohne seinen besten Kumpel Mo und Milena wäre er wahrscheinlich durchgedreht.

„Das ist gut“, erwiderte Milena. „Ich hoffe nur, dass die böse Tochter von dem Alten mich nicht angelogen hat.“

„Was meinst du damit?“

„Dass sie doch Bartek mitgeteilt hat, wo ich mich momentan aufhalte. Ich mache mir Sorgen, dass er dann plötzlich hier auftaucht.“ Milena trank einen großen Schluck von ihrem Weißwein.

„Und wenn schon! Mit dem werden wir, ich meine Mo und ich und notfalls noch seine Kumpels, fertig.“ Henner hieb mit einer Faust auf den Tisch.

Unwillkürlich musste Milena lachen. Sofort fühlte sie sich bei Henners Kampfansage besser. „Ihr seid schon meine Helden. Auf euch ist Verlass. Prost!“

Henner stieß mit seinem fast leeren Glas Traubensaft gegen Milenas Glas Weißwein.

„Ich bin richtig erleichtert, dass ich dir endlich reinen Wein eingeschenkt habe“, kicherte Milena, schon leicht beschwipst, über ihr Wortspiel.

„Wenn das alles mit deinem Ex geklärt ist, dann machen wir das große Fest.“

„Jawoll. Und jetzt gehe ich duschen und dann ins Bett. Kommst du mit?“

„Jawoll!“ Henner hielt, wie ein Soldat, der einen Befehl empfangen hatte, seine rechte Hand schräg an den Kopf.

Henner kümmert sich

Gleich am Montagmorgen rief Henner als Erstes bei Pfarrer Schultheiß an. Der freute sich, von Henner zu hören. Henner erkundigte sich, ohne lange Vorrede, wann es ihm denn passen würde mit der Urnenbeisetzung.

„Einen Moment, da muss ich erst in meinem Terminkalender nachschauen.“

Henner hörte Papier im Hintergrund rascheln.

„Tja, also am Mittwochnachmittag um 14 Uhr ginge es bei mir. Wäre Ihnen der Termin recht?“

„Von mir aus schon, ich muss das nur noch mit dem Bestatter Flachgräber abklären. Dann sage ich Ihnen Bescheid. Ach ja, die Urnenbeisetzung findet im engsten Familienkreis stand.“ Henner spürte, wie seine Finger anfingen zu schwitzen. Das musste er sich in Zukunft auch abgewöhnen. Telefonieren war doch etwas Alltägliches. Meistens sogar mit dem Handy.

„Selbstverständlich Henner. Ich werde Ihre selige Mutter auf ihrem letzten Weg begleiten. Melden Sie sich einfach bei mir oder der lieben Frau Helfrich, meiner Haushälterin.“

„Danke, auf Wiederhören.“ Henner war erleichtert. Das wäre erst einmal erledigt.

Flachgräber bestätigte ohne Probleme den Termin. Er fragte nur nach, ob er die Urnenbeisetzung vornehmen sollte. Darüber hatte sich Henner noch keine Gedanken gemacht. Er befürchtete allerdings, dass Flachgräber sich das gut bezahlen lassen würde. Also teilte er ihm mit, dass er erst dem Pfarrer den Termin bestätigen wolle. Er würde sich dann noch mal kurz bei ihm melden. Einen Moment lang überlegte Henner, ob es erlaubt war, die Urne selbst in die Erde zu lassen. Ganz bestimmt nicht. Das ließ die gemeindliche Friedhofssatzung bestimmt nicht zu.

Mo hatte ihm an einem Abend, an dem er mal alleine, ohne die üblichen Verdächtigen, bei ihm war, in einer seiner seltenen sentimentalen Momente mitgeteilt, dass er sich eine Seebestattung wünschte. Von einem Schiff auf der Ostsee sollte seine Asche ins Meer gestreut werden.

Henner hatte ihn schon fragen wollen, ob er das, wenn es denn eines Tages so weit wäre, für ihn übernehmen sollte.

Mo, der sofort seine Gedanken erraten konnte, hatte abgewinkt, wobei er eine Rauchwolke mit der Hand zerschnitt. „Kannste vergessen, das geht bei uns, wie fast alles, wenn überhaupt, nur mit irgendeiner Sondererlaubnis. Und du als Privatperson darfst es schon mal gar nicht.“

„Dann mache ich es halt heimlich. Packe deine Urne in einen Rucksack, buche eine Schiff nach … äh … irgendwohin, Hauptsache es fahrt nachts, und streue deine Asche im Schutze der Nacht backbord oder steuerbord oder wie man das nennt ins Meer“, hatte Henner trotzig geantwortet.

Er erinnerte sich nun daran, wie Mo daraufhin anfing, gleichzeitig zu husten und zu lachen. Und sich dann, als er sich wieder beruhigt hatte, einen Absinth in ein Schnapsgläschen goss, ihn auf ex hinunterkippte. Seine Backen glühten danach, wie wenn er links und rechts Ohrfeigen bekommen hätte. Er schüttelte sich, bevor er mit feierlicher Stimme sagte: „Du bist ein wahrer Freund. Wirklich schade, dass du nur Traubensaft trinkst.“

Henner tauchte aus seinen Gedanken auf und blickte hinüber zum Haus der Worre-Net-Mine. Sie saß wie üblich am Fenster und beobachte die Dorfbewohner, den Verkehr und was sich sonst noch auf der Straße ereignete. Ihrem Blick und ihren gespitzten Ohren entging nichts, wie einem Hund, der Haus und Hof bewachte. Um ja alles vermeintlich Wichtige und Unwichtige ins Dorf zu tratschen. Komisch, dass ihm das erst jetzt, wo seine Mutter nicht mehr lebte, so ins Auge fiel. Milena war hart im Nehmen, dachte er, sie wusste schon, wie die Worre-Net-Mine im Zaun zu halten war.

Henner bestätigte bei Pfarrer Schultheiß den Termin für Mittwochnachmittag. Fragte ihn unbedarft, wie er sich denn, da er noch nie bei einer Urnenbeisetzung zugegen war, so eine Zeremonie vorstellen dürfte. Pfarrer Schultheiß gab ihm bereitwillig Auskunft. Der entscheidende Satz dabei war, dass der Küster die Urne in die Erde ablassen würde. Das sei normalerweise so Usus, es sei denn, dass der Bestatter das übernehme. Das sei allerdings deutlich teurer als das, was die Gemeinde dafür verlange. Henner bedankte sich für den Hinweis. Er gab dem Pfarrer den Auftrag, dass das der Küster übernehmen sollte.

Flachgräber teilte er im anschließenden Telefonat mit, dass er sich anderweitig entschieden hätte. Und dass er auch keinen Blumenschmuck mehr bräuchte. Nur, dass die Urne rechtzeitig zur Verfügung stünde.

Flachgräber akzeptierte die Wünsche, konnte sich aber nicht verkneifen zu sagen, dass er ein seriöses Bestattungsunternehmen führe. Ihn bräuchte man nicht darauf hinzuweisen, wann eine Urne angeliefert werden musste.

Henner verabschiedete sich kommentarlos. Hinterher fragte er sich, ob die ganze Telefoniererei nicht irgendwie einfacher hätte vonstattengehen können. Nach den anstrengenden Gesprächen fuhr er mit seinem Roller direkt zu Mo.

Der Alte Fritz, der zum festen Inventar des Dorfes gehörte, saß nicht wie sonst auf seiner Holzbank in der Dorfmitte. Die ganze Bank war weg, stellte Henner erstaunt fest. Seltsam, dachte er, während er auf den Hof von Mo einbog.

Der beugte sich gerade mit dem Oberkörper in den Motorraum eines uralten Opel Corsas.

„Hallo Mo, ich hoffe ich störe dich nicht“, fragte Henner vorsichtig nach.

Mo stieß sich mit dem Kopf an der Motorhaube. „So eine Scheißkarre, das sage ich dir! Da ist so ziemlich alles im Arsch. Wenn das nicht ein Freund von meinem Cousin wäre, hätte ich mir die Schrottkiste garantiert nicht angeschaut!“ Mo wischte sich die Hände an einem verschmierten Lappen ab und richtete seine riesige 80er-Jahre-Brille. Dann steckte er sich eine Zigarette an. „Na, was liegt an? Macht Milena Probleme oder ist was kaputt gegangen?“

„Nö, alles soweit in Ordnung. Ich wollte dich nur kurz fragen, ob du einen guten Rechtsanwalt kennst.“ Henner legte seinen Helm auf den Rollersitz.

„Wofür brauchst du einen Rechtsanwalt? Gibt es noch Probleme mit deiner Erbschaft? Ich denke, das hatte deine selige Mutter alles geregelt.“ Mo schaute dem Rauch seiner Zigarette nach, der sich langsam in Richtung Nachbarhaus verabschiedete.

„Nein, nein, das ist alles geklärt. Es geht um Milena. Die will sich von ihrem polnischen Mann scheiden lassen.“

„Was, die ist noch verheiratet?! Das hätte ich jetzt nicht vermutet!“ Mo warf noch einen Blick in den Motorraum, bevor er kopfschüttelnd die Haube zuwarf. „Mir reicht es für heute. Willst du was trinken? Ich brauche jetzt ein Kaltgetränk.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Mo in seine Waschküche.

Henner folgte ihm. Kaum war er eingetreten, hörte er schon die übliche Heavy-Metal-Musik.

Mo hatte bereits eine Flasche Licher Pils am Mund.

Henner hockte sich auf einen der drei Barhocker und wartete, bis Mo ihm eine Flasche Traubensaft und ein Glas auf die Theke stellte.

„Prost, mein Bester.“ Mo schlug seine Flasche leicht gegen Henners Glas.

„Ja, auch Prost“, sagte Henner und trank gierig das halbe Glas Traubensaft leer.

„Das wird sicher nicht so einfach werden mit der Scheidung. Polen hat bestimmt ein anderes Scheidungsrecht als Deutschland. Müsste ich mal in einer ruhigen Minute nachsehen. Will sie das auch wirklich?“

„Ich glaube, sie meint es ernst. Sie ist von Bartek, so heißt ihr Noch-Ehemann, aus Polen geflüchtet, weil der extrem eifersüchtig ist. Milena hat das nicht mehr ertragen.“ Henner trank das Glas leer und stellte es auf der Theke ab.

Mo zog nachdenklich an der nächsten Zigarette. „Ich kann mal meinen Cousin fragen, der hat häufiger mit Rechtsstreitigkeiten zu tun. Ob dessen Anwalt sich allerdings mit internationalem Scheidungsrecht auskennt, das bezweifle ich.“ Mo trank mit einem gewaltigen Schluck die Flasche Licher leer. Rülpste kurz und wischte sich dann zufrieden über den Mund. „Und da gibt es gar keine andere Möglichkeit, den Kerl unbürokratisch loszuwerden?“

„Weiß nicht, keine Ahnung. Wird wohl ziemlich kompliziert werden.“ Henner sah Mo mit einem Blick an, der eine Mischung aus Enttäuschung und Ahnungslosigkeit verriet.